image

Sokrates
Apologie der Pluralität

Fröhliche Wissenschaft 078

Hannah Arendt

Sokrates
Apologie der Pluralität

Eingeleitet von Matthias Bormuth und mit Erinnerungen von Jerome Kohn

Aus dem Englischen von Joachim Kalka

image

Inhalt

Matthias Bormuth: Einleitung

Hannah Arendt: Sokrates

Jerome Kohn: In Hannah Arendts Seminar

Jerome Kohn: Unter Freunden

Matthias Bormuth

Einleitung

Das Mit-sich-selbst-Sprechen ist
nicht bereits Denken, aber es ist
die politische Seite alles Denkens:
dass sich selbst im Denken
Pluralität bekundet.

Hannah Arendt, Denktagebuch, Juni 1954

I

Mit dem Erscheinen von Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft wurde Hannah Arendt über Nacht berühmt. In der Folge entwickelte sie eine eigene politische Philosophie. Grundlage ihres Nachdenkens bildete ihr Denktagebuch. Es enthält besonders viele Spuren ihres steten Gesprächs mit den großen Griechen, Sokrates und Platon. Neben dem persönlichen Denkraum boten nun auch große Universitäten Arendt als freier New Yorker Intellektuellen die Chance, ihre Gedanken öffentlich vorzustellen und in Diskussionen zu erproben.

So sprach sie im Frühjahrssemester 1954 an der Universität von Notre-Dame zum Thema »Philosophie und Politik. Das Problem von Handeln und Denken nach der Französischen Revolution«. Der dritte Vortrag konzentrierte sich auf Sokrates und Platon und wurde erstmals 1990 aus dem Nachlass in Social Research veröffentlicht. Jerome Kohn, Arendts letzter Assistent, nahm ihn 2005 unter dem Titel »Socrates« in die Sammlung The Promise of Politics auf. Die Vorlesung liegt in dieser Form hier erstmals auf Deutsch vor. Sie wird ergänzt durch Erinnerungen Kohns an seine Zeit als Student und Assistent von Hannah Arendt, die er für das Jahrbuch der Karl Jaspers-Gesellschaft, Offener Horizont, schrieb. Die Texte von Arendt und Kohn übersetzte Joachim Kalka aus dem Amerikanischen.

Die Einleitung hebt einige Aspekte der Vorlesung im biografischen Rahmen hervor, die sich als Apologie der Pluralität verstehen lässt. Vielfalt bezieht sich bei Arendt nicht nur auf die Pluralität der Menschen, die es im sokratischen Dialog zu erkennen gilt. Vielmehr gründet diese Einsicht auf dem Selbstgespräch, das den Menschen mit der eigenen Pluralität konfrontiert. Arendt verdichtet Leitgedanken der primär inneren Pluralität in folgendem Passus prägnant: »Selbst wenn ich ganz alleine leben würde, so lebte ich doch mein Leben lang im Zustand der Pluralität. Ich muss mit mir selber zurechtkommen, und nirgendwo zeigt sich dieses Ich-mit-mir deutlicher als im abstrakten Denken, das immer ein Dialog in der Gespaltenheit, zwischen den Zweien-in-Einem ist. Der Philosoph, welcher der Grundbedingung der menschlichen Pluralität zu entkommen sucht und in die absolute Einsamkeit flieht, ist dieser jedem Menschen inhärenten Pluralität sogar noch radikaler ausgeliefert als ein Anderer. Denn es ist ja das Gespräch mit anderen, das mich aus dem aufspaltenden Gespräch mit mir selbst herausreißt und mich wieder zu Einem macht – zu einem einzigen, einzigartigen Menschen, der nur mit einer Stimme spricht und von allen als ein einziger Mensch erkannt wird.«

