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Sabine Trinkaus

Schnapsleiche

Kriminalroman

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Zum Buch

Wo ist Walter? Aufregung ist so ziemlich das Letzte, was Britta in ihrem Leben vermisst. Sie schätzt den ruhigen Alltag als hauseigene Physiotherapeutin der Bonner Schnapsfabrikantenfamilie Hutschendorf. Als ihr Arbeitgeber Walter Hutschendorf verschwindet, geraten die Dinge allerdings aus dem Lot. Seine Gattin Chantal, Tochter Lucia und Walters Mutter, die streitbare Matriarchin Agathe, vermissen den Verschwundenen schmerzlich. Da die Polizei die Sache aber nicht sonderlich ernst zu nehmen scheint, beauftragen die drei unabhängig voneinander Britta mit der Suche. Unterstützt von der trinkfesten rheinischen Frohnatur Margot nimmt sie die Ermittlungen auf und kommt schnell dahinter, dass ihre Auftraggeberinnen nicht die ganze Wahrheit sagen. Schritt für Schritt folgen sie der Spur, die in die Vergangenheit führt und kommen dem dunklen Familiengeheimnis gefährlich nahe.

Sabine Trinkaus wuchs im hohen Norden hinter einem Deich auf. Zum Studium verschlug es sie ins Rheinland, wo sie nach internationalen Lehr- und Wanderjahren sesshaft und heimisch wurde. Heute lebt sie in Alfter bei Bonn.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Neuausgabe 2022

Lektorat: René Stein

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © New Africa / Shutterstock

ISBN 978-3-8392-3786-1

Widmung

Für Daniela, Heidi, Marita und El Bartel –
Danke fürs Rauschen!

Prolog

Es war dunkel in der Halle. Er stand vor der Maschine und betrachtete die Knöpfe der Steuerung. Die Maschine war groß, größer, als er sie von zu Hause kannte.

Sein Onkel hatte so ein Gerät im Hof stehen gehabt. Als Kind hatte der Mann oft zugesehen, wenn Beeren oder anderes Obst körbeweise in den Trichter geschüttet wurden. Den Kindern hatte das gefallen, obwohl oder gerade weil warnende Tanten und Mütter ständig keiften, dass sie weg bleiben sollten von dem Ding. Weil es gefährlich war.

»Verdammt gefährlich«, sagte er leise zu der Leiche, die er mit Müh und Not kopfüber in den Trichter gesteckt hatte. Er war noch immer außer Atem. Der Mann war mindestens einen Kopf größer als er und schien eine Tonne zu wiegen. Ein ganzer Kerl war das gewesen. Jedenfalls bis vor wenigen Stunden. Stark, herrisch, befehlsgewohnt. So einen haute so schnell nichts um. Hätte man meinen können. »Aber unverhofft kommt oft«, murmelte der Mann, und die Worte hallten flüsternd von den Wänden der Halle wider. Ein Schauer lief ihm über den Rücken.

»Eine Leiche«, sprach er sich selbst Mut zu. »Eine ganz normale Leiche. Ein ganz gewöhnlicher Auftrag!« Jedenfalls theoretisch. Dass er bislang über keinerlei praktische Erfahrung auf diesem Gebiet verfügte, ging schließlich niemanden etwas an. Dass es von ihm aus gerne hätte so bleiben können noch viel weniger. Man konnte es sich eben nicht immer aussuchen im Leben. Darin unterschied sich sein Beruf nicht von anderen.

Der Hintern des Toten ragte aus dem Trichter. Unwürdig, dachte er, aber so ist das wohl. Wenn man tot ist, geht die Würde schnell flöten. Da konnten die Beerdigungsunternehmer noch so schöne Phrasen in ihre Pros­pekte schreiben.

»Du bist aber auch selbst schuld«, sagte er zu der Leiche, nicht vorwurfsvoll, eher erklärend. »Alles hast du gehabt. Aber du konntest den Hals ja nicht voll kriegen!« Er seufzte, schüttelte den Kopf. Seine Hand wanderte zum Kontrollpaneel. Ein Knopfdruck. Es war einfach. Nur ein Knopfdruck.

Er schloss die Augen, atmete kurz durch. Ausgesprochen unappetitlich fand er die Angelegenheit. Aber das war nicht der Zeitpunkt für Zimperlichkeiten.

Das dünne Stimmchen eines Vogels drang durch eines der gekippten Fenster. Es wurde schon hell, es wurde Zeit, die Sache zu Ende zu bringen.

Er blickte ein letztes Mal auf den Rücken der Leiche. Hob seine rechte Hand ein Stück. »Mach’s gut, alter Mann!«, murmelte er leise und drückte dann auf den Knopf.

1

Die Sonne brannte vom Himmel. Britta saß am Rand des weitläufigen Pools, ließ ihre Füße in das kalte, klare Wasser baumeln und betrachtete versonnen die Schäfchenwolken, die sich träge über ihrem Kopf dahinschleppten. Vom Fluss hörte man das gleichmäßige Tuckern eines Schiffsmotors, gelegentlich drang das Läuten einer Fahrradklingel von der Rheinpromenade hinauf in den Park. Zu ihren Füßen durchpaddelte ein dicklicher Achtjähriger lustlos das Becken. Gelegentlich warf sie ihm einen aufmunternden Blick zu, von dem der Junge zwar nichts mitbekam, der Britta jedoch das Gefühl gab, einen guten Job zu machen. Denn so sehr der Eindruck sich aufdrängen mochte, Britta war nicht zu ihrem Vergnügen hier. Walter Hutschendorf, genauer Walter Drei, kurz: Klein Walter, wirkte zu Wasser und zu Lande auf den ersten Blick wie ein durchweg unspektakuläres Kind. Dieser Eindruck jedoch trog, denn Walter war es als jüngstem Spross der Familie Hutschendorf bestimmt, eines fernen Tages die Geschicke des familieneigenen Imperiums zu lenken. Um ihn auf diese Verantwortung vorzubereiten, ließ es seine Mutter, Lucia Hutschendorf, nicht an Förderung mangeln.

Daher gehörten zu Brittas Aufgaben nicht nur die Pflege des zum Anwesen gehörigen Pools und die Ermunterung der greisen Matriarchin Agathe zur Krankengymnastik, sondern eben auch Walters optimale körperliche Entwicklung zu garantieren und ihn zu entsprechender sportlicher Betätigung zu motivieren.

Britta hatte schon schlimmere Jobs gehabt. Und wesentlich schlechter bezahlte. Es lag ihr daher am Herzen, ihre Arbeitgeberin nicht zu enttäuschen.

Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Gestalt wahr, die hektisch die gepflegte Rasenfläche zwischen Herrenhaus und Pool überquerte.

»Toll machst du das, Walter«, rief sie eilig, »ganz toll! Schöne ruhige Bewegungen! Das sieht doch schon ganz prima aus!«

Von dieser ebenso unerwarteten wie verlogenen Ansprache erschreckt, kam der Knabe aus dem Takt. Ein Schluck gechlorten Wassers schwappte in seinen geöffneten Mund und er begann, wild zu husten und um sich zu schlagen. Britta zögerte keine Sekunde. Sie hechtete in das kühle Wasser und zog den Jungen an den Beckenrand. Ihr tat leid, was sie da angerichtet hatte.

Lucia Hutschendorf schenkte weder Britta noch ihrem Sohn, der sich nur langsam von seiner Panikattacke erholte, die geringste Beachtung. Sie trat mit ihren Designerpumps hygienisch bedenklich nahe an den Rand des Pools, warf sich in die Brust und hob den Kopf gen Himmel. »Walter, Walter, komm sofort ins Haus!«, rief sie den Wolken entgegen. »Die Oma hat den Opa umgebracht!«

Man unterstellte Lucia nicht gänzlich zu Unrecht einen gewissen Hang zur Theatralik. Das erklärte, warum weder Walter noch Britta sich ob ihrer Aussage übermäßig schockiert zeigten. Als Britta dem Jungen, dessen Nerven sich mittlerweile beruhigt hatten, das weiße Handtuch reichte, las sie in seinem Blick nur pure Erleichterung, der nassen Gefahr entronnen zu sein.

Der kleine Walter war wasserscheu. Mehr noch, er hasste Schwimmen so wie jede andere körperliche Anstrengung mit der grimmigen Inbrunst des übergewichtigen Kindes. Zwischen ihm und Britta bestand allerdings ein stillschweigendes Einverständnis, diesen Umstand vor seiner Mutter geheim zu halten.

Gelangweilt tupfte er nun seine Speckröllchen trocken und griff nach seinem T-Shirt. Britta sah ihrem Schützling zu und dachte über das eben Gehörte nach. Dass der von Lucia als ›Oma‹ titulierten Person allerhand Ungutes unterstellt wurde, war nichts Neues. Angesichts der Ungeheuerlichkeit des erhobenen Vorwurfs kam Britta jedoch nicht umhin, einen Hauch von Sensation zu verspüren. Neurotisches Verhalten seitens ihrer Arbeitgeber war eine Sache. Mord und Totschlag eine gänzlich andere.

Die Firma Hutschendorf stellte Schnaps her und befand sich in der vierten Generation im Familienbesitz. Der alte Hutschendorf, der Erste Walter, wie der geschäftstüchtige Urahn allgemein genannt wurde, hatte einst die kleine Schwarzbrennerei seines Vaters übernommen und sich zum erfolgreichen Unternehmer hochgearbeitet. Da Schnaps eine krisensichere Sache war, hatte das Unternehmen Wirtschaftskrisen, Weltkriege, Gewerkschaften und ähnliche Unannehmlichkeiten mehr oder weniger schadlos überstanden und florierte über die Jahre und Generationen. Familie Hutschendorf bewohnte ein Anwesen am Rheinufer im Godesberger Villenviertel, das der Erste Walter kurz vor dem zweiten Weltkrieg einer verarmten Adelssippe abgeluchst hatte. Traditionell lebten die Generationen unter einem Dach, ein Arrangement, das dem unbeteiligten Beobachter zuweilen unsinnig, wenn nicht gar masochistisch erscheinen mochte, an dem aber nicht gerüttelt wurde. Lucia bewohnte mit dem Kleinen Walter den ersten Stock des Hauptflügels. Im zweiten Stock, hoch über den Dingen, logierte Agathe, die Wert darauf legte, von ihrem Fenster aus einen Blick über das Anwesen und den Rhein zu haben.

Im Erdgeschoss des Gebäudes befand sich neben der geräumigen Küche und dem Speisezimmer noch der Salon, in dem Besucher bewirtet wurden. Die ehemaligen Stallungen, die sich an das Haupthaus anschlossen, gewährten Lucias Vater, Walter Zwo, seit ihrem Umbau Obdach.

Britta lebte mit ihrer Kollegin Margot, einer ganzheitlichen und diplomierten Ernährungswissenschaftlerin, die als Hausdame fungierte, die allgemeine Ordnung und Sauberkeit überwachte und dafür sorgte, dass das abendliche Mahl der Familie reich an Ballaststoffen und positiver Energie war, im sogenannten Gärtnerhaus, das am Rand des Anwesens stand. Britta befand sich im Zustand mittlerer Ratlosigkeit, als sie die knarrende Tür des verwitterten Gartenzauns öffnete, der ihr kleines Reich gegen das parkähnliche Grundstück abgrenzte. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit verschwendete sie keinen Blick auf die von ihr so hingebungsvoll gepflegten Kräuter- und Blumenbeete, sondern schritt zielstrebig in Richtung Terrasse. Nachdem Lucia den Kleinen Walter mit sich ins Haus gezerrt hatte, war sie, unschlüssig, was von ihr erwartet wurde, noch eine Weile am Pool sitzen geblieben und hatte sich von der Sonne trocknen lassen, bevor sie es wagte, ihren Dienstort zu verlassen, um ihrer Freundin und Mitbewohnerin von den unerhörten Geschehnissen zu berichten.

Margot lag in ihrem Leopardenmusterbikini auf einem Liegestuhl in der Sonne. Sie nutzte ihre freien Stunden gerne dazu, ihre bereits ledrige Haut in der Sonne zu gerben, und schätzte es in der Regel gar nicht, in diesem meditativen Zustand gestört zu werden. Darauf konnte Britta in diesem Moment jedoch keine Rücksicht nehmen.

Sie hielt sich nicht lange mit Vorreden auf. »Die Oma hat den Opa umgebracht!«

Margot richtete sich im Liegestuhl auf. »Herrgott! Bist du von allen guten Geistern verlassen? Du hast mir einen Höllenschreck eingejagt.« Sie schob die Sonnenbrille in die blondierte und toupierte Haarmähne und warf Britta einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Die Oma hat den Opa umgebracht«, wiederholte diese in der Hoffnung, dass die Neuigkeit angemessene Beachtung fand.

