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Claudia Rossbacher * Steffen Mohr * H. P. Karr

Rätsel-Krimis nonstop

100 spannende Kriminalfälle zum Miträtseln

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Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart unter Verwendung der Fotos von: © tankist276/Fotolia.de (Enter ermittetl); © Polizeihistorischer Verein Stuttgart e.V. (Merks ermittelt in Leipzig); © Polizeihistorischer Verein Stuttgart e.V. (Vera Falck ermittelt)

Zusammenführung und Motivgestaltung: Simone Hölsch unter der Verwendung eines Fotos von © squidmediaro – Fotolia.com

ISBN 978-3-7349-9388-6

Inhalt

Claudia Rossbacher

Enter ermittelt

Steffen Mohr

Merks ermittelt in Leipzig

H. P. Karr

Vera Falck ermittelt

Claudia Rossbacher: Enter ermittelt

Perfekt bis in den Tod

Wien. Konferenzzimmer der Werbeagentur Benson & Benson. 15 Uhr.

Die Hände der Kreativdirektorin Sabine Potuzak zitterten nach wie vor, als sie weitersprach: »Sie war eine jener Frauen, denen die Männer zu Füßen lagen. Und nicht nur die … Angie bekam immer, was sie wollte. Auch privat …« Potuzak nahm die schwarz gerahmte Designerbrille ab, um ihre Tränen wegzuwischen, bevor sie sich einmal mehr an diesem Nachmittag laut schnäuzte.

Dunkle Haare, asymmetrischer Schnitt – typische Kreative, stellte Franz Enter, Kriminalinspektor bei der Mordkommission, fest. Sie mochte vielleicht Ende 20, höchstens Anfang 30 sein. »Sie waren also mit der Toten befreundet?«, hakte er nach.

»Von Anfang an. Seit sie bei uns zu arbeiten begonnen hat.« Die Augen der Frau füllten sich erneut mit Tränen.

»Angelika Berger war bei uns Etatdirektorin seit fast zwei Jahren«, ergänzte der Controller Jürgen Schmid. Mittdreißiger, grauer Anzug, unscheinbar bis auf die große Nase und die mit reichlich Gel nach hinten frisierten halblangen Haare.

»Angie verfügte über Stil und Charme. Sie war intelligent und sah dazu blendend aus. Ein perfekter Engel, mit dem jeder von uns gerne ein Stück weit schwebte«, ergriff nun auch der Geschäftsführer, Andreas Raffeis, das Wort. Smarter Typ, Anfang 40, schwarzer Anzug, graues Hemd, teure Schuhe. Sein Blick wanderte vom Kriminalinspektor zur Leiche, die mit Folie zugedeckt auf dem Boden des Konferenzzimmers auf den Abtransport wartete. Raff­eis seufzte schwer, während in Enters Kopf Mick Jagger ›Angie‹ anstimmte.

»Angie war klug und talentiert. Keiner konnte die Kunden so rasch von einer Idee überzeugen wie sie. Sie hatte Charisma, war wunderschön und sexy – ohne dabei jemals billig zu wirken. Und sie war mir eine wunderbare, zuverlässige Freundin.« Die Kreativdirektorin kämpfte tapfer gegen weitere Tränen an.

Enter hatte schon viel gehört, aber eine derartige Lobeshymne war ihm in all den Jahren nicht unterkommen. ›Angie, A-engie …‹, dröhnte die Melodie in seinem Schädel. »Hatte Frau Berger denn gar keine Feinde? Ich meine, solch eine Perfektion zieht doch meist auch Neider an«, bemerkte er.

Sabine Potuzak biss sich auf die Unterlippe, um zu verhindern, dass sie neuerlich losheulte.

Der Geschäftsführer versicherte, dass Angie keine Feinde gehabt hatte. »Glauben Sie mir. Unsere Kunden liebten Angie, auch die Lieferanten und unsere Mitarbeiter sowieso … Jeder mochte Angie, einfach jeder«, erklärte er im Brustton der Überzeugung.

Nun ja, fast jeder, fügte Enter gedanklich hinzu. Sonst würde der perfekte Engel jetzt nicht hier liegen. Tot, erschlagen mit einer goldenen Werbepreisstatuette, welche die Agentur erst vor Kurzem für eine Versicherungskampagne gewonnen hatte. Gar kein schöner Anblick mehr. ›Angie, I still love you, baby …‹

»Andreas mochte Angie ganz besonders. Jedenfalls bis zum vergangenen Freitag. Nicht wahr?«, ätzte die Kreativdirektorin.

Raffeis sah sie wütend an. Wenn Blicke töten könnten, wäre Potuzak wohl auf der Stelle neben ihrer ermordeten Freundin gelandet, ging es Enter durch den Kopf.

Dem Controller war die Situation sichtlich unangenehm. Er kaute nervös am Nagel seines Zeigefingers.

»Was wollen Sie damit andeuten, Frau Potuzak?«, hakte Enter nach.

»Dass ich mit Angie ein Verhältnis hatte, können Sie ruhig wissen«, kam Raffeis ihrer Antwort zuvor.

»Bis sie vergangenen Freitag mit ihm Schluss gemacht hat und er sie daraufhin gekündigt hat. Angie war heute nur hier, um ihre Sachen abzuholen«, ergänzte die Potuzak.

»Aha. Jetzt wird’s interessant. Reden Sie ruhig weiter«, ermunterte er sie.

Raffeis verschränkte die Arme vor der Brust und suchte den Blick des Controllers, der kaum merkbar mit den Schultern zuckte.

»Angie hat ein Buch geschrieben, in dem sie bis ins kleinste Detail schilderte, was hier wirklich läuft: schwachsinnige Kunden, eitle Kollegen, abgesprochene Deals hinter den Kulissen, einfach alles. Na ja, genau genommen war es erst ein Manuskript. Aber letzten Donnerstag hat sich ein Verlag bei ihr gemeldet, der es veröffentlichen wollte. Das Buch hätte die Webebranche aufgemischt. Und manche wären dabei gar nicht gut weggekommen …« Sabine Potuzak funkelte ihren Chef böse an.

»Herr Raffeis etwa?«, fragte Enter scheinheilig.

»Was soll das? Ich wusste doch gar nichts von Angies Roman. Sie hat ihn mit keinem Sterbenswörtchen erwähnt«, protestierte Raffeis.

»Wer’s glaubt … Angie war sich absolut sicher, dass du ihr Manuskript gefladert hast. Wenn das Buch erschienen wäre, hättest du die Agentur zusperren können.«

Die Männer von der Gerichtsmedizin setzten den Ausführungen der Kreativdirektorin ein jähes Ende. Der Leichnam wurde in den Sarg gehoben und abtransportiert. Sabine Potuzak wurde einmal mehr von ihren Emotionen überwältigt. Sie schluchzte heftiger denn je in ihr Taschentuch.