II

In seiner Rückschau In Hannah Arendts Seminar berichtet Jerome Kohn, wie er 1967 als junger Student an der Columbia University von Arendts Lehrtätigkeit an der New School for Social Research erfuhr und alles daransetzte, dort ihre Seminare besuchen zu dürfen. Mit ihrer Erlaubnis und wider die akademischen Regeln fuhr er wöchentlich von der Upper West Side in das südlichere Manhattan. Dort schlug Arendt ihre jungen Hörer dadurch in ihren Bann, dass sie entlang der platonischen Dialoge das sichere Wissen in Zweifel zog und ahnbar machte, welche Bedeutung das Staunen und Verwundern gerade über offen bleibende Fragen als philosophische Grunderfahrung besitzen kann: »Denn wie Sokrates veranlasste sie die Studenten zu Antworten, die ihrerseits zu schwierigeren Fragen führten, dann zu komplizierteren Antworten, aber nicht zu endgültigen Ergebnissen.« Fast hymnisch erinnert sich Kohn einer »Erotik des Lernens […] unter möglichen Freunden, die keine Epigonen waren und deren Mut und gegenseitiges Vertrauen eine Aura von Schönheit erzeugte.«

Als Kohn später Arendts persönlicher Assistent wurde, imponierte ihm vor allem ihre »geniale Begabung für Freundschaft«. Beeindruckende Anzeichen hierfür finden sich in den veröffentlichten Briefwechseln, die Arendt u. a. mit Walter Benjamin, Kurt Blumenfeld, Hermann Broch, Mary McCarthy, Joachim Fest und Uwe Johnson führte. In dem Briefwechsel mit ihrem väterlichen Freund Karl Jaspers, den Arendt von 1926 bis zu dessen Tode 1969 führte, heißt es exemplarisch mit Nietzsche: »Die Wahrheit beginnt zu zweit«.

Jüngst ist Jerome Kohn dem sokratischen Geist der Freundschaft, der Hannah Arendt bewegte, noch in einem zweiten Essay gefolgt. Als einer, der damals zu Arendts jüngeren Freunden gehörte, gibt er persönliche Erinnerungen kund und nimmt auch die zeitgeschichtlichen Elemente in den Blick, die Arendts Überlegungen zu Sokrates und zur Freundschaft in der McCarthy-Ära und zu Zeiten der Eichmann-Kontroverse prägten. Kohn schließt: »Könnte es denn sein, dass es gar keinen besseren Weg gibt, sich an Freundschaft zu erinnern, als über die Unfähigkeit sie zu definieren.«

Geweckt wurde Arendts Talent zur Freundschaft sicherlich schon in der Kindheit, als sie im assimilierten jüdischen Bürgertum Königsbergs die Kultur des gebildeten Salons kennenlernte. In ihrem 1933 nicht mehr fertiggestellten Buch Rachel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik setzte Arendt dem Urbild des liberalen Salons ein großartiges Denkmal. Die prekären Bedingungen, unter denen das deutsch-jüdische Gespräch schon zur Zeit von Aufklärung und Romantik stand, finden dort klaren, stellenweise bitter ironischen Ausdruck.

Aber trotz der Katastrophe, die mit Hitlers Machtübernahme ihren Anfang nahm, blieb für Arendt der Traum der kulturellen Symbiose im Zeichen der Freundschaft lebendig. Als deren wichtigsten Apologeten vor Rahel Varnhagen faszinierte sie vor allem Gotthold Ephraim Lessing. Ihre Hamburger Rede Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten preist 1960 entsprechend als »Leitmotiv« des Nathan den dringlichen Appell: »Sei mein Freund.« Zentral ist für Arendt auch Lessings Überzeugung von der Vielfalt der Perspektiven, in deren Gesamtheit sich die Welt nur erschließen lässt. Verdichtet ist sie in der Ringparabel: dass niemand im Besitz des echten Ringes sei, ja dieser wohl als verloren gelten müsse: »um der unendlichen Möglichkeiten willen, in denen die Welt zwischen den Menschen besprochen werden kann«.

