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Titelseite

 

Reiterfest am Meer

Eine Begegnung am Morgen

Tami und ihre Freundin Jessy fuhren auf ihren Rädern den Deich entlang. Nur wenige Schleierwolken hingen wie weiße Wattetupfer am hellblauen Himmel über dem Küstenort Tidelund. Vom Meer her wehte ihnen eine kühle Brise Salzluft um die Nasen. Die immer noch kräftigen Strahlen der Spätsommersonne hatten eine rosige Färbung auf die Wangen der Mädchen gezaubert. Es war Mitte September, der Sommer seit einigen Wochen vorbei und Jessy endlich offiziell Schülerin am Internat Nordlicht, in dem inzwischen wieder der Schulalltag eingekehrt war.

„Wenn ich mir vorstelle, dass ich vor einem Jahr um diese Zeit daheim über meinen Hausaufgaben gebrütet und mir nichts sehnlicher gewünscht habe, als hier zu sein …“, sagte Jessy und beugte sich etwas über den Lenker, um besser gegen den Wind anradeln zu können. „Manchmal habe ich Angst, dass der Wecker klingelt und ich in meinem Zimmer aufwache und feststelle, dass ich das alles bloß geträumt habe und gar nicht Schülerin am Nordlicht bin.“

Tami bremste unvermittelt.

„Hey, was ist denn los? Wir müssen uns doch beeilen, wenn wir vor der Theoriestunde noch nach den Pferden auf der Weide sehen wollen.“ Jessy blickte erstaunt über ihre Schulter, fuhr eine Kurve, rollte mit ihrem Rad zurück zu ihrer Freundin und blieb schließlich neben ihr stehen.

Tami streckte die Hand aus und kniff Jessy in den Arm.

Ihre Freundin zuckte erschrocken zusammen. „Autsch!“

„So viel Zeit muss sein“, sagte Tami und lachte.

„Du meinst, so viel Zeit, um mich in den Arm zu zwicken?“ Jessy verzog das Gesicht und strich mit den Fingern über die schmerzende Stelle.

„Quatsch! Damit du merkst, dass du nicht träumst“, erklärte Tami und blinzelte gegen das Sonnenlicht. „Du bist tatsächlich und wirklich hier. Dein Wecker wird nicht gleich klingeln und du wirst auch nicht zu Hause bei deinen Eltern aufwachen. Du bist Schülerin am Nordlicht und teilst dir ein Zimmer mit Zoe und Anneke. Kapiert?“

Jessy schlug den Kragen ihres Anoraks höher. Sie fröstelte leicht. Trotz der warmen Sonnenstrahlen blies der Nordseewind bereits ziemlich kühl. „Danke für die Bestätigung. Morgen habe ich bestimmt einen blauen Fleck.“

„Das ist doch praktisch.“

„Praktisch?“ Jessy schaute ihre Freundin verständnislos an. „Was soll an blauen Flecken denn praktisch sein?“

Tami zuckte mit den Schultern. „Na ja, du musst das so sehen: Den Fleck kannst du als Beweis dafür ansehen, dass du eben nicht träumst, sondern tatsächlich in Tidelund bist.“ Sie schwang sich wieder auf den Radsattel. „Jetzt aber los. Wir müssen uns extrem sputen.“

Jessy musste lachen und fuhr Tami hinterher. „Deine Logik ist manchmal wirklich gewöhnungsbedürftig.“

Vom Deich aus hatten sie einen fantastischen Blick über die mit Prielen durchzogenen Salzwiesen, hinter denen sich die weiße Tidelunder Sandbank erstreckte. Am Horizont glitzerte das Meer, auf dem ein Kutter in einem gemächlichen Tempo die Wellen durchschnitt. Der Pfad führte sie nun durch eine wilde Dünenlandschaft, auf deren Sanderhebungen Strandhafer wuchs. Die Halme wurden vom Wind ausgelassen gewirbelt. Als der Radweg wieder auf den Deich mündete, konnten die Mädchen die Koppel bereits erspähen. Hinter dem Zaun grasten ungefähr fünfzehn Pferde friedlich in kleinen Grüppchen.

An der Weide angekommen, legten Tami und Jessy ihre Fahrräder ins kniehohe Gras und hielten nach ihren vierbeinigen Lieblingen Ausschau.

