Cover

Ingolf Kern / Stefan Locke

GETEILTE
GESCHICHTE

25 deutsch-deutsche Orte
und was aus ihnen wurde

Ch. Links Verlag, Berlin

Für Else und Mops

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, September 2015 (entspricht der 1. Druckauflage von September 2015)
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Karte: Peter Palm, Berlin
Lektorat: Jan Martin Ogiermann, Berlin
Umschlaggestaltung und Satz: Eugen Lempp, Ch. Links Verlag, Berlin

Umschlagabbildung vorn: Das Foto wurde im August 1980 am Balaton (Plattensee) aufgenommen und zeigt die Familien Heuser und Szirmai. Die Schulfreundinnen Lydia Heuser, die inzwischen in der BRD lebte, und Brigitte Szirmai trafen sich regelmäßig in Ungarn (© Brigitte Szirmai).

ISBN 978-3-86284-319-0

Inhalt

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Vorwort

Als der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker im Juni 1985 auf dem Evangelischen Kirchentag in Düsseldorf auf das inner- deutsche Verhältnis zu sprechen kam, sagte er: »In Berlin habe ich eine Formulierung gehört, die jeder verstehen kann: Die deutsche Frage ist so lange offen, als das Brandenburger Tor zu ist.« Zwei Jahre später, im September 1987, fiel ein Satz, der mindestens ebenso bedeutungsvoll klang und bildhaft daherkam, aber das völlige Gegenteil beschrieb: »Die Entwicklung unserer Beziehungen, der Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland, dessen sind wir uns bewusst, ist von den Realitäten dieser Welt gekennzeichnet, und sie bedeuten, dass Sozialismus und Kapitalismus sich ebenso wenig vereinigen lassen wie Feuer und Wasser.« Ihn sprach Erich Honecker am ersten Tag seines Besuchs in der Bundesrepublik beim Abendessen in der Godesberger Redoute. Offene Fragen, geschlossene Tore, Feuer und Wasser – Synonyme für die Teilung als Lebenswirklichkeit, Hoffnung versprühend auf der einen und sie zerstörend auf der anderen Seite. Die Menschen im Westen sollten für das ferne Ziel Deutsche Einheit bei der Stange gehalten, die Menschen im Osten sich bitte schön im Konsumsozialismus mit beschränkten Reisemöglichkeiten, aber sicheren Arbeitsplätzen und 5-Pfennig-Brötchen einrichten. Zwischen diesen deutsch-deutschen Fensterreden lag ein Alltag der Zweistaatlichkeit, der mit gutem Willen, viel Geld und auch jeder Menge Pfiffigkeit gemeistert werden musste. Den Jahren der Abschottung folgte eine Annäherung durch Wandel, denn während das Feuer des Sozialismus immer schwächer loderte, sprudelte das Wasser des Kapitalismus unverdrossen, um in Honeckers Bild zu bleiben. Und so glich die DDR Mitte der Achtzigerjahre einer kargen, dahinglimmenden Insel, um die das Wasser immer höher stieg.

Dieses Buch hat sich im 25. Jahr der deutschen Vereinigung vorgenommen, genau diese geteilte Lebenswirklichkeit zu beschreiben, und zwar anhand von Orten, an denen sich Deutschlandpolitik ereignete und die Beziehungen zwischen DDR und Bundesrepublik gestaltet wurden. Der Blick richtet sich aber auf nur wenig Offizielles, denn im alltäglichen Zusammenleben ging es um ganz pragmatische Fragen wie das Ausstellen von Passierscheinen, die Müllentsorgung oder gemeinsame Geschäfte – von der Lieferung von VW Golf in den Osten bis zum Verscherbeln von Antiquitäten in den Westen. Neben dem vier Jahrzehnte dauernden Versuch, den jeweils anderen zu übertrumpfen und damit den Sieg des eigenen Systems davonzutragen, gab es ein Miteinanderauskommen zweier Länder in Europa, die wegen der Unteilbarkeit ihrer Geschichte und der Verbundenheit ihrer Menschen zusammengehören. 1989 herrschte deshalb zunächst Jubel und Begeisterung, doch erzeugte die Spannung zwischen Einheit und Eigenwegen oft auch tiefe Verunsicherung, falsche Erwartungen und große Sorgen.

Wo aber liegen die Orte, an denen die Gemeinsamkeit in der Teilung offenkundig wurde? 25 Jahre danach scheinen die Städte, Punkte und Wegmarken, die einst in Ost wie West gleichermaßen bekannt waren, in Vergessenheit geraten zu sein. Der erste Blick fällt auf kleine Grenzstädte wie Bebra, Hof und Helmstedt, auf Marienborn, Gerstungen oder Gutenfürst, die plötzlich Weltbedeutung erlangten, einfach weil sie direkt am Eisernen Vorhang lagen, heute jedoch wieder in der Mitte Deutschlands verschwunden sind. Erfahrbar wurden Zusammengehörigkeit und Abgrenzung aber auch an Orten spektakulärer Fluchtversuche, im Schlosshotel Wilhelmshöhe in Kassel, wo Willy Brandt auf Willi Stoph traf, in der Kölner Sporthalle, wo sich Wolf Biermann aus der DDR sang, oder im Ost-Berliner Gasthaus Zenner, wo auf dem Spreebalkon eine Währungsapartheid galt und damit auch über guten und miserablen Service entschieden wurde. Es geht außerdem nach Salzgitter, Neunkirchen oder auf den Priwall, wo das deutsch-deutsche Verhältnis archiviert, beschworen oder bewältigt wurde.

In Reportagen und Porträts kehren wir in das versunkene Zweiland zurück und rücken 25 Orte abermals ins Bewusstsein, diesmal in das gesamtdeutsche. Das Buch richtet sich auch an eine neue Generation in Deutschland, für die das geeinte Land längst Normalität und die mit der europäischen Einigung schon einige Schritte weiter ist. Ihr sagen all die Adressen nichts mehr, an denen sich einst Tragödien abspielten, politische Eiszeiten begonnen oder beendet wurden oder an denen sich bizarre Kammerspiele des Kalten Krieges zutrugen.

