Cover

Die matronenhafte Bibliotheksdirektorin Tamara, die mit dem kränklichen Wiktor ihren zweiten Frühling erlebt. Sergej mit den Kunstledersandalen, dessen Scheune begehrter Treffpunkt der Jugendlichen ist. Die drei »Schlampen«: Lena mit dem Oberlippenbart, Dina mit dem Vater im Knast und Oksana, Expertin für Schwangerschaftsabbrüche. Nastja beobachtet sie, seit sie ein kleines Mädchen ist. Zusammen mit ihrer Mutter und Großmutter lebt sie in einem Städtchen unweit von Moskau, das bessere Tage gesehen hat. Die Bewohner hausen zwischen Eimern und Einweckgläsern, zwischen Plumpsklo und Gemüsegarten, trinken bitteres Bier und selbstgebrannten Schnaps, beschimpfen und vergnügen, lieben und schlagen sich. Zunächst scheint Nastja als Erzählerin wie über dem Geschehen zu schweben, dann jedoch zieht es sie mitten hinein in das Pop-up-Panorama der russischen Provinz. Sie erlebt Geschichten voller Poesie und Gewalt, Tragik und Humor, Episoden mit ungewissem Ausgang. Bis Nastja sich in den jungen Soldaten Dima verliebt und es so aussieht, als würde ihr Leben eine unvorhergesehene Wendung nehmen.

Anna Galkinas Blick kennt keine Scheu und kein Erbarmen, durchbohrt die Härte des sowjetischen Alltags, trifft mitten ins Herz. »Das kalte Licht der fernen Sterne« erzählt unerbittlich und doch unbeschwert, mit viel Humor und großer Warmherzigkeit, von Schicksalen, die lange nachhallen.

Titel

Meiner Mutter

INHALT

Der Ort meiner Kindheit

Das Städtchen

Das Haus und der Garten

Stumme Zeugen der Vergangenheit

Der Lokführer und sein Sohn

Unsere Straße

Winter

Frühling

Sommer

Herbst

Die Hygiene

Der Stromausfall

Der Kindergarten

Das Gutenachtmärchen

Skandal

Exhibitionismus

Was macht man in der Bahn

Lebensmittel

Unsere Schule

Meine erste Lehrerin

Bronislawa Iwanowna

Worüber man nicht spricht

Meine erste Liebe

Aufklärung

Der Traum kommt nach Moskau

Eine andere Hautfarbe

Der Club der Poesieliebhaber

Die Clubmitglieder

Die Planungsabteilung

Olga

Der geheimnisvolle Brief

Robert

Robert zieht ein

Wassjas Haus

Die Brotfabrik

Die Schlampen

Dina

Bestrafungen

Cabaret

Die Clique

Mondscheinbaden

Das Treffen im Park

Die Flucht

Wir werden gefunden

Die zweite Flucht

Die Suche

Ljoscha und Marina

Die letzte Flucht

Die dritte Farbe

Die Strichmädchen

Der Rauch

Der Fotograf

Sauberkeit muss sein

Die Direktorin

Wie Tamara Gerassimowna mit den Männern abschloss

Warum Tamara Gerassimowna von Rettich träumt

Das Glück ist obdachlos

Tamara Gerassimowna ist eine Spätzünderin

Sofia zieht weg

Der Geschäftsmann

Die Haushälterin

Der andere Blickwinkel

Robert entscheidet sich

Zwischen den Stühlen

Wir fahren weg

DER ORT MEINER KINDHEIT

Der Ort meiner Kindheit ist ein Städtchen unweit von Moskau. Zwanzig Jahre sind seitdem vergangen. Ich bin wieder hier.

Unser Haus brannte bald nach unserem Wegzug ab. Der alte Lindenbaum im Garten, vermutlich der älteste Baum im Ort, stürzte ein Jahr später um.

Auf dem Grundstück steht ein neues Haus. Die verkohlten Fensterrahmen liegen immer noch daneben. Das Haus ist neu, aber der Zaun ist alt. Damals hat ihn die Großmutter jedes Jahr vor dem proletarischen 1.-Mai-Fest neu lackiert. Jetzt haben Regen und Schnee die Farbe fast vollständig abgewaschen.

Vom Garten aus kann man die Eisenbahnlinie sehen, auf der anderen Seite die alte Brotfabrik. Als Kind saß ich abends oft hinter dem großen Wohnzimmerfenster und schaute dem Sonnenuntergang zu. Das weiße Fabrikgebäude zog für eine kurze Zeit ein neues Farbkleid an. Dann verblassten die Farben allmählich, und die glühende orangerote Kugel verschwand hinter dem Mauerwerk.

