Wasser

Schmutztitel

Vincent Voss

© 2015 by Torsten Low,
Rössle-Ring 22, 86405 Meitingen/Erlingen
Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung:
Chris Schlicht

Lektorat und Korrektorat:
L. Rautenberger

eBook-Produktion:
Cumedio Publishing Services - www.cumedio.de

ISBN (mobi) 978-3-940036-90-2
ISBN (ePub) 978-3-940036-86-5
ISBN (Buch) 978-3-940036-31-5

Inhalt

Für Martina, Lesu, Zoë und Nuno

Diese Geschichte und sämtliche Figuren sind frei erfunden. Nur die Schauplätze gibt es wirklich und es lohnt sich sehr, sie einmal aufzusuchen. In einem Sommer, wo die Ferien mit einem starken Regen beginnen …

1

An dem Ereignis, das am stärksten mein Leben verändern sollte, habe ich nicht teilgenommen. Es trug sich in einem Baumhaus zu, das in unserem Garten in einem Knick drei Buchen und eine junge Kastanie umfasste. Zwischen den Stämmen von Balken und diese von Gewindestangen getragen. Erbaut mit Hilfe meines Vaters und von vier Jungen und einem Mädchen, mir und meinen Freunden. Wenn ich mir alte Fotos von dem Haus ansehe, erinnern sie mich an meine Kindheit und an das Leben an sich. Es gab sauber geplante und gearbeitete Bereiche, die Plattform, die Brüstung zum Garten, die Wand zur Regenseite; es gab schiefe, krumme und morsche Stellen, der Ausguck, ein Durcheinander aus zusammengesammelten Brettern, die Leiter dorthin, unser Schatzraum. So, wie es Brüche im Leben gibt, morsche Stellen, die fragil sind und Passagen, in denen es ganz gut läuft. Damals lief es ganz gut für mich. Ich war ein wilder Junge mit einem Sack voll lausiger Ideen und ausreichend Energie, diesen nachzugehen. Ich hatte die besten Freunde und ein Vertrauen in das Gute aller Dinge. Und natürlich das Baumhaus, den magischsten Ort, den man sich für eine verschworene Bande nur vorstellen konnte. Aber in diesem Jahr sollte sich alles ändern. Paul, der Junge von dem ich erzählen werde, den gibt es nicht mehr. Paul ist in diesem Sommer gegangen und der Tod schlich sich in unser aller Leben. Mich hat er seitdem nicht mehr verlassen.

 

»Räum dein Zimmer auf!«, begann Lucie und vertrieb eine Fliege mit der Hand, die sich von ihrer verschorften Wunde auf dem Knie angezogen fühlte. Träge taumelte das Insekt durch die schwüle Luft des Nachmittags. Und ähnlich träge bearbeiteten sie die Aufgabe ihres Klassenlehrers Herrn Broschke, Sätze, die sie in den Sommerferien nicht von ihren Eltern hören wollten, zu sammeln.

»Ätzend, echt ätzend!« Dirk nickte, beugte sich über die Brüstung des Baumhauses und rotzte eine große Menge Speichel aus. Eine Angewohnheit, die er sich in den letzten Schulwochen zugelegt hatte und die gut zu seinen länger werdenden Haaren und seiner Jeansjacke mit den abgerissenen Ärmeln und dem KISS-Aufnäher auf dem Rücken passte. Die Jacke seines toten Bruders. Motorradunfall und während des Unfalls von ihm getragen. Dirk behauptete, sie würde immer noch nach Toto duften, nach ihm und dem Unfall. Niemand von ihnen konnte es bestätigen, denn keiner mochte an der Jacke riechen. Aus Angst davor, Dirks Meinung nicht teilen zu können, vielmehr jedoch davor, sie doch bestätigt zu wissen. Toto war cool gewesen. Der Tod war es nicht.

Sasch und Mark bekundeten mit einem Brummen ihr Verständnis über Lucies Aussage, Kaltz, der noch nicht zu ihrer Bande gehörte, schwieg und beobachtete alles mit Spannung. Heute würden sie über seine Aufnahme in die Bande abstimmen und sein allergrößter Fürsprecher fehlte. Paul lag seit vorgestern im Krankenhaus, und es war sein Baumhaus, in dem sie ihre letzten Hausaufgaben in diesem Schuljahr erledigten. Ihr Baumhaus, das der Bande, aber auf dem Grundstück von Pauls Eltern. Also irgendwie Pauls, der auch die meiste Arbeit investiert hatte. Der Aufbau mit dem Ausguck, die Stange, um schnell herunterzukommen, das Dach an der Regenseite mit echten Dachpfannen, das alles war Paul gewesen. Heute mussten sie Abschied von ihrem Quartier nehmen, das einem geplanten Anbau von Pauls Elternhaus weichen musste. Das allein trübte schon ihr Gemüt und milderte ihre Freude auf die anstehenden Sommerferien, Pauls Krankheit, eine Blinddarmentzündung, hatte ihre Laune auf den Gefrierpunkt gesenkt. Paul, der sie zusammenhielt, der heimliche Anführer ihrer Bande, der die Pläne für sie schmiedete und dafür Sorge trug, dass sie umgesetzt wurden. Paul, der immer den Anfang machte. Der Teppich, auf dem er sonst im Schneidersitz saß, klaffte wie eine offene Wunde in der Ecke ihres Baumhauses und ihre anfängliche Ratlosigkeit hatte durch ein zähes Schweigen auf ihnen gelastet, wie die Schwüle ihres letzten Schultages in der Luft lag. Lucie hatte den Bann gebrochen.

»Das sagt sie immer, selbst, wenn es aufgeräumt ist, selbst, wenn sie schon lange gar nicht mehr nachgeschaut hat.« Sie überlegte, die Fliege zu töten, verscheuchte sie aber nur ein weiteres Mal.

»Stimmt!«, pflichtete Mark ihr bei. »Dabei ist es doch echt ordentlich bei dir.« Er lächelte sie an, ihre Blicke trafen sich, Lucie gab ihr Schmollen auf und lachte.

»Na ja«, gestand sie sich ein und zuckte mit den Schultern. Ihr Zimmer war mit Sicherheit nicht das aufgeräumteste.

»Was ist es bei dir, Mark?«, wollte Sasch wissen. Er lehnte an der Dirk gegenüberliegenden Brüstung mit Blick auf den Garten, eine Schachtel Zigaretten klemmte in einem seiner hochgekrempelten Hemdsärmel. Dirk wollte cool sein, Sasch war es. Fanden zumindest alle. Gerade letzte Woche hatte er Kröger aus der 9ten verprügelt und gedemütigt, Kröger, den Skinhead, der alle schikanierte und sich an Sasch rächen wollte. Aber diese Bedrohung, die jedem anderen unruhige Tage und Nächte beschert hätte, perlte an Sasch ab. Sasch hatte vor niemandem Angst. Paul fand, Sasch sah wie der Schauspieler Burt Lancaster in Vera Cruz aus, aber außer Mark und ihm, kannte niemand diesen Film.

»Na los! Sag schon!«, forderte Sasch ihn auf. Mark sah sich um. Kaltz, der Neue, den sie in die Bande holen wollten, störte die Vertrautheit, die sie seit Jahren verband. Das Wissen um die Ängste und Schwächen des jeweils anderen, das Wissen, dass nicht ein Wort darüber ihr Baumhaus verlassen durfte. Mark atmete laut aus.

