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Besonderen Dank an Elisabeth Faith

 

 

 

Ein mächtiger Sturm

Lena riss die Augen auf. Sie hatte geträumt. Mit ihrem Lieblingspony Samson war sie kurz davor, einen Springwettbewerb zu gewinnen. Gerade wollten sie über die letzte Hürde springen, da wurde sie durch einen lauten Knall aus dem Schlaf gerissen.

Lena setzte sich im Bett auf. Ihr Zimmer war in gleißendes Licht getaucht. Ein Donnerschlag folgte auf den Blitz. Das Gewitter war direkt über dem Haus.

Noch vor Kurzem hätte Lena sich unter ihrer Bettdecke verkrochen und gewartet, bis alles vorbei war. So war es gewesen, als sie noch in der Stadt gewohnt hatte. Doch seit sie in dem kleinen Ort Willow Springs lebte, waren die Dinge anders. „Die Tiere!“, dachte sie, sprang aus dem Bett und schnappte sich ihren Bademantel. „Sie haben bestimmt Angst.“

Genau in diesem Moment ertönte schrilles Bellen aus dem Nachbarhaus. Das war Nacho, der kleine Dackel, der bei Lenas Nachbarin wohnte. „Armer Kleiner“, murmelte Lena. „Er klingt ganz verschreckt.“ Aber wenigstens war Nacho im Haus von Mrs Kraft in Sicherheit. Aber was war mit den Tieren vom Ponyhof Apfelblüte?

Lena ging nach unten in die Küche. Ihre Mutter war von dem Gewitter ebenfalls geweckt worden.

„Hat dich der Sturm auch aufgeweckt?“, fragte Mrs Kennet. Sie sah besorgt aus. „Er hat den Baum hinten im Garten umgeworfen.“

„Aber er ist doch nicht auf dein Studio gestürzt, oder?“, fragte Lena. Sie war sehr stolz auf ihre Mutter, die Porträts von Tieren malte. Es wäre schrecklich, wenn ihr Malstudio zerstört wäre.

„Zum Glück nicht“, erwiderte Mrs Kennet, als Lena zu ihr ans Fenster trat. Sie betrachteten die Äste, die verstreut auf der Wiese lagen.

„Glaubst du, den Ponys geht es gut?“, fragte Lena. Sie kannte die Tiere vom Ponyhof Apfelblüte noch nicht sehr lange, aber sie gehörten für sie schon zur Familie. „Sie müssen sich sehr fürchten.“

„Mrs Marle wird sich schon darum gekümmert haben, dass sie alle in Sicherheit sind“, beruhigte ihre Mutter sie. Sie machte ihnen beiden einen Tee und trug die Becher zum Tisch.

„Vielleicht hat der Sturm sie nicht geweckt“, überlegte Lena und setzte sich neben ihre Mutter. „Die Familie Marle wohnt schließlich in einem alten Schloss. Der Donner ist durch die dicken Mauern vielleicht gar nicht zu hören.“

Mrs Kennet legte den Arm um Lena und drückte sie an sich. „Ich bin mir sicher, dass es allen gut geht. Aber ich kann dich nach dem Frühstück hinfahren, dann kannst du selbst nachsehen.“

Lena kuschelte sich an ihre Mutter. „Danke, Mama. Das wäre toll.“

Am nächsten Morgen stemmte sich Mrs Kennet keuchend gegen den Wind und versuchte, die Autotür zu öffnen. „Wenn die Straßen nicht frei sind, müssen wir wieder umkehren“, sagte sie zu Lena. „Ein Unfall würde uns jetzt gerade noch fehlen.“

Nachdem sie sich angeschnallt hatte, lehnte Lena sich zurück und drückte die Daumen. Sie wusste, dass sie erst wieder ruhiger werden würde, wenn sie sich überzeugt hatte, dass mit den Ponys alles in Ordnung war.