Die ersten Gedanken zu diesem Buch entstanden an einem Sommerabend des Jahres 2013 in Rathen in der Sächsischen Schweiz beim Blick auf die Elbe, die damals stolz und träge dahinfloss, obwohl sie Wochen zuvor heimtückisch über die Ufer getreten war und die Zeitrechnung in dieser kleinen Gemeinde auf null gestellt hatte – wieder gab es ein Davor und ein Danach. Nun lässt sich eine Naturkatastrophe nicht mit einer politischen Revolution vergleichen, aber unsere Gespräche kreisten an diesem Abend auch um die Frage, wie und warum denn alles so gekommen ist. Folgten Mauerfall und Einheit nun einer Gesetzmäßigkeit und mussten sich ereignen, weil die Westdeutschen eine so kluge Politik gemacht hatte? War es der große Michail Gorbatschow, der damals in Moskau genug eigene Probleme hatte und sich nicht mehr um seine Satellitenstaaten kümmern konnte? Oder war es die Courage der Ostdeutschen, die der morschen DDR den letzten Stoß versetzten, weil sie diesen vormundschaftlichen Staat einfach satthatten?

Auch darum geht es in diesem Buch: Zu lesen ist von Menschen mit ihren Überzeugungen, Irrtümern und Hoffnungen, von fanatischen Fehden und zögerlichen Umarmungen. Es ist ein Buch, das weder jene bestärken möchte, die immer auf der richtigen Seite standen, noch jene belehren, die in ihrem Urteil falsch lagen. Das Buch soll eher zum Nachdenken darüber anregen, wie wir wurden, was wir sind und ob es vielleicht ein gemeinsames Erinnern gibt. Jeder hat natürlich seine persönliche Sicht auf das geteilte Land. Das ist auch bei diesem Buch nicht anders. Es stellt Personen in den Mittelpunkt, die in ihrer alltäglichen Arbeit mit der Teilung zu tun hatten – die Ministerin am Kabinettstisch wie den Saucier in der Hotelküche, den Rechtsanwalt im goldfarbenen Mercedes wie den Müllmann auf der Deponie.

Wir danken herzlich allen unseren Gesprächspartnern in Ost und West, dem Christoph Links Verlag und seinem Programmleiter Patrick Oelze für das unerschütterliche Vertrauen in das Projekt, dem Fotografen Götz Schleser für seinen Bildessay, dem Lektor Jan Martin Ogiermann für die kritische Durchsicht des Manuskripts, der Stasi-Unterlagenbehörde und den Landes- und Stadtarchiven in Berlin, Bonn und Falkenberg für aufschlussreiches Material und unseren Lebenspartnern für anregende Kritik und nötigen Zuspruch.

Ingolf Kern und Stefan Locke im Juli 2015

BASTIONEN
UND
VORPOSTEN

Zentrale Erfassungsstelle Salzgitter:
Archiv des Unrechts

Die kleine Behörde in Niedersachsen war der DDR ein Dorn im Auge und für einige West-Politiker ein Hindernis auf dem Entspannungsweg. Bis 1989 schrieb sie eine Chronik der ostdeutschen Diktaturgeschichte.

Am ehemaligen Grenzübergang Marienborn hängt eine Tafel mit dem innerdeutschen Todesstreifen, 119 Nadeln bohren sich in den Verlauf der einstigen Grenze. Haben sie schwarze Köpfe, sind dort Flüchtlinge von DDR-Grenzsoldaten erschossen worden; sind die Nadelköpfe weiß, erledigten das die Selbstschussanlagen und Minen, oder die Menschen sind ertrunken. 119 Todesfälle, die der »Zentralen Beweismittel- und Dokumentationsstelle der Landesjustizverwaltungen« in Salzgitter bekannt geworden sind. 119 Gründe, warum diese Behörde zu einem der wichtigsten Beobachter der ostdeutschen Diktatur wurde. Als »Relikt des Kalten Krieges« von der DDR bekämpft, als Störfaktor in der Entspannungspolitik von westlichen Politikern infrage gestellt, hielt diese Behörde all das fest, was die DDR-Organe gern vertuscht und worüber einige im Westen aus taktischen Gründen lieber hinweggesehen hätten: Menschenrechtsverletzungen, schreiendes Unrecht, juristische Willkür, Grenzmord.

Wer heute nach der einstigen Behörde sucht, trifft auf einen Gedenkort vor dem zweigeschossigen Zweckbau mit Klinkerfassade am Pfingstanger in Salzgitter-Bad, in dem heute die Polizei residiert. Seit dem 9. November 2009 erinnern eine Stele und ein Teilstück der Berliner Mauer an eine »Adresse der Hoffnung«, wie es auf der Plakette heißt. Was ist sonst geblieben? In Marienborn liegt noch das blecherne Behördenschild, der Aktenbestand befindet sich längst im Koblenzer Bundesarchiv. Nicht so einfach wegzuräumen sind Erinnerungen und auch Ressentiments. Es gibt jene, die Salzgitter eine bedeutende Rolle bei der Aufarbeitung der DDR-Diktatur nach der Wiedervereinigung zubilligen, und andere, die noch immer von den Kalten Kriegern im Justizdienst sprechen. Dabei ist die Ermittlungsbilanz von Salzgitter ziemlich eindeutig: 42 000 Gewaltakte, 2700 Misshandlungen im Strafvollzug, über 34 000 Verurteilungen aus politischen Gründen, 270 Tote an der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze.

Beim niedersächsischen Örtchen Duderstadt-Brochthausen bohren sich vier Stecknadeln in die Salzgitter-Karte, drei schwarze, eine weiße. Hier im Hügelland des Eichsfelds sind die Schneisen der deutschen Teilung kaum mehr zu sehen. Die Natur hat sich zurückgeholt, was ihr einst genommen wurde. Auf dem früheren Grenzstreifen steht für Wanderer eine dieser praktischen Rasthütten bereit, davor eine Tafel, die daran erinnert, wie tödlich der unscheinbare Pfad einst war. So auch am 14. Dezember 1971. Der Tischlermeister Rudolf Ballhausen sitzt beim Abendbrot, als seine Großmutter hereinplatzt: »Rudi, da ist eben eine Mine hochgegangen. Da schreit ein Kind, du musst helfen.« Er schnappt sich den Gymnasiasten Dieter Brämer und rennt los in Richtung der rund einen halben Kilometer entfernten innerdeutschen Grenze.