»Iss das auf«, brach es aus ihm heraus und er schluckte trocken. Die anderen schwiegen und verstanden. Mark war genauso alt wie sie, aber der Kleinste von ihnen. Der Kleinste aus der Klasse, aus den Parallelklassen und wahrscheinlich auch der Kleinste aus dem Jahrgang unter ihnen.

»Scheiße ja, ich hätte es mir denken können.« Sasch schüttelte den Kopf, wollte Mark trösten, ihm auf die Schulter klopfen oder in den Arm nehmen, verharrte und wandte aus Unsicherheit seinen Blick in den Garten.

»Äh, was ist denn mit diesem Satz?«, fragte Kaltz.

»Halt´s Maul, echt jetzt!«, fuhr Sasch ihn an.

»Ich mach da nicht mit!«, erhob Dirk seine Stimme und rotzte ein weiteres Mal aus ihrem Baumhaus.

»Wieso das denn nicht?«, wollte Lucie wissen.

»Das ist total was für Streber! Wir haben Ferien und machen jetzt den Scheiß, den Broschke nur so gesagt hat. Meint ihr nicht, das ist ihm scheißegal, wie es uns mit unseren Eltern geht?«

»Okay, du brauchst nicht mitmachen, Dirk«, entschied Sasch. Er war an der Reihe.

»Ich …« Er brach ab, um sich zu sammeln. Er hatte es sich einfacher vorgestellt.

»Mein Alter sagt immer, ich soll hart sein. Härter als alle anderen.«

»Und? Das bist du doch, oder?«, entgegnete Dirk frei von Neid und voll aufrichtiger Bewunderung.

»Darum geht es nicht. Es ist nur … scheiße! Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber es nervt mich. Er soll aufhören damit!«

»Kann ich voll verstehen«, flüsterte Mark, der Saschs Vater nicht leiden konnte. Saschs Vater war laut, kräftig und stolz darauf. Wenn sie bei Sasch waren, bestand er darauf, sich die Hand geben zu lassen und es grenzte an ein Wunder, dass er Mark noch keinen Finger dabei gebrochen hatte.

»Okay, jetzt ist es raus, jetzt können wir abstimmen, ob Kaltz zu uns gehören soll, oder nicht«, beendete Sasch ihre Aufgabe.

»Wir fahren noch mal zur Tanke«, wisperte Dirk gerade so laut, dass man ihn hören aber nicht verstehen konnte.

»Was?«, fragte Lucie nach.

»Wir fahren noch mal zur Tanke«, wiederholte er und wünschte sich weiteren Speichel in seinem trockenen Mund.

»Seit Toto nicht mehr bei uns ist, fahren sie mindestens jeden zweiten Abend zur Tanke«, sagte Dirk und meinte die Hausaufgaben. »Blau. Total besoffen. Und dann saufen sie weiter.« Seine Stimme wurde brüchig, er hatte genug gesagt und wandte sich ab. Niemand von ihnen hatte geahnt, wie schwer ihnen diese Aufgabe fallen würde.

»Was glaubt ihr, was würde Paul sagen?«, fragte Mark. Sasch zuckte mit den Schultern.

»Paul würde nichts sagen, Paul hat coole Eltern«, antwortete er, stieß sich von der Brüstung ab, ging zu Dirk und haute ihm freundschaftlich auf die Schulter.

»So, komm, jetzt ist es vorbei.« Er holte die Packung Zigaretten aus seiner Ärmeltasche, gab Dirk die erste, allen außer Kaltz eine weitere und sich die letzte.

»Also, wer ist dafür, dass Kaltz bei uns mitmacht? Paul würde mit Ja stimmen, ich sage Nein, weil wir sonst zu viele werden. Wie ist es mit euch?«

Dirk sah zu Kaltz und fällte sein Urteil: »Kaltz ist in Ordnung: Dafür!«

»Lucie?«, fragte Sasch.

»Weiß nicht. Er ist in Ordnung, aber ich bin trotzdem dagegen.«

»Mark?«

»Dafür. Zu sechst sind wir stärker.«

»Abgemacht! Dann bist du jetzt einer von uns, Kaltz!« Sasch holte eine weitere Zigarette hervor, reichte sie dem neuen Bandenmitglied und gab ihm mit seinem Sturmfeuerzeug als erstem Feuer. Reihum zündete er ihnen ihre Zigaretten an, zum Schluss seine eigene. Sie rauchten wie Kinder, die Jugendliche sein wollten. Jugendliche, die cooler als die Erwachsenen waren. Außer Dirk rauchte niemand auf Lunge. Sasch setze sich, kokelte mit der Glut seiner Zigarettenspitze an einem Holzsplitter, der aus einem Brett ragte.

»Paul würde jetzt irgendetwas Feierliches sagen«, bemerkte Lucie und hustete. Kaltz nickte. Er war den Umgang mit einer Zigarette nicht gewohnt und versuchte unauffällig, sich die richtige Handhabung von den anderen abzugucken.

»Das macht nix«, entgegnete er. Schweigend rauchten sie auf, spien mehrmals aus und ließen den schwülen Nachmittag einen schwülen Nachmittag sein, ehe Sasch sich erhob, die anderen ihm folgten und sie schweigend einen Kreis bildeten.

»Hör zu, Kaltz, wenn du jetzt bei uns dabei bist, heißt das, dass du einer von uns bist. Geheimnisse werden nicht ausgequatscht und jeder hilft jedem, verstanden?« Sasch sah Kaltz eindringlich an. Kaltz nickte.

»Das ist das letzte Mal, dass wir uns in unserem Hauptquartier treffen und in diesen Ferien wollen wir uns ein neues bauen. Paul und Mark haben schon einen perfekten Ort dafür gefunden, noch besser als den hier. Aber jeder, der dazu gehören will, steuert etwas Besonderes dazu, klar?« Kaltz nickte wieder und stockte.

»Was ist denn etwas Besonderes, Sasch?«

»Entweder etwas, das dir was bedeutet oder wofür du echt kämpfen musstest.«

»Okay«, antwortete Kaltz, ohne es richtig verstanden zu haben, aber er wollte nicht durch eine weitere Frage dumm auffallen.

»Und alle bringen etwas mit, was sie für unser Quartier besorgen können. Bretter, Nägel, Seile, Werkzeug, einfach alles, in Ordnung?«

»Klar!«

»Ich hab fünf große Paletten geklaut«, unterbrach Dirk.

»Asse! Wo hast du die denn her?«, wollte Mark wissen.

»Vom Getränkemarkt. Immer, wenn es dunkel war, bin ich dahin, hab sie nachhause geschleppt und hinter unserem Schuppen versteckt. War nicht einfach.«

»Echt asse, Dirk!«, lobte Sasch. Sie zählten weitere Dinge auf, die sie schon zusammengetragen hatten und begannen von ihrem neuen Baumhaus zu schwärmen, bis Sasch plötzlich ein Butterfly-Messer aus seiner Gesäßtasche hervorzog und es mit einer fließenden Bewegung einhändig aufklappte.