Die sonst so belebten Straßen waren wie ausgestorben. Die Geschäfte hatten geschlossen. Auf dem Dorfplatz stand ein steinerner Brunnen und daneben ein großer Weidenbaum. Die langen Äste wehten im Wind hin und her und Blätter fegten über das Kopfsteinpflaster. Ein Mülleimer war umgekippt und Abfall war auf dem Platz verstreut. Zu Lenas Erleichterung schien der Sturm ansonsten keinen Schaden angerichtet zu haben.

Sie ließen das Dorf hinter sich. Die Berggipfel waren hinter dicken schwarzen Wolken verborgen. Nach wochenlanger Hitze waren die Wiesen braun geworden. Aber nach dem Regen der Nacht sahen sie jetzt schon etwas grüner aus.

Das Schloss ragte vor ihnen auf und sah mit seinen Türmen und hohen Steinmauern märchenhaft aus.

Lena sah aus dem Fenster und runzelte die Stirn. „Warum sind die Ponys auf der Weide?“, überlegte sie. „Ich dachte, sie wären im Stall.“

Die Ponys wirkten nervös. Mit hoch erhobenen Köpfen trabten sie über die Koppel. Samson, Lenas Lieblingspony, war normalerweise ruhig und besonnen, aber ein plötzlicher Windstoß ließ ihn losgaloppieren. Smartie und Aska jagten hinter ihm her. Samson kam ans Ende der Weide und wendete, um zurückzurasen. Sein grauer Schweif wehte wie eine Fahne hinter ihm her.

Mrs Kennet parkte vor dem riesigen Torbogen, durch den es zu den Ställen ging. Lena sprang aufgeregt aus dem Auto und rannte unter den windgeschützten Torbogen. Plötzlich hielt sie inne. Keinen Schritt konnte sie mehr machen. Etwas stimmte hier nicht – ganz und gar nicht.

Der wunderschöne, uralte Apfelbaum in der Mitte des Hofs war umgestürzt!

Lena starrte die Wurzeln an, die aus dem Boden ragten. „Oh nein“, wisperte sie. Sie zwang sich, den Hof zu betreten. Den Blick konnte sie jedoch nicht von dem Baum lösen. Die obersten Äste berührten das Stalldach, als ob sich der Baum verzweifelt daran festhalten wollte. Er sah so schrecklich traurig aus. Ein Kloß bildete sich in Lenas Hals.

Sie ging um den Baum herum und entdeckte den Schaden, der auf der anderen Hofseite entstanden war. Die Ställe an der Hofmauer sahen schlimm aus. Die Äste hatten Dachziegel und Balken zerstört. Lenas Magen zog sich vor Sorge zusammen. War eines der Ponys verletzt worden?

Mrs Marle stand im Hof und betrachtete den Schaden mit ernster Miene. Mr Marle war bei ihr und telefonierte. Ihre Töchter Julia und Isabel waren ebenfalls in der Nähe. Juli hatte die Arme um sich geschlungen und starrte ungläubig auf das Chaos. Alle vier trugen gelbe Schutzhelme, die ihre Köpfe vor herunterfallenden Dachziegeln schützten.

„Kommt“, sagte Mrs Marle. „Wir müssen die anderen Ponys rausbringen.“

Juli drehte sich um und entdeckte Lena und Mrs Kennet. „Wir haben es geschafft, die Ponys aus dem vorderen Stall zu holen, bevor der Baum umgestürzt ist!“, rief sie mit laut erhobener Stimme, um den Wind zu übertönen. „Aber wir müssen die anderen auch noch wegbringen, falls noch mehr vom Dach einbricht. Könnt ihr uns helfen? Ich hole euch Helme. Papa hat noch ganz viele von damals, als das Haus renoviert wurde.“

Mr Marle ging telefonierend auf und ab. Er trommelte seine Leute zusammen, damit sie zum Aufräumen kamen.

Lena setzte den Helm auf, den Juli ihr reichte. „Soll ich Colonel holen?“, fragte sie. Das schwarz-weiße Pferd sah über seine Boxentür. Lena erkannte Angst in seinen großen dunklen Augen.

„Vielleicht kann deine Mutter Colonel nehmen“, sagte Mrs Marle und hielt Mrs