Enter wandte sich an Raffeis: »Sie behaupten also, nichts von dem Buch gewusst zu haben?«

»Nein! Ich schwöre es. Ich habe keine Ahnung, was Angie da geschrieben hat.«

»Glauben Sie ihm kein Wort. Der Mann lügt, wenn er den Mund aufmacht. Das ist schließlich sein Geschäft.« Potuzak hatte ihre Sprache wiedergefunden.

»Von dem du bisher ganz gut gelebt hast … Aber weißt du was? Hiermit bist du gefeuert!«, schnauzte Raffeis zurück.

»Mir doch egal! Oder glaubst du, ich arbeite für einen Mörder?«

»Nun gehst du aber zu weit, Sabine«, warnte der Controller.

»Ich bin mir sicher, dass Andreas Angie umgebracht hat, damit ihr Buch nicht erscheint«, behauptete Potuzak.

»Unsinn. Jeder hätte das Manuskript aus ihrem Büro klauen können«, erwiderte Raffeis. Nun mischte sich Enter wieder ein: »Auf jeden Fall lügen Sie, Herr Raffeis, wenn Sie behaupten, dass Sie von dem Buch nichts wussten. Stellt sich nur noch die Frage, ob Sie Frau Berger auch erschlagen haben. Kommen Sie freiwillig mit mir aufs Revier oder muss ich Ihnen Handschellen anlegen?«

Warum ist Kriminalinspektor Franz Enter sich sicher, dass Andreas Raffeis vom Buch der Angelika Berger wusste?

Lösung

Sabine Potuzak erwähnt ein Manuskript beziehungsweise Buch. Dass es sich dabei um einen Roman handelt, wie Raffeis es bezeichnet, kann nur wissen, wer das Manuskript kennt oder davon wusste, was er jedoch bestreitet. Aus den Worten der Kreativdirektorin müsste man eher schließen, dass es sich bei dem Werk um ein Sachbuch oder eine Biografie handelt. Außerdem: Woher weiß Raffeis, dass das Manuskript aus Angies Büro geklaut wurde, wenn er angeblich nichts damit zu tun hatte?

Alter schützt vor Morden nicht

Die alte Dame war tot. Mausetot. An sich nicht weiter verwunderlich, hatte sie doch fast 78 Jahre auf dem etwas krummen Buckel gehabt. Erst kürzlich war ihr ein Herzschrittmacher implantiert worden. Für 28.000 Euro! Dagegen nahmen sich die Kosten für Medikamente, die Ilse Reichenbach seit Jahren täglich gegen diverse Wehwehchen eingenommen hatte, wie der berühmte Lercherlschas aus, stellte Franz Enter, Kriminalinspektor bei der Wiener Mordkommission, anhand der ihm nunmehr vorliegenden Unterlagen fest. Kein Wunder, dass die Krankenkassen bankrott waren. Was für eine Geldverschwendung! Erst recht, wenn man bedachte, dass der sündhaft teure Schrittmacher den Abgang der alten Dame nicht hatte verhindern können. Enter räusperte sich. So etwas Respektloses durfte er nicht einmal denken, rief er sich zur Ordnung. Wo er doch wusste, dass die wohlhabende Unternehmerwitwe keines natürlichen Todes gestorben war. Dem aufmerksamen Hausarzt der privaten Seniorenresidenz waren die blutunterlaufenen Flecken an den Innenseiten der Lippen und die geplatzten Äderchen in den Augen der Verstorbenen gleich aufgefallen. Beides sprach dafür, dass die alte Dame am helllichten Sonntag auf ihrer Chaiselongue erstickt worden war.

Vier Tage nach dem Mord stand also eindeutig fest, dass die Tatwaffe eines ihrer fliederfarbenen Seidenkissen war, wie Enter es von Anfang an insgeheim vermutet hatte. Er seufzte und vertiefte sich weiter in die Akte. Neben dem Speichel des Opfers war darauf auch die DNA von Ilse Reichenbachs Töchtern, Charlotte und Katharina, gefunden worden, die die Mutter einmal im Monat getrennt voneinander besuchten. Welche der beiden am vergangenen Sonntag gegen 15 Uhr aufgetaucht und um circa 16 Uhr wieder verschwunden war, hatte die Empfangsdame nicht sagen können, da es ihr nicht gelang, die eineiigen Zwillinge auseinanderzuhalten. Sicher war sie hingegen, dass Ilse Reichenbach zuvor noch am Mittagessen teilgenommen hatte. Von der Rezeption aus hatte sie die Speisesaaltür im Blickfeld.

Der Besuch der Tochter fiel genau in den Tatzeitraum, der laut Gerichtsmediziner zwischen 15 und 17 Uhr liegen musste. Um 17.20 Uhr hatte die Pflegerin Elvira, die der Reichenbach bei der Abendtoilette helfen sollte, die Tote entdeckt und – nachdem sie vorschriftsmäßig den Notrufknopf betätigt hatte – Wiederbelebungsmaßnahmen eingeleitet, bis sie schließlich realisiert hatte, dass es zu spät war. Das erklärte auch ihr Haar auf der Bluse der Leiche.

Bei den Zeugenbefragungen am Montag nach dem Mord hatten sowohl die Direktorin als auch die Bewohner nur Gutes über die stets freundliche Pflegerin zu berichten gewusst, erinnerte sich Enter.

Elvira konnte den Mord gar nicht fassen. »Warum tut jemand so etwas? So eine nette alte Dame wie die Reichenbach mit dem Kissen ersticken …« Dann brach sie in Tränen aus. Scheinbar hing sie ebenso an ihren Schützlingen wie diese an ihr.

Auf der Chaiselongue war auch die DNA des pensionierten Kammerschauspielers Robert Kleemann, der gleich nebenan wohnte, gefunden worden. Ein Jugendfreund, dem Ilse Reichenbach in der Seniorenresidenz wiederbegegnet war. Zur großen Freude beider, jedoch sehr zum Ärgernis der Reichsten aller Bewohnerinnen – Industriellenwitwe Hermine Rausch, die seit Einzug der Neuen kaum noch Zeit mit ihrem Robert verbringen konnte. Dabei war sie alleinstehend und hatte niemanden, der sich um sie kümmerte. Außer den Pflegern, die sie für besondere Zuwendungen fürstlich entlohnte. Besonders ihre Lieblingspflegerin Elvira. Was im Nachhinein betrachtet auch weitaus gesünder war als eine Betreuung durch die Familie, wurde die Rausch nicht müde zu betonen. »Die Töchter der Reichenbach waren doch nur auf ihr Geld aus. Wenn Sie mich fragen, haben die die Erbschaft nimmer erwarten können«, vertraute sie Enter an. Dabei pfiffen sogar die ältesten Spatzen von den Dächern, dass Hermine Rausch der unerwünschten Konkurrentin am liebsten eigenhändig die Gurgel umgedreht hätte. Allerdings konnte sie mit einem hieb- und stichfesten Alibi aufwarten: Der Notar Dr. Richard Lainer hatte ihr an jenem Nachmittag ihr Testament zum Unterschreiben vorbeigebracht. Wenn Geld keine Rolle spielte, war selbst dem frömmsten Familienvater der Sonntag nicht mehr heilig. Außerdem beteuerte Hermine Rausch standhaft, dass sie nie und nimmer das Apartment der Reichenbach betreten hätte. Nicht um alles Geld der Welt. Und damit war Enter wieder bei dem Thema, das ihn in diesem Fall nicht losließ – dem schnöden Mammon. Die zehn Monate, die die Reichenbach in der Residenz im Wiener Nobelbezirk verbracht hatte, hatten ein kleines Vermögen verschlungen. Aber damit war es nun vorbei. Zum Glück für die beiden Alleinerbinnen. Sollte die alte Rausch etwa recht behalten? Hatte eine der Töchter die Reichenbach umgebracht? Jede von ihnen schwor, dass jeweils die andere Schwester zuletzt bei der Mutter gewesen war.