»Ich habe dir tausendmal gesagt, du sollst dir was auf den Kopf setzen, wenn du in der Mittagshitze am Pool bist«, tadelte Margot. »Du solltest überhaupt mittags nicht am Pool sein bei diesem Wetter. Und noch viel weniger der arme Junge. Das ist unverantwortlich und ganz bestimmt ist es nicht gesund.«

»Im Wasser ist es kühl«, widersprach Britta unwillig, »aber darum geht es doch gar nicht.«

»Ach nein? Worum geht es denn dann?«

»Die Oma hat den Opa umgebracht«, unternahm Britta einen dritten, verzweifelten Versuch.

Margot starrte sie an. »Britta, du hast einen Sonnenstich. Damit ist nicht zu spaßen.«

»Ich habe keinen Sonnenstich. Wie kommst du darauf, dass ich einen Sonnenstich habe?«

Margot räusperte sich. »Nun, du sagst ständig, dass die Oma den Opa umgebracht hat!«

»Ja!« Britta schrie fast.

»Jetzt mal langsam. Mal von Anfang an. Ich verstehe kein Wort.«

»Ich auch nicht«, gab Britta bereitwillig zu. »Aber das hat Lucia gesagt. Das waren ihre Worte.«

»Die Oma hat den Opa umgebracht«, murmelte Margot bedächtig, als handle es sich um ein geheimnisvolles Mantra. »Wie meint sie das?«

»Nun, da es in diesem Haus nur eine Person gibt, die Lucia Oma nennt und nur eine, die Opa genannt wird, gehe ich davon aus, dass sich ein furchtbares Familiendrama abgespielt haben muss.«

Margot runzelte die Stirn. »Die Oma?«, fragte sie. »Du meinst die Oma?« Sie brach in hemmungsloses Gelächter aus. Und obwohl Britta sich unbestimmt in ihrer Ehre gekränkt fühlte, kam sie nicht umhin, sich diesem anzuschließen.

Die ›Oma‹ war weder jemandes Großmutter noch entsprang der Titel familiärer Wärme. Chantal Hutschendorf-Baumeister, ihres Zeichens zweite Ehefrau von Lucias Vater Walter II., hatte die 30 noch nicht erreicht. Das war nicht der einzige Grund, warum sie ihrer Stieftochter missfiel. Dass Lucia sie konsequent als ›Oma‹ titulierte, diente allein dem Zweck, sie zu demütigen und zu beleidigen.

»Die Oma«, keuchte Margot und rang um Fassung. »Wie hat sie das angestellt? Hat sie ihn mit dem Fön umgeblasen? Oder ihn mit einer Flasche Nagellack erschlagen? Oh, Britta, du bist köstlich.«

»Ich? Ich habe doch damit nichts zu tun«, protestierte Britta. »Ich wiederhole lediglich, was Lucia gesagt hat. Allerdings muss ich zugeben, dass sie etwas hysterisch wirkte.«

Margots Miene verfinsterte sich. »Dass sie emotional reagiert, ist völlig in Ordnung. Es ist nicht fair von dir, das als hysterisch abzuqualifizieren.« Margot ließ auf Lucia nichts kommen. Sie hatte ihre Arbeitgeberin bei dem Seminar ›Der Urschrei – Hilfe und Befreiung für geknechtete Frauenseelen‹ kennengelernt. Schreiend waren sie einander nähergekommen. Der Umstand, dass Margot nach dem Seminar einen Job hatte, der ihr aus einem gewissen finanziellen Engpass half, trug dazu bei, ihre seelische Schwesternschaft noch zu vertiefen. Margot nahm Lucia gegen jede Kritik – berechtigt oder unberechtigt – in Schutz. Britta machte es eben darum immer wieder Freude, sie auf gewisse neurotische Züge ihrer gemeinsamen Chefin hinzuweisen. Aber im Moment war sie nicht an Zankereien interessiert.

»Sie hat ja nun jedes Recht, hysterisch zu sein!«, erklärte sie also rasch. »Der eigene Vater, hingemeuchelt von der kleinen Schlampe.«

»Britta!«, unterbrach Margot. »Du redest Blödsinn. Chantal ist zu dumm, sich allein die Schuhe zuzubinden. Selbst wenn sie auf die absurde Idee kommen sollte, die Gans zu schlachten, die ihr goldene Eier legt, sie wüsste gar nicht, wie man das macht, ohne sich einen Fingernagel abzubrechen.«

»Ja, aber Lucia hat gesagt …«

»Papperlapapp! Da hast du sicher etwas missverstanden. Du solltest wirklich einen Hut aufsetzen, wenn du in der Sonne bist. Hätte sich ein Mord zugetragen, ein echter Mord, dann wäre doch jetzt alles voller Polizei. Dann wäre die Hölle los. Mordkommission, Spurensicherung, der ganze Zirkus … Heilige Scheiße!« Die letzten zwei Worte bezogen sich auf den Polizeiwagen, der just in diesem Moment knirschend die kiesbedeckte Einfahrt zum Herrenhaus entlangrollte.

»Ich brauch einen Schnaps«, ächzte sie, während zwei Uniformierte und ein Herr in Zivil dem Fahrzeug entstiegen und hinter den großen Flügeltüren verschwanden.

2

Agathe Hutschendorf war wütend. Mit ihren 91 Jahren war dieser Zustand ihr durchaus vertraut. Angesichts der sich um sie herum stetig ausbreitenden Dummheit und Inkompetenz konnte Agathe nicht umhin, sich immer wieder und derart beträchtlich zu ärgern, dass Wut zu einer Art Grundzustand ihres Seins geworden war.

Um sich ein wenig Luft zu verschaffen, stieß sie den Gehstock mit dem Perlmuttgriff in den feinen Kies, dass dieser aufstob. Es half nichts. Agathe war wütend, da gab es keinen Zweifel. Aber da war noch etwas anderes. Ein Gefühl, das ihr fremd war und das sie verunsicherte. Sie konnte nicht genau sagen, was es war. Und das wollte sie auch nicht.

Lucias Auftritt hatte sie alarmiert. Eigentlich hielt Agathe viel von ihrer Enkelin. Im Grunde war sie die einzige Person in diesem Irrenhaus, von der Agathe überhaupt etwas hielt. Aber es war nicht zu übersehen, dass Lucia die Nerven verloren hatte. Die Polizei, hatte sie gesagt, sie würde jetzt die Polizei rufen. Agathe hatte ihr das verboten. Beschränkte Provinzpolizisten, die ihre Nase in Angelegenheiten steckten, die sie nicht das Geringste angingen, waren im Moment wirklich das Letzte, was sie gebrauchen konnte.