»Okay Jungs, unser Blut für die Bande, es wird Zeit«, flüsterte er, setzte die Klinge an seinen Daumen und schnitt sich so tief, dass es blutete. Er reichte Lucie das Messer.

»Und Mädchen«, flüsterte sie, tat es ihm gleich und gab Mark das Messer.

»Oh Mann, ist das ätzend!«, jammerte er. Lucie nahm seinen Finger, dann das Messer, Mark wandte seinen Blick ab und sie schnitt ihm in den Zeigefinger. Anschließend ritzte sich Dirk so tief, dass sein Blut in Strömen floss. Seit Toto gestorben war, pflegte er diese Marotte, die anderen hatten sich daran gewöhnt. Kaltz war als letzter an der Reihe. Er empfand es als große Prüfung und absolvierte sie mit hoher Konzentration. Sasch nahm ihm das Messer ab, hielt seinen blutenden Daumen in die Mitte. Dann Lucie, Mark, Dirk und Kaltz. Sie pressten ihre Wunden aufeinander, damit sich ihr Blut vermischte, und verharrten so einen feierlichen Moment. Wieder fehlte Paul.

»Wir müssen uns beeilen, sonst kommen wir zu spät zum Training!«, wandte Dirk ein und beendete das Ritual. Mark sah auf seine Armbanduhr.

»Mist, du hast recht! Wir müssen uns echt beeilen!« Er lutschte das Blut von seinem Zeigefinger, rannte zum Notausgang und rutschte an der Stange nach unten. Nach und nach ließen sie sich an ihr nach unten, bis nur noch Kaltz und Lucie auf der Plattform standen.

»Wo soll denn das neue Baumhaus gebaut werden?«, fragte er Lucie.

»Das wirst du schon noch früh genug sehen. Lass dich überraschen. Du zuerst!« Sie stieß ihn einen Schritt vor, er griff nach der Stange und verschwand. Lucie seufzte und sog mit ihrem Blick jedes noch so unbedeutende Detail ihres Quartiers auf, um sich immer daran erinnern zu können. Abschied. Selbst als ihr Vater sie verlassen hatte, war ihr das nicht so schwer gefallen.

»Lucie! Wo bleibst du?«, hörte sie Mark rufen. Sie klammerte sich an die Stange und ließ sich nach unten gleiten. Ihr war, als würde dies nicht der letzte Abschied in diesem Jahr bleiben.

 

Der graue Himmel senkte sich nieder, wie um die drückende Hitze gefangen zu halten. Heiß war es selbst für einen Nachmittag im Juli, so heiß, dass eine schwärende Stille der stete Begleiter des Tages war. Kein Wind wehte durch die Buchen und Haselsträucher in den Knicks, kein Halm regte sich auf den angrenzenden Feldern der Sportanlage des MTV. Die Luft flirrte, surreal war es, als wolle die Wirklichkeit etwas anderem, sich Anbahnendem weichen.

 

Auf dem Fußballplatz staubte es unter den schnellen Schritten der beiden Mannschaften, die sich im letzten Spiel ihres Abschlusstrainings gegenüberstanden. Sie spielten in diesem Jahr zum ersten Mal auf dem großen Platz, dem mit der Flutlichtanlage und weniger Unebenheiten im Boden. Dafür mussten sie die Toiletten in den Umkleidekabinen nutzen und durften nicht mehr in den Knicks der umliegenden Felder austreten, die die Sportanlage säumten. Kaltz und Lucie drehten zum Ende auf. Lucie war die Schnellste von ihnen, trainierte aber nur heimlich, ihre Mutter hatte es ihr nicht erlaubt, Fußball zu spielen. Kaltz war der Beste. Er schoss zwar selten Tore, seine Pässe und Flanken führten aber mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu, dass seine Mitspieler es taten. Er konnte mit links und rechts schießen, seine Flanken schnitt er so an, wie der Bundesligaspieler, der ihm für seinen Spitznamen Pate stand. Heute schoss er auch selbst Tore im Training. Und was für welche! Die letzten Minuten des Spiels liefen, es wurde wortlos um jeden Ball gekämpft. Kein Schreien oder Schimpfen durchdrang die Stille. Kaltz ließ Jonas auf seiner Seite aussteigen, zog von außen auf das Tor zu und zeitgleich mit seinem Schuss, der flach ins kurze Eck einschlug, zerriss ein Blitz den Himmel und ein Grollen folgte kurz darauf.

»Jungs, Mädels! Feierabend!«, unterbrach Herr Stein, ihr Trainer, das Spiel und eilte von der Seitenlinie auf den Platz.

»Oh Mann, Trainer, das Gewitter ist doch noch voll weit weg!«, beschwerte sich Sasch und deutete mit einer ausladenden Geste über sich. Ein weiterer Blitz und ein noch kürzer darauf folgender Donner überzeugten ihn dann aber doch.

»Sammelt die Bälle ein, wir treffen uns in der Kabine!« Die beiden Mannschaften klatschten sich untereinander ab. Sie sammelten die Bälle ein, schoben sich ihre Stutzen bis unter die Knöchel und schritten erschöpft zu den Umkleidekabinen im Vereinsheim. Erschöpft und nachdenklich. Das letzte Training dieser Mannschaft, Kaltz würde nächste Saison in der Leistungsmannschaft spielen, Mark überlegte sogar, aufzuhören. Sie waren in einem Alter voller Umbrüche, mit ihnen geschahen Dinge, die sie nicht vollständig erfassen konnten, und es fehlte an Ritualen, die sie auf diese Zeit vorbereiteten. Überschwänglicher Mut, angeberisches Gehabe und doch auch eine Zerbrechlichkeit des Gemüts, die man nicht wahrhaben wollte. Sasch hätte ihr letztes Trainingsspiel am liebsten in der Zeit eingefroren, ewig weiter gespielt, um einen einzigen Ball mit seinen Freunden bis zur Unendlichkeit gekämpft, so viel einfacher, unbeschwerter wirkte es, als das, was er glaubte, was ihn in der Zukunft erwarten würde. Aber es war vorbei. Beim Eintreten in den Umkleidetrakt, stieß er Dirk so, dass dieser gegen den Türrahmen laufen musste, es wurde laut und hektisch gescherzt, die verputzten Wände verstärkten den Schall ihrer brechenden Stimmen, bis Herr Stein alle übertönte, sie zur Ruhe zusammenrief und eine Dankes- und Abschiedsrede hielt. Anschließend überreichte er jedem ein Foto, ein Bild geschossen auf einem Freundschaftsturnier in Bad Segeberg, bei dem alle dabei gewesen waren, sogar Lucie, die ihrer Mutter gesagt hatte, sie würde mit Mark in den Zoo fahren. Die Momentaufnahme eines ausgelassenen Augenblicks zwischen den Spielen. Sasch, Paul und Dirk standen Arm in Arm mit nackten Oberkörpern, blinzelten und lachten in die Sonne. Lucie und Mark daneben, die ein Eis lutschten. Brauner Bär. Kaltz, der neben ihnen im Schneidersitz auf dem Boden saß und Grashalme rupfte und daneben der Rest der Mannschaft beim Kartenspielen. Sie schwiegen einen Moment, während jeder sein Bild betrachtete, ehe ihnen witzige Kommentare über das Aussehen des jeweils anderen einfielen und sie sich gegenseitig überboten. Der Lauteste hatte in der Regel Recht. Herr Stein schenkte Cola und Fanta aus, verteilte Chips und Salzstangen. Dirk legte seine KISS-Kassette in ihren Rekorder und sie feierten zu »I was made for loving you«, dem Lied zu dem jeder zumindest den Refrain mitsingen, besser schreien konnte. Ein würdiger Abschied für ihre Mannschaft. Nach dem Lied regelte Herr Stein die Lautstärke herunter.