Aus dem Fabrikgebäude ist ein prächtiger Kirchenkomplex geworden. Einige Kuppeln sind vergoldet, andere himmelblau und mit Sternen verziert. Das Gold glänzt, die Sterne leuchten, der Schein trügt.

Ich drücke auf den Auslöser.

Im Eingangsbereich gibt es einen Kopftuchservice für Vergessliche. Ich nehme ihn notgedrungen in Anspruch. Die Frau, die Opferkerzen verkauft, mustert meine Kamera. Dann verlangt sie für eine Kerze das Zehnfache vom üblichen Preis.

Unter dem kitschig bemalten Kirchengewölbe beten ein paar alte Frauen. Unter Begleitung des Kirchenchors zünde ich die teure Kerze an. Aber eine erhabene Stimmung stellt sich nicht ein.

Ich blicke nach vorne zum Altar. Zwanzig Jahre sind vergangen. Alles verschwimmt vor meinen Augen. Der Altar verschwindet. Die Frauen verschwinden. Die Wandmalereien verschwinden. Mit einem Mal ist es nicht mehr das Weihraucharoma, das den Raum erfüllt. Es riecht nach Brot, nach Zigarettenrauch, nach Alkohol, nach Schweiß. Es ist heiß, es ist laut. Ich bin wieder hier, das Fließband läuft. Ein Zug, der rattert und rattert und …

DAS STÄDTCHEN

Wenn man aus dem Zug steigt, verlangsamt sich alles. Es fallen einem zunächst zwei Dinge auf. Das eine ist der Bahnhof. Das alte Gebäude ist ein Zeuge der Zeit, als unser Städtchen vornehmlich andere Leute sah. Vor der Revolution war es ein Erholungsort für Adelige und die Moskauer Boheme. Aber die Zeiten sind vorbei. Mit Anbruch der Sowjet-Ära wurden die Straßen des Städtchens mit überdimensionierten Leninstatuen geschmückt. Allein der Bahnhof wird von zwei solchen Kolossen bewacht. Und es hilft wirklich. Die Elite hält sich möglichst fern von diesem Ort und baut ihre Datschas in einem anderen Dorf im Moskauer Speckgürtel. Die Aura von Lenin, der da aus Stein gemeißelt von oben auf die Stadt herunterschaut, ist überall deutlich zu spüren. Deswegen zieht das Städtchen Proletarier magisch an.

Auf dem Bahnhofsvorplatz tummeln sich zahlreiche Taxifahrer, die auf Kundschaft warten. Unterschiedliche Kunden sind das. Einige fahren nur mit, andere suchen hier etwas ganz anderes. Insbesondere spätabends und nachts, wenn die Geschäfte geschlossen sind. Ein bekannter russischer Kabarettist sagte einmal: »In der Sowjetunion säuft nur die Eule nicht, weil nachts die Läden geschlossen haben.« In unserem Städtchen sind auch Eulen nicht im Nachteil. Wodka, Wein und selbstgebrannten Schnaps gibt es auf dem Bahnhofsvorplatz jederzeit.

Auch die Zigeunerinnen gehören hier zum alltäglichen Erscheinungsbild. Sie verkaufen Zuckerwatte und Lollis. Die Zuckerwatte in chemisch grellen Farben interessiert mich nicht, dafür ist der Lolli – ein Hahn am Stiel – der ewige Traum. Meine Oma erlaubt mir nicht, etwas von Zigeunern zu kaufen. Man sagt, sie waschen sich nicht die Hände und lecken die Lollis ab, damit sie glänzen. An einem Tag gebe ich das Geld trotzdem nicht für das Schulessen aus. Stattdessen kaufe ich mir den langersehnten Hahn. Er ist in Zellophan verpackt. Auf dem Weg nach Hause nehme ich die Folie vorsichtig ab. Der Hahn ist halb durchsichtig. In der Sonne leuchtet er, als wäre er aus Bernstein.