Und doch hatte sie kurz darauf das Knirschen der Reifen gehört, hatte den Polizeiwagen in der Einfahrt erblickt. Der Zorn hatte ihr geholfen, sich aus ihrem Sessel hochzuarbeiten, um sich auf den langen, mühevollen Weg hinunter in den Salon zu machen. Erst, als sie vor der Tür stand, durch die Lucias aufgeregtes Gekeife und das hysterische Heulen der kleinen Schlampe drangen, war ihr bewusst geworden, dass sie nicht die geringste Lust verspürte, sich mit der Sache auseinanderzusetzen. Nicht auf diesem Niveau. Und nicht in diesem Moment. Sie hatte sich abgewandt und war hinaus getreten ins gleißende Sonnenlicht des frühen Nachmittags.

Abermals stieß sie ihren Stock in den Kies, als morde sie etwas dahin. Sie fühlte sich alt. Sicher, sie war alt, sie war sogar steinalt. Aber diese sonderbare Erschöpfung, die nicht nur in ihren Knochen, sondern auch in ihrem Kopf hockte, war ihr dennoch fremd. Sie schüttelte ihr graues Haupt und lenkte ihre Schritte in Richtung Flussufer.

Agathe verließ das Haus nicht mehr oft. Der abendliche Weg von ihren Gemächern hinunter zum gemeinsamen Abendessen der Familie war ihr Anstrengung genug.

Früher hatte sie jeden Abend einen Streifzug über das Grundstück unternommen. Ihr Grundstück. Agathe liebte jeden Quadratzentimeter des Anwesens, das sich diskret mittels hoher Bäume und dichter Büsche vor neugierigen Blicken geschützt über der Rheinpromenade erhob. Sie konnte sich lebhaft an die Tage erinnern, in denen sie ›das Mädchen auf der anderen Seite‹ war. Das Mädchen im schäbigen Kleid, das sich durch das kleine Gässchen oberhalb des riesigen Grundstücks schlich, entlang der Backsteinmauer. Das davon träumte, wenigstens heimlich einen Blick auf die Menschen zu erhaschen, die dort lebten. Irgendwann war ihr klar geworden, dass sie hinein wollte. In so einem Haus wohnen, in so einem Garten sitzen. Dafür hatte sie gearbeitet, Tag und Nacht. Zusammen mit ihrem Mann, dem Ersten Walter, hatte sie sich die Chance genommen, die ihr keiner freiwillig hatte geben wollen. Man bekam nichts geschenkt im Leben. Das hatte Agathe früh verstanden.

Nie würde sie den Tag vergessen, an dem sie das erste Mal über die Wiese gegangen war. Nie das Gefühl des reinen Triumphs, das sie damals durchströmt hatte. Sie hatte es geschafft. Agathe Hutschendorf hatte ihr Ziel erreicht. Und sie war nicht willens, sich das wieder zerstören zu lassen.

Sie erreichte den Rand des Grundstücks, schritt unter den Bäumen entlang und versuchte, zu ergründen, was in ihrem Busen tobte. Wut, ja, aber da war noch etwas anderes. »Angst«, entfuhr es ihr halblaut. Sie schauderte. »Unfug!«, korrigierte sie sich selber. Angst war etwas für Heulsusen. Und Agathe war alles andere als eine Heulsuse. Sie ließ sich auf eine Bank im Schatten fallen.

»Ach, Walter, ich weiß es doch auch nicht …«, seufzte sie. Einseitige Gespräche mit ihrem Gatten waren die einzige Schrulle, die Agathe sich im Alter gönnte. Ihr war vollkommen klar, dass ihr Walter seit 30 Jahren tot unter dem imposanten Grabstein auf dem Burgfriedhof lag und somit vermutlich taub war. Aber da sich unter den lebenden Seelen weit und breit keine fand, mit der sie sich vernünftig unterhalten konnte, gönnte sie sich zuweilen das, was Außenstehende möglicherweise für das Selbstgespräch einer wirren, alten Schachtel halten mochten.

»Was soll ich denn jetzt machen?«, fragte sie ihren toten Gatten. »Ich hätte nie gedacht, dass es noch mal so weit kommt. Was habe ich nur falsch gemacht?« Der Gehstock bohrte wütende Muster um ihre orthopädischen Schuhe. Erneut seufzte sie. »Alles, ja, ich weiß. Aber es muss doch auch mal gut sein. Himmel, er ist doch selbst schon een ahle Büggel!« Agathe schwieg einen Moment und spähte durch das dichte Blattwerk hinaus auf den Strom und auf das auf der anderen Rheinseite aufragende Siebengebirge. Ein Schiff tuckerte gemächlich vorbei. »Et sin de Wiever!«, verfiel sie kurz in das Idiom ihrer Kindheit. »De Wiever machen ihn jeck. Ich hätte aufpassen müssen. Aber wer hätte das ahnen können? In seinem Alter. Ich bin zu alt für den Driss! Ich mag nicht mehr. Ich hätte nicht übel Lust zu sterben. Hier und jetzt. Dann sollen sie alle mal sehen, wie sie klarkommen.« Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen und überdachte die Idee kurz. Dann schüttelte sie unwillig den Kopf. »Ich könnte Walter, ich könnte sehr wohl«, brummte sie wütend. »Aber so bin ich nun mal nicht erzogen, Herrgott!« Sie wandte den Blick hinauf zum blauen Himmel und seufzte ein drittes Mal. »Jetzt schlaf du nur weiter, ahl Bumskopp«, forderte sie ihren verblichenen Gatten auf. »Ich muss nachdenken.«

Margot starrte unverwandt hinüber zu dem großen Portal und nippte an dem Schnapsglas, das Britta ihr zur Beruhigung serviert hatte. Als die Flügeltüren aufgestoßen wurden, entrang sich ihr ein kurzer, aufgeregter Schrei. Eine sich im Zustand sichtlicher Erregung befindliche Chantal Hutschendorf-Baumeister stolperte die Stufen hinunter. Ihr folgte ein Mann in Zivil. Ein äußerst ansehnlicher Mann in Zivil, wie Britta bemerkte. Hochgewachsen und gut gebaut, die lockigen Haare für den Berufsstand ungewöhnlich lang. Keiner, vor dem man davonlaufen musste, dachte Britta, auch wenn Chantal das offenbar anders sah.

»Warten Sie doch, bitte, so beruhigen Sie sich doch!«, rief er verzweifelt, aber die Flüchtende würdigte ihn keines Blickes und rannte in Richtung Gärtnerhaus.

