Cover

Linda Conrads / Alexandra Richter

Dreck muss weg

Kriminalroman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Linda Conrads / Alexandra Richter

Linda Conrads, Jahrgang 1972, ist gelernte Gärtnerin und Frisörin und schneidet immer noch mit Vorliebe Hecken und Haare. Bestimmt wären weitere Handwerke hinzugekommen, wenn sie nicht irgendwann begonnen hätte zu schreiben. Sie lebt mit Mann und Kindern in Ostfriesland.

Alexandra Richter ist Diplom-Ingenieurin für Verfahrenstechnik und weiß, wie aus Erdöl Benzin gemacht wird oder Antifaltencreme. Mit ihrem Mann und ihren Söhnen lebt sie im buntesten Viertel Hamburgs und ist immer mit Stift und Notizblock unterwegs.

Über dieses Buch

Als die Leichen der Schwestern Theda und Lisbeth gefunden werden, scheint die Todesursache klar bei Mord zu liegen, denn eins ist offensichtlich: Ihre Münder sind beide mit Hasenkot und Dreck zugestopft. Als die Verwandtschaft der beiden herauskommt, wird eine SOKO gegründet, in der die Kriminalpolizisten Marga Terbeek aus Aurich und Kalle Bärwolff aus Hamburg zusammenarbeiten müssen. Können sie den familiären Verstrickungen auf den mörderischen Grund gehen?

Impressum

eBook-Ausgabe 2013

Knaur eBook

© 2013 Knaur Taschenbuch

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Franz Leipold

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: plainpicture/Design Pics

ISBN 978-3-426-43042-2

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Prolog

Bitter schmeckt, was ihr in den Mund gestopft worden ist, es riecht widerlich. Sie lauscht, lauscht ihren eigenen Schreien, die längst verklungen sind irgendwo in der fernen Welt von gestern … Da ist ein blonder Zopf, er schwingt hin und her auf der Blümchenschürze wie ein Uhrenpendel. Mutter öffnet die Ofenluke und legt Kohlen nach.

»Finger aus dem Teig!«

Mutter hat hinten Augen, aber keine Ohren. Wenn der Onkel in die Kammer tritt, kreischen die Dielen, und der schwarze Kater macht einen Buckel.

Kapitel 1

Hamburg-Winterhude, Polizeipräsidium

Wieder hatte Kriminaloberrat Kalle Bärwolff sein Versprechen gebrochen. Statt mit Eliza bei Kaffee, Kuchen und Kerzenschein zu feiern, saß er an seinem freien Sonntag im Polizeipräsidium fest. Fuck. Er schielte auf seine Armbanduhr. Gleich fünf. Fast auf die Minute genau vor vierzehn Jahren hatte er seine kleine Krabbe zum ersten Mal in den Armen gehalten. Die Fruchtblase war geplatzt, die Herztöne im Keller. Eliza musste ruck, zuck aus der Gebärmutter evakuiert werden. Was für ein Drama! Winzig war sie gewesen, kaum so lang wie sein Unterarm. Mit großen Augen hatte Eliza ihn angesehen und schien sagen zu wollen: Du bist jetzt mein Papa, ich zähle auf dich! Ihm waren die Knie weich geworden. Er hatte sich vorgenommen, ein guter Vater zu sein, der beste. Na ja.

»Noch einen Moment Aufmerksamkeit, bitte.« Die externe Personaltrainerin