Einige Jahre zuvor formulierte Arendt in der Vorlesung erstmals ihre Apologie der Pluralität. Sie mündet in das Bekenntnis zu einer sokratischen Republik der Freunde: »Das politische Element der Freundschaft liegt darin, dass in einem wahrhaftigen Dialog jeder der Freunde die Wahrheit begreifen kann, die in der Meinung des anderen liegt. Der Freund begreift nicht so sehr den Anderen als Person – er erkennt, auf welche besondere Weise die gemeinsame Welt dem Anderen erscheint, der als Person ihm selbst immer ungleich und verschieden bleibt. Diese Art von Verständnis – die Fähigkeit, die Dinge vom Standpunkt des Anderen aus zu sehen, wie wir es gerne ein wenig trivial formulieren – ist die politische Einsicht par excellence. Wenn wir die wichtigste Tugend eines Staatsmannes auf traditionelle Weise definieren wollten, könnten wir sagen: Sie besteht darin, die größtmögliche Zahl und die verschiedensten Arten von Wirklichkeiten (nicht von subjektiven Standpunkten, die es natürlich auch gibt, die hier aber nicht interessieren) zu verstehen – zu verstehen, wie diese Wirklichkeiten sich den jeweiligen doxai, den Meinungen der Bürger, eröffnen, und gleichzeitig zwischen den Bürgern mit ihren Meinungen kommunikativ so zu vermitteln, dass die Gemeinsamkeit der Welt erkennbar wird.«

Dem korrespondiert der Lessing-Essay, wenn Arendt dort die sokratische Idee der Freundschaft als mögliche Realität in der Politik beschreibt: »Für die Griechen aber lag das eigentliche Wesen der Freundschaft im Gespräch, und sie waren der Meinung, dass das dauernde Miteinander-Sprechen erst die Bürger zu einer Polis vereinigt. Im Gespräch manifestiert sich die politische Bedeutung der Freundschaft und der ihr eigentümlichen Menschlichkeit, weil dies Gespräch […] der gemeinsamen Welt gilt, die in einem ganz präzisen unmenschlich bleibt, wenn sie nicht dauernd von Menschen besprochen wird.« Diese ebenso emphatische Apologie der Pluralität schließt Arendt mit einem Lessing’-schen Satz, in dem dieser gleichsam die Summe aus allen seinen Werken ziehe: »Jeder sage, was ihm Wahrheit dünkt, und die Wahrheit selbst sei Gott empfohlen.«

Der moderne Salon, den Hannah Arendt in ihrem Apartment am Riverside Drive um sich versammelt hatte, strebte die undogmatische Form des Gesprächs an, wie Sokrates und Lessing sie schätzten. Die Bilder aus Margarethe von Trottas Film lassen ein wenig von dem streitlustigen Ernst der Gespräche spüren, in denen man die Welt gemeinsam erörterte. Jerome Kohn skizzierte die Mitglieder des »Stamms« aus deutsch-jüdischen Emigranten und New York Intellectuals als »Dichter, Romanciers, Künstler, Theologen, Historiker, Journalisten, Senatoren und ein paar Studenten«.

Charakteristisch war für den sich um Arendt sammelnden Zirkel, dessen Mitglieder nicht selten in Partisan Review schrieben, dass der Sozialismus östlicher Prägung keine denkbare Alternative zur westlichen Demokratie mehr bedeutete. Die Moskauer Prozesse und der Hitler-Stalin-Pakt hatten den letzten Anhängern des parteilichen Sozialismus verdeutlicht, dass auf diesem Wege keine soziale Gerechtigkeit zu erlangen war. Die Freiheit des Einzelnen von staatlichen Gesetzen war für diese amerikanisch-jüdischen Liberalen das höchste Gut, das in der Pluralität der selbstbestimmten Individuen seinen vielstimmigen Ausdruck fand.