„Da vorne sind sie. Raquel mit Ricardo“, sagte Tami und zeigte zu der Stute hinüber, die gemeinsam mit ihrem Fohlen auf der Weide unterwegs war.

„Wahnsinn. Wie groß er geworden ist.“

„Oh ja, ich habe das Gefühl, dass man ihm beim Wachsen zuschauen kann“, stimmte Tami ihrer Freundin zu. „Genauso war es auch bei Thunderstorm.“

„So wie du dich um ihn kümmerst, ist das aber auch kein Wunder. Du steckst Ricardo doch ständig heimlich Leckerlis zu. Da bleibt dem Kleinen ja gar keine andere Wahl, als in null Komma nichts groß und stark zu werden. Bist du jetzt eigentlich für die Pflege von jedem neuen Fohlen zuständig?“

„Das wäre schön! Mir macht es jedenfalls unheimlich Spaß.“ Tami legte den Kopf schief und schaute hinüber zu Thunderstorm, ihrem ersten Pflegefohlen, das mittlerweile fast ein Jahr alt war und zu einem prächtigen Jährling herangewachsen war. Die junge Stute galoppierte ausgelassen in kurzen Sprüngen über die Wiese, schlug Haken und wieherte übermütig. Tami seufzte.

„Was ist denn los?“

„Ach, nichts. Ich habe gerade nur daran denken müssen, dass Ricardo schon bald keine Muttermilch mehr bekommt und dann ganz von Raquel getrennt wird.“

„Meinst du, er wird sie doll vermissen?“

„Schwer zu sagen. Hoffentlich nicht. Bei Thunderstorm und Zafira lief die Absetzung ja Gott sei Dank völlig problemlos. Aber ich habe mir damals ziemlich Sorgen gemacht.“

„Wie jede gute Mutter“, witzelte Jessy. „Wie läuft so eine Absetzung eigentlich genau ab?“

„Zuerst werden die Mutter und ihr Fohlen nur für ein paar Stunden getrennt, damit der endgültige Abschied leichter fällt“, erklärte Tami. „Ricardo wird aber nie alleine sein. Wahrscheinlich kommt er auf eine andere Weide. Da hat er dann Gesellschaft und das hilft ihm wahrscheinlich am besten über die Trennung hinweg. Herr Kellinghaus hat gestern außerdem schon eine Box im Stallgebäude neben der kleinen Reithalle für ihn vorbereitet. Die Absetzung scheint kurz bevorzustehen.“

„Das ist ja höchst interessant“, erklang plötzlich eine Stimme hinter Tami und Jessy.

Die Mädchen zuckten zusammen und drehten sich um. Sie hatten nicht mitbekommen, dass sie nicht länger alleine waren.

Hinter ihnen stand Nils, ein Mitschüler vom Nordlicht. Tami wusste, dass sein Vater Architekt war und zurzeit in Dubai arbeitete. Aus diesem Grund wohnte Nils im Internat.

Ein spitzbübisches Lächeln umspielte seinen Mund. „Na, hat es euch die Sprache verschlagen?“, fragte er.

„Sorry. Wir haben dich gar nicht kommen hören“, meinte Tami.

„Ich wollte nur kurz nach Troubadour sehen“, erklärte Nils, stellte sich neben Tami an das Koppelgatter und sah zu dem Fuchs hinüber, der seine Nase gerade tief in die Tränke steckte und mit großen Schlucken trank. Das Pferd hatte einen muskulösen Körperbau, weiße Fesseln und ein Stockmaß von mindestens 170 Zentimetern. Sein Fell glänzte im Sonnenlicht wie ein auf Hochglanz polierter dunkler Holztisch. Als es den Kopf hob, konnte Tami die breite Blesse sehen, die Troubadours kompletten Nasenrücken und nahezu die ganze Stirn bedeckte.

„Das ist wirklich ein ganz Hübscher. Eine schöne Laterne hat er. Fast wie gemalt“, meinte sie.

Der Fuchs spitzte seine Ohren und schaute neugierig zu den Kindern am Zaun. Dann setzte er sich in Bewegung und steuerte geradewegs auf seinen Besitzer zu.

Tami kletterte auf das Gatter, schwang ein Bein über das Paneel und hockte sich rittlings darauf. Troubadour machte einen langen Hals und schnaubte. Dann lief er ein paar Schritte auf sie zu und beschnüffelte ihr Bein.

„Na, mein Guter?“ Tami streichelte über sein Fell.