»Du wirst uns fehlen, Kaltz, aber bei Hardy bist du gut aufgehoben. Vielleicht feuerst du uns ja mal an, wenn du Spielfrei hast.« Trainer Stein schlug seinem besten Spieler auf die Schulter.

»Mach ich, Trainer. Ganz bestimmt!«, versprach Kaltz. Kurz flackerte das Licht auf und das Geräusch eines Donners bahnte sich seinen Weg zu ihnen in die Kabine.

»Der hat irgendwo eingeschlagen«, stellte Herr Stein fest und sah bedeutsam zur Decke.

»Ihr zwei seid mit dem Rad hier, stimmt´s?«, wollte er von Lucie und Turan wissen, die in den umliegenden Dörfern wohnten und häufig zusammen mit dem Rad zum Training kamen. Turan wohnte sogar zwei Dörfer entfernt und holte Lucie immer ab. So auch heute. Beide nickten.

»Das zieht aber bald weiter. Gewitter hält sich nie lange an einem Ort«, versicherte Mark, und Sasch stürmte zur Tür, um nachzusehen.

»Macht euch mal keine Sorgen. Ich rufe von zuhause aus Rudi von der B-Mannschaft an und sage ihm, dass ich die Tür zu den Kabinen offen gelassen habe. Dann könnt ihr hier warten, bis es vorbei gezogen ist. Aber baut keinen Mist! So Leute, ich muss los!« Herr Stein verabschiedete sich per Handschlag und brachte eilig sein Partyequipment zum Auto. Alle, außer Lucie und Turan, beeilten sich, um trocken nachhause zu kommen. Die ersten schweren Regentropfen fielen unregelmäßig herab.

»Wir sehen uns am Sonntag«, sagte Sasch und nickte jedem aus der Bande zu.

»Um 10 Uhr bei mir«, ergänzte er an Kaltz gewandt. Sasch, Dirk und Mark rannten zu ihren Rädern, Kaltz verschwand hinter dem Vereinsheim durch einen Knick, er wohnte direkt neben der Sportanlage in derselben Siedlung, wo auch Paul wohnte.

»Wollen wir auch los?«, fragte Turan. Lucie war sich nicht sicher, sie mochte Gewitter nicht. Da aber seither kein weiterer Blitz gefolgt war und es sich der Regen offenbar anders überlegt hatte und einfach aufhörte, entschied sie sich für den Aufbruch.

»Dann aber schnell!« Sie lief zu ihrem Rad, sprang auf den Sattel und fuhr los. Turan schüttelte den Kopf, verstaute seine Tasche auf dem Gepäckträger und versuchte, sie einzuholen.

 

Sie nahmen die Abkürzung, einen kleinen aber asphaltierten Weg durch die Felder, der sie zur Hauptstraße bringen sollte, die weiter nach Götzberg und Wakendorf führte. Laut Turans Tacho waren es 8,4 km zu ihm und 4,8 km bis zu Lucie. Auf halber Strecke nach Götzberg, kurz vor der schmalen Brücke, bei der sie immer auf entgegenkommende Fahrzeuge aufpassen mussten, öffnete der Himmel seine Schleusen. Der prasselnde Regen warf Blasen, bildete schnell Pfützen und zwischen ihnen Rinnsale. Lucie und Turan suchten Schutz unter einer Eiche, stellten ihre Räder ab und lehnten sich an den Stamm.

»Mist, ich werde zu spät kommen«, schimpfte Turan.

»Ja, ich auch.«

»Hast du morgen schon was vor?«

»Was?« Der Regen fiel so stark, dass sie Turan nicht verstehen konnte. Häufig brachte ein Gewitter Wind oder zumindest kühlere Luft mit sich, heute nicht. Die Luft war schwer wie Blei. Lucie würde bei Gelegenheit Mark fragen, warum das mal so und mal so war, er wusste immer eine kluge Antwort.

»Ob du morgen schon was vorhast? Wollen wir uns verabreden?«, schrie Turan.

»Nein, ich hab schon was vor.«

»Was denn?«

»Ist geheim.«

»Wieder mit deiner Bande?«

Sie sah ihn wütend an.

»Schon gut. Ich frag ja nicht mal mehr. Ich hör sogar auf, zu atmen.« Sie schwiegen eine Zeit lang, die ersten Tropfen fanden ihren Weg durch das Blätterdach zu ihnen.

»Ich suche nach dem Mädchen«, sagte Lucie. Turan sah sie erstaunt an.

»Die im Winter verschwunden ist? Die soll doch tot sein, oder?«, hakte er nach.

»Ja! Soll! Aber gefunden wurde sie bisher nicht«, verteidigte sich Lucie. Turan öffnete seinen Mund, schloss ihn sogleich wieder und schüttelte den Kopf. Lucie und ihre Bande blieben ihm ein Rätsel.

»Mist! Meine Tasche steht voll im Regen!« Sie hatten ihre Räder ungeschützt am Straßenrand abgestellt. Lucie sah Turan zu, wie er seine Tasche vom Gepäckträger zerrte, sah zu ihrem Rad und wunderte sich, dass ihrer leer war.

»Scheiße, ich habe meine Tasche verloren!«, fluchte sie und lief auf die Straße in der Hoffnung, sie würde ihr dort heruntergefallen sein, ohne, dass sie es bemerkt hatte.

»Hattest du sie überhaupt mit?«, fragte Turan. Sie überlegte.

»Weiß nicht«, antwortete sie mehr zu sich als ihm. Binnen kurzer Zeit waren ihre Haare und ihr T-Shirt durchnässt.

»Ich fahr nochmal zurück, Turan«, entschied sie und ging zu ihrem Rad.

»Echt? Soll ich hier, also, soll ich warten oder kann ich schon weiterfahren, Lucie?« Unschlüssig blieb er auf halber Strecke zwischen ihr und dem Unterschlupf stehen.

»Nö, fahr mal schon los.« Sie stieg auf ihr Rad, winkte ihm kurz zu und trat in die Pedalen, um die kleine Anhöhe zu bezwingen.