Überall auf dem Bahnhofsvorplatz liegen ausgespuckte Schalen von Sonnenblumenkernen. Geröstete Sonnenblumenkerne sind ein russischer Nationalsnack. Omas verkaufen sie am Bahnhof und auf dem Markt daneben in selbstgedrehten Tüten aus Zeitungspapier. Die Schale wird mit den Vorderzähnen geknackt, der Kern mit der Zungenspitze herausgeholt. Das weitere Vorgehen ist sehr individuell, da scheiden sich die Geister. Manche spucken in die Hand, manche in ein speziell dafür mitgenommenes Tütchen, manche tun nichts davon, weil Sonnenblumenkerne auf der Straße zu knacken eine Unsitte ist. Viele haben grundsätzlich keine Hemmungen. Die meisten. Insbesondere Männer. Sie spucken und schnäuzen im Vorbeigehen direkt auf die Straße. Deswegen sind die Gehwege mit unzähligen Spuck-, Rotz-, und Blutflecken bedeckt, die Geschichten erzählen.

Vom Taxiplatz gelangt man in wenigen Schritten zum Busbahnhof. Diesen ziert ein anderes prominentes Objekt: der alte Wasserturm – ein gigantischer Pumpbrunnen aus rotem Backstein. Die eigentliche Bausubstanz ist zum größten Teil nicht mehr sichtbar. Den Proletariern war die schlichte Schönheit des Pumpbrunnens unzugänglich. Farbenfroher sollte er werden. Das geht doch schnell. Vor allem dann, wenn man nicht sachkundig ist. Da klatscht man kurzerhand etwas Putz auf die roten Backsteine, wartet ein wenig ab und streicht mit irgendeiner Farbe darüber. Welche Farbe das wird, ist von der jeweiligen Laune der Bahnverwaltung abhängig. Und die ist jedes Jahr anders. Der nie getrocknete, aufgeweichte Putz fällt in großen Brocken ab und die alten Backsteine treten wieder zutage.

An der Ecke neben der Unterführung stehen die Getränkeautomaten. Für maximal drei Kopeken kann man hier seinen Durst löschen. Ein Glas Sprudelwasser kostet eine Kopeke, für drei Kopeken gibt es noch etwas gelben Limonadensirup. Nicht gerade viel. Aber weil der Sirup zuerst kommt, nehme ich schnell das Glas weg, warte, bis das Wasser in der Abflussöffnung des Automaten verschwindet, und werfe noch drei Kopeken ein. Dank diesem Trick bekommt man ein Glas Limonade mit Doppelsirup. Die Gläser sind öffentlich, das stört aber niemanden. Schließlich ist ein kleiner Wasserbrunnen in den Automaten eingebaut. Man stellt das Glas darauf, drückt mit der Glaskante nach unten, und schon spritzt ein dünner Wasserstrahl in das trübe Gefäß.

An heißen Tagen sind auf dem Bahnhofsvorplatz und überall in den Straßen gelb angestrichene Tankwagen zu sehen. Das ist Kwas – das beliebteste Erfrischungsgetränk unseres Volkes. Bierähnlich ist sowohl sein Aussehen als auch der Geschmack. Wenn man Kwas aus dem Tank zapft, bildet sich eine prächtige Blume und der Schaum läuft über den Rand des riesigen Glaskrugs.

Eine Seitenstraße neben dem Busbahnhof führt direkt zum Markt. Die alte Markthalle hat nur eine Etage, aber unendlich hohe Decken. Durch die kleinen Fenster dringt schummriges Licht hinein. Die Luft ist feucht und modrig. Die Gerüche, die Stimmen, die Geräusche strömen von allen Seiten zusammen und verschmelzen miteinander. Überall werden verschiedenste Leckereien dargeboten: Salzgurken und Tomaten mit Knoblauch und Dill, knuspriges Sauerkraut mit Äpfeln und Möhren direkt aus dem Holzfass, betörend riechender Bienenhonig in allen möglichen Sorten, marinierter Bärlauch, Stockfisch, der obligatorisch zum Bier gegessen wird, und sogar richtig gutes Fleisch, das wir uns nicht leisten können. Um die Fleischreihen mache ich einen großen Bogen.

Auch die Milchprodukte, die vollbusige, rotbäckige Matronen in weißen Kitteln verkaufen, sind unerschwinglich und erzeugen reichlich Speichelfluss. Es fällt mir schwer, mich von der fetten Landmilch, dem cremigen Schmand, der Butter und dem selbstgemachten zarten Quark loszureißen und weiterzugehen.

Draußen erfreut sich das Auge an der Blumenpracht, die liebevoll von älteren Frauen im eigenen Garten gezüchtet wurde. Auf die Blumenhändler folgen Kartoffelverkäufer, aber auch hier mangelt es nicht an Farben. Die Kartoffeln sind je nach Sorte rosa, gelb, weiß, purpur oder blau. Auch sie werden meist von älteren Frauen angeboten. Es hat etwas Magisches, zu beobachten, wie sie die Kartoffeln bedächtig abwiegen und mit ihren faltigen, staubigen Fingern die überschüssigen rosafarbenen Kartoffeln in den Sack zurückwerfen.