Welche log? Und wie sollte er das bei eineiigen Zwillingen beweisen, die dieselbe DNA in sich trugen? Beide hatten kein Alibi, jedoch umso stärkere Tatmotive. Die kinderlose Charlotte Reichenbach war seit über drei Jahren arbeitslos und hatte im Zuge der Börsenkrise den größten Teil ihrer Ersparnisse verloren. Glaubte man ihrem AMS-Berater, war die Aussicht auf einen angemessenen Job für die 45-jährige Akademikerin gering. Katharina Schmid-Reichenbach ging es sogar noch schlechter. Ihre Innenstadt-Boutique stand kurz vor dem Konkurs, und sie wusste nicht, wie sie ihren Sohn in Zukunft durchbringen sollte – mit den lächerlichen Alimenten, die der Kindesvater bezahlte. Motive und Verdächtige gab es in diesem Fall also genug.

Doch halt! Wie hatte er das nur übersehen können?, fragte sich Enter, während er die Ergebnisse der DNA-Spurenanalyse erneut genau betrachtete. Er kannte die Mörderin längst! Ein Anruf bei Dr. Lainer verschaffte ihm letzte Gewissheit über das Tatmotiv.

Wer ist Ilse Reichenbachs Mörder?

Lösung

Die Mörderin kann nur Pflegerin Elvira gewesen sein, da sie bereits vor der Auswertung der DNA-Spuren wusste, dass das Opfer mit einem Kissen erstickt worden war. Angestiftet wurde sie von Hermine Rausch, die sie dafür großzügig in ihrem Testament bedacht hat, was sich Enter mit dem Anruf bei Dr. Lainer bestätigen ließ.

Kater mit Leiche

Drong – drooong! In seinem Kopf dröhnte es gnadenlos. Dieser ohrenbetäubende Lärm war unerträglich! Wer wagte es in aller Früh? Mit schmerzverzerrter Miene quälte sich Kriminalinspektor Franz Enter mühsam aus dem Bett, das er so gerne noch ein paar weitere Stunden gehütet hätte. Er schwankte, wartete einen Augenblick, bis er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte.

Drong – drooong!, wiederholte sich der akustische Terroranschlag, während er vom Schlafzimmer in den Flur wankte. Wer immer ihn an seinem freien Tag aus dem Bett läutete, sollte einen verdammt guten Grund dafür haben. Warum war ihm bloß so schlecht? Und schwindlig? Ach ja: Er war bis weit nach der Sperrstunde im ›Fluchtachterl‹ geblieben, erinnerte er sich dunkel. Egal. Er war niemandem Rechenschaft schuldig und hätte heute ausnahmsweise einmal ausschlafen können.

Drooong!

Na warte! Enter riss die Wohnungstür auf und blinzelte die Störenfriede aus verquollenen Augen an. »Was is’ los?«, schleuderte er den beiden Männern heiser entgegen. »Heute ist mein freier Tag!«

»Guten Morgen, Herr Kollege, dürfen wir reinkommen?«, entgegnete Wolfgang Flint, wie Enter Kriminalinspektor bei der Abteilung Leib und Leben.

»Du gestattest doch, Franz«, meinte Christian Haas, der Jüngere der beiden Kriminalbeamten, und schob Enter zur Seite, um an ihm vorbei in die Wohnung zu gelangen.

»Was wollt ihr denn in aller Früh von mir? Ist wer Wichtiges ermordet worden?« Das musste wohl der Grund sein, dass sie ihn sogar an seinem freien Tag störten, vermutete Enter und schloss die Tür hinter den Kollegen. Dann folgte er ihnen ins Wohnzimmer und blieb wie angewurzelt stehen.

Haas beugte sich über eine Frau, die regungslos auf der Couch lag, und fühlte ihren Puls. Enters Kater Willi betrachtete die Szene von der Fensterbank aus.

Wie war die Frau bloß auf sein Sofa gelangt?, fragte sich Enter. Wer war sie überhaupt? Offensichtlich war sie tot. Die Gedanken zuckten wie Blitze durch sein Gehirn, bis der Brechreiz überhandnahm. Ein Kater und eine Leiche waren eine üble Mischung. Er lief ins Badezimmer, Flint hinter ihm her.

Während Enter über dem Waschbecken hing, verständigte Haas die Spurensicherung und den Gerichtsmediziner. Flint ließ derweil den schwer bedienten Kollegen nicht aus den Augen. Der säuberte schließlich das Waschbecken und hielt seinen Kopf unter den Wasserhahn. Das kalte Wasser würde seinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen, hoffte Enter und stoppte den Guss erst, als der eisige Schmerz auf der Kopfhaut nicht länger zu ertragen war.

»Wir müssen dir ein paar Fragen stellen«, hörte er Haas sagen, der nun im Türrahmen stand.

»Woran ist sie gestorben?«, fragte Enter und sah ihn über den Badezimmerspiegel an.

»Ich tippe auf Genickbruch«, meinte Haas.

Der Wasserstrahl hatte ein paar vage Erinnerungen an die vergangene Nacht in Enters Bewusstsein gespült. Wenn nur der verdammte Kopf nicht so schmerzen würde! Scheißalkohol! Er musste versuchen, die Bruchstücke zusammenzufügen.

»Ich habe die Frau gestern im ›Fluchtachterl‹ kennengelernt. Im Lokal unten am Eck. Anna heißt sie. Nachname weiß ich nicht. Hofbauer, sagst du? Aha. Ihr habt den Führerschein in ihrer Handtasche gefunden, sehr gut.«

»Anna wollte nach der Sperrstunde auf ein Glaserl zu mir raufkommen. Ich hab ihr meinen Türcode zugesteckt. Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Na ja, sie war verdammt sexy, und ich bin auch nur ein Mann.«

»Ob noch jemand im Lokal war? Sicher. Viola, die Kellnerin und René, der Barmann – ein ziemlicher Hallodri. Er hat die Anna auf Teufel komm raus angebraten, obwohl er mit Viola liiert ist. Viola hat ihm eine Szene gemacht und dann wutentbrannt das Lokal verlassen.«