 

Jeder aus der Bande hätte sie begleitet, ganz egal, wie sehr sie sich zuhause verspätet hätten. Das war der Unterschied zwischen ihnen und Turan und allen anderen. Sie nahm Fahrt auf, der Regen rann ihr durch das Gesicht, floss ihr als Rinnsal von der Nase, wenn sie sich nach vorne beugte. Sie versuchte ihn mit der Zunge zu erreichen, während sie in Gedanken ihren Aufbruch aus dem Vereinsheim durchging. Hatte sie ihre Tasche in der Kabine vergessen? Sie hatte das Foto obenauf packen wollen und dann? Sie hatte das Foto auf die Bank gelegt und dann hatte das Licht geflackert. Also hatte sie ihre Tasche ganz einfach vergessen. Sie schnaubte bei dieser Erkenntnis und beschleunigte. Das würde zuhause Ärger geben und was für welchen! Es sah ganz so aus, als würde sie viel zu spät und nass bis auf die Knochen nachhause kommen. Wie eine dunkelgraue Masse thronte der Himmel über ihr, egal wohin sie den Blick wandte. Keine Auflockerung, kein blauer Tupfer, nichts, nur grau. Ein Auto mit Pferdeanhänger kam ihr mit aufgeblendetem Licht entgegen, sie suchte nach einer halbwegs trockenen Insel im Kiesbett am Straßenrand und hielt dort an. Langsam rollte der Wagen an ihr vorbei, durch den Schleier des auf den Scheiben abfließenden Wassers konnte sie unscharf das Gesicht eines bärtigen Mannes erkennen. Bremslichter flammten auf, Lucie entschloss sich, weiterzufahren. In den Pedalen stehend trat sie zwei, drei Mal kräftig durch, als es knallte und sie sich so erschrak, dass sie beinahe vom Rad gefallen wäre. Es war kein Knall wie von einem Silvesterböller, eher einer von solcher Lautstärke, wie sie ihn einmal bei einem Tiefflieger gehört hatte, der die Schallmauer durchbrach. Jetzt zitterte und bebte sogar die Erde einen Augenblick und verursachte ein Gefühl in ihrem Magen wie nach einer Achterbahnfahrt. Dann nur noch das Prasseln des Regens. Sie drehte sich um, der Wagen stand, die Bremslichter leuchteten. Einige Spatzen, Zeisige und ein Taubenpaar flatterten aufgeschreckt im Gehölz. Lucie schluckte, ihr Herz pochte. Eines der beiden Ereignisse allein hätte sie nicht so verunsichert, aber ihre zusammenhängende Abfolge ängstigte sie. Wieder stieg sie in die Pedalen und beschleunigte, als wäre der schlimmste Albtraum hinter ihr her. Vor der nächsten Kurve sah sie sich nach dem Wagen um. Er stand immer noch dort. Sie beruhigte sich etwas aber drosselte das Tempo nicht. Nach zwei Minuten bog sie an der Kreuzung auf die Straße nach Henstedt ein, die Bäume in den Knicks standen nicht mehr so hoch und wirkten weniger bedrohlich. Einige Schlenker weiter konnte sie die ersten Häuser sehen und ihr schnell schlagendes Herz beruhigte sich wieder.

 

Es war noch niemand aus der anderen Mannschaft im Vereinshaus. Lucie stellte ihr Rad in den Fahrradständer und ging zur schweren Holztür des Kabinentrakts. Die Gehwegplatten dorthin standen unter Wasser, über dem Abflusssiel trieben altes Laub, dünne Zweige und buntes Eispapier in einem Strudel. Lucie balancierte auf einem schmalen Steg, wo das Wasser nicht so tief stand, an der Hauswand entlang und wollte die Tür aufdrücken, die sich aber nicht öffnen ließ. Sie stemmte sich mit der Schulter dagegen und verharrte erschrocken, als ihr Wasser in einem Schwall aus dem Flur des Kabinentrakts entgegen strömte. Es hatte knöcheltief gestanden und floss nun gemächlich ab. Auch das noch! Nicht, dass sie dafür verantwortlich gemacht werden würde. Auf Zehenspitzen durchmaß sie den Flur, ein Schnappen verriet ihr das Zufallen der Tür. Sie war noch nie alleine hier gewesen, einmal hatte sie hier mit Mark gewartet, der umgeknickt war. Sie hatte ihn zum Lachen bringen können und so war ihr nie bewusst gewesen, wie still, dunkel und unheimlich es hier werden konnte. Vorsichtig drückte sie die Kabinentür auf und tastete nach dem Lichtschalter. Nichts. Das Licht ging nicht an. Nur schummrig drang das Tageslicht durch die hochgewachsenen Weiden und die beiden schmalen Fenstern dahinter. Ihre Tasche sah sie auf einer Bank stehen. Sie atmete auf und überprüfte den Inhalt. Schuhe, Hose, T-Shirt, alles da, aber wo war jetzt das Bild? Sie dachte, sie hätte es eingepackt. Sie hob die Tasche an, sah nach, ob es darunter lag. Dort lag es nicht. Sie sah sich in der Kabine um, auf und unter den Bänken, aber auch dort konnte sie es nicht entdecken. Ihr Blick schweifte durch den Raum. Unter dem Trikotspind lugte etwas hervor, trieb dort auf dem Wasser. Sie ließ ihre Tasche stehen, ging zum Schrank, bückte sich und zog es hervor. Das Foto trieb mit der Rückseite nach oben, sie ließ das Wasser abtropfen, schüttelte es vorsichtig und wollte sich den Schaden ansehen. Erschrocken schrie sie auf, ließ das Bild fallen und wich zurück. Das konnte nicht sein! Sie hatte das Bild vorhin lange betrachtet, es sich eingeprägt, sie war sich sicher, dieses kleine zusätzliche Detail vorhin nicht gesehen zu haben. Und selbst wenn, es wäre nicht möglich gewesen, denn das kleine Mädchen, das neben Kaltz stand und seine Hand hielt, war seit Januar verschwunden. Jenes Mädchen, das sie suchte, weil es ihr in ihren Träumen begegnete, weil es

sie verfolgte, weil es um Hilfe rief. Mit spitzen Fingern griff Lucie nach dem Foto. In der Kabine war es kälter geworden, so kam es ihr vor, sie fröstelte. Sie wagte einen zweiten Blick auf das Bild und hielt den Atem an. Das Mädchen, Rieke, stand immer noch neben Kaltz, der Grashalme zupfte, aber sie verblasste, löste sich vor ihren Augen auf. Sie schluckte und fühlte sich plötzlich bedroht. Die Stille, die Enge, das Zwielicht, alles wirkte bösartig. Sie stopfte das Foto in ihre Tasche, rannte hinaus, sprang auf ihr Fahrrad und raste los. Aus Angst nahm sie den Umweg an der Hauptstraße entlang. Über jedes Auto, das ihr begegnete, freute sie sich. Das war sonst anders.

 

Der erste Samstag in den Ferien begann regnerisch. Über Nacht hatte es nicht aufgehört, es war nur wenig kühler geworden, und morgens goss es weiter in Strömen. Sasch war von ihnen als erster wach. Wie an jedem ersten Ferientag weckte ihn sein Vater um halb vier in der Frühe, sie frühstückten gemeinsam, ohne ein Wort zu wechseln, packten ihre Angelsachen, gingen hinaus und fuhren mit ihren Fahrrädern zu einem Angelsee, ohne ein Wort zu wechseln und angelten, ohne ein Wort zu wechseln. Während Saschs Vater ihre Ausrüstung aufbaute und eine kleine Tarp zwischen den Weiden als Schutz vor dem Regen spannte, watete Sasch durch den See und schmiss einige Teig-Fleisch-Bällchen ins Wasser, die sie schon Tage vorher vorbereitet hatten. Es war unwahrscheinlich, dass die Fische allein durch das Hineinwerfen angelockt wurden, zu stark regnete es, zu unruhig war es auf der Wasseroberfläche, aber sobald sich ihr Köder auflöste und den faulen Hauch der beginnenden Verwesung verströmte, kamen sie doch. Danach warfen Sasch und sein Vater ihre Ruten aus, standen schweigend nebeneinander und beobachteten ihre Posen und die Wasseroberfläche. Wie immer waren sie die ersten an diesem Samstag, erst später würden die anderen Angler, sein Vater nannte sie etwas verächtlich Hobbyangler, aufschlagen.