»Kscht, kscht«, machte Margot. »Denk gar nicht daran, blöde Pute.«

Der Adonis wechselte in trägen Trab und folgte der Fliehenden. Zu Margots und Brittas Erleichterung stoppte diese einige Meter vor dem Gartenzaun. Sie wandte sich zu ihrem Verfolger um. »Lassen Sie mich in Ruhe«, kreischte sie. »Ich bin keine Mörderin!« Sie setzte ihre Flucht fort und schlug sich ins Unterholz des Parks.

Ihr Verfolger verharrte auf der Wiese und sah ihr unschlüssig nach.

Margot kniff die Augen zusammen. Auf ihrem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, das Britta ganz und gar nicht gefiel. »Huhu«, machte sie albern und winkte dem Polizisten mit ihrem Schnapsglas.

»Margot«, zischte Britta, die nicht ganz sicher war, wie der Anblick von zwei offensichtlich schamlos gaffenden Frauen, die am helllichten Tag alkoholische Getränke zu sich nahmen, auf einen Gesetzeshüter wirken mochte. Aber es war zu spät. Der Polizist hatte sie entdeckt und steuerte auf sie zu.

»Guten Tag, die Damen.« Er tippte an seine wohlgeformte Stirn, auf der deutlich sichtbar ein paar Schweißtropfen schimmerten.

»Herr Inspektor«, Margot erhob sich und zupfte an ihrem Leopardenhöschen. »Können wir vielleicht helfen? Geraten die Dinge außer Kontrolle? Ist die Oma aufgeregt?«

»Hauptkommissar«, murmelte der Mann, »ich bin Kriminalhauptkommissar. Von welcher Oma sprechen Sie, bitte?« Sein Gesicht, auf dem sich bereits wieder kleine, salzige Perlen gebildet hatten, verzog sich, und seine Mimik spiegelte völlige Ratlosigkeit.

»Chantal«, erklärte Britta rasch, »Frau Hutschendorf-Baumeister. Sie ist keine Oma. Sie wird nur so genannt.«

Obgleich die Aussage weit weniger vernünftig klang, als sie gehofft hatte, schien sie den Polizisten erst einmal zufrieden zu stellen.

»Darf ich?« Er deutete auf einen Stuhl.

»Selbstverständlich, Herr Insp … äh, Kommissar!«, zwitscherte Margot. »Etwas zu trinken? Sie sehen aus, als könnten Sie einen Schluck vertragen. Einen Schnaps vielleicht?«

»Danke, ich … bin im … danke, also …« Sehnsüchtig saugte sich sein Blick an Margots Glas fest. »Also, ich könnte wirklich einen vertragen. Weiß Gott, das könnte ich.« Sein flackernder Blick wanderte in Richtung Herrenhaus.

»Ach, nehmen Sie das nicht so schwer!« Margot setzte sich ihm gegenüber und schlug aufreizend die Beine übereinander. »Die Hutschendorfs sind nicht immer so. Sie sind nur … sie sind aufgeregt. Britta, sei doch so gut und hole unserem Gast etwas zu trinken!«

Halb beleidigt, halb erleichtert erhob sich Britta und floh in die Küche.

3

Lucia schloss die Schlafzimmertür hinter sich. Der große Raum, ganz in weiß und hellgelb gehalten, beruhigte ihre Nerven etwas. Die hohen Flügelfenster waren einen Spalt geöffnet und die langen Vorhänge schwangen sanft im Luftzug einer kaum spürbaren Brise. Lucia ließ sich auf die zartgelbe Überdecke des extrabreiten Bettes fallen. Sie erwog kurz, ihre Frustration einfach herauszuschreien, aber sie hielt sich zurück.

Die Polizisten waren höflich gewesen. Leider hatten sie nichts begriffen. Es gebe keinen Grund, das Schlimmste anzunehmen, hatten sie gesagt. Jeden Tag verschwanden Menschen. Die allermeisten tauchten über kurz oder lang wieder auf. Lucia hatte versucht, ihnen klarzumachen, dass das vielleicht für gewöhnliche Menschen galt. Für einen Hutschendorf war ein solches Gebaren unmöglich, ja, undenkbar. Vor allem unter den gegebenen Umständen, die sie natürlich nicht weiter hatte ausführen können. So hatte sie – sachlich und unaufgeregt, wie sie fand – darauf hingewiesen, dass die Tatsachen für sich sprachen. Fünf Tage hatte das kleine Flittchen gewartet, fünf Tage hatte sie sich angeblich nicht gewundert über die Abwesenheit ihres Ehemanns. Ein Umstand, der den Beamten zu denken geben sollte. Stattdessen musste sich Lucia das mittlerweile satt bekannte Schauspiel ansehen. Flatternde falsche Wimpern und bebendes Silikon mochten ebenso ordinäre wie erbärmliche Mittel der Unschuldsbeteuerung sein – wirksame Waffen waren sie leider allemal. Natürlich hätte sie, Lucia Hutschendorf, sich nie im Leben auf ein derartiges Niveau begeben. Aber das Nachsehen hatte sie, daran gab es nichts zu deuteln.

Es hatte keinen Sinn, sich darüber zu ärgern. Es gab, weiß Gott, dringendere Probleme. Denn Lucia brauchte ihren Vater. Und zwar sofort. Auf keinen Fall konnte sie zulassen, dass die Polizei sich zurücklehnte und wartete. Und eben das geschah. Die Lage war vertrackt. Sie musste nachdenken, dringend und sofort.

Das war allerdings leichter gesagt als getan. Sie konzentrierte sich auf den Raum. Alles in diesem Zimmer war von einer Innenarchitektin und Adeptin in Sachen Feng-Shui darauf ausgerichtet, ihrem Geist Ruhe und Frieden zu schenken. Das Arrangement war nicht billig gewesen und so hoffte Lucia, dass sich die Investition nun, im Moment der Krise, bezahlt machen würde. Sie rollte sich auf die Seite und entnahm dem eigens zu diesem Zweck eingebauten Kühlfach im Nachttisch eine gelgefüllte Augenmaske. Dann drückte sie auf einen diskret verborgenen Knopf. Leise, ätherische Harfenklänge schwebten durch den Raum. Lucia legte die Maske an, ließ sich zurücksinken und versuchte, sich auf ihre Atemübungen zu konzentrieren. Sie bekam den Luftstrom nicht hin. Ständig versuchte ein aufgeregter Schluchzer ihre Atemwege zu blockieren.