Hinter dem Metallgitterzaun bietet sich ihnen ein schreckliches Bild. Im Grenzstreifen ist die Flucht einer jungen Familie gescheitert. Der Mutter hat eine Mine den Unterschenkel abgerissen, der Vater liegt, von der Detonation getroffen, auf der Westseite des Zaunes, das 13 Monate alte Kleinkind ist durch die Wucht der Explosion fortgeschleudert worden und bewegt sich nicht mehr. Die Grenzposten der DDR haben von all dem noch nichts mitbekommen. Mit einem Spaten versuchen sich die Helfer aus dem Westen unter dem Zaun hindurchzugraben, was misslingt. Sie drücken ein Loch in den Zaun. Als das Metall endlich nachgibt, kriecht Dieter Brämer durch den engen Spalt. »Mir ist das Herz in die Hose gerutscht. Überall lagen Minen. Zwanzig Zentimeter waren es noch bis zu dem Kind, aber ich dachte: Noch einen Schritt und du stirbst. Schließlich half mir ein Zöllner, er kam ebenfalls durchs Loch gekrochen und reichte mir das Kind weiter.« Der Zöllner tastet sich dann weiter zu der schwer verletzten Frau, zieht sie hinüber auf die Westseite, dann durch das Loch – geschafft. Er löst seine Krawatte, um ihr das Bein abzubinden. Anderthalb Stunden höchste Gefahr, dann ist die junge Familie in Sicherheit. Als die patrouillierenden DDR-Grenzer eintreffen, ist alles erledigt. Einer der Soldaten wirft das abgetrennte Bein in Richtung Westen.

Kein Beteiligter hat diesen widerlichen Akt vergessen, keiner diese mutige Rettungsaktion. Die Mutter sollte an den Spätfolgen ihrer Verletzung sterben, das Kleinkind von damals ist heute eine Frau in den Vierzigern, die es hinaus in die Welt gezogen hat. Mitte der Neunzigerjahre wurden Rudolf Ballhausen und Dieter Brämer schlagartig an die Schicksalsnacht vom Dezember 1971 erinnert. Sie traten als Zeugen bei einem Prozess gegen ehemalige Grenzoffiziere in Erfurt auf. Dass es dazu kam, hat entscheidend mit der Zentralen Erfassungsstelle und den Protokollanten der DDR-Verbrechen zu tun. So sieht es jedenfalls Oberstaatsanwalt Hans-Jürgen Grasemann, der in den späten Achtzigerjahren Vizechef der Behörde war. Die Jahre in Salzgitter haben ihn geprägt. Ihm hatte eingeleuchtet, dass der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, am 5. September 1961, also nur wenige Wochen nach dem Mauerbau, die Ministerpräsidenten der Bundesländer aufforderte, »allen Anhängern und Dienern des Pankower Regimes eindeutig vor Augen zu führen, dass ihre Taten registriert und sie einer gerechten Strafe zugeführt werden«. Brandt dachte dabei an die Institution in Ludwigsburg, die 1958 für die Ermittlung von Naziverbrechen geschaffen worden war. Er schrieb: »Wegen der nahezu völligen Identität der jetzt vom SED-Regime in der Zone und in Ost-Berlin angewandten Methoden mit denen des Nationalsozialismus dürfte die Ludwigsburger zentrale Stelle für die nunmehr erforderlichen Ermittlungen besonders gut geeignet sein.« Ob sich der einige Jahre später zum Entspannungspolitiker gewandelte Brandt an diese Sätze noch erinnerte?

Für Staatsanwalt Grasemann war Salzgitter das »Archiv des Unrechts« schlechthin, das sich für den Tag X wappnete, an dem man endlich Zugriff auf die Täter haben würde. Bis dahin musste sich die Behörde mit symbolischen Handlungen begnügen. Die von den Ländern abgeordneten Staatsanwälte ermittelten oft gegen unbekannt, kannten bei Zwischenfällen an der Grenze allenfalls das Regiment, so gut wie nie den Schützen. Anklage konnte nur in der Bundesrepublik erhoben werden, und in den meisten Fällen fehlten Unterlagen von DDR-Seite, die das ganze Verbrechen hätten erhellen können. Man stützte sich somit auf Ermittlungen des Bundesgrenzschutzes, des Zolls und nicht zuletzt auf die Aussagen freigekaufter Häftlinge. »Wir hatten nie das Gefühl, für den Papierkorb zu arbeiten. Gerade von politischen Gefangenen habe ich immer wieder gehört, wie wichtig Salzgitter für die Inhaftierten in der DDR war. Die wussten, es gibt im Westen eine Dienststelle, die schreibt die Misshandlungen auf. Die Opfer haben sehr nüchtern in den Polizeiprotokollen geschildert, was sie erlebt hatten – nie mit Schaum vorm Mund.«

Kaum eine Behörde spaltete die politischen Lager in der Bundesrepublik so tief wie Salzgitter. Dorothee Wilms, die letzte Bundesministerin für innerdeutsche Beziehungen, sieht das Jahr 1984 als den Zeitpunkt, an dem sich der mühsam erhaltene parteiübergreifende Konsens auflöste. »Die SPD-Bundestagsfraktion bereitete ihr Dialogpapier mit der SED vor und hielt die Erfassungsstelle für nicht mehr zeitgemäß. Die Länder Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Saarland und Bremen stiegen aus der Finanzierung aus. Viele Sozialdemokraten taten sich schwer mit dem Gedanken, die DDR weiterhin als totalitären Staat anzusehen«, sagt Frau Wilms. Dabei stand Salzgitter für keine Bundesregierung je zur Disposition, weder für Kohl noch für seinen Vorgänger Helmut Schmidt. Jedes Mal, wenn DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker seine berühmten vier Geraer Forderungen wiederholte – Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft, Umwandlung der Ständigen Vertretungen in Botschaften, Neuregelung der Elbgrenze und eben die Auflösung der Erfassungsstelle –, hatte er mit einem harten Veto aus Bonn zu rechnen.