»Zuerst hab ich mich mit Schurli, dem Lokalbesitzer Georg Böck, unterhalten. Wir kennen uns schon ewig. Er kümmert sich um den Kater, wenn ich mal länger weg bin. Irgendwann ist die Anna dazugestoßen. Der Schurli hat sie mir vorgestellt. Aber da war ich schon nicht mehr ganz nüchtern. Sonst hätte ich ja nicht so locker … Na, egal. Ich bin jedenfalls mit der Anna an der Bar geblieben. Und der Schurli ist irgendwann in seinem Büro im Hinterzimmer verschwunden.«

»Wer außerdem da war? Lass mich nachdenken. An einem Tisch saßen junge Leute. Studenten, schätze ich. Zwei Frauen, drei Männer. Sie tranken Bier oder Radler. Einer von denen hat Anna mal erfolglos nachgestellt, hat sie mir geflüstert. Irgendwann kam er an die Bar und wollte mit ihr reden. Sie hat ihn ziemlich rüde abgewimmelt. Der war vielleicht stinksauer. Am anderen Tisch saß unsere Hausmeisterin Elisabeth Kwapil mit einer Freundin. Die beiden haben Rotwein getschechert und getschickt wie die Blöden. Sie haben ständig zu uns herübergeschaut und getuschelt. Die waren sicher neidig, weil die Anna so anziehend auf Männer wirkte.«

»Wann die anderen gegangen sind, kann ich nicht sagen. Tut mir leid. Ich war mit Anna beschäftigt. Nachdem ich gezahlt hatte, meinte sie, ich solle schon mal raufgehen. Sie müsse noch rasch ein Geschäft erledigen und würde dann nachkommen.

»Warum sie nicht gleich mitgekommen ist? Keine Ahnung. Aber jetzt wo du fragst, kommt es mir auch merkwürdig vor. Auf die Toilette hätte sie auch bei mir gehen können.«

»Ich habe etwa eine Stunde auf sie gewartet. Dann bin ich ins Bett gegangen. Allein. Nein, sie ist nicht gekommen. Jedenfalls nicht, solange ich wach war. Was danach passiert ist? Keine Ahnung. Ich habe geschlafen wie ein Toter, bis ihr mich rausgeklingelt habt.«

»Ihr habt den Türcode bei ihr gefunden? 1113? Zeig her! Ja, das ist meine Schrift. Aber der Code ist falsch. Ich muss tatsächlich sturzbetrunken gewesen sein. Lacht mich bitte nicht aus, aber ich kann mir keine Zahlen merken. Deshalb ist der Code mein Geburtstag. Und das ist der 13.11. Wie seid ihr denn überhaupt auf mich gekommen? Ein anonymer Anruf – hätte ich mir denken können. Das war ganz sicher Annas Mörder. Und ich weiß jetzt auch, wer es war.«

Wer hat Anna Hofbauer auf dem Gewissen?

Lösung

Der Lokalbesitzer Georg alias Schurli Böck hat Anna auf dem Gewissen. Er war der Einzige außer Enter, der den richtigen Türcode kannte, da er sich in Abwesenheit des Freundes immer wieder um dessen Kater kümmerte.

Zur Erklärung: Nachdem Enter das Lokal verlassen hatte, kam es zum Streit zwischen Schurli und Anna wegen des erwähnten Geschäfts – und damit war nicht gemeint, dass sie ihre Notdurft verrichten musste, wie Enter ihre Bemerkung missinterpretiert hatte. Anna stürzte bei dem Streit so unglücklich, dass sie sich das Genick brach. Schurli deponierte die Leiche dann auf Enters Couch und rief die Polizei an.

Die steirische Leiche

Als Franz Enter an diesem Samstag im August das Festzelt auf der idyllischen Waldlichtung betrat, fühlte er sich rundum zufrieden, wenn nicht sogar glücklich. Der erste Tag, den der Kriminalinspektor aus Wien, wie die meisten seiner Urlaubstage, am Haslingerhof verbrachte, hatte bisher alle Erwartungen erfüllt.

Nach einem herzhaften Frühstück war er bei Sonnenschein und angenehmen 16 Grad mit der Gondelbahn auf den Kreischberg gefahren, um von der Bergstation gemächlich hinunter zur Mittelstation zu wandern, wo ihn die flaumigsten Bauernkrapfen weit und breit inklusive atemberaubendem Panoramablick erwarteten.

Auf dem nicht allzu steilen Forstweg, der sich in Serpentinen bis zur Hütte hinabwand, konnte Enter den unzähligen Eierschwammerln nicht widerstehen, die ihm vom feuchten, moosigen Waldboden entgegenleuchteten. Zwar gab es in dem bescheidenen Gästezimmer, das er am Vorabend zum geschätzten 15. Mal bezogen hatte, keine Kochgelegenheit, doch Mizzi, die Bäuerin und Wirtin des Haslingerhofs, würde die gut zwei Kilo, die ihr Stammgast gebrockt hatte, sicher zu einem köstlichen Eierschwammerlgulasch verarbeiten, an dem auch er sich delektieren konnte. Zudem ersparte er sich so das mühsame Putzen der gelben Pracht.

Zwei Bauernkrapfen später setzte Enter seinen noch anderthalbstündigen Weg ins Tal fort. Im Gasthof ›Zur Sonne‹ genehmigte er sich eine Frittatensuppe und ein gekochtes Rindfleisch mit Wurzelgemüse, bevor er nach Hause aufbrach, um Mizzi die herrlich duftenden Pilze zu überreichen.

Sein ausgiebiges Nachmittagsschläfchen wurde durch die leisen Volksmusikklänge beendet, die von draußen an sein Ohr drangen. Zum Waldfest, das alljährlich auf der Tratten in unmittelbarer Nähe stattfand, marschierte er zu Fuß. Enter mochte dieses zweitägige Volksfest und die Musik der Kreischberg Buam, die er mit der schönsten Zeit im Jahr verband – seinem Urlaub in der Steiermark. Gut gelaunt mischte er sich unter die heiteren, vorwiegend einheimischen Festgäste, die sich an lokalem Gebräu, spritzigen Weinmischungen, regionalen Schmankerln und der zünftigen Blasmusik erfreuten. Die Begeisterung war dermaßen groß, dass sich nach beinahe jeder Nummer ein edler Spender fand, der die 13 Musikanten auf eine weitere Runde einlud. Was die musikalische Qualität zwar hörbar verschlechterte, die gute Stimmung jedoch weiter anheizte. Denn auch die Gäste wurden immer feuchtfröhlicher. Bis plötzlich einer Trompete ein besonders schräger Ton entkam und der dazugehörige Bläser vom Stuhl kippte. Die Musik stoppte, das Lachen der Menschen verebbte.

Alles starrte zur Bühne, wo sich zwei Musiker über den krampfenden Körper des Trompeters beugten.

»Ist ein Arzt da?«, rief der Tubaspieler ins Mikrofon, während der Klarinettist sein Handy zückte.

Enter erklomm die Bühne. Der Mann brauchte keinen Arzt mehr. Aus seinem Mund quoll Schaum, die Pupillen waren geweitet und Puls war keiner zu fühlen. Allem Anschein nach war er vergiftet worden.