„Himmel, wir müssen los!“, rief Jessy nach einem Blick auf ihre Armbanduhr. „Wir sind schon viel zu spät zur Theoriestunde dran!“

„Oje! Das hätte ich fast ganz vergessen!“ Tami kletterte vom Gatter und hievte ihr Fahrrad aus dem Gras.

„Hey, wartet kurz, ich komme mit!“, rief Nils und schloss sich den beiden Mädchen an.

Überraschende Neuigkeiten

Da Tami als externe Schülerin nicht im Internat wohnte, verabschiedete sie sich nach der Schule von ihren Freundinnen und machte sich auf den Heimweg. Dieser führte sie quer durch Tidelund bis zu dem roten Backsteinhaus mit den blau-weißen Markisen, in dem sie mit ihrer Familie wohnte und in dem auch die Konditorei ihrer Mutter untergebracht war.

Tami öffnete das weiße Holztor, hinter dem der Garten lag, und schob ihr Fahrrad zur Garage, aus der Musik erklang. Ein kleines, uraltes Transistorradio stand auf einem Stuhl und unter einem aufgebockten VW Golf ragten zwei Beine hervor, die in staubigen Jeans steckten. Ihr großer Bruder Peer bastelte mal wieder an seinem klapprigen Auto herum, obwohl er noch gar keinen Führerschein besaß.

„Moin, Peer!“, rief Tami über die Musik hinweg und lehnte ihr Rad an die Garagenwand.

Peer schob sich unter dem Auto hervor. Seine Hände waren ölverschmiert und sein Gesicht dreckig. „Moin.“

„Interessante Kriegsbemalung hast du da im Gesicht“, sagte Tami und musste lachen. „Sieht richtig gefährlich aus.“

Peer verdrehte die Augen und wischte sich mit einem schmutzigen Tuch über das Gesicht. „Wo gehobelt wird, fallen auch Späne. Aber davon hast du keine Ahnung, Schwesterchen.“

„Schon gut. Ich interessiere mich eben mehr für die Pferdestärken auf vier Hufen. Ist Mama im Laden?“

„Ist sie“, antwortete Peer und rollte wieder zurück unter den Wagen.

„Na dann, tschüss“, sagte Tami. Ihr Bruder war im Grunde genommen ein feiner Kerl, deswegen nahm sie es ihm auch nicht krumm, dass er keine ausführlichen Unterhaltungen führen wollte, wenn er an seinem Wagen herumwerkelte.

Sie verließ die Garage und lief zur Konditorei. Bestimmt konnte sie dort ein Stück Kuchen stibitzen, um sich die eintönigen Hausaufgaben etwas zu versüßen.

Beim Aufdrücken der Glastür bimmelten drei kleine Metallglöckchen, die über dem Eingang angebracht waren und Tamis Mutter das Eintreffen von Kundschaft signalisierten.

„Komme sofort!“, erklang die Stimme von Frau Claasen aus der Backstube.

„Lass dir Zeit. Ich bin es nur, Mama“, rief Tami und schaute neugierig in die Auslage. Neben Keksen und Teegebäck nach alten Familienrezepten entdeckte sie auch Obstkuchen und Schokotorte.

Ihre Mutter erschien mit einer um die Hüften gebundenen weißen Schürze und einer Mehlspur auf der linken Wange hinter der Ladentheke. „Tami, schön, dass du da bist. Wie war es in der Schule?“, erkundigte sie sich, während sie einen Teller aus dem Regal nahm. Sie kannte ihre Tochter und deren Vorliebe, bei einem Stück Kuchen ihre Schularbeiten zu erledigen.

„Der Theorieunterricht war wieder super. Der Rest geht so.“

Frau Claasen griff nach einem Kuchenheber. „Welche Nervennahrung darf es heute denn sein? Apfel oder Kirsch?“

„Apfelkuchen mit Sahne, bitte.“ Tami lächelte. Was für ein Glück sie doch mit ihren Eltern hatte.

„Einmal Apfelkuchen mit Sahne“, sagte Frau Claasen ein paar Sekunden später und schob ihrer Tochter den Teller über die Theke. Dabei fielen Tami die feinen Schweißperlen auf der Stirn ihrer Mutter auf. Sie sah gar nicht gut aus. Irgendwie abgekämpft. Sie war richtig käsig im Gesicht und hatte dunkle Schatten um die Augen.