Doch zu Beginn des Jahres 1989 wendete sich das Blatt. Die SPDregierten Länder Schleswig-Holstein und West-Berlin kündigten nun ebenfalls an, die Zahlungen für Salzgitter einzustellen. Die »Aktuelle Kamera« des DDR-Fernsehens berichtete genüsslich über diesen Triumph Ost-Berlins. Der damalige Berliner Regierende Bürgermeister Walter Momper kann in der Senatsentscheidung auch zweieinhalb Jahrzehnte später keinen Fehler entdecken: »Das war damals eine Mode der Zeit. Der Nutzen von Salzgitter war nicht besonders groß, denn niemand wusste doch, wann die Wiedervereinigung kommen würde. Es war sozialdemokratisches Allgemeingut, dass man im Zuge der Entspannungspolitik hier der DDR am ehesten nachgeben konnte. Das sehe ich auch heute noch so.« Auch Hans-Otto Bräutigam, in den Achtzigerjahren Ständiger Vertreter Bonns in Ost-Berlin, attestiert Salzgitter »eine geringe praktische Bedeutung, weil sie registrierte, was passierte, Strafverfahren aber nicht möglich waren. Wir wollten nicht anklagen, sondern Probleme lösen. Es ging uns darum, den Schießbefehl und die Selbstschussanlagen wegzubekommen. Insofern war Salzgitter eine Anmerkung in den deutschdeutschen Beziehungen.« Nur der damalige Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, Björn Engholm, sieht sein Salzgitter-Votum heute kritischer: »Wären wir damals im Besitz aller heutigen Kenntnisse über die DDR gewesen, hätte die Entscheidung vielleicht anders ausfallen können.« Michael Hollmann, der im Bundesarchiv in Koblenz für die Salzgitter-Akten zuständig ist, glaubt: »Die Erfassungsstelle war wirklich der Stachel im Fleisch der DDR. Die Unterlagen sind schon eine extrem spannende Quelle. Es lässt sich ersehen, in welcher Weise das Rechtssystem der DDR Tabula rasa gemacht hat.«

Eine dicke Akte legte Salzgitter auch im Fall von Marietta und Siegfried Jablonski aus Magdeburg an, die im April 1971 von der Straße weg verhaftet wurden. Der Vorwurf: staatsfeindliche Hetze. Als der Prager Frühling 1968 von sowjetischen Truppen blutig niedergeschlagen wurde, kam es auch in Magdeburg zu Protesten, einige davon anonym. Ein Briefeschreiber ließ dem SED-Blatt »Volksstimme« und anderen Staatsinstitutionen in handschriftlicher und getippter Form subtile Systemkritik zukommen, die Dubček feierte und Ulbricht verdammte. Außerdem verlangten die insgesamt 13 unbotmäßigen Schreiben freie Antennen für alle: »Ist der Ostkrimi noch so schön, wir werden immer Westen sehen.« Stasi-Chef Erich Mielke befahl einen schnellen Erfolg. Ganz Magdeburg wurde auf den Kopf gestellt, Schreibmaschinen konfisziert, Schriftproben verglichen. Die Stasi tappte im Dunklen. Einer der Briefe zitierte Brecht: »General, du hast Panzer, sie sind stark und herrlich, sie haben nur einen Fehler, sie brauchen jemanden, der sie lenkt!« Das Dichterwort wurde als Hetzparole interpretiert, Marietta Jablonski hatte eine Abiturarbeit über Brecht geschrieben und war verdächtig. Weil sie querschnittsgelähmt war, konnte sie ihre Taten nur in einer Gruppe verübt haben. Also wurde ihr Mann gleich mit verhaftet.

Dann ging alles sehr schnell. Ohne einen einzigen stichhaltigen Beweis schlossen sich die Türen des Stasi-Gefängnisses in Magdeburg. Für das Ehepaar begann ein Martyrium. Die Stasi-Schergen hatten nur ein Ziel: Vernehmen bis zum Geständnis. Tage und Nächte wurden sie verhört. Als ihr angedroht wurde, den vier Jahre alten Sohn zur Zwangsadoption freizugeben, brach Marietta Jablonski zusammen: »Das war das Schlimmste. Nach drei, vier Wochen habe ich wider besseres Wissen ein Geständnis abgelegt. Ich konnte nicht mehr. Wenn Sie jeden Tag hören, was für ein Verbrecher Sie sind, was für ein schlechter, böser Mensch, dann werden Sie verrückt.« Während Marietta Jablonski im Oktober 1971 freikam, weil sie haftunfähig war, musste ihr Mann noch bis zum Januar 1972 warten, ehe ihm der Prozess gemacht wurde. Das Urteil hatte die Stasi schon diktiert: sechs Jahre Haft wegen staatsfeindlicher Hetze. Die Bundesrepublik kaufte das Ehepaar schließlich frei, im Mai 1974 durften sie in den Westen ausreisen. Sie bauten sich ein zweites Leben in Hannover auf, wo sie heute noch wohnen.

Doch die Jablonskis wurden vor einigen Jahren aus ihrem wohlverdienten Frieden gerissen. Cornelia Steiner schrieb im September 2009 in der Braunschweiger Zeitung, dass Frau Jablonski einen Anruf ihres einstigen Vernehmers erhalten habe, der sich darüber beklagt hatte, dass sie ihn in ihrem Buch »OV Optima« abwertend beschrieben habe. Sie solle ihn nicht so negativ darstellen, er sei damals jung und ehrgeizig gewesen, habe unter Druck gestanden. Ja, die Beweise gegen sie seien dünn und löchrig gewesen. Aber so sei das nun einmal gelaufen. Im Übrigen habe er sie sehr gemocht. Und dann weiter: »Ich bin wieder Waffenträger.« Es blieb bei den Drohungen. Hans-Jürgen Grasemann knöpfte sich den Anrufer vor und informierte die Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Sachsen-Anhalt, Birgit Neumann-Becker, über den Fall.

Nach der Wende sind die Jablonskis rehabilitiert worden. Der falsche Verdacht, das erfolterte Geständnis, das gebeugte Recht – für all das wurde niemand zur Rechenschaft gezogen. Für die Jablonskis bleibt das ein Frevel. Oberstaatsanwalt Grasemann kennt die Klagen vieler Opfer der SED-Justiz: »Wir haben hier ein Rechtsproblem. Rechtsbeugung war auch in der DDR strafbar, allerdings wurde der Paragraf nicht angewendet in den vorliegenden Fällen. Das Unrecht war ja in der DDR Recht. Hinzu kommt das Rückwirkungsverbot. Das heißt, wir können kein Strafgesetz rückwirkend in Kraft setzen. Das ist natürlich bitter.« Dennoch kommt es nach der deutschen Einheit zu 62 000 Ermittlungsverfahren. Die wichtigste Quelle: Akten aus Salzgitter. Sie werden auch in Zukunft jeder Umdeutung des Unrechtsstaats DDR im Wege sein.

Ständige Vertretung der DDR, Bonn:
Herr Rotkohl und die Totalitäten

Auf dem diplomatischen Parkett in Bonn hatte die DDR wenig zu sagen. Ihre »Botschaft« ist noch heute ein unscheinbarer Ort.

Das politische Bonn kommt einem heute vor wie der verlassene Käfig eines Bergleoparden. Überall liegen Knochen herum, man sieht auch den Baum, an dem sich das Raubtier gern reibt, aber es taucht einfach nicht auf. Gitterstäbe gibt es reichlich, aber eben keinen Joschka Fischer mehr beim Joggen, keinen Helmut Kohl beim Gelage, und selbst die Kneipe der Pizza-Connection aus Grünen und Schwarzen ist inzwischen abgerissen.

Wenn das alte Regierungsviertel ein Leopardenkäfig war, dann ist das, was einen in der Godesberger Allee 18 erwartet, nicht mehr als ein Katzenkorb. Weitab von den gepflegten Insignien der Bonner Republik mit ihren immer noch blank polierten Messingschildern, liegt an der verkehrsdurchtosten B 9 kurz vor dem Bad Godesberger Tunnel, zwischen Autovermietung und Diakonie-Kleiderkammer, ein höchst unauffälliger Ort, an dem eineinhalb Jahrzehnte lang eine ebenso stille wie steife Diplomatie betrieben wurde. Als die beiden deutschen Staaten nach der Unterzeichnung des Grundlagenvertrages ihre Ständigen Vertretungen im jeweils anderen Halbland am 2. Mai 1974 eröffneten, zogen die DDR-Diplomaten ausgerechnet in ein Haus, mit dem wahrlich kein Staat zu machen war. Ein viergeschossiger Stahlbetonbau mit heute cremefarbenen Metallverkleidungen, dessen Dachgeschoss etwas zurückgesetzt ist. Gleichförmige, braune Fensterbänder unterstreichen die Langeweile, und nur das markante Vordach des Eingangs sorgt zumindest für ein klein wenig Abwechslung. Wer dem Haus näher kommt, entdeckt die vielen Jalousien, die ständig damit zu drohen scheinen, sich zu schließen, sollte das Gebäude zu intensiv beäugt werden.

Vor dem Haus stehen vier Fahnenmasten, eine nachgebildete Postmeilensäule aus sächsischem Sandstein (»Bad Schandau 135 Std.«) und eine Meeresboje von der Ostsee. Zutaten der Geschichte. Als die DDR Hammer, Zirkel und Ährenkranz einpackte, zogen die frisch installierten Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen mit ihren Landesvertretungen ein, um sich nach nicht einmal zehn Jahren am Rhein wieder ostwärts aufzumachen. Ein merkwürdiges Provisorium war das Haus immer. Dem einen Teilstaat sollte es Anerkennung verschaffen, den anderen bei der Überwindung der Teilung unterstützen. Die einen träumten von einer Botschaft, die anderen vom Abriss.

Lange ist das her. Bald wird die Deutsche Gesellschaft für Ernährung die Deutsche Demokratische Republik in den Residenzjahren überholt haben. 2001 kamen die Wissenschaftler von Frankfurt nach Bonn herüber, um erst einmal in einer Gerüchteküche zu landen, wie die Referatsleiterin für Öffentlichkeitsarbeit, Antje Gahl, erzählt. Denn die Geschichten, wonach in dem Haus mehr Wanzen als Bleistifte vorhanden, die Antennen und die Kameras auf dem Dach einer Spionagezentrale würdig und die Scheiben schusssicher waren, wurden natürlich mit vererbt. »Mitbekommen haben wir davon nichts«, sagt sie. Die Zeit hat dem Ort das Gift des Misstrauens genommen, und nur die weißen Stahlzäune, die so unauffällig wie unüberwindlich scheinen, künden noch von den Jahren der Diplomatie im toten Winkel.

Antje Gahl führt durchs Haus, das viel heller wirkt als gedacht. Es ist gerade Mittagspause, und wir ernten fragende Blicke, als wir weiße Türen mit hellbraunem Rahmen und Riffelglas fotografieren oder uns fragen, wer aus der Gegensprechanlage im ersten Stock wohl geantwortet haben mag. Der Weg führt durch ein Treppenhaus mit weißem Reibeputz und silbrigem Aluminiumgeländer. Die quadratischen Wandleuchten aus satiniertem Glas müssen jüngeren Datums sein, und auch der Wegweiser mit den dicken Pfeilen, die auf »Schiffskajüte« und »Sachsenkeller« im Untergeschoss zielen, wurden angeschraubt, als die DDR schon untergegangen war. Allenfalls die marmorschwarze Eingangshalle mit einer imposanten Pförtnerloge erinnert noch an jene Jahre, als das Foto von dem Bonner Polizisten mit Pilotenbrille und Maschinenpistole entstand, der lässig wie Stallone vor der Tür steht. Man weiß dabei nicht so recht, ob sein breiter Rücken die DDR-Diplomaten schützte oder eher einen CDU-Plakataufsteller, der Freiheit statt Sozialismus forderte.

»Zwei, drei Büros sind etwas hochwertiger ausgestattet«, sagt Antje Gahl und öffnet die Tür zum Raum des Geschäftsführers. Und da ist sie wieder, diese Welt, in der sich Bedeutung und Macht an getäfelten Wänden und Einbauschränken bemaßen. Rötliches Holz, Kirschbaum oder Buche, kam zum Einsatz, und vielleicht stand dort, wo jetzt die dickleibigen Ordner mit der Aufschrift »Ich nehme ab« ruhen, die Marx-Engels-Gesamtausgabe. Wobei jener, der sich das Büro am Ende des Flurs im ersten Stock einst täfeln ließ, der erste Ständige DDR-Vertreter Michael Kohl, besser einen Blick in das Ernährungswerk genommen hätte. Der vormalige Staatssekretär im Ost-Berliner Außenministerium, der mit Egon Bahr den Grundlagenvertrag ausgehandelt hatte, neigte zur Fülle, empfing aber gern zu Erdbeertorte mit viel Schlagsahne. In Bonn galt er bald als Doppelgänger des legendären Landwirtschaftsministers Josef Ertl von der FDP. Mit einem großen Unterschied: Ertl war gewichtig und gewitzt, Kohl grob und gehemmt. So jedenfalls beschrieb ihn Egon Bahr.

Die deutsch-deutschen Unterhändler begegneten sich häufig in Bonn, denn Bahr war es, der die ersten Schritte der DDR in der Bundeshauptstadt helfend begleitete. Vor allem ging es darum, ein Quartier für die Vertretung zu finden, was gar nicht so einfach war. Ein ehemaliges Ministerium wurde dem DDR-Vorauskommando angeboten, auch das Hotel Eden in Bad Godesberg war im Gespräch. Der Wunsch, die Nicht-Botschaft in der Nähe des Klassenbruders Sowjetunion auf der Viktorshöhe anzusiedeln, blieb ebenso unerfüllt wie der Traum mehrerer Bonner Villenbesitzer, den Kommunisten ihre Anwesen für stattliche Devisensummen aufzuschwatzen.