»Rufen Sie 133«, wies Enter den Klarinettisten an und hielt seinen Dienstausweis in Richtung Publikum. Dann nahm er dem Tubaspieler das Mikrofon aus der Hand und sprach zur Menge: »Kriminalpolizei! Keiner trinkt oder isst weiter! Lassen Sie bitte die Getränke und Speisen stehen! Und rühren Sie sich nicht von der Stelle, bis meine Kollegen eintreffen.«

Sein Verdacht, dass der tote Trompeter nicht der Einzige sein könnte, dem jemand den Garaus machen wollte, sollte sich zum Glück nicht bestätigen.

In keinem anderen Glas fanden sich Giftspuren, erfuhr er einige Tage später von einem der ermittelnden steirischen Kollegen. Aus reiner Neugierde wohnte Enter den Zeugeneinvernahmen bei und war heilfroh, dass er seinen Urlaub jederzeit fortsetzen konnte. Die Forellen in der Mur warteten bereits darauf, von ihm an Land gezogen und verspeist zu werden.

»I hab nur bstöllt und zoit. Neun Bier, drei Mischungen, an’ Radler und 13 Vogelbeeren«, gab der Vizebürgermeister, der die letzte Runde für die Musikanten spendiert hatte, zu Protokoll und wedelte mit der Mehrwertsteuerrechnung, die für seine Buchhaltung vorgesehen war. Dass er nun dem Verstorbenen, der das Amt des Bürgermeisters bekleidet hatte, folgen würde, verlieh ihm zumindest ein Motiv. Die Gelegenheit, sein Opfer gezielt zu treffen, hatte ihm allerdings gefehlt.

»I hab die Getränke von der Schank ghoit und aufitragn«, meinte Kellnerin Anni unter Tränen. »Dass ausgerechnet der Max den vergifteten Radler dawischen muass, wo den doch der Sepp bstöllt hat und er a Bier …«

War der Tote tatsächlich Opfer einer Verwechslung geworden?, fragte sich Enter, während Anni heftig schluchzte. Wie ihm einer der Musikanten berichtete, waren die beiden seit Kurzem ein Paar gewesen. Das lenkte den Verdacht auf Sepp, den anderen Trompeter, den Anni wegen Max verlassen hatte.

»Mir san scho ordentlich aneinanderklescht wegn der Anni«, gab Sepp zu. »Oba deswegn bring i do ned mein Kollegn um. Wia denn a?«

Nun ja, nachdem der Befragte bei den Auftritten stets unmittelbar neben dem Verblichenen gesessen war, hätte er das Gift leicht in dessen Radler kippen können. Oder besser in den eigenen, zumal er es war, der diesen bestellt hatte. Das ergab keinen Sinn. Außerdem hätte er riskiert, vom einen oder anderen im Publikum beobachtet zu werden. Von denen wollte jedoch niemand was gesehen haben.

Florian, der alle Getränke der Musiker eingeschenkt hatte, war – wie schon der Vizebürgermeister – nicht in der Lage gewesen, Einfluss auf deren Zuteilung zu nehmen. Außerdem war er Hobbytrompeter und ein treuer Fan der Kreischberg Buam. Eines Tages würde er gut genug sein, um selbst mitspielen zu können, war er zuversichtlich. Ein Platz für einen Trompeter war ja nun frei.

Schon wieder ein Motiv! Enter beschloss, sich lieber den Forellen als diesem verzwickten Fall zu widmen, als es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel, wer das Getränk vergiftet hatte.

Wen verdächtigt Enter, der Giftmischer zu sein?

Lösung

Anni hat den Radler vergiftet, der für ihren Exfreund Sepp bestimmt war. Wie sonst hätte sie wissen sollen, dass der Radler vergiftet war, von dem Max irrtümlich getrunken hatte, und nicht das Bier, das er bestellt hatte?

Vorhang auf für eine Leiche

Als Kriminalinspektor Franz Enter aus dem Dienstwagen stieg, staunte er über das Chaos vor dem Theater. So etwas hatte er in all den Jahren bei der Mordkommission noch nicht erlebt. Hunderte Menschen – teils Premierenpublikum, teils Schaulustige – belagerten die Gehsteige der Josefstädter Straße. Ganz zu schweigen von den zahlreichen Journalisten, Fotografen und Kamerateams, die sich rücksichtslos durch die Menge drängten, um das beste Bild vom Sarg zu ergattern, sobald dieser das altehrwürdige Gebäude verlassen würde.

Warum hatten die uniformierten Kollegen nicht längst die Gehsteige gesperrt? Zum Bühneneingang in der Piaristengasse musste sich Enter erst mühsam mithilfe seines Dienstausweises durchkämpfen. Dort wies er die Polizisten, die den Seiteneingang bewachten, in ruppigem Tonfall an, die Gehsteige umgehend räumen zu lassen.

Dass Sissi Steinbach tot war, hatte sich in Windeseile herumgesprochen. Die Sensationsnachricht war zuerst im Internet, dann übers Radio verbreitet worden. Demnächst würde auch die ZIB 2 melden, dass die 26-jährige Josefstadt-Schauspielerin bei der heutigen Theaterpremiere auf der Bühne verstorben war. Etwa fünf Minuten nach der Pause war Sissi Steinbach röchelnd zusammengebrochen. Nachdem sie an einem Glas Theaterwein genippt hatte, wie es ihre Rolle verlangte. Da lag sie nun, die junge erfolgsverwöhnte Steinbach. Auf den Brettern, die für sie die Welt bedeutet hatten. Wenngleich sie auch in einigen Fernsehfilmen nicht minder erfolgreich mitgewirkt hatte.

Enter wollte zuerst den Theaterdirektor und Regisseur, dann die Schauspieler und schließlich den Requisiteur befragen. Der Direktor hatte ihm dafür eigens eine der Künstlergarderoben zur Verfügung gestellt.

Doch zuvor unterhielt sich der Kriminalinspektor mit der Notärztin. Der Schaum um den Mund der Toten, die hellroten Flecken und die geweiteten Pupillen deuteten ebenso darauf hin, dass die Steinbach mit Zyankali vergiftet worden war, wie der typische Bittermandelgeruch, den die Medizinerin im Gegensatz zu Enter wahrnahm. Wie die meisten Menschen vermochte er diesen – genetisch bedingt – nicht zu riechen.

Das Glas, aus dem die Steinbach getrunken hatte, lag zerbrochen neben ihrer Leiche. Vom Inhalt war nicht mehr viel übrig, außer ein paar eingetrocknete Schuhabdrücke ihrer Kollegen auf dem Bühnenboden. Katharina Kamp und Gregor Reiter waren in die Flüssigkeit getreten und hatten diese verteilt, als sie der Sterbenden helfen wollten. Was keine Rolle spielte, zumal die Karaffe und zwei weitere Gläser mit dem Gifttrunk, den Gregor Reiter coram publico für sich und die beiden Schauspielerinnen eingeschenkt hatte, längst sichergestellt waren.