„Mama? Geht es dir nicht gut?“

„Ach, mir ist nur ein bisschen warm und etwas schwindelig“, winkte ihre Mutter ab und tupfte sich mit einer Serviette über das Gesicht. „Vielleicht ändert sich das Wetter wieder. Du weißt doch, dass ich in Wirklichkeit ein Wetterfrosch bin und jeden Umschwung mitbekomme, bevor er auf der Wetterkarte erscheint.“ Frau Claasen zwinkerte ihrer Tochter zu. „In der Backstube habe ich übrigens frische Marzipan-Krebse. Möchtest du einen?“

„Au ja!“ Was für eine Frage. Für Marzipan ließ Tami alles stehen und liegen. Das wusste ihre Mutter genau.

„Kommt sofort“, sagte Frau Claasen und wollte wieder im hinteren Teil des Ladens verschwinden.

„Warte, ich komme mit.“ Tami folgte ihr. „Wo ist denn Oma?“

„Oma ist in der Küche und bereitet eine Krabbensuppe für heute Abend vor.“

„Und wann kommt Papa von der Arbeit?“

„Voraussichtlich gegen 19 Uhr. Aber du weißt ja, wie das bei der Strandaufsicht ist. Wissen kann man es nie.“

Tami schaute sich in der Backstube um und entdeckte auf einem wuchtigen Holztisch ein großes Blech mit Marzipan-Krebsen, deren Scheren mit Schokolade überzogen waren. „Oh, die sehen aber lecker aus.“

„Aber nur einen. Der Rest ist für die Kunden.“ Tamis Mutter stützte sich auf einer Stuhllehne ab und griff sich mit einer Hand an die Brust. „Puh! Ich fühle mich tatsächlich etwas unwohl“, gab sie zu und im nächsten Moment war es auch schon geschehen: Tamis Mutter stürzte auf den gefliesten Boden und blieb reglos liegen.

„Mama!“ Tami war mit einem Sprung bei ihr und kniete sich neben sie. „Sag doch was! Was ist denn los?“ Tami rüttelte verzweifelt an ihrer Schulter, doch Frau Claasen behielt weiterhin die Augen fest geschlossen und bewegte sich überhaupt nicht.

Tami war völlig durcheinander. Was sollte sie nur tun? Da kam ihr plötzlich eine Idee. Natürlich. Oma! Die würde wissen, was zu tun war. Sie sprintete los und kam wenig später völlig aus der Puste in der Küche an, wo ihre Großmutter mit einem Holzlöffel in einem großen Topf herumrührte, aus dem der unverkennbare Geruch von Krabbensuppe aufstieg.

„Nicht so stürmisch, mein Kind. Essen gibt es erst später. Du siehst ja aus, als wäre der Klabautermann persönlich hinter dir her“, begrüßte sie ihre Enkelin.

„Mama liegt in der Backstube. Sie ist einfach umgekippt. Ich glaube, sie ist ohnmächtig. Oma, wir müssen ihr sofort helfen!“, rief Tami aufgeregt.

Die Augen ihrer Großmutter weiteten sich vor Schreck. „Ach du liebes bisschen! Hol rasch das Telefon!“ Sie schaltete den Herd aus, warf ihre Schürze achtlos auf den Tisch und eilte in die Konditorei.

Tamis Oma verständigte sofort den Notarzt, während Frau Claasen langsam wieder zu sich kam. Nachdem der Arzt eingetroffen war, untersuchte er sie eingehend, stellte bis auf einen niedrigen Blutdruck allerdings nichts Auffälliges fest. Trotzdem hielt er es für notwendig, Tamis Mutter vorsichtshalber zur Beobachtung ins nächstgelegene Krankenhaus bringen zu lassen. Oma begleitete Tamis Mutter und Peer rief bei der Küstenwache an, um ihren Vater zu informieren.

„Papa fährt sofort zum Krankenhaus“, sagte er, nachdem er aufgelegt hatte.

„Und wir? Was machen wir jetzt? Wir können hier doch nicht einfach rumsitzen und Däumchen drehen.“

„Wahrscheinlich ist es das Beste, wenn wir genau das tun“, sagte Peer und legte tröstend einen Arm um seine Schwester.

„Aber –“, wollte Tami protestieren.