Je nach Jahreszeit sind die weiteren Marktreihen mit kleinen warzigen Gurken, weißen bauchigen Zucchini, glänzenden Auberginen, Bundmöhren, gigantischen Kürbissen, Zwiebeln, jungem Knoblauch, herrlich duftenden Gartenkräutern, allerlei bunten Beeren und Pilzen frisch aus dem Wald bestückt. Und dann noch die zwei beliebtesten Gemüsearten: die kernigen Kohlköpfe und Rote Bete. Kohlsuppe und Borschtsch isst man in Russland gern.

Die Verkäufer aus Asien haben Tomaten und exotische Früchte dabei: Aprikosen, Pfirsiche, Melonen, süße Kirschen, Kakis … Auch die viel zu teuer für unsere Familie, aber ich schaue sie mir gerne an. Am Ende des Marktes erwarten einen geröstete Kürbis- und Sonnenblumenkerne. Als Verkaufseinheit gilt ein Glas. Daneben Tiere – junge Welpen und Kätzchen, die in den Reisetaschen jaulen, Ziervögel und bei Wärme auch Aquarienfische.

Nach wenigen Gehminuten erreicht man einen weiteren vielbesuchten Ort des Städtchens: den Zentralpark. Dort findet man auch den dritten Zeugen der goldenen Zeit: das Sommertheater. Ein Denkmal der Schnitzkunst, ein Holzpalast, in dem seinerzeit selbst der berühmte Fjodor Schaljapin sang. Jetzt ist es ein Kino, in dem sowjetische Filme auf die Leinwand projiziert werden.

Schlendert man durch die grünen Alleen, kann man weitere Attraktionen und Fahrgeschäfte entdecken. Deswegen ist der Park während der warmen Jahreszeit von Familien mit Kindern überfüllt. Auch Erwachsene fahren gerne mit. Das Karussell dreht sich immer schneller, der Sommerwind wirbelt einen über die Bäume und Sträucher, höher und höher, und es scheint, als würde man gleich abheben und fliegen.

Frei wie ein Vogel.

DAS HAUS UND DER GARTEN

Unser Haus ist zehn Minuten Fußmarsch von dem Bahnhof und den letzten Häusern des Städtchens entfernt. Danach kommen nur noch der Fluss, der See, die Felder und die Bahngleise. Das Haus ist von einem Garten umgeben, der an die Nachbargärten grenzt.

Der Vorgarten ist ein Wald. Das Grundstück hinter dem Haus haben die Vorbesitzer mit Obstbäumen bepflanzt. Dort wächst auch allerlei Gemüse, das Großmutter und ich jedes Jahr zusammen anbauen. An seinem Ende, wo Brennnesseln und Himbeersträucher dicht an dicht wachsen, steht auch das Klohäuschen. Daneben die Überreste einer alten, verbrannten Scheune. Zwischen der Scheune und dem Gartenzaun versteckt sich eine Müllhalde, die wir nicht benutzen. Der Müllberg ist sehr hoch. Wenn man sich daraufstellt, kann man auf das Dach der Nachbarscheune steigen. Der alte Müllhaufen ist eine wahre Fundgrube für jene, die sich für das Leben der Ahnen interessieren. Und das tue ich. Ich bin die Einzige in unserer Familie, die das tut. Ich wühle heimlich in dem Müll herum und werde belohnt. Ein antiker Oklad aus Silber, ein uralter Kerzenständer und viele andere Grüße aus der Vergangenheit kommen zum Vorschein.

Das Haus ist aus Holz, sein Fundament aus Stein und Lehm. Ins Fundament sind Lüftungsöffnungen eingelassen, die im Sommer offenstehen. Darin ist es so dunkel, dass man nichts erkennen kann, egal wie lange man reinschaut. Umrisse und Klänge verlieren sich in dem schwarzen Loch. Das Fundament ist bei Schnaken beliebt. Ab und zu reiße ich einer Schnake ein Bein aus und beobachte dann, wie sie hinkt.

Fünf Stufen führen hoch ins Haus, von dort gelangt man in den kleinen Flur und von da aus in die Küche. Darin stehen ein Herd, ein Gasofen, der das gesamte Haus beheizt, und ein Lebensmittelschrank mit einem ausklappbaren Schneidebrett. An der Wand neben dem Herd hängt ein alter Wasserspender. Darunter befindet sich ein Eimer, um das Wasser aufzufangen, und weitere Eimer mit Wasservorräten. Unsere Schuhe stellen wir vor den Gasofen. Auf den Schuhen schlafen die Katzen.