Der Direktor machte einen betroffenen Eindruck. »Sissi war für mich wie eine Tochter. Ich habe sie vor fünf Jahren an dieses Haus geholt. Ich war es, der ihr Talent von Anfang an erkannt und sie gefördert hat. In aller Bescheidenheit darf ich behaupten, dass Sissi mir ihre Karriere zu verdanken hat. Und dann macht sie so was.«

Enter hatte das Gefühl, dass die Verbitterung des Mannes nicht ausschließlich mit dem Mord zu tun hatte. »Dann macht sie was?«, hakte er nach.

»Sissi hat ihren Vertrag nicht verlängert. Nach der Saison wollte sie die Bühne verlassen und sich nur noch aufs Filmen konzentrieren. Aber das hat sich ja nun endgültig erledigt.« Die Augen des Direktors füllten sich mit Tränen.

Enter beschloss, ihn am nächsten Tag eindringlicher zu befragen, und bat die Schauspieler herein. Katharina Kamp erzählte weinend, dass sie Sissi schon seit dem Konservatorium kannte. Früher seien sie beste Freundinnen gewesen.

»Und später nicht mehr?«, fragte Enter.

Die Kamp schnäuzte sich. »Na ja. Wir hatten ein paar Differenzen«, gestand sie.

»Sie hat Sissi gehasst. Sie war eifersüchtig auf sie, weil sie stets die größeren Rollen und die besseren Angebote bekommen hat«, mischte sich Reiter ein.

»Ach, halt die Klappe, Gregor! Ich wette, dass du die Sissi vergiftet hast!«

»Ich hab die Karaffe nicht gefüllt. Das war die Requisite«, protestierte Reiter.

»Das Zyankali hättest du aber sehr wohl hineingeben können. Du warst allein auf der Bühne, bevor der Vorhang aufging.«

»Weil es der Regisseur von mir verlangt hat«, rechtfertigte sich Reiter, »aber …«

Die Kamp kreischte hysterisch dazwischen: »Oh mein Gott! Ich wäre als Nächste dran gewesen! Ich hatte mein Glas schon in der Hand, als Sissi zusammenbrach!« Sie schlug die Hände vor die Augen und schluchzte hemmungslos.

Enter fand ihre Darbietung reichlich übertrieben. Auch wenn sie möglicherweise inhaltlich recht hatte. Eine besonders gute Schauspielerin war sie jedenfalls nicht. Aber was wusste er schon vom Theater? Das letzte Mal hatte ihn seine Exfrau zwangsbeglückt. Vor 13 Jahren, wenn er sich richtig entsann. »Waren Sie mit Sissi Steinbach befreundet?«, wandte er sich an Reiter.

»Wir waren sogar sehr gute Freunde …«

Diesmal unterbrach ihn das exaltierte Lachen der Kamp. »Sissi hat ihn wegen eines anderen verlassen. Das ist ein klares Mordmotiv. Oder etwa nicht?«, nahm sie den Kampf wieder auf.

»Ich bitte dich, Kathi. Das ist ein halbes Jahr her. Warum sollte ich sie deshalb heute umbringen?«

»Für dich heiße ich immer noch Katharina und nicht Kathi, du Ignorant.«

»Frau Kamp, ich denke, wir sollten die Eitelkeiten beiseite lassen. Ihre Kollegin wurde gerade ermordet. Die Suche nach dem Mordmotiv ist außerdem unsere Angelegenheit«, wies Enter sie in die Schranken.

Die Kamp starrte ihn hasserfüllt an, während Reiter grinste. Für heute hatte Enter genug von den beiden. Er bestellte sie ebenfalls für den folgenden Tag ins Kommissariat. Jetzt wollte er sich noch einen Eindruck vom Requisiteur verschaffen. Doch halt! Das war vielleicht gar nicht mehr nötig. Wenn sich sein Verdacht bestätigte, kannte er Sissi Steinbachs Mörder bereits. Ein kleiner Test würde ihm den Beweis liefern. Oder auch nicht …

Wen verdächtigt Enter, Sissi Steinbach vergiftet zu haben? Und warum? Welchen Test will er durchführen?

Lösung

Enter verdächtigt Katharina Kamp, ihre Kollegin ermordet zu haben, da sie von Zyankali spricht, was in ihrer Gegenwart gar nicht erwähnt wurde. Ein Geruchstest soll nun klären, ob sie den typischen Bittermandelgeruch wahrnehmen kann und sie deshalb darauf hätte schließen können. Falls nicht, ist anzunehmen, dass sie als Mörderin von dem Gift wusste.

Mörderische Nachbarn

Als Kriminalinspektor Franz Enter in den Garten trat, vergaß er einen Moment lang, weshalb er hierher – an den westlichen Stadtrand von Wien – gekommen war. Die bunten Blätter der Sträucher, die orangefarbenen Lampionblumen und der tiefrot gefärbte Feuerahorn leuchteten in der Vormittagssonne, die ihren Kampf gegen den Nebel vorerst gewonnen hatte. Enter war wie berauscht von der Schönheit der Jahreszeit und der himmlischen Ruhe, die hier am Bierhäuselberg herrschte. Die frische Herbstluft drang bis in die feinste Verästelung seiner schadstoffgeplagten Städterbronchien.

Früher hatte er immer davon geträumt, selbst einmal ein solch idyllisches Plätzchen im Grünen zu besitzen. Aber die finanziellen Mitteln hatten nie dafür gereicht. Schon gar nicht nach der Scheidung. Leider war er nicht nur in der Liebe, sondern auch beim Glücksspiel ein totaler Versager, und so schweifte sein Blick beinahe wehmütig über das liebevoll gepflegte Paradies des passionierten Heimwerkers und Hobbygärtners Adolf Straßner.

Linker Hand lag der Garten der Bankerfamilie Schaumbacher, zur Rechten jener des Künstlerehepaars Rossi, die Enter wie alle Nachbarn in der näheren Umgebung bereits einvernommen hatte. Die hinteren Grundstücksgrenzen endeten direkt an der Mauer des Hütteldorfer Friedhofs, wo sich ohnehin die angenehmsten, weil ruhigsten Nachbarn von allen befanden, hatte Frau Rossi erklärt. Außer zu Allerheiligen, wenn die Hinterbliebenen den Friedhof stürmten, um wenigstens einmal im Jahr der Verstorbenen zu gedenken. Auch Straßner würde demnächst seinen finalen Weg dorthin antreten, hatte er doch eben noch – keine 20 Meter vom Inspektor entfernt – bäuchlings im Biotop getrieben.

Jetzt lag der Pensionist ziemlich blutleer auf dem Rasen, gleich hinter dem üppigen Büschel Pampasgras. An seinem Hals klaffte eine hässliche Wunde, die ihm offenbar mit der eigenen Kettensäge zugefügt worden war. Die mutmaßliche Tatwaffe hatten die Kollegen von der Spurensicherung soeben aus dem blutrot gefärbten Wasser gefischt.

Straßner hatte bereits um 8 Uhr morgens auf seiner Terrasse damit begonnen, Brennholz für den Kamin zu schneiden. Damit habe er wieder einmal die gesamte Nachbarschaft von der unteren Bierhäuselberggasse über den Erdenweg bis hinauf zur Kometengasse beinahe in den Wahnsinn getrieben, hatte Enter vorhin von Hans Rossi erfahren. Wenigstens am Sonntag konnte man Rücksicht auf die Nachbarn nehmen!