„Wir können im Moment ohnehin nichts für sie tun. Papa meldet sich, sobald es was Neues gibt. Und außerdem ist sie ja nur zur Beobachtung dort“, versuchte er sie zu beruhigen. Doch Tami spürte, dass er genauso erschrocken war wie sie, aber als ihr großer Bruder wollte er das nicht zeigen.

Tami war nach oben in ihr Zimmer gegangen und hockte nun an ihrem Schreibtisch. Vergeblich versuchte sie sich auf ihre Hausaufgaben zu konzentrieren. Wie sollte sie auch englische Vokabeln pauken, wenn ihre Mutter im Krankenhaus lag? Tamis Blick wanderte immer wieder zu ihrem Handy. Vor einer halben Stunde hatte sie ihrem Freund Marlon eine Nachricht geschickt und ihm von den neuesten Ereignissen berichtet. Doch bislang hatte er nicht geantwortet. Tami schaute auf die digitale Zeitanzeige auf dem Bildschirm. Vermutlich war er noch auf dem Wasser beim Surfen und hatte das Mobiltelefon in seinem Rucksack im Surfcontainer verstaut.

Sie stand auf und tigerte nervös wie ein wildes Tier in ihrem Zimmer umher. Nach einer Weile hielt sie es nicht länger aus und zog sich kurz entschlossen ihre Reithose an. Dann schnappte sie sich ihre Jacke und steckte das Handy ein. Sie konnte hier nicht länger herumsitzen und der Appetit auf Omas Krabbensuppe war ihr sowieso komplett vergangen.

Nachdem Peer ihr mindestens zehnmal hatte versprechen müssen, sie sofort anzurufen, falls er etwas Neues aus dem Krankenhaus erfuhr, machte Tami sich mit dem Fahrrad auf den Weg zum Pferdestall. Dort konnte sie sich wenigstens ablenken und vielleicht traf sie sogar ihre beste Freundin Marit, deren Eltern den Reiterhof führten, der zum Internat gehörte.

Im Stall war es um die Uhrzeit recht ruhig. Die meisten Schüler hatten ihr Reittraining bereits beendet und widmeten sich nun den Hausaufgaben. Als Tami den Hauptstall betrat, kam ihr Marits Mutter mit ihrem Wallach Saturn entgegen.

„Na, Tami. Machst du heute noch einen späten Besuch bei Thunderstorm?“

„Hallo, Frau Kellinghaus. Ist Marit vielleicht da?“

Die Reitlehrerin nickte. „Meine Tochter findest du bei Peppino. Der Frechdachs hat sich tüchtig auf der Weide gewälzt und dabei seine Fellfarbe in ein unansehnliches Graugrün verwandelt. Ich glaube, sie kann jede helfende Hand gut gebrauchen.“

Wie angekündigt, traf Tami vor Peppinos Box auf eine mit Striegel und Kardätsche bewaffnete Marit. Doch sie war nicht allein, sondern hatte in Nils eine tatkräftige Unterstützung gefunden, um das Fell ihres Ponys wieder in den Normalzustand zurückzuverwandeln.

„Hi, Tami“, rief er, während er die Innen- und Außenseiten von Peppinos Beinen mit einer Wurzelbürste vom Dreck befreite.

„Hi.“ Tami hob lahm den Arm und vergrub ihre Hände in den Jackentaschen.

„Hallo, Tami! Was machst du denn noch so spät hier?“, fragte Marit erstaunt, als sie ihre Freundin erblickte. „Hast du Sehnsucht nach deinen Schützlingen?“

„Ach … mir war irgendwie so danach“, antwortete Tami ausweichend. Sie war sich nicht sicher, ob sie vor Nils über die Ereignisse des Nachmittags reden wollte. Er schien zwar ein netter Kerl zu sein, doch sie kannte ihn nicht sonderlich gut. „Kann ich helfen?“, fragte sie stattdessen und begutachtete Peppinos Fell.

„Wir sind fast fertig. Peppino sieht wieder wie mein Pony aus“, antwortete Marit.

„Ach so.“ Tami seufzte leise. Sie fühlte sich elend. Die Sorge um ihre Mutter lag wie ein dicker Stein in ihrem Magen.

Marit legte den Kopf schief und musterte prüfend ihre Freundin. „Du hast doch was.“

Tami wich Marits forschendem Blick aus und blinzelte die aufsteigenden Tränen weg, was Nils nicht entging. „Ich gehe dann mal zu Troubi. Wollte mit ihm eh noch eine Runde drehen.“

„Was ist denn passiert?“, fragte Marit, als Nils außer Hörweite und sie beide allein waren.