Öffentlich wahrnehmbar wurde die Ankunft des anderen deutschen Staates, als die Bonner Rundschau am 29. September 1973 titelte: »DDR will nach Muffendorf«. Ein 10 000 Quadratmeter großes Grundstück in schönster Hanglage sollte es sein, allerdings war Kohl die dazugehörige Villa mit dem pittoresken Türmchen-Charme der Dreißigerjahre zu »bourgeois« für seinen Amtssitz. Nichts sollte beim DDR-Gastspiel am Rhein großbürgerlich wirken, das war die eiserne Doktrin. Als Pläne laut wurden, die Villa einfach abzureißen und durch einen Neubau zu ersetzen, gingen die Muffendorfer mit dem Hinweis auf die Barrikaden, hier sei nur Wohnnutzung zugelassen. Obendrein verspürte niemand Lust, der DDR nachzugeben, wo doch Länder wie Brasilien oder Iran in Ermangelung repräsentativer Anwesen geradezu Schlange standen und auch die Bundesminister Hans-Dietrich Genscher und Horst Ehmke längst ein Auge auf die Villa geworfen hatten, wie weiland die Lokalpresse berichtete.

Noch vor Weihnachten 1973 hatte die DDR dann zumindest einen Wohnsitz für ihre Diplomaten gefunden: einen Bungalow, einen Neubaublock und ein Chauffeurshäuschen im Gesamtpaket. Christian Lonnemann beschreibt im Jahrbuch des Rhein-Sieg-Kreises von 2012 sehr schön, wie dabei der Zufall half. In Bornheim-Hersel nördlich von Bonn residierte der aus Bayern stammende, mit architektonischem Ehrgeiz ausgestattete Aluminiumunternehmer Heiner Schmidbauer, der just damals dabei war, für sich eine neue Bleibe in der Hansestadt Stade zu errichten. Sein eleganter, leichtfüßig aufgeständerter Bungalow auf einem 20 000-Quadratmeter-Grundstück mit Blick auf den Rhein, das Herseler Werth und das Siebengebirge wurde frei und sollte sich nun in die Residenz des Ost-Berliner Vertreters verwandeln. Flachdach statt Zinnen, Panorama- statt Sprossenfenster, dazu drei Meter hohe Mauern und obendrein noch eine riesige Schwimmhalle im Keller, in der die Olympiastars Kornelia Ender oder Roland Matthes hätten trainieren können. Schmidbauers Tochter Elfriede Bißling verkaufte aber nicht nur die moderne Villa ihres Vaters für 2,6 Millionen D-Mark, sondern gleich noch ihren eigenen Wohnsitz und ein der Familie gehörendes Hochhaus mit 90 Wohnungen auf dem Auerberg – eine »Klein-DDR« mit Tiefgarage und Kinderspielplatz, wie der Express schrieb.

Damit waren die knapp hundert Ost-Berliner Mitarbeiter zwar alle untergebracht, aber es mangelte noch an der Ständigen Vertretung selbst. Zu Beginn des neuen Jahres war für über sieben Millionen D-Mark ein dreiteiliges Gebäude in der Form einer römischen Eins gefunden, das selbst der verkaufenden Baufirmen-Gruppe Mosch »eigenwillig« vorkam. Und doch gelang der DDR das Schnäppchen auf der »Diplomatenrennbahn«, wie die Bonner die B 9 damals nannten. Nur noch drei Monate blieben, bis in Bonn zum ersten Mal die »Spalterflagge« gehisst werden sollte, die hier im Sinne der Hallstein-Doktrin und des damit verbundenen Alleinvertretungsanspruchs einst genauso auf dem Index stand wie der »Zonenstaat« insgesamt. Vorbei all das, obwohl die DDR für die Bundesrepublik auch weiterhin kein Ausland blieb.

Der Ständige Vertreter drang auf einen sanften Grauschleier für die Außenfassade, innen verlegten die West-Handwerker – immer überwacht von sechs »Beauftragten der DDR« – sanftgrünen Bodenbelag und schneeweiße Kacheln. Michael Kohl meldete nur bescheidene Sonderwünsche an, kein Ruheraum, keine eigene Dusche, nur eine holzgetäfelte Wand. Zehn Familien sollten im Hof der Vertretung wohnen, wo auch eine Grundschule untergebracht wurde. Die Eröffnung im Mai 1974 war kein feierlicher Akt. Fahne hoch, kurze Reden, mehr nicht. Publikumsverkehr gab es keinen, und die Fernsprechauskunft wurde angewiesen, die neue Telefonnummer der Vertretung erst ab 13 Uhr bekanntzugeben.

Bonn windet sich, wie es mit der Botschaft, die keine ist, die aber nach diplomatischen Regeln funktioniert, umgehen soll. Als Bundespräsident Gustav Heinemann den Ständigen Vertreter über einen Monat später zur Überreichung des Beglaubigungsschreibens empfängt, achtet das Protokoll peinlich darauf, dass Michael Kohl nicht als Chef einer ausländischen Mission akkreditiert wird, obwohl Ost-Berlin in knallrotes Leinen Kohls vollständigen, eindrucksvollen Titel geschrieben hat: »Außerordentlicher und Bevollmächtigter Botschafter und Minister«. Die Szenerie in der Villa Hammerschmidt wirkt so kurios wie verkrampft. Nicht der Hauch eines Anscheins soll erweckt werden, hier würde der Traum von der Wiedervereinigung zu Grabe geleitet. Kohl trägt einen taubenblauen Anzug statt Cut und eine Krawatte mit tropfenförmigen roten Herzen. Auch der Bundespräsident kleidet sich in den Stoff der Alltäglichkeit. Statt zehn Bundeswehrsoldaten, die normalerweise die Ehrenwache vor dem Präsidentensitz stellen, übernehmen zwei Beamte des Bundesgrenzschutzes die leidige Pflicht. Außerdem fährt Kohl nicht mit einer Limousine des Präsidialamtes vor, sondern mit einem silbergrauen Mercedes des Kanzleramtes, der den Stander der Bundesrepublik Deutschland führt. Alles ist so anders als zur gleichen Zeit in Ost-Berlin, wo der Ständige Vertreter der Bundesrepublik Günter Gaus mit einem Tschaika in den Hof des Staatsratsgebäudes chauffiert wird, um dann die Ehrenkompanie der Nationalen Volksarmee abzuschreiten und sich vor der Regimentsfahne zu verbeugen, ehe er dem kommandierenden Offizier und anschließend dem Staatsratsvorsitzenden Willi Stoph die Hand schüttelt.