Zwei Stunden später, gegen 6 Uhr, während Mark die Augen aufschlug und den Regen auf seinem Dachfenster beobachtete, kam Rolf Schöttke durch das Dickicht zu ihrem Angelplatz und grüßte. Gemeinsam standen sie an ihrer Reuse, sein Vater präsentierte stolz ihren Fang und gab eine Flasche Bier aus.

»Hast das gehört? Die haben gestern gesprengt. Bei Koppers«, sagte Rolf Schöttke und erklärte damit den gestrigen Knall und die anschließende Erschütterung. Etwas Ähnliches hatte Sasch schon vermutet.

»Da hat das aber einer zu gut gemeint!«, antwortete sein Vater und sie stießen an.

»Viel hilft viel!« Sie lachten, tranken einen Schluck und auch einen zweiten, ehe sich das für den Ort typische Schweigen wieder durchsetzte und alles in Stille tauchte. Für Sasch stand fest, dieser Sprengung beim Kieswerk Koppers einmal genauer auf den Grund gehen zu wollen. Gleich morgen würde er das der Bande vorschlagen.

 

Mark genoss das Geräusch des prasselnden Regens auf seinem Dachfenster. Er wachte immer früh auf, auch in den Ferien, sehr zum Leidwesen seiner Eltern. Doch anstatt diese zu wecken, wie diese nie aufhörten in Gegenwart ihrer Freunde zu betonen, dass er es ständig täte, wollte er ein Buch lesen. Vielleicht hatte er sie früher immer geweckt, aber er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Ein Turm ausgeliehener Schulbibliotheksbücher stapelte sich neben seinem Bett. Eigentlich durfte man sich nur drei Bücher auf einmal ausleihen, aber Frau Hartwig, die Chefin der Bibliothek, hatte diese Regelung bei ihm ausgesetzt. Dennoch war er beinahe täglich dort und stöberte in den Neuanschaffungen. Lesen war für ihn wie Abenteuer erleben, Welten entdecken. Er kam sich wie ein Pionier vor, wie Kolumbus, wenn er Bücher suchte. Seine Suche beschränkte sich nicht nur auf die Bücherei in Henstedt-Ulzburg, sondern er besuchte auch die Bücherei in Kaltenkirchen und die Bücherhalle in Norderstedt. Auf Flohmärkten suchte er Bücher und fast sein gesamtes Geld gab er für Bücher aus. Der Kauf eines Buches in seinem Buchladen, dem einzigen der Gemeinde, führte zu einer inneren Genugtuung, die sich nicht mit anderen Freuden vergleichen ließ. Der schmerzhafte Akt des Sparens, das Fixieren eines Kauftermins, das Zählen der vergehenden Tage bis dorthin und schließlich der Kauf selbst. Mark konnte gut einen halben Tag mit der Auswahl zubringen. Herr Brehmer, der Inhaber, kannte ihn mittlerweile und stellte sich auf seinen sonderbaren Gast ein, indem er kurz nachfragte und ihn dann aber in Ruhe ließ. Mark wollte nie beraten werden, er wollte entdecken. Manchmal waren es Themen, nach denen er suchte, in Sachbüchern oder Geschichtsbänden, aber auch in Romanen. Aber, wenn ihm Autoren gefielen, wollte er mehr von ihnen lesen. Oder aber die ganzen Wissensbände, die ihn begeisterten. Mark las fast alles und das Besondere dabei, er merkte sich auch fast alles. Lesen bedeutete für ihn das Vermessen fremder Welten, die er erschließen wollte, Buchstaben, Sätze, Absätze. Bücher formten sich zu Inseln, die er kartographierte und auf ewig speicherte. ›Die Wikinger‹ und ›Die Germanen‹ aus der Was-ist-Was-Reihe standen heute auf seinem Programm. Er knautschte das Kissen an das Kopfende, sodass er halb sitzend, halb liegend lesen konnte und griff nach dem ersten Band. Die Germanen. Die ersten Sätze flogen an ihm vorüber, die dazu gehörigen Illustrationen begannen sich vor seinen Augen zu bewegen, und wie immer, wenn er las, war ihm, als würde sich eine Tür in eine andere Welt öffnen. Binnen Minuten wurde er zu einem Germanen, lebte in einem sogenannten Skelettbau, trug Felle und Hosen aus derben Stoffen, nahm an einem Thing teil. Er genoss diese Fähigkeit, während der Regen an sein Fenster trommelte. Gerade las er in dem Kapitel über Opfergaben und germanische Magie, als ihn ein ungewöhnliches Geräusch in die reale Welt zurückholte. Etwas kratzte und pochte an seiner Scheibe, ein schwarzer Vogel flatterte draußen herum, versuchte auf der glatten Neigung zu landen und rutschte ab. Eine Krähe, wie Mark schnell am dunklen Schnabel und dem Gefieder erkannte. Mark legte das Buch zur Seite und ging vorsichtig zum Fenster. Trotz der eifrigen Bemühungen des Vogels hatte er das Gefühl, das Tier würde ihn fixieren. Er trat einen weiteren Schritt auf das Fenster zu und war sich mit einem Mal sicher. Die Krähe hatte es auf ihn abgesehen! Wieder spreizte sie die Flügel und wagte einen weiteren Anflug. Tok. Sie prallte auf das Glas, Tok, Tok, schlug zweimal mit ihrem Schnabel dagegen, erhob sich wieder, nur, um einen weiteren Versuch zu unternehmen. Mark ging noch näher heran, stand jetzt direkt vor dem Fenster.

»Kscht!« Er versuchte, sie mit einer Handbewegung zu verscheuchen. Wieder flog der Vogel heran, öffnete seinen Schnabel und krächzte.

Der Rabenvogel wurde von den Germanen als Götterbote gesehen. Er kündete auch Unheil oder den Tod an, schoss es Mark durch den Kopf und er erschauerte. Die Krähe erhob sich, krächzte ihm zu und verschwand just in dem Moment, als Mark seinen Gedanken beendet hatte. Er schluckte. Was sollte das? War die Krähe deshalb davon geflogen? Weil er ihre Bedeutung verstanden hatte? Langsam öffnete er das Fenster und sah in den Garten. Regen. Regen, Regen, Pfützen und Regen, aber keine Krähe. Er schloss das Fenster und entschied, sich am Montag Bücher über Krähen und Raben auszuleihen und versuchte das Geschehnis zu verdrängen, um sich weiter dem Lesevergnügen widmen zu können. Nur gelingen wollte es ihm nicht, zu oft schweiften seine Gedanken zu dem Rabenvogel als Unheilbringer.