Tami ließ sich auf einen Heuballen sinken und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Dann erzählte sie ihrer Freundin die ganze Geschichte. „Das Allerschlimmste ist, dass ich nicht weiß, was Mama fehlt. Vielleicht finden sie bei der Untersuchung im Krankenhaus ja eine schreckliche Krankheit“, schloss sie ihren Bericht.

„Bestimmt nicht! An so etwas darfst du gar nicht denken“, tröstete Marit sie voller Überzeugungskraft und schenkte ihrer Freundin ein aufmunterndes Lächeln. „Es hat bestimmt nur etwas mit dem Wetterumschwung zu tun, so wie deine Mutter gesagt hat. Wirst schon sehen!“ Dann sprang Marit abrupt auf. „Weißt du was?“

„Nein. Was denn?“

„Eigentlich wollte ich ja mit Nils einen kurzen Ausritt vor dem Abendbrot machen. Aber was hältst du davon, wenn du stattdessen mit ihm ausreitest? Ich muss sowieso noch Hausaufgaben machen und habe wegen der Putzaktion gar keine Zeit mehr.“

Tami zuckte die Schultern. „Ich habe doch gar kein Pferd.“

„Du nimmst natürlich Peppino. So schön hat er schon lange nicht mehr geglänzt.“

Als Tami und Nils von ihrem Ausritt wieder zurückkehrten, dämmerte es bereits leicht. Sie waren nebeneinander den Tidelunder Strand entlanggeritten und hatten sich dabei prächtig unterhalten. Nils schien in der Tat ein toller Kerl zu sein. Nicht dass er eine Konkurrenz für Marlon wäre – eher ein prima Kumpel, mit dem man sich stundenlang über Pferde unterhalten konnte. Dabei hatte Tami sogar vergessen, auf ihr Handy zu sehen. Sie entdeckte Marlons Nachricht erst, als Peppino und Troubadour wieder abgesattelt in ihren Boxen standen. Einen Anruf von Peer hatte sie in der Zwischenzeit jedoch nicht verpasst, stellte sie erleichtert fest. Sie antwortete Marlon kurz, dass sie sich melden würde, wenn sie wieder zu Hause war.

Doch als Tami vor dem roten Backsteinhaus ankam, stutzte sie. Der weiße Geländewagen stand in der Garagenauffahrt, was bedeutete, dass Oma und ihr Vater bereits aus dem Krankenhaus zurück waren. Hastig schob sie ihr Fahrrad in die Garage. Warum hatte sich Peer denn nicht bei ihr gemeldet? Er hatte ihr doch versprochen, sie sofort anzurufen, sobald es Neuigkeiten gab. Tami schüttelte verständnislos den Kopf und ging auf die Haustür zu. Was hatte das bloß zu bedeuten? Gab es etwa doch schlechte Nachrichten? Eventuell war ja alles auch ganz harmlos und Oma und Papa waren erst kurz vor ihr angekommen, sodass Peer noch gar keine Gelegenheit gehabt hatte, ihr Bescheid zu geben.

Tami öffnete die Tür und schlüpfte mit klopfendem Herzen ins Haus. Als sie auf einmal lautes Lachen hörte, blieb sie wie angewurzelt im Flur stehen.

Verwundert schlich Tami Richtung Küche und lugte durch den Türspalt. „Mama?“, rief sie laut aus und stürmte auf ihre Mutter zu, die auf der Eckbank saß. „Was machst du denn hier? Ich dachte, du bleibst zur Beobachtung im Krankenhaus.“

„Ja, das dachten wir alle“, sagte ihr Vater äußerst vergnügt und nicht das klitzekleinste bisschen betrübt.

„Da haben wir falsch gedacht“, fügte Peer hinzu.

Herr Claasen lachte verschmitzt. „Deine Mutter ist eben immer für Überraschungen gut.“

„Das hat sie von mir“, kommentierte Oma und zwinkerte Tamis Mutter zu.

„Was ist denn mit dir? Bist du doch nicht krank?“, fragte Tami hoffnungsvoll, die immer noch nicht verstand, was der Grund für die fast ausgelassene Stimmung war.