Das kleine Zimmer, in das man über die Küche gelangt, gehört mir. In der langen Zeit vor meiner Geburt wurde dieses Zimmer an wildfremde Leute vermietet. Und es waren nicht wenige. Die Wände, die die Räume voneinander trennen, sind aus dünnen Holzbrettern gezimmert. Deswegen kann man alle Aktivitäten der Mitbewohner hören und sogar durch die Spalten zwischen den Brettern beobachten.

Außer im Spielzimmer gibt es in unserem Haus keine Tapeten. Große dunkle Baumstämme bilden die Außenwände, die Fugen sind mit Hanfwerg abgedichtet. Das Werg ist ein Wundermittel gegen die Langeweile, die einen überkommt, wenn man krank im Bett liegt. Dann kann man ganze Hanffasern herauszupfen, daraus Zöpfe flechten und anschließend das Entsetzen der Großmutter genießen, die wutentbrannt und mit einem Schraubenzieher bewaffnet, versucht, die Hanffasern wieder in die Fugen hineinzuzwängen.

Unser Haus gleicht einer Galerie. Ölgemälde, Familienfotos, Konzertposter, Hirschgeweihe, eine Kuckucksuhr und allerlei Volkskunst wie bemalte Holzlöffel, Tabletts, Zierteller sowie meine eigenen Bilder schmücken die Wände. Und Bücher, so weit das Auge reicht. Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr ist die Bibliothek Mutters Leidenschaft. Wunderschön illustrierte Märchen in Sammlereditionen, unzählige Lyrikbände, moderne und klassische ausländische Literatur, russische Klassiker, Sagen und Mythen. Unsere Gäste stürzen sich immer gleich auf die Bücherschränke, reiben sich die Hände und blättern gierig in den Bänden.

Nur mit frischgewaschenen Händen darf ich mich den Bücherschränken nähern. Es gibt dort auch Türen, die verschlossen sind und die ich nicht öffnen darf.

Dank der sechs riesigen Fenster fühlt man sich in unserem Wohnzimmer wie in einem Aquarium. Eine Ecke dieses Zimmers ist heilig. Dort steht ein Altar, den meine Mutter für ihre Idole eingerichtet hat. Mit gemalten Porträts ihrer Lieblingspoeten. Die Poetenmesse findet gewöhnlich spätabends statt. Dann zündet meine Mutter eine Kerze an und stellt sie unter die Porträts auf den kleinen antiken Holztisch mit der Marmorplatte. Danach liest sie lange Gedichte vor. Zwetajewa, Achmatowa, Mandelstam, Rilke …

Ihre Stimme wird fremd, und das Kerzenlicht spiegelt sich in ihren großen Augen, bringt sie zum Leuchten. Es scheint, als würden Mutter Flügel wachsen, und ich habe oft Angst, dass sie wegfliegt, weg von diesem alten unheimlichen Haus, weg von Großmutter, weg von mir …

STUMME ZEUGEN DER VERGANGENHEIT

Unser Haus ist voller Geheimnisse. Sie sind wie abgebrochene Sätze, unvollendete Geschichten, wie Punkte oder Gedankenstriche, wie Fragezeichen, wie ein leiser Widerhall längst vergangener Zeiten, wie stumme Zeugen des Lebens vor meiner Geburt.

Eine Tür im Wohnzimmer, die sich nie öffnen lässt, entpuppt sich als der Eingang zum Wintergarten, der nie gebaut wurde. Vor dem Haus liegen mehrere alte Backsteine, der Baustoff, aus dem Träume sind, Träume vom Wintergarten, die mein Opa hegte.

Er ist zu früh gestorben. Ich habe ihn nicht kennengelernt. Aber man kann aus den Backsteinen kleine Häuser, Brunnen und Öfen bauen, in denen ich heimlich Feuer zünde.

Im Esszimmer neben dem Buffetschrank ist eine Bodendiele ganz anders als die Dielen daneben. Wenn man genau hinschaut, entdeckt man unter mehreren Schichten Holzlack zwei Scharniere und einen Griff. Es ist der Eingang in den Keller. Die Pforte zur Unterwelt. Ich träume davon, den Buffetschrank heimlich zu verschieben und den Keller ausgiebig mit einer Taschenlampe zu erkunden. Früher hat man dort Essensvorräte aufbewahrt, Kartoffeln in Säcken, Möhren, Rote Bete, Holzfässer mit Sauerkraut und allerlei Eingemachtes. Früher, als meine Uroma noch lebte, die ich auch nicht kennengelernt habe.