Sie kämpfte ein paar Minuten wacker, bevor sie aufgab und von Wimperntusche geschwärzte Tränen hinter der Maske frei ließ. Eine Woge der Wut und des Hasses brandete in ihr auf, und Lucia tat nichts, um sie aufzuhalten.

Sie erinnerte sich an den Tag, an diesen schrecklichen Tag, an dem er zu ihr gekommen war, um ihr die ›gute Neuigkeit‹ mitzuteilen.

»Ich werde wieder heiraten«, hatte er gesagt.

Lucia hatte ihn angestarrt. Die Falten um die blauen Augen. Trotz Glatze sah er gut aus für sein Alter. Das war Lucia nie zuvor aufgefallen. Und nie war sie auf den Gedanken gekommen, dass er auf andere Menschen, auf Frauen, attraktiv wirken könnte.

»Ich wollte es dir zuerst sagen«, fuhr er fort. Er wirkte fast verlegen. »Ich weiß, du hast kaum Erinnerungen an deine Mutter. Außerdem bist du wohl aus dem Alter raus, in dem ich dir sagen müsste, dass nie jemand ihren Platz einnehmen könnte, aber …« Er zögerte. »Aber ich wollte es trotzdem gesagt haben.«

Lucia war die ganze Szene unwirklich vorgekommen. »Es ist …« schon in Ordnung, wollte sie sagen, aber die Worte kamen nicht aus ihrem Mund. Sie sah es vor sich. Eine ältere Dame, kultiviert, reizend, gepflegt. Geschmack, Geld, die richtigen Interessen. Eine Witwe, vermutlich. Jemand, der sich um ihn kümmerte. Jemand, der bereit war, die verschwiegene Lücke zu füllen, die ihr Leben so wie das seine bestimmte. Sie sah sich mit ihrer Stiefmutter. Untergehakt und plaudernd im Foyer der Oper. Sie würde sicherlich nicht Mutter zu ihr sagen. Sie würde sie wohl beim Vornamen nennen. Vielleicht würden sie gelegentlich miteinander einkaufen gehen. Oder zum Friseur.

»Du bist nicht einverstanden«, riss ihr Vater sie aus ihrem Tagtraum. Es war keine Frage.

Lucia lächelte. »Ich bin überrascht, das ist alles.«

Sie blickte in sein unsicheres Gesicht. »Ich freue mich«, versicherte sie. »Erzähl mir von ihr. Ich will alles wissen. Kenne ich sie?«

»Das glaube ich nicht.«

Lucia nahm gerührt zur Kenntnis, wie aufgeregt er klang.

»Ach, was soll’s!« Er straffte die Schultern und schluckte sichtbar. »Ich habe sie einfach gleich mitgebracht. Ich werde sie … äh, ich rufe sie einfach mal rein.«

Unwillkürlich überprüfte Lucia mit der Hand den Sitz ihrer Frisur. Sie sah tipptopp aus. Sie sah immer tipptopp aus, und das wusste sie. Dennoch hätte sie gern ein paar Minuten gehabt, um sich in Ruhe und eventuell mithilfe eines Spiegels davon zu überzeugen. Um sich zu sammeln für diesen Moment. Aber er war schon auf dem Weg zur Tür.

»Schatz!«, rief er. »Liebling, kommst du mal rein zu uns?«

Lucia erhob sich eilig von dem zarten Chippendale-Stühlchen. Was sollte sie sagen? ›Guten Tag!‹, ganz lapidar? Oder vielleicht etwas Feierlicheres, etwas wie ›Willkommen in der Familie‹ oder …

Jede weitere Überlegung erübrigte sich, als sich die Tür öffnete und diese Person den Raum betrat. In Lucia schien alles zu ersterben. Sie stürzte in einen Abgrund, einen sehr tiefen Abgrund, und zwar kopfüber, und landete in einem Morast aus ekligem, grünem Schleim, als die Zukünftige ihres Vaters den Mund öffnete und ein artig auswendig gelerntes »Guten Tag, ich freue mich sehr, Sie endlich kennenzulernen« von sich gab. Dass sie imstande war, Sätze auswendig zu lernen, das wusste Lucia. Denn obwohl sie es nie und nimmer zugegeben hätte, kannte sie die Person viel besser, als ihr lieb war.

Wenn Lucia sich wochentags um sieben Uhr abends in ihr Schlafzimmer zurückzog, so war diese Zeit sakrosankt: Ihr Vater, ihr Sohn, das Personal, ja sogar Agathe akzeptierten, dass sie bis Viertel vor acht unter keinen Umständen gestört werden durfte. Alle nahmen an, sie mache ihre Atemübungen, sie lese, sie betreibe ein wenig Yoga, sie tue eben das, was man von ihr gewohnt war. Niemand wäre je auf die Idee gekommen, dass sie den Fernseher einschaltete. Und hätte jemand geahnt, dass sie keine Folge von ›Das Hospital im Villenviertel‹ versäumte, sie wäre vor Scham augenblicklich tot umgefallen.

Tot umfallen schien ihr in eben jenem Moment eine durchaus brauchbare Alternative, denn vor ihr stand Schwester Angela leibhaftig. Schwester Angela war vor etwa einem Jahr zum ›Personal‹ gestoßen. Ihr mangelndes schauspielerisches Talent – eine Eigenschaft, die sie im Wesentlichen mit ihren Kollegen teilte – machte sie durch enorme Silikonbrüste wett, die in jeder Szene dem Dekolleté des Schwesternkittels zu entkommen suchten. Ihre Rolle bestand darin, Kaugummi kauend ihre Pflichten als Krankenschwester zu vernachlässigen und sich ihrer Kleidung zu entledigen, um mit dem Chefarzt, den Oberärzten und diversen Patienten zu kopulieren. Lucia hasste Schwester Angela. Alle hassten Schwester Angela. Was wohl der Grund war, dass sie vor nicht allzu langer Zeit einen absurden und blutrünstigen Serientod gestorben war. Natürlich war Lucia durchaus in der Lage, zwischen einer Schauspielerin und der Rolle, die sie spielte, zu unterscheiden. Leider bestand also nicht der geringste Zweifel, dass Schwester Angela quicklebendig war und hier vor ihr stand. Eine Frau, die zwar leicht verlebt wirkte, trotzdem aber höchstens Mitte 20 sein konnte. Eine Frau mit aufgeblähten Brüsten, blond gefärbten, strohigen Haaren und weit mehr Make-up, als ihr zuträglich war. ›Billig‹ war das bei Weitem harmloseste Wort, das Lucia im Kopf herumschwirrte.

»Darf ich vorstellen – Chantal Baumeister. Sie ist Schauspielerin!«, verkündete ihr Vater nicht ohne Stolz.