Michael Kohl blieb nur vier Jahre in Bonn, dann wurde er von Ewald Moldt abgelöst, der zehn Jahre lang amtierte. Als dieser sich im Sommer 1988 mit einer Gartenparty verabschiedete, traute er seinen Ohren kaum, als er zu hören bekam, sein Weggang würde in Bonn durchaus bedauert. Die westdeutsche Politprominenz war mit Annemarie Renger und Philipp Jenninger, Dorothee Wilms und Wolfgang Schäuble angerückt, um bei Wernesgrüner, Radeberger und Thüringer Bratwürsten dem scheidenden SED-Mann zu bescheinigen, er sei stets kooperativ gewesen, besäße diplomatischen Charme und sei auch in schwierigen Situationen stets ansprechbar und verhandlungsbereit gewesen. Und die Fleischfabrikantin Liesl März aus Rosenheim, diktierte dem Lokalreporter in den Block: »Das deutsch-deutsche Geschäft, vor allem mit Schafen aus der DDR, blüht.« Als Geschenk erhielt Moldt die gesammelten Bundestagsreden von Herbert Wehner!

Die DDR fühlte sich nach dem Honecker-Besuch in der Bundesrepublik vom September 1987 gestärkt und international aufgewertet. Doch die Ständige Vertretung selbst wurde kein Ort des deutsch-deutschen Austausches. Wer etwas mit Ost-Berlin zu besprechen hatte, besuchte den Chefdiplomaten in seiner Residenz in Bornheim-Hersel. In den letzten Jahren war das Horst Neubauer, der als SED-Karrierist galt und im Sommer der Entscheidung, als es Tausende vor lauter Verzweiflung nicht mehr im Lande hielt und sie in westdeutsche Botschaften flohen, am Rhein den Hardliner gab. Unnachgiebig vertrat er, was aus Ost-Berlin herübergefunkt wurde. Einen Sommer später wurde Neubauer abgezogen, im Juli 1990 verschwanden erst die Staatssymbole vom Türschild, dann die hauseigene Grundschule und schließlich die Autos mit der Nummer »0-160« (natürlich ohne »CD«-Aufkleber) aus dem Bonner Stadtbild. Über Monate dümpelte die Vertretung führungslos dahin. Die Diplomaten saßen auf gepackten Koffern; Visa brauchte keiner mehr, Städtepartnerschaften auch nicht, und die kulturellen Schätze konnte sich jetzt jeder vor Ort anschauen.

Die DDR verschwand aus Bonn, wie sie gekommen war: unauffällig. Der Eintrag im Telefonbuch, zwischen Dahomé (heute Benin) und der Dominikanischen Republik, wurde gelöscht. Als die Vertretung geschlossen und kurz vor dem 3. Oktober 1990 besenrein an das Bundesfinanzministerium übergeben wurde, drang zum ersten Mal nach außen, wie es hinter den vergitterten Fenstern zugegangen war. Die Öffentlichkeit erfuhr, dass die Mitarbeiter keine Privatbesuche in ihren Wohnungen empfingen, die Ehefrauen in den ersten Jahren nicht einmal allein einkaufen und bis zum November 1989 auch nicht ohne Begleitung Auto fahren durften. Wahrscheinlich mussten sie auch unter dem Bild von Honecker schlafen und nur Knäckebrot aus Burg bei Magdeburg essen. All das klingt so bizarr, als habe hier ein konservativ-islamischer Staat residiert. Und doch gab es in der kurzen Chronik des DDR-Außenpostens einige Momente der Heiterkeit.

Immer zur Karnevalszeit empfing der Ständige Vertreter in seiner Herseler Residenz Prinzen und Prinzessinnen. Der erste war 1975 Josef »der Bärtige«, der dem einstigen Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht zumindest um die Kinnpartie sehr ähnelte. Hausherr Michael Kohl erhielt sogar ein närrisches Geschenk, das auch seinen Spitznamen in Bonn begründen sollte: einen Rotkohl! Und wenn er auch in der Anrede von »Totalitäten« statt von »Tollitäten« sprach – man kann eben nicht aus seiner Haut –, so waren doch die Narren bei den Ost-Machthabern gern gesehen. Der Empfang hatte Tradition, und es soll viel Hochprozentiges aus volkseigener Produktion ausgeschenkt worden sein, während die Diplomaten nur Brause tranken. Als Prinz Dieter I. 1990 seinen Pfauenschweif als Symbol der Unsterblichkeit durch des Ständigen Vertreters Wohnzimmer trug, da ahnte dieser sicher schon, dass seine Tage bald gezählt sein würden. Horst Neubauer lobte denn auch die Beständigkeit des rheinischen Karnevals, der sich von keinem Weltereignis beeindrucken ließe.*

Die schmucke Residenz wurde nicht mehr gebraucht und 2006 abgerissen, in der Ständigen Vertretung feierten 1991 die neuen ostdeutschen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf und Alfred Gomolka den offenen Geist des Hauses, der jetzt hier herrschte. Frauenministerin Angela Merkel war dabei, als es hieß, dass hier früher die Vertretung eines Staates gewesen sei, der zwar sich selbst, nicht aber seine Bürger vertreten habe. Und weil das Geld der jungen Länder zwar für frische Farbe, aber für wenig mehr reichte, nähten die Ehefrauen der neuen Vertreter die Gardinen einfach selbst.

So war das damals in Bonn. Heute scheint auch dieses Kapitel Lichtjahre zurückzuliegen. Im Erdgeschoss werden inzwischen Fort-und Weiterbildungen für qualifizierte Ernährungsfachkräfte angeboten. Und zwar deutschlandweit. Nicht mal in der Ernährung gebe es mehr nennenswerte Unterschiede zwischen Ost und West, sagt Antje Gahl. Im einstigen Haus der Teilung wird heute über die Küchen der Deutschen geforscht. Eigentlich ein schöner Ausgang der Geschichte. Nur manchmal kommt es noch vor, dass Bonner Bürger sich nach dem erzgebirgischen Weihnachtsmarkt erkundigen, den die sächsische Landesvertretung hier einst veranstaltete. Ein bisschen Osten ist eben doch geblieben in Bonn.