In der großen alten Regentonne, ursprünglich eine Gartendusche, steht seit Ewigkeiten abgestandenes Wasser. Das Wasser ist dunkelgrün und lebendig. Da wohnen kleine agile Wesen, künftige Mücken, die im Sommer und im Frühherbst gnadenlos stechen. Neben der Treppe unten am Haus war früher ein Hühnerstall. Nun ist er ein Lager für Gartenwerkzeuge, alte Lappen und sonstigen verstaubten Kram.

In meinem Zimmer gibt es drei Fenster. Zwei lassen Tageslicht durch, das dritte ist ein Fenster ins Nichts. Auf seiner anderen Seite befindet sich seit Jahren ein Anbau unserer Nachbarn, die ihre Haushälfte eigenmächtig erweitert haben.

Ein uralter Holzbrunnen im Garten wird von Himbeersträuchern, hohem Gras und wilden Blumen umwuchert. Irgendwann hat man Wasser aus dem Brunnen gepumpt, irgendwann in den unbekannten Zeiten. Der Brunnen ist sehr tief. Die Holzplanken sind grün von der Feuchtigkeit und mit Moos bewachsen. Ganz unten, meterweit entfernt, glänzt der dunkle Spiegel des Wassers.

Über eine Ecke des Brunnens spannt sich ein Spinnennetz. Manchmal schmücken Regentropfen oder Tau das filigrane Netz, und die Sonnenfunken glitzern auf den unzähligen kleinen Wasserperlen.

Unser Haus hat zwei Etagen. Die obere Etage ist eine Mansarde. Meine Familie nennt sie den Speicher. Der Speicher hat zwei große Balkone und mehrere kleine Zwischenräume, die man als ausgefallene Verstecke, Kammer des Schreckens oder Abstellräume benutzen kann. Bevor ich auf die Welt kam, diente der Speicher im Sommer als Gästezimmer. Jetzt ist alles mit Staub bedeckt.

Der Speicher ist wie eine riesige Schatztruhe. Stundenlang kann ich ihn durchsuchen, mich durch seine engen Gänge zwängen, kriechen und klettern. Und nicht selten entdecke ich alte Schätze im Staub. Ein Album mit seltsamen Fotos von meinem Onkel, Schulzeugnisse, ein wunderlicher Aschenbecher mit Teufelskopf, antike Bilderrahmen, vergilbte Marken und längst vergessene Liebesbriefe.

Die Balkone sind meine Sommerresidenz, das Geländer ist meine Rutsche, das Dach mein Platz zum Sonnenbaden und noch viel mehr. Auf dem Dach macht man Hausaufgaben, auf dem Dach unterhält man sich ungestört mit Freunden, aufs Dach flüchtet man nach einem Familienstreit. Das Dach ist mein Geheimquartier und mein Zufluchtsort, mein zweites Zuhause unter freiem Himmel, das sich in manchen sternenreichen Sommernächten in ein Observatorium verwandelt.

Auf dem Dach thront ein Schornstein und im Schlafzimmer steht ein großer weißer Kaminofen. Aber das Feuer im alten Ofen brennt nicht mehr. Deswegen schlängelt sich auch kein Rauch aus dem Schornstein.

DER LOKFÜHRER UND SEIN SOHN

Im Nachbarhaus wohnt die Familie des Lokführers. Der Lokführer ist ein unscheinbarer kleiner Mann Mitte dreißig. Er ist immer freundlich, er redet leise und lächelt verlegen. Der Lokführer kann einem nicht in die Augen schauen, er blinzelt dann, als wäre er vom Sonnenlicht geblendet.

Onkel Sascha nennt den Lokführer »Weichei«, andere Nachbarn nennen ihn »Verrückter«. Die Weichheit des Lokführers wird durch eine starke Ehefrau ausgeglichen. Sein Sohn ist klein und zierlich. Er lächelt nie und redet selten. Nur einmal höre ich ihn weinen. Ein einziges Mal. Da ist er ungefähr acht Jahre alt.

Es ist im Sommer, als die Hündin des Lokführers wirft. Eines Nachts bringt sie unbemerkt ihre Welpen zur Welt. Sechs braune und einen roten mit einem weißen Fleck auf der Brust. Man entdeckt sie erst am nächsten Morgen.