 

Zur selben Zeit wurde Paul von einem Krankenpfleger geweckt, der ihm vor der Operation ein Beruhigungsmittel verabreichte. Durch die Schmerzmittel fühlte sich Paul gut und zweifelte an dem Sinn des bevorstehenden Eingriffs, auch wenn alle, die beiden Ärzte und seine Eltern, ihm gut zugeredet hatten. Sein Zimmernachbar, Jörg, wurde aufgefordert für die nächsten zehn Minuten das Zimmer zu verlassen und völlig überraschend teilte ihm der junge Krankenpfleger mit, dass nun sein Schamhaar entfernt werden müsse und Paul sich unten herum freimachen solle. Nicht nur, dass ihm die Operation bevorstand und er sich gedanklich mit dem Tod in einer konkreten, für ihn bedrohlichen Situation beschäftigte (offenbar zu Recht, wie ihm seine gegen die Tränen kämpfende Mutter gezeigt hatte), nun wurde auch sein gerade weiter entwickeltes Schamgefühl verletzt. Mit in das Laken gekrallten Händen und den Blick nach draußen, in den regnerischen Morgen gewandt, ließ er die Prozedur über sich ergehen. Er hasste den Krankenpfleger und sich selbst oder besser seinen Körper, weil dieser ihn in diese Misere gebracht hatte.

»Hey, brauchst keine Angst zu haben. Ich mach das ungefähr zehn Mal am Tag. Alles kein Problem«, begann Pfleger Martin ein Gespräch. Paul nickte stumm.

»Dr. Urban operiert dich, oder?«

»Ja.«

»Wirst sehen, in zwei, drei Wochen kannst du wieder Sport machen. Bei Dr. Urban gab es noch nie Probleme.«

»In Ordnung«, antwortete Paul.

Alsbald schlug das Mittel an, sein Hass milderte sich und der monoton den Himmel schraffierende Regen zog ihn in seinen Bann und wirkte beinahe meditativ auf Paul. Danach kamen seine Eltern zu Besuch, wünschten ihm alles Gute und pünktlich um 9 Uhr erschien Dr. Urban, bei dem es noch nie ein Problem gegeben hatte und begrüßte ihn.

 

Um 9 Uhr drang Wasser aus dem Abflusssiel des krankenhauseigenen Waschraums im Keller der Klinik, ebenso lief das Wasser sämtlicher Toiletten im Erdgeschoss nicht ab und flutete als erstes das Besucher-WC neben dem Empfang. Nur eine halbe Stunde später, Paul wurde gerade in den OP-Saal I geschoben und fühlte sich sehr schläfrig, stand der gesamte Waschraum unter Wasser. Das Wasser drang durch den Türspalt und floss in den Flur. Leise, still und dunkel war es hier, Betten, mit Plastikfolie verhüllt, standen zu beiden Seiten des Ganges, gelegentlich raschelte es, wenn ein Luftzug durch den Keller wehte und die Abdeckungen erfasste. Es hörte sich an wie ein Flüstern.

 

Um 10 Uhr lag Paul anästhesiert mit einem offenen Schnitt im Unterbauch auf dem Operationstisch und Dr. Urban hatte das rot entzündete Übel Pauls freigelegt. Im Waschraum im Keller hatte sich das Wasser so weit aufgestaut, dass es in die untere Steckdose einer Leiste sickerte, es funkte, es gab einen Knall, eine Sicherung sprang im Heizungsraum der Klinik aus dem Sicherungskasten und das Licht flackerte im ganzen Erdgeschoss. In der Küche und im Schwesternzimmer der Chirurgie gab es daraufhin gar kein Licht und keinen Strom mehr. Der Beginn eines elektrischen Chaos in der Klinik, der den gesamten Samstagvormittag beherrschen sollte. Der Haustechniker wurde damit beauftragt, nach der Ursache zu fahnden, Manfred aber, oder von vielen einfach nur Manni gerufen, hatte am Vorabend den 50sten Geburtstag seiner Schwester gefeiert, war übermüdet und immer noch leicht alkoholisiert. Er ging in den Keller, setzte im Heizungsraum die herausgesprungene Sicherung wieder ein, wollte zurück zu seinem Kaffee, als er über den Pieper über das überschwemmte Gäste-WC informiert wurde. Die Wasserlache im Flur, die mittlerweile das erste Bett erreicht hatte und sich um die vorderen Rollen schloss, bemerkte er nicht. Lediglich eine unangenehme Kälte nahm er wahr. Er fröstelte und eilte nach oben.

 

Pauls Wunde war vernäht und er wurde in den Aufwachraum geschoben. Dr. Urban nahm sich sogleich in OP-Saal II der Patientin Erika Baumgarten an, der die Galle entfernt werden musste. Frau Baumgarten war rüstig für ihre 67 Jahre, ein Routineeingriff.

Etwas später erfolgte eine ganze Reihe von Kurzschlüssen, kurzfristig wurde dadurch die gesamte Stromversorgung des Krankenhauses lahm gelegt, Paul wachte im Dunkeln auf, wunderte sich benommen über die Kälte im Zimmer. Dr. Urban operierte ohne technische Hilfe weiter und hoffte, das Notstromaggregat würde den Engpass schnell überbrücken. Die plötzlichen Anzeichen einer Komplikation erfasste er dadurch erst spät, konnte sie sich nicht erklären, ebenso wenig die starken, auftretenden Blutungen seiner Patientin. Vergebens war der Kampf, den er und sein Team fochten. Als alle technischen Geräte ihren Dienst wieder aufnahmen, war Frau Baumgarten verstorben. Bei Dr. Urban hatte es das erste Problem gegeben.

 

Luftblasen stiegen aus dem Abflusssiel, platzten, anschließend floss das Wasser im Keller wieder ab. Auch auf den Toiletten im Erdgeschoss. Nur die ungewöhnliche Kälte hielt sich noch länger im Keller, ohne jemandem aufzufallen.

 

Dirk hatte zu dieser Zeit drei Zigaretten der Marke Ernte 23, acht Pfandflaschen zu je 15 Pfennig und vier Pfandflaschen zu je 30 Pfennig aus dem elterlichen Wohnzimmer erbeutet. Überreste des gestrigen Gelages. Sein Vater hatte Besuch von einem Arbeitskollegen bekommen, sie hatten getrunken, es war laut geworden und jetzt schlief seine Mutter ihren Rausch aus und sein Vater war noch losgezogen, zumindest hatte Dirk ihn nicht im elterlichen Schlafzimmer erblickt. Ungewöhnlich war das nicht, es kam sogar immer häufiger vor. Er sortierte die herumliegenden Schallplatten in ihre Hüllen, Roy Orbison lag auf dem Plattenspieler. Anschließend besah sich Dirk das nun aufgeräumte Wohnzimmer. Er nickte anerkennend, griff die Tüte mit seinen Fundstücken und schlich vorsichtig zu Totos Zimmer. Leise öffnete er die Tür und schloss sie hinter sich, damit kein verräterischer Laut erklang. Wahrscheinlich war er übervorsichtig, seine Mutter würde wohl erst am Nachmittag wieder zu sich kommen und sein Vater …, manchmal blieb er tagelang weg und dann mussten sie wieder wochenlang sparen, weil es an Geld fehlte. Dirk rechnete noch nicht mit ihm. Er ging zu dem Schrank, in dem Totos Klamotten an einer Kleiderstange hingen, und andere Hinterlassenschaften in Tüten, Beuteln, Kisten und Paketen den Schrankboden füllten. Burning Wheels stand über beide Türen geschrieben, die Wörter durch einen langhaarigen, grinsenden Totenschädel getrennt, Totos Gang. Nach seinem Tod waren Wolle und die beiden Meierbrüder aus der Gang noch manchmal gekommen, hatten dann hier auf Totos Bett gesessen und geraucht, aber ihre Besuche waren immer seltener geworden. Dirks Aufenthalte in Totos Zimmer nicht. Täglich war er hier, lag auf Totos Bett oder stöberte in seinen Sachen herum. Manchmal rauchte er hier auch eine Zigarette, sah sich die Schallplatten, Fotos und Rock- und Metalmagazine an oder zog sich Totos Klamotten an.