Der Kunstmaler war nicht der Einzige, der Straßner schon einige Male wegen Ruhestörung angezeigt hatte. Vor allem, weil Clara, Rossis Krimi schreibende Frau, immer öfter drohte, den akustischen Terroristen von nebenan nicht nur auf dem Papier umzubringen. Diese Gefahr bestand ja nun nicht mehr, meinte der Künstler beinahe vergnügt. Dass er nicht besonders traurig über den Abgang des ungeliebten Nachbarn war, nahm ihm Enter, der selbst jeglichen Lärm verabscheute, nicht weiter übel, derlei gute Laune zu zeigen, hielt er jedoch für äußerst unangebracht und vor allem für sehr verdächtig. Wie die roten Spritzer auf Rossis Kleidung, von denen er behauptete, dass es sich um Ölfarbe, nicht um Blut, handelte. Aber das würden die Kriminaltechniker rasch herausfinden.

Diesmal war es also der sonst so friedfertige Roman Schaumbacher gewesen, der laut eigener Aussage den Streit mit Straßner vom Gartenzaun gebrochen und diesem mit der Polizei gedroht hatte. Herr Lohmann vom übernächsten Grundstück hatte den Disput der beiden von seinem Schlafzimmerfenster aus beobachtet und später zu Protokoll gegeben, Schaumbacher noch nie so fuchsteufelswild erlebt zu haben, wie an diesem Morgen. Herta Schaumbacher habe ihren Mann mit aller Kraft daran hindern müssen, über den Gartenzaun zu klettern und handgreiflich zu werden. Den Mord hatte Lohmann jedoch nicht gesehen.

Selbstverständlich habe Roman den Nachbarn nicht umgebracht, ihr Mann könne keiner Fliege etwas zuleide tun, schwor Frau Schaumbacher, was Enter ihr angesichts des aufgebrachten Zustands des Gatten nicht ganz abnahm. Der rücksichtslose Störenfried habe auch nach ihrem Rückzug unbeeindruckt weitergelärmt, erzählte die Schaumbacher. Sie selbst sei wenig später allein in den Garten zurückgekehrt, um die Essensreste, die Straßner wie üblich für die Krähen mitten auf den Erdenweg gekippt hatte, hinter dem Rücken des Feindes über den Zaun in dessen Garten zu werfen. Sollten sich die Krähen und Ratten den stinkenden Abfall doch von seinem Grundstück holen! Außerdem bombardiere Straßner sie regelmäßig mit Nacktschnecken, die meist in ihrem Swimmingpool landeten und dort elendiglich ersoffen, beschwerte sie sich bei Enter, als würde der verhasste Nachbar noch leben. Dieser unverschämte Kerl habe sich im vergangenen Sommer sogar eine Nacktschneckenschleuder gebastelt, mit der sie ihn prompt in flagranti erwischte. Dabei grause ihr so vor diesen schleimigen Viechern. Natürlich sei dies alles kein Grund, jemanden umzubringen, beteuerte sie. Sie sei ja dann auch gleich ins Haus zurückgegangen, und just, als Roman die Polizei anrufen wollte, kehrte endlich die heiß ersehnte Sonntagsruhe ein. Bis eine halbe Stunde später der spitze Schrei der Frau Straßner über den Berg hallte und Rossi, Schaumbachers, Lohmanns und einige weiter entfernte Nachbarn aus den Häusern trieb.

Nur Clara Rossi gab an, nichts davon gehört zu haben, da sie zu diesem Zeitpunkt unter der Dusche gestanden und die Netrebko in voller Lautstärke aus den Boxen geplärrt habe, um das enervierende Motorengeräusch der Tatwaffe zu übertönen. Das beste Rezept sei es, Lärm mit Lärm zu bekämpfen, meinte die Krimiautorin lächelnd.

Vielleicht hatte sie damit ja recht, überlegte Enter und beschloss, diese Taktik bei nächster Gelegenheit selbst auszuprobieren. Ein weiteres Mal füllte er seine Lunge mit frischer Luft, als ihm plötzlich klar wurde, wer Straßner ermordet hatte.

Wen verdächtigt Kriminalinspektor Franz Enter des Mordes?

Lösung

Clara Rossi wusste bereits bei ihrer Einvernahme, dass die Kettensäge die Tatwaffe war, obwohl diese erst später aus dem Biotop gefischt wurde. Der Inspektor nimmt daher an, dass sie die Täterin ist.

Der Würstlpate

»Jetzt hurch ma amoi zua, Plecha! Wannst mi fragst, wer’n du und deine feinen Hawarer Weihnachten im Landl verbringen. Nix is mit Schampus und Kaviar! Schluss is mit lustig!« Franz Enter reichte es allmählich, was unschwer am unaufhaltsamen Verfall seiner Ausdrucksweise zu erkennen war. Nicht umsonst war der Kriminalinspektor, der seinen Hauptverdächtigen nun seit über einer Stunde im Kommissariat einvernahm, als einziger Sohn der ledigen Hausbesorgerin Hermine Enter in einem Margaretner Gemeindebau aufgewachsen.

Enter ging davon aus, dass sein Gegenüber, Richard ›Ritschie‹ Plecha vulgo Würstelpate, bedeutend mehr Dreck am Stecken hatte als den braven Standlern, die sich gerade in der Adventzeit den Allerwertesten abfroren, einen beträchtlichen Anteil ihres hart verdienten Lohnes abzuknöpfen. Dafür beschützte Ritschie sie und ihre Standln vor niemandem Geringeren als sich selbst und seinen Strizzis.

1996 hatte er das Standlimperium seines Vaters übernommen und gleich zu Beginn klargestellt, was von nun an für ein Wind wehte, indem er einige Konkurrenzstände warm abgetragen hatte. Was ihm allerdings niemals nachgewiesen werden konnte. Seither lieferten die Standler brav ihren Obolus ab, munkelte man hinter vorgehaltener Hand. Wer nicht freiwillig an Plecha junior blechte, bezahlte mit dem Verlust seiner Existenz und – wie Enter vermutete – neuerdings sogar mit dem Leben.

Die mafiösen Zustände rund um das einträgliche Geschäft mit Würsteln, Maroni, Punsch und Co. hatten ihren Höhepunkt erreicht, als tags zuvor zwei Standler und eine Standlerin in aller Herrgottsfrüh tot im Wienerwald in der Nähe der Jubiläumswarte aufgefunden worden waren. Ihre Leichen lagen wie aufgefädelt auf einer Lagerwiese. Alle drei waren an einer fetten Eitrigen erstickt, in besseren Kreisen auch als Käsekrainer bekannt. Dipflata, also süßer Senf, quoll aus ihren Mündern. Das hintere – oder war es das vordere? – Ende der Wurst ragte jeweils aus der Kehle in den Rachen. Der Anblick brachte Enter auf den absurden Gedanken, dass hier nur noch der Bugl und das 16er-Blech, also Brotenden und Bierdosen der Brauerei aus dem 16. Wiener Gemeindebezirk, fehlten.