Lange sitzt der Sohn des Lokführers vor der alten Hundehütte und beobachtet, wie die Winzlinge, blind und hilflos, jämmerlich piepsen, mit ihren kleinen Schnauzen in das Bauchfell der Mutter stoßen und sich gierig an einer Zitze festsaugen. Die Hütte ist so klein, dass die Hündin mit den Welpen das ganze Häuschen ausfüllt. Müde von den Strapazen der Nacht liegt sie auf dem von der Sonne erwärmten Holzboden und wartet geduldig, bis die kleinen Wollknäuel endlich satt einschlafen. Erst dann steht sie vorsichtig auf und trinkt gierig Wasser aus dem schmutzigen Blechnapf.

Der Junge streckt seinen Kopf in das Häuschen und streichelt mit den Fingerspitzen die schlafenden Welpen. Fast den ganzen Tag verbringt er im Garten vor der Hundehütte, bis es dunkel wird und sein Vater ihn ins Haus ruft.

Am nächsten Tag werden die Schulzeugnisse verteilt, die Ferien fangen an. Auf dem Weg nach Hause albert der Junge herum. Er hüpft, er springt, er singt. In einem Nachbarhof tobt vor Wut ein Schäferhund, stellt die Vorderpfoten auf den Zaun und bellt bis zur Heiserkeit. Der Junge lacht, pfeift dem Hund zu und läuft weiter. Die Sonne scheint.

Er öffnet das Gartentürchen. Aber keiner begrüßt ihn. Die Hundehütte ist leer. In der Ferne, am anderen Ende des Gartens neben dem sauber gestapelten Brennholz, sieht der Junge seine Mutter. Sie wirkt beschäftigt. Neben ihr steht ein großer Eimer. Sie wäscht irgendetwas.

Der Junge rennt zu ihr.

»Mama, die Welpen sind weg!«, ruft er.

»Noch nicht, aber gleich«, antwortet die Mutter.

»Ich verstehe nicht, Mama. Wo sind sie denn?«

Dann hört er das leise Winseln. Auf der Erde in ein Tuch gewickelt liegen die Welpen. Die Mutter bindet das Tuch zusammen. Dann hebt sie das jaulende Bündel hoch. Plötzlich dämmert es dem Jungen.

»Nein! Tu das nicht, Mama, bitte! Nein! Bitte nicht!«

»Halt die Klappe! Du entscheidest hier nicht!« Sie taucht das Tuch in das eiskalte Wasser.

Dann setzt sie einen Deckel auf den Eimer und beschwert ihn mit einem Backstein.

»Neeeeein!«, schreit der Junge, und die gesamte Nachbarschaft hört seinen Schrei.

Als die Sonne untergeht, vergräbt der Lokführer die Welpen im Garten. Die Hündin sucht ihre Kleinen überall. Irgendwann wird sie fündig, gräbt das Tuch mit den toten Welpen aus und trägt es ziellos im Garten umher.

UNSERE STRASSE

Alle Häuser in unserer Straße sind aus Holz, die einzige Ausnahme ist das weiße Steinhaus des Pfarrers. Der Asphalt ist beschädigt. Überall Risse und Brüche. Am Pumpbrunnen an der Ecke bildet sich regelmäßig eine riesige tiefe Pfütze, die sich im Winter in Glatteis verwandelt. Im Sommer wird sie mit alten Brettern überbrückt, im Winter großzügig mit Salz bestreut.

Schiefe Holzzäune trennen die Höfe von der Straße. Gegenüber unserem Gartentürchen steht ein Stromkasten, der ab und zu repariert werden muss. Manche Monteure lassen sich den Spaß nicht nehmen und schnitzen genüsslich das eine oder andere Schimpfwort in unseren Zaun. So verewigen sie sich.

Wenn man dem Straßenverlauf an dem Pumpbrunnen vorbei und über die Querstraße Richtung Bahnhof folgt, kann man sich auch ausschließlich mit seinem Geruchssinn orientieren. Hier strotzt es nur so vor verschiedenen Aromen.

Der erste Anhaltspunkt liegt hinter den zahlreichen Bäumen und Sträuchern verborgen, aber an heißen Sommertagen kann man ihn kaum verpassen. Die alte Müllhalde riecht nach verfaultem Obst, verbranntem Plastik, benutzten Kondomen, Schnaps und dunklen Geheimnissen. Einsame Säufer finden hier einen Rast- und Trinkplatz und freizügige Liebespärchen ein Versteck für ungestörten Sex.