* Lonnemann, Christian: Die Ständigen Vertreter der DDR in Bornheim – »Hersel Alaaf«, in: Jahrbuch des Rhein-Sieg-Kreises (2012) 27, S. 108–115

Büros für Besuchs- und Reiseangelegenheiten, Berlin:
Nie auf die Toilette mit dem Feind!

Die DDR betrieb in West-Berlin fünf »Passierscheinstellen«, wo bizarre Kammerspiele des Kalten Krieges stattfanden.

Es gibt diese Orte, die aus der Zeit gefallen sind und entweder von fiebriger Straßenkunst, selbstbewusster Natur oder der Schönheit des Verfalls erobert werden. Ein solcher Ort liegt am Waterloo-Ufer in Berlin-Kreuzberg, im Schatten der Amerika-Gedenkbibliothek und umfahren von jenen auf den schmalen Rennrädern, die die Beats des Augenblicks schätzen und das hochgestimmte Szeneleben. Sie würden dort einen Club vermuten oder irgendeine andere coole Adresse für die unstillbare Sehnsucht nach Unterhaltung, die nur dann befriedigt werden kann, wenn der Ort eine ganz eigene Aura mitbringt, die sich künstlerisch aufladen lässt. Am Landwehrkanal ginge das: eine schmale, ursprünglich cremefarbene Fertigteilbaracke mit heruntergelassenen Jalousien und von Graffiti überwuchert wie ein urbanes Dornröschenschloss; davor eine kleine eingefasste Rabatte, sie trägt Spuren der Vernachlässigung wie das ganze Haus, das nicht anders als mitgenommen zu nennen ist. Im Informationskasten hängen Ankündigungen für antikapitalistische Diskussionen, veranstaltet vom aktuellen Hausherrn, der Dersim Kulturgemeinde e. V., daneben zwei kleine Schwarz-Weiß-Fotos: ordentlich ondulierte Damen mit Plisseeröcken und großen Taschen, die vor dem noch völlig unverzierten Gebäude in der Schlange stehen. Die Aufnahme datiert aus dem Oktober 1980 und zeigt den Andrang vor einem der insgesamt fünf »Büros für Besuchs- und Reiseangelegenheiten«, die die DDR in den West-Bezirken unterhielt, um »Berechtigungsscheine zum Empfang eines Visums« auszugeben. West-Berliner mussten hierherkommen, um in den Osten fahren zu können, wo sie dann an der Grenze ein Visum für 24 Stunden oder 30 Tage erhielten.

Um zu verstehen, wie diese kafkaesken Antragsbaracken entstanden, muss man die Erinnerungsuhr bis in die Monate nach dem Mauerbau zurückdrehen. Das Monstrum teilte die Stadt schon 850 Tage, als es am 19. Dezember 1963 erstmals wieder möglich wurde, dass sich Berliner Verwandte in den Armen lagen. Die Briefe an den Regierenden Bürgermeister Willy Brandt, mit der DDR über »Türen in der Schandmauer« zu verhandeln, füllten da längst viele Aktenordner. Nun war es so weit: Schulen, Turnhallen und Jugendeinrichtungen wurden zu zwölf Passierscheinstellen umgerüstet und geradezu bestürmt. Stundenlang standen die Menschen bei minus 15 Grad, um endlich die genau festgelegten Grenzübergangsstellen in der Chaussee- und Invalidenstraße, in der Sonnenallee, an der Oberbaumbrücke oder am Bahnhof Friedrichstraße überschreiten zu dürfen. Die Stasi war schon Tage vorher ausgeschwärmt, um die Stimmung auf der anderen Seite zu protokollieren. Am 18. Dezember 1963 sagte im Bus A 57 eine namenlose Frau: »Meine Schwester wird die Aufregung des Wiedersehens kaum ertragen können, die Zeit der Trennung war viel zu lang, wenn ihr etwas passiert, ist nur die ›Mauer‹ daran schuld.«

In diesen Tagen vor Heiligabend ist alles anders. Der Ostteil hat sich vorbereitet, die Festtagsversorgung ist organisiert, und dazu gehören nun einmal Fleisch und Wein und Schnaps. Laut den Akten des Ost-Berliner Magistrats gehen beispielsweise die Umsätze in der Verkaufsstelle »Goldene Rebe« in der Schönhauser Allee oder beim VEB Taxi durch die Decke, während die Volksbühne oder der Friedrichstadtpalast über Einbußen maulen. Die Straßen sind leergefegt. Der West-Besuch wird zu Hause verwöhnt. Anschließend ist nicht mehr drin als ein Verdauungsspaziergang im Tierpark Friedrichsfelde, man hat sich einfach zu viel zu erzählen. Außerdem wacht draußen die Geheimpolizei. Die Stasi beobachtet beispielsweise, wie eine West-Berlinerin »in den Gaststätten in der Nähe des Bahnhofs Friedrichstraße« die Ost-Verwandtschaft einlädt und »zum Bezahlen ihrer Speisen 20 DM hinter dem Hutrand« hervorholt. Fünf weitere Passierscheinabkommen werden bis zum Oktober 1966 noch folgen und ein ums andere Mal werden sich die Szenen wiederholen.

Die DDR wollte sich mit diesen Abkommen von der großzügigen Seite zeigen, und auch in West-Berlin überwog einer Umfrage vom April 1964 zufolge die Freude gegenüber den Zweifeln: 69 Prozent der Befragten begrüßten die Passierscheinabkommen. Doch es gab auch Stimmen, die die Halbstadt in Gefahr sahen, wenn »kommunistische Postbeamte« plötzlich in die Turnhallen der freien Welt vorrückten. Gemunkelt wurde von Anfang an, dass es sich bei den Bürokraten im »Reisebüro« um »getarnte Funktionäre« handelte und die SED mit ihren trojanischen Pferden in Richtung Drei-Staaten-Theorie galoppierte. 1958 hatte der sowjetische Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow in seinem Berlin-Ultimatum die Welt der Deutschen in einen West- und Ostteil sowie eine entmilitarisierte »Freie Stadt Berlin« aufgeteilt und damit scharfen Protest der Westmächte ausgelöst. Eine »selbständige politische Einheit« West-Berlin kam nicht infrage, auch wenn die DDR formal bis zu ihrem Ende an dieser Vokabel festhielt.