Für die Medien war der spektakuläre Dreifachmord ein gefundenes Fressen, wenngleich die Pressemeldung der Kriminalpolizei weitaus spärlicher als sonst ausfiel. Offiziell wurde lediglich verlautbart, dass im Wienerwald kurz vor 6 Uhr morgens die Leichen der drei Würstelstandbetreiber Sabine F., Günther S. und Kasimir K. von einem Jogger aufgefunden worden waren. Vermutliche Todesursache: Ersticken durch gewaltsames Einführen von Fremdkörpern in Form von Würsten durch Dritte, was der Gesichtsmediziner erst bestätigen müsse.

Die bunteste Tageszeitung des Landes vermutete einen Ritualmord, freilich ohne Details zu kennen. Der Rest der Journaille hielt sich an die kargen Fakten, wobei diese je nach Medium mehr oder weniger reißerisch ausgeschlachtet wurden.

»Ich frage Sie noch einmal, Herr Plecha«, bemühte sich Enter seine sprachliche Contenance wiederzufinden, »haben Sie etwas mit den Morden zu tun? Wir wissen inzwischen, dass die Würstel von Ihrem Lieferanten stammen.«

»Herr Inspektor, i sag’s Ihna zum letzten Moi: I war’s ned!«, erklärte Plecha und fügte hinzu: »I bin do ned deppert! I bring do niemanden mit aner Eitrigen aus mein eigenen Gschäft um. Des macht mi do als Allerersten verdächtig.«

»Und ich halte dieses Argument für ganz mieses Kalkül«, erwiderte Enter.

Plecha überlegte kurz und zeigte dann sein unverschämtestes Grinsen. »Wann S’ glaubn … Aber Sie habn no immer kane Beweise, dass i die Kollegn aufm Gwissen hab. Dafür hab i a Alibi. Gö, Schatzi?«, erwiderte Ritschie und tätschelte die viel zu blonde Frau, die wortkarg neben ihm saß, am Oberschenkel.

Valerie Moser nickte bestätigend. »Der Ritschie is die ganze Nacht nebn mir glegn. Nur amoi war a kurz auf’m Klo.«

Es war völlig unerheblich, ob die Dame mit dem einladend ausladenden Dekolleté wirklich einen derart leichten Schlaf hatte, ihre Aussage war jedenfalls eine glatte Lüge, war sich Enter sicher. »Und wie lange war er genau weg?«, hakte er dennoch nach.

»Zwa, höchstens drei Minutn. In der Zeit hätt er si ned amoi anziehn, geschweige denn drei Leut okrageln können.«

»Vielleicht haben Sie es ja nicht allein oder auch gar nicht selbst getan, sondern Ihre Handlanger Ferdinand Bauer und Anton Fischnaller mit den Morden beauftragt«, wandte sich Enter wieder dem Verdächtigen zu.

»Des wüssat i oba. Außerdem san der Ferdl und der Toni ned meine Handlanger, des san meine Assistenten.« Plecha lehnte sich im Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Freundin spielte mit ihren falschen Fingernägeln, die kunstvolle Ornamente in Violett und Silber zierten.

»Wir werden uns Ihre Assistenten gleich vornehmen. Mal sehen, ob die Herren dichthalten. Ich bin mir nämlich ziemlich sicher, dass Sie mit Ihnen unter einer Decke stecken«, sagte Enter nur scheinbar freundlich.

»Des miassn S’ aber a erst amoi beweisn, Herr Inspektor«, antwortete Plecha und grinste siegessicher. »War’s des?«, wollte er wissen.

Enter beschloss, das Katz-und-Maus-Spiel an dieser Stelle zu beenden. »Ja, Herr Plecha, das war’s. Ich nehme Sie hiermit vorläufig fest. Sie sind dringend des dreifachen Mordes verdächtig. Ich nehme an, Sie wollen Ihren Anwalt anrufen?«

Valerie Moser entwich ein Entsetzensschrei, während Richard Plecha den Kriminalbeamten verständnislos ansah, als hätte dieser eben Kisuaheli gesprochen.

»Kumm, Plecha«, wurde Enter deutlich, »gemma, gemma! Sag deiner Besten adieu! I waß do, dass du die Standler am Gwissn hast. Ob du des söba warst – mit oder ohne deine Strizzis –, wer ma scho no außefindn.«

Enter ließ zwei Beatmen herbeiholen, die den laut fluchenden Würstlpaten a. D. in Handschellen abführten. »Fröhliche Weihnachten!«, rief der Inspektor ihm noch hinterher.

Warum ist sich Kriminalinspektor Franz Enter so sicher, dass der Würstlpate Ritschie Plecha die Standler auf dem Gewissen hat?

Lösung

Enter erwähnt während der Vernehmung zwar, dass die Würstl, mit denen die Standler erstickt wurden, von Plechas Lieferanten stammen. Dass es sich dabei um Eitrige, also Käsekrainer handelte, kann Plecha jedoch nur wissen, weil er die Standler ermordet hat.

Todestanz

Wie fast jeden Tag warf er einen Euro in den Schlitz des Münzkastens, damit sich für ihn das Fenster zum schnellen Glück öffnete. Die Peepshow war inzwischen zu einer Sucht geworden. Aber gab es nicht viel schädlichere Angewohnheiten, als in der Mittagspause Frauen beim Strippen zuzusehen und dabei ein wenig Hand an sich selbst anzulegen?

Bei der Blonden reichten oft zwei Euro, bis er kam und wieder ging. Bei den anderen brauchte er meistens drei. Danach gönnte er sich stets das Menü mit Suppe im Beisl ums Eck, was auch nicht viel mehr kostete.

Die heutige Nummer war ihm neu: Seine Lieblingsdame kreiste vor seinen Augen – ausgestreckt auf dem Präsentierteller, der sich unaufhörlich vor den verspiegelten Scheiben drehte. Doch diesmal fehlte ihr jegliche Körperspannung. Erst jetzt bemerkte er das breite weiße Satinband um ihren Hals und den panischen Ausdruck in ihren Augen. War sie etwa …? »Jössas, die is ja tot!«, schrie er. Hektisch zurrte er seinen Gürtel fest und stürmte aus der Kabine. »Die Blonde is tot!«, rief er dem Pächter der Peepshow zu, der ihm aus dem angrenzenden Sexshop entgegeneilte. Dann wählte der Stammkunde 133.

Als Kriminalinspektor Franz Enter den Tatort betrat, hatte der Arzt bereits den Strangulationstod und den ungefähren Todeszeitpunkt festgestellt, und die Spurensicherung ging ihrer Arbeit nach. Wenn Enter jemals eine schöne Leiche gesehen hatte, dann war es diese hier. Ein blutjunger Engel in viel zu hohen Plateauschuhen und transparenter Reizwäsche, den Gott in einer Sternstunde geschaffen und nun wieder zu sich geholt hatte. Ewig schade. Enter seufzte.