»Guten Tag!« Lucia aktivierte alles Soldatische, das sie in sich trug, und ließ eilig die schon zum Gruß erhobene Hand hinter dem Rücken verschwinden, während sie ihre Gesichtsmuskeln in eine lächelähnliche Grimasse zwang. »Es … es tut mir leid, ich … ich habe ganz vergessen …« Sie blickte mit gespielter Hektik auf die goldene Uhr an ihrem Handgelenk. »Termin …«, stieß sie hervor. »Ich meine, einen Termin, einen wichtigen Termin habe ich vergessen. Ich muss leider sofort …«

Sie war geflohen. Einfach weggelaufen. Und sie hatte sich nie wieder eine Folge vom ›Hospital im Villenviertel‹ angesehen.

4

»Hol’ den Schnaps und setz dich hin!« Agathe Hutschendorf vollführte eine ebenso herrische wie ungeduldige Bewegung mit ihren dünnen Ärmchen.

»Vielleicht sollten wir erst ein paar Übungen …« Auch unter den gegebenen Umständen war Britta nicht willens, von ihrem Ritual abzulassen. Dabei lehrte sie sämtliche Erfahrung, dass der Versuch, Agathe zum therapeutischen Turnen zu animieren, in etwa so große Erfolgsaussichten hatte wie der Plan, einen Esel zum Blockflötenspiel zu bewegen. Agathe hatte mehrfach und deutlich erklärt, dass sie weit über 90 Jahre ohne solchen Schnickschnack ausgekommen war und ihr ohnehin schon über die Maßen gesegnetes Lebensalter keinesfalls durch derartigen Blödsinn künstlich zu verlängern gedachte.

Heute würdigte sie Brittas Bemerkung nicht einmal der Kenntnisnahme. Sie saß in ihrem Lehnsessel, wiegte ihr runzliges Haupt mal nach links, mal nach rechts und starrte gedankenverloren vor sich hin.

Britta entnahm der wuchtigen Vitrine eine Flasche Götterfunke. Sie stellte das Produkt, das das Haus Hutschendorf groß gemacht hatte, nebst zwei Gläsern auf den Beistelltisch, der sich neben dem Sessel etwas verloren ausnahm, und setzte sich auf den Besucherstuhl. Agathe griff nach der Flasche. Ihrem Ritual entsprechend lächelte sie dem grimmigen Beethoven-Haupt auf dem Etikett freundlich zu, bevor sie die Gläser füllte. Sie prostete Britta zu, leerte ihr Glas in einem Zug und seufzte schwer.

»Wir müssen etwas tun!«

Britta starrte auf ihr unberührtes Glas. »Er kommt sicher bald wieder. Die Polizei …«

»Papperlapapp!«, unterbrach Agathe. »Die Polizei! Die Polizei hat keine Ahnung. Als würde er sich einfach vom Acker machen. Das ist lächerlich. Das passt nicht zu Walter.«

Britta räusperte sich. »Na ja …«

»Was – na ja?«

»Nichts. Nur – man steckt ja nicht drin. Ich meine, Menschen verändern sich. Vor ein paar Monaten hätte auch keiner gedacht, dass er noch mal heiraten würde.«

Agathe grunzte. »Das ist etwas anderes. Männer in dem Alter … das hat mit Hormonen zu tun. Aber es spielt ohnehin keine Rolle. Die Frage ist, was wir tun können.«

Britta nippte verlegen an ihrem Glas. Leider ließ Agathes bohrender Blick keinen Zweifel daran, dass etwas von ihr erwartet wurde. »Wir müssen Ruhe bewahren und abwarten.«

»Kappes!« Agathe füllte ihr Schnapsglas nach.

»Mag sein«, räumte Britta ein, »aber mir fällt dazu nichts Kluges ein!«

»›Mir fällt dazu nichts Kluges ein‹«, äffte Agathe. »Das ist mir aufgefallen. Aber du sollst ja auch nicht klug daher schwätzen, Liebelein, sondern du sollst etwas tun!«

»Ich?«

»Britta, ich bin nicht mehr die Jüngste. Mein Sohn ist verschwunden. Meine Enkelin, das muss ich leider sagen, verliert jede Contenance. Sie ist geradezu besessen von der Idee, dass Chantal ihn um die Ecke gebracht hat. Was mich überraschen würde, denn es ist kaum anzunehmen, dass meine Schwiegertochter rein intellektuell zu so etwas in der Lage wäre. Aber das hält Lucia nicht davon ab, sich nach allen Regeln der Kunst lächerlich zu machen. Und da kommst du mir mit Ruhe bewahren? Ich warne dich, meine Liebe, ich bin in einem Alter, in dem leicht mal ein paar Adern im Gehirn platzen. Ich kriege jetzt schon Herzklabaster!« Ihre blassblauen Augen verfinsterten sich. »Irgendwer muss etwas tun. Und du, meine Liebe, du verdankst Walter einiges. Oder hast du das vergessen?«

Natürlich hatte Britta das nicht. Wie sollte sie auch, wo Agathe sie bei jedem Besuch daran erinnerte? »Ich habe keine Ahnung, was Sie meinen!«, begehrte sie trotzdem auf. »Ich meine – warum ausgerechnet ich?«

»Lucia«, erklärte Agathe betont geduldig, »ist völlig hysterisch. Klein Walter ist erst acht. Das Flittchen steht unter Mordverdacht und hat den IQ von Weißbrot. Ich bin ungefähr 1.000 Jahre alt und stolz, dass ich es noch allein aufs Klo schaffe. Lass mich nachdenken, wer bleibt da noch?« Sie tat, als würde sie angestrengt überlegen. »Ja, richtig!«, rief sie dann und ihr Zeigefinger streckte sich drohend in Brittas Richtung. »Dann bleibst noch du!«

»Nein, nein!«, widersprach Britta, »das ist Sache der Polizei. Die wird sich schon darum kümmern.«

»Die Polizei? Dass ich nicht lache!« Agathe lachte laut und keckernd. Dann ruckelte sie mit der Zunge ihr Gebiss zurück in die richtige Position. »Die Polizei wird gar nichts tun. Es gibt nicht die geringste Spur eines Verbrechens. Und wenn das Gespräch mit Lucia und dem Flittchen auch nur annähernd so gelaufen ist, wie ich mir das vorstelle, dann werden die Herren Beamten zu dem Schluss gekommen sein, dass mein Junge aus gutem Grund Fersengeld gegeben hat.«

»Das mag ja alles sein, aber ich bin Physiotherapeutin. Ich bin Schwimmlehrerin. Ich kann Turnübungen, ich kann massieren. Ich kann Menschen die Front-Quadrat-Technik beim Kraulen beibringen. Das sind Sachen, die ich kann. Das sind Sachen, für die ich bezahlt werde. Ich habe keine Ahnung, wie man Leute sucht. Oder gar findet. Ich kann das nicht machen!«

»Da, meine Liebe, da irrst du.« Das Funkeln in Agathes Augen gefiel Britta ganz und gar nicht. »Du kannst mich nämlich nicht hängen lassen. Das brächtest du nie übers Herz.«

»Doch!« Es kostete Britta jeden Funken Willenskraft, den sie besaß. Aber es langte. »Es tut mir leid. Aber ich kann nichts für Sie tun!« Das klang gut. Das klang großartig. Das klang abschließend und kompromisslos.