Dirk öffnete den Schrank und versteckte seine Beute hinter Totos Kutten, seiner Army-Jacke und dem Ledermantel, sein Geheimversteck. Seine Eltern überlegten, das Zimmer auszuräumen, um daraus ein Gästezimmer zu machen, aber seit Dirk seinen Vater letzte Woche auf Totos Bett hatte weinen sehen, glaubte er, dass es noch lange nicht so weit war. Dieser Anblick hatte in ihm Mitleid für seinen Vater geweckt. Nur ein wenig und wohl nur für kurze Zeit, denn neben die Liebe, die ein Kind naturgegeben für seine Eltern empfindet, gesellte sich mehr und mehr Hass auf sie.

Vorsichtig schob er die beiden Kartons mit den Fotos zur Seite, hob die dünne Bodenplatte an und tastete nach seinem geheimen Schatz, von dem er selbst seiner Bande noch nichts erzählt hatte. Eigentlich Totos Schatz, denn er hatte ihn hier versteckt. Aber Toto war nicht mehr. Alles war noch an seinem Platz. Er senkte die Platte wieder in die Fuge, schob die beiden Kartons darüber, schloss die Tür und erschrak so sehr, dass sein Herz wie ein Maschinengewehr in seiner Brust hämmerte. Mit außerordentlicher Selbstbeherrschung unterdrückte er einen Schrei. Toto saß auf dem Bett! Und er trug seine KISS-Jacke, die nun eigentlich in Dirks Zimmer über dem Stuhl hängen sollte. Toto sah ihn an. Neben ihm lag sein mattschwarzer Motorradhelm durch den er einen Arm gesteckt hatte. Seine geschnürte Lederhose war am linken Bein zerschlissen, geronnenes Blut verklebte das lange, blonde Haar seiner linken Kopfhälfte. Toto sah sehr blass aus und auch wenn er ihn direkt vor sich auf dem Bett sitzen sah, hatte Dirk das Gefühl, sie würden sich wie aus weiter Ferne betrachten. Als würde Toto mit einem Schiff von ihm weggetragen.

»Toto!«, flüsterte Dirk. Seine Lippen zitterten, Tränen schossen ihm in die Augen. Toto erhob sich. Langsam, als hätte er große Schmerzen, seinen Kopf hielt er unnatürlich schief, seinen Oberkörper auffällig gerade. Er humpelte direkt auf Dirk zu, zog sein linkes Bein nach, in seinem Blick lag etwas Anklagendes und Trauriges. Dirk spürte Kälte, während sein toter Bruder sich ihm näherte. Immer noch dieser Blick, Dirk schluckte, breitete seine Arme aus, um seinen Bruder umarmen zu können und schloss seine Augen. Toto war zurück! Angst spürte er nun keine mehr, nur die Kälte wunderte ihn. Sie umschloss ihn, ließ ihn erzittern und verschwand so plötzlich, wie sie gekommen war.

»Es war kein Unfall, Pancho!«, hörte er Toto flüstern. Rau und knarzig war seine Stimme. Dirk öffnete die Augen. Leer. Das Zimmer war leer. Er drehte sich um, suchte nach seinem Bruder, der nicht mehr da war. Ein Traum? Wurde er wahnsinnig? Wie seine Eltern oder Tante Ulla? Er zitterte am ganzen Körper und wollte sich aus dem Schrank eine Zigarette zur Beruhigung holen. Wollte erwachsen sein, als ihm die Flüssigkeit auf den Holzdielen auffiel. Eine längliche Lache, die vom Bett zu ihm führte und sich dort verbreiterte. Aus einem Reflex heraus sah er an sich herab, ob er sich aus Angst in die Hose gemacht hatte, aber so war es nicht. Dirk ging in die Knie und drückte seinen Zeigefinger in die Pfütze. Er hob seinen Finger vor die Nase, roch daran. Wasser. Es war kein Unfall, Pancho!, wiederholte er das Gehörte in seinem Kopf. Er verstand überhaupt nichts mehr und misstraute seiner eigenen Wahrnehmung. Nach einer Zigarette, die er auf Totos Bett rauchte, versuchte er Klarheit zu schaffen. Er holte sich die KISS-Jacke seines Bruders aus seinem Zimmer und unternahm eine Wanderung zur Unfallstelle, die Landstraße zwischen Götzberg und Henstedt-Ulzburg. Der Regen störte ihn nicht.

 

Lucie war erst in tiefen Schlaf gefallen, als es wieder hell wurde, zu aufgewühlt war sie, zu sehr hatten sie die gestrigen Ereignisse durcheinander gebracht, zu heftig hatte sie mit ihrer Mutter am Abend gestritten. Die Folge ihres Zanks war ein Tag Stubenarrest gewesen. Der erste Ferientag!

Am späten Vormittag wurde sie durch das Schreien des Esels der Königs geweckt, den sie manchmal ausführen durfte. Verwirrt schlug sie die Augen auf, erinnerte sich an gestern, sprang aus dem Bett, sah zu ihrem Radiowecker und rannte nach unten in den Flur zum Telefon. Kaltz! Sie wollte unbedingt Kaltz anrufen, auch wenn sie nicht wusste, was genau sie zur Eile drängte. Das Mädchen auf dem Foto, Rieke …, sie wusste nicht, ob sie ihm davon erzählen wollte, aber sie musste ihn fragen, ob er sie gekannt hatte. Am Telefon angekommen wurde ihr bewusst, dass sie seine Nummer nicht hatte, ja, nicht einmal wusste, wie Kaltz wirklich mit Nachnamen hieß. Torben war sein richtiger Name, aber wie weiter? Kaltz ging in ihre Parallelklasse, aber aus der kannte sie niemanden, den sie hätte anrufen können. Paul wusste die Nummer bestimmt, aber Paul war im Krankenhaus und seine Eltern würden sich bestimmt nicht über den Grund ihres Anrufs freuen. Lucies Mutter war einkaufen, sie hatte ihr einen Zettel mit einer längeren Botschaft hinterlegt, aber Lucie nahm aus allen Erklärungen und Phrasen nur die eine Botschaft wahr, die ziemlich am Ende stand: Räum dein Zimmer auf! Damit stand ihr Entschluss fest: Sie würde jetzt sofort mit dem Rad zu Kaltz fahren, der Stubenarrest und sämtliche Folgen einer Nichtbeachtung waren ihr egal. Sie zog sich ihre Regensachen an und fuhr los.