Frau Claasen schaute ihre Tochter geheimnisvoll an. „Nein, krank bin ich Gott sei Dank nicht. Und trotzdem muss ich mich die nächste Zeit etwas schonen, hat der Arzt gesagt.“

„Etwa wegen des Wetterumschwungs?“, fragte Tami.

Ihre Eltern, Oma und Peer brachen in lautes Lachen aus.

„Nein. Aber in ungefähr sechs Monaten werden wir zu sechst im Haus sein. Ich bekomme ein Baby.“

Was für eine Überraschung: Ihre Mutter war schwanger! Damit hatte Tami in ihren kühnsten Träumen nicht gerechnet. Und ihre Mutter offensichtlich auch nicht. Sie war höchst erstaunt gewesen, als der Arzt ihr im Krankenhaus das Ergebnis der Untersuchung mitgeteilt hatte.

Noch mehr überraschende Neuigkeiten

Nachdem Tami gemeinsam mit ihrer Familie Omas leckere Krabbensuppe verputzt hatte, war sie schweren Herzens in ihr Zimmer gegangen – schließlich musste sie noch Vokabeln für Englisch lernen. Dass sie darauf überhaupt keine Lust hatte, verstand sich natürlich von selbst. Viel lieber hätte sie Marit angerufen, um mit ihr lang und breit über den baldigen Familienzuwachs zu sprechen. Doch Tami war sich ziemlich sicher, dass ihre Englischlehrerin kein Auge zudrücken würde, wenn sie morgen beim Vokabeltest kaum etwas wusste. Also schrieb sie die zu lernenden Wörter auf kleine Karteikärtchen. Aber Tami fiel es heute extrem schwer, sich die einzelnen Wörter einzuprägen. Pferdenamen konnte sie sich definitiv besser merken. Außerdem war sie viel zu aufgeregt und musste ständig an das Baby denken, das in Mamas Bauch heranwuchs.

Tami zuckte zusammen, als ihr Handy plötzlich piepste. Sie hatte eine neue Nachricht.

Ist alles okay bei dir? Hoffentlich geht es deiner Mutter gut! GLG, Marlon

Meine Güte, ihr Freund wartete ja schon seit Stunden auf eine Antwort von ihr. Das hatte Tami in der ganzen Aufregung völlig vergessen. Geschwind tippte sie eine kurze Mitteilung.

Tut mir leid, dass ich mich nicht früher gemeldet habe. Bei mir ist alles gut. Erzähle dir dann morgen in der Schule, was heute passiert ist. Ich muss jetzt leider noch Vokabeln pauken. GLG, Tami

Wichtige Dinge waren es wert, persönlich erzählt zu werden, fand Tami.

Nachdem sie noch eine gute halbe Stunde versucht hatte, die unliebsamen Vokabeln in ihren Kopf zu bekommen, gab sie es schließlich auf. Sie packte die Vokabelkärtchen in die Schublade ihres Schreibtisches. Tami gähnte und streckte sich.

Kater Brutus schlich maunzend um ihre Beine und sprang dann auf ihr Bett, wo er sich am Fußende zusammenrollte und ein lautes Schnurrkonzert anstimmte.

Tami verschwand im Badezimmer, putzte sich die Zähne, zog ihren Schlafanzug an und ließ sich neben Brutus plumpsen. Sie blätterte noch ein wenig in einer Pferdezeitschrift, doch ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Eigentlich war sie todmüde und doch gleichzeitig hellwach. Die Vorstellung, bald ein kleines Geschwisterchen zu haben, hielt Tamis Gedanken gehörig auf Trab. Was es wohl werden würde? Ein Junge oder ein Mädchen? Aber eine Sache wusste sie ganz genau: Sie freute sich unbeschreiblich darauf, eine große Schwester zu werden!

Am nächsten Morgen traf Tami ihre Freundinnen noch vor der ersten Schulstunde im Stall vor der grünen Futterkiste. Das war ihr morgendlicher Treffpunkt vor Schulbeginn, um kurz bei den Pferden vorbeizuschauen, bevor sie sich mit langweiligen Kommaregeln und komplizierter Geometrie beschäftigen mussten.

Marlon hatte an diesem Tag erst zur zweiten Stunde Unterricht. Mit ihm war Tami in der großen Pause verabredet.

„Hey, warum strahlst du denn so wie ein Honigkuchenpferd?“, empfing sie Zoe, die ein kariertes Hemd trug, das sie vorne lässig zusammengeknotet hatte.