»Ich brauche einfach jemanden, der die Augen offen hält. Und die Ohren. Ich muss wissen, was da draußen vorgeht.« Agathe tat, als hätte sie Britta nicht einmal gehört. »Ich bin ein böses, altes Weib, ich weiß. Aber ich habe keine Zeit mehr für Sentimentalitäten. Der Junge muss wieder her. So schnell wie möglich!«

Britta schwieg. Sie starrte aus dem Fenster. Eine Fähre querte den Rhein und näherte sich langsam dem Ufer in Niederdollendorf, wo Autos und Fußgänger geduldig in der Hitze warteten.

Erneut nippte sie am Schnaps. »Er ist mein einziges Kind.« Agathe holte tief Luft und seufzte dann ausgiebig. »Er war eine Enttäuschung, in vielerlei Hinsicht. Aber er ist mein Sohn.«

»Vielleicht sollten Sie einen Privatdetektiv engagieren«, schlug Britta vor.

»Einen wildfremden, windigen Kerl, der seine Nase in Familienangelegenheiten steckt? Das kommt nicht infrage.«

Britta kniff die Lippen zusammen. Es war höchste Zeit, dieses Gespräch zu beenden. Dieser Unsinn machte ihr ein bisschen Angst. Zögernd erhob sie sich von ihrem Stuhl. »Ich muss dann auch wieder. Ich habe viel zu tun. Ich habe wenig Zeit, eigentlich gar keine Zeit, mich in Dinge einzumischen, polizeiliche Ermittlungen und dergleichen …«

Agathe starrte sie fassungslos an. Es kam nicht alle Tage vor, dass man sich ihrem Willen widersetzte. Britta lenkte ihre Schritte zur Tür.

»Na, in Zukunft wirst du ja dann mehr Zeit haben. Oder weniger, je nachdem«, giftete es aus dem Sessel. »So eine Jobsuche nimmt ja doch viel Zeit in Anspruch.«

»Was?« Britta erstarrte.

Langsam wandte sie sich wieder Agathe zu, die vergnügt fortfuhr: »Ich sehe das immer im Fernsehen. Millionen Arbeitslose, Hartz IV, das ganze Elend. Da sitzen sie auf den kalten, zugigen Fluren im Arbeitsamt und warten. Stunde um Stunde. Natürlich hast du mit deinem abgebrochenen Studium im mittleren Alter ohne nennenswerte Referenzen sehr gute Aussichten. Ich bin sicher, du findest schnell eine Stelle. Eine ebenso gut bezahlte Stelle. Und eine schöne, günstige Wohnung. Es täte mir in der Seele weh, wenn du dich verschlechtern würdest.«

Britta fühlte einen übermenschlichen Drang, die Schnapsflasche zu ergreifen und sie Agathe über den bösen Schädel zu ziehen. Da das ihre Situation aber höchstens kurzfristig verbessert hätte, riss sie sich zusammen. »Das ist Erpressung!« Sie legte all ihre moralische Entrüstung in das Wort.

»Ja, das hast du gut erkannt!«

»Das ist unmoralisch! Das ist nicht fair!« Britta bedauerte, dass ihre Argumente so infantil klangen, aber leider sprudelten sie direkt vom Bauch über Kehlkopf und Zunge in den Raum hinein.

Agathe grinste zufrieden. »Das ist es wohl. Aber weißt du, ich habe im Lauf meines Lebens einiges gelernt. Etwa, dass Erpressung ein durchaus wirksames Werkzeug ist. Es ist mir über die Jahre fast zur lieben Gewohnheit geworden. Und weißt du, wenn man über 90 ist, dann trennt man sich nicht mehr von lieben Gewohnheiten.«

5

Die sommerliche Dämmerung tauchte die Fabriklandschaft in rosafarbenes Licht. Normalerweise liebte Lucia die Aussicht aus ihrem Bürofenster. Obwohl das Industriegebiet genauso aussah, wie Industriegebiete nun einmal aussehen. Die meisten Menschen hätten das Panorama eher unattraktiv gefunden. Aber Lucia sah mehr als funktionale Hallen und Schornsteine. Lucia sah das Werk eines Lebens. Das Werk mehrerer Generationen gar. Lucia sah, was wichtig war. Und in der Regel gefiel es ihr, vor allem, wenn die Abendsonne ihr mildes Licht auf die Anlage warf. Heute allerdings bemerkte sie das Schauspiel kaum.

Nachdem ihr Sohn nach einem schweigsamen Abendessen, dem sowohl Agathe als auch Chantal fern geblieben waren, ins Bett geschickt worden war, hatte sie es zu Hause nicht mehr ausgehalten. Schon der Gedanke, unter einem Dach mit der Person zu sein, hatte es ihr unmöglich gemacht, zur Ruhe zu kommen. Sie hatte sich in ihr Auto gesetzt und war über die Autobahn hinaus ins Vorgebirge gefahren, in das so genannte Durchfahrland. Ihr Großvater hätte sich bei dem Gedanken, die Firma aus dem Stadtgebiet ins Umland zu verlegen, vermutlich im Grabe herumgedreht. Aber auch als Traditionalistin war Lucia imstande zu erkennen, wann aus Tradition Idiotie wurde. Die Firma wuchs und irgendwann hatte es einfach keine Alternative zum Umzug ins Industriegebiet gegeben. Bornheim Süd, gelegen zwischen Auto- und Eisenbahn, war ein hervorragender Standort. Auch, wenn ihr Arbeitsweg im Berufsverkehr nicht unbedingt ein Vergnügen war.

Heute hätte Lucia allerdings lieber jeden Stau der Welt in Kauf genommen, als den Abend zu Hause zu verbringen.