Der Geruch des ersten Gartens nach der Müllhalde lässt Äpfel, Birnen, Pflaumen, Kirschen, Blumen und Kräuter erahnen. Der Hof daneben verströmt einen scharfen Schnapsgeruch. Im nachfolgenden Haus, wo unsere Freunde wohnen, riecht es nach alten Büchern, Honigkuchen und einem Kettenhund. Das nächste Gebäude duftet nach frischgebackenen Teilchen, nach Zimt, Nelken und Safran, nach Marzipan, Rum, Schokolade, nach Marmelade und nach Kindheit. Das ist die Konditorei. Die folgenden zwei heruntergekommenen Häuser riechen nach morschem Holz, nach Schimmel, nach Moos, nach alten Teppichen, nach Ruß und zerbrochenen Träumen. Aber ehe man eine zarte Melancholie verspüren kann, schlägt einem ein derart starker Geruch entgegen, dass man sich festhalten muss. Es vermischen sich Wodka und Wein, Bier und Schnaps, Tabak, Urin, Schlamm, primitive Lust, einfache Freuden, unterdrückte Tränen und verdrängter Schmerz.

Das ist die Kneipe Drei Ferkel, ein Dampfschiff, das in einem tiefen Meer aus Alkohol zu versinken droht. Als Passant musst du auf dem schmalen Gehweg sehr vorsichtig sein. Es kann passieren, dass einer der Betrunkenen, die vor der Kneipe stehen, auf dich fällt.

Danach kann dich nichts mehr erschüttern. Du nimmst das kleine Holzhäuschen an der letzten Ecke unserer Straße gelassen wahr. Das ist der Gemüseladen. Die Aromen von verfaulten Kohlköpfen, keimenden Kartoffeln und verschimmelten Möhren, verwelkten Gartenkräutern, nasser Erde, altem Leinen, Hunger und Armut schweben in der Luft und verfolgen dich in deinen Träumen.

Dein Leben lang.

WINTER

Winter ist das Weiß, Winter ist die Ruhe und die leeren Straßen. Winter ist der in der Sonne glänzende Schnee, Myriaden von winzigen funkelnden Kristallen. Winter sind Schneeflocken, die vom Wind getrieben wie weiße zarte Blüten durch die frostige Luft fliegen. Winter ist das von der Kälte taube Gesicht, eingefrorene Zehen, rote Hände und steife Finger.

Winter ist Schwarzweiß: Rabenschwarz und Schneeweiß. Winter sind Spuren, Fäkalien, Blut und Urin auf dem weißen Schnee. Winter sind verschwundene Wege, die nach starken Schneefällen freigeschaufelt werden müssen. Winter ist der hohe schwarze Himmel und das kalte Licht der fernen Sterne. Winter ist der Klang des Schnees unter den Füßen und die klare, klirrende Luft des Waldes.

Winter ist Ski- und Schlittschuhlaufen. Winter ist der Schlitten. Mit dem Schlitten fährt man den Berg hinunter, mit dem Schlitten fährt man die Wassereimer nach Hause, mit dem Schlitten geht man einkaufen.

Nasse Wäsche verwandelt sich an der Leine in bizarre Eisskulpturen.

Im Winter ist es kalt in unserem Haus. Es ist so kalt, dass wir auch nachts angezogen bleiben. Unter dem dunklen Loch des Plumpsklos wächst langsam, aber sicher ein riesiger eisiger Scheißturm. Wird er zu hoch, muss ihn die Großmutter mit einem Spaten zerbrechen.

FRÜHLING

Frühling ist Musik. Zunächst geräuschlos, aber doch deutlich spürbar. Die Musik des Frühlings wird im Herzen geboren. Der Wind trägt sie fort, spielt auf dem Eiszapfenxylophon, rauscht in den Baumkronen. Es folgen das Staccato der Tropfen, das Knistern des Eises und schließlich ein mehrstimmiger Chor: das Summen, das Singen, das Gezwitscher, leises Knallen der Knospen und fröhliches Plätschern der Bäche und Flüsse.

Der Schnee taut und offenbart schwarze Erde, gelbes Gras, graues Laub vom Vorjahr, Fäkalien und Müll. Das Tauwasser ist überall, in den Pfützen spiegelt sich der Himmel.

Der Frühling ist himmelblau, rapsgelb und maigrün. Der Frühling ist das Schwarz des in der Sonne schmelzenden Schnees, Kirschblütenweiß und Tulpenrot. Der Frühling duftet nach Maiglöckchen, nach Moos, nach modrigem Holz, nach Tau und feuchter Erde, nach Flieder und Jasmin, nach Mimose, nach Geheimnissen, nach Sehnsucht.