„Lass mich raten. Es hat doch unter Garantie etwas mit Marlon zu tun“, mutmaßte Jessy.

„Nein, es hat nichts mit Marlon zu tun“, erwiderte Tami und musste noch mehr grinsen.

„Also, wer so glückselig lächelt, dem ist auf jeden Fall etwas ganz Tolles passiert“, stellte Marit fest und schaute Tami forschend an. Dann hellte sich ihre Miene auf. „Sag nichts! Jetzt weiß ich es! Du kriegst von deinen Eltern ein eigenes Pferd geschenkt!“

Jetzt musste Tami laut lachen. „Nein. Meine Eltern haben kein Pferd für mich gekauft. Auch wenn ich mir das von Herzen wünsche.“

„Hm, mir fällt auch kein anderer Grund ein. Aber im Rätselraten war ich noch nie besonders gut“, sagte Anneke und zuckte ratlos die Schultern. „Verrätst du es uns?“

„Meine Mutter bekommt ein Baby!“, ließ Tami die Bombe platzen.

„Ach!“

„Wow!“

„Gibt’s ja nicht!“

Die Mädchen schauten sie mit großen Augen an, als könnten sie nicht glauben, was sie eben gehört hatten.

„Ein Baby?“, fragte Marit ungläubig. „Im Ernst?“

„Ja. Ich werde eine große Schwester. Ist das nicht der Hammer?“

„Oh, das ist ja wirklich toll. Gratuliere!“, rief Anneke und umarmte Tami spontan. Anneke war ein Einzelkind und hatte sich immer ein Geschwisterchen gewünscht, wie sie Tami einmal anvertraut hatte.

„Das ist echt cool“, fand auch Zoe. „Und mit Pferdebabys hast du ja schon Erfahrungen gesammelt. Du bist also quasi perfekt auf die Rolle der großen Schwester vorbereitet.“

Tami schüttelte lachend den Kopf.

„Was wird es denn eigentlich? Bekommst du ein Brüderchen oder ein Schwesterchen?“

„Das weiß ich noch nicht, Anneke. Da müssen wir uns noch etwas gedulden.“

Die Freundinnen redeten noch eine Weile über Geschwister und Babys, dann schulterten sie ihre Rucksäcke. Es war höchste Zeit, dass sie sich auf den Weg zur Schule machten, wenn sie es noch vor dem Lehrer in den Klassenraum schaffen wollten.

Die beiden ersten Schulstunden zogen sich wie Kaugummi und Tami merkte immer wieder, wie ihre Gedanken abschweiften. Den Vokabeltest hatte sie unter Garantie verhauen. Tami nahm sich fest vor, beim nächsten Mal dafür besonders gründlich zu lernen.

In der großen Pause wartete Marlon bereits vor dem Kiosk auf sie. Als er Tami sah, ging er ihr entgegen. „Na, da bist du ja“, sagte er und gab ihr zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange. „Du machst es ja ganz schön spannend.“

„Komm mit.“ Tami zog ihn bis zu einer Holzbank, wo sie nahezu ungestört waren.

Marlon staunte nicht schlecht, nachdem Tami ihm alles erzählt hatte. „Da denkst du, dass deine Mutter womöglich ernsthaft krank ist, und dann bekommt sie ein Baby. Echt verrückt.“

Tami lächelte. „Total verrückt, aber auch ziemlich aufregend. Ich fiebere ganz schön mit, denn bis jetzt war ich ja immer nur die kleine Schwester. Für mich ist es dann das erste Mal, dass ich für ein kleines Brüderchen oder Schwesterchen verantwortlich bin.“ Sie schaute versonnen auf ein angebissenes Käsebrot, das jemand auf der Nachbarbank liegen gelassen hatte.

„Woran denkst du?“

„Ach.“ Tami schüttelte den Kopf. „Ich habe nur überlegt, wann ich meinem kleinen Geschwisterchen zum ersten Mal die Pferde zeigen kann.“

Marlon lachte laut los. „Das ist typisch Tami! Das Baby ist noch nicht mal auf der Welt und du planst schon den ersten Ausritt mit ihm.“

„Ertappt. Na ja, man kann mit so was nicht früh genug anfangen.“ Sie zwinkerte Marlon zu und kramte in ihrer Tasche nach einem Apfel. Erst jetzt bemerkte sie, was für einen großen Hunger sie hatte.