Dass Konflikte über religiöse Bekenntnisse das Bewusstsein individueller Freiheit maßgeblich förderten und am Anfang moderner Staatskonzepte standen, lässt sich Arendts Buch Über die Revolution entnehmen. Es ist eine Eulogie auf die amerikanischen Gründerväter, die mit der Verfassung zuerst erfolgreich – und vor allem dauerhaft – für die Freiheit des Einzelnen eingetreten seien. Der konstitutionell zentral verankerte Respekt vor den gewissenhaften Entscheidungen Einzelner, die vor allem in kommunale Gremien einfließen sollen, ist der historischen Erfahrung der religiös verfolgten Pilgerväter geschuldet, waren diese doch aus England geflohen, um jenseits staatskirchlicher Strukturen ihre individualistischen Sektenfrömmigkeiten leben zu können.

Karl Jaspers, dem Arendt die Ausgabe »In Freundschaft« gewidmet hatte, war von diesem Geist der individuellen Freiheit begeistert. Er hatte schon früh, noch in seinen Jahren als Psychiater, das sokratische Denken, seine Lust am offenen Dialog, betont und zugleich den Aspekt herausgestellt, der in Arendts Vorlesung besonders hervortreten wird: dass dies nur gelingen kann, wenn der Einzelne mit sich selbst im Gespräch ist.

Dass die Chance zu solch nachdenklicher Einsamkeit unter den politischen Verhältnissen des 20. Jahrhunderts von den Machthabenden nicht geboten und oft geradezu genommen wird, war Arendt wichtig zu betonen, auch im Rekurs auf ihre bisherigen Studien und bleibenden Befürchtungen: »Wir unsererseits, die wir unsere Erfahrungen mit totalitären Massenorganisationen haben, deren hauptsächliches Anliegen es ist, jegliche Möglichkeit des Alleinseins abzuschaffen (von der unmenschlichen Form der Einzelhaft abgesehen), können dafür einstehen, daß in dem Augenblick, da ein Minimum des Mit-sich-selbst-Alleinseins nicht mehr garantiert ist, nicht nur das säkulare Gewissen, sondern jegliche Gewissensform verschwinden wird.«

III

Blickt man auf Arendts sokratische Anfänge des Philosophierens, so teilte sie diese mit dem jüdischen Freund Hans Jonas, der 1933 ebenso seine Heimat Deutschland verlassen musste und über Palästina den Weg in die USA fand. Beide studierten ab dem Herbst 1924 in Marburg bei Martin Heidegger, und ebenso besuchten sie gemeinsam das neutestamentliche Seminar bei Rudolf Bultmann. Mit wehmütigem Staunen dachte Jonas 1974 an diese »fünfzigste Jährung eines Freundschaftsbeginns« zurück, die gerade auch durch ihre Streitbarkeit ausgezeichnet war: »Wir sind nicht gerade ›verwandte Naturen‹, sehen Dinge oft recht anders und reagieren spontan verschieden darauf, aber worauf es im letzten und immer ankommt, darin haben wir uns von Anfang an verstanden, ohne es sagen zu müssen. Da war nie ein Zweifel, was wichtig und was unwichtig ist. So konnten wir uns (mit der einzigen Ausnahme der Eichmann-Sache) um das Strittige nach Herzenslust streiten mit dem Wissen, dass wir uns ›im Grunde‹ oder ›im Eigentlichen‹, oder wie man das Ding sonst nennen mag, doch einig sind.« Der sokratische Grund ihrer Freundschaft, der philosophische Eros, ging bei Jonas wie später bei manchen anderen ihrer Freunde mit Gefühlen der leidenschaftlichen Zuneigung einher. Scheu fügt der alte Freund im Erinnerungsbrief – fast beiläufig – die »schlichte Tatsache« an, »die man Gott sei Dank nicht mit Gründen zu erklären braucht, daß ich Dich ungeheuer gern habe«.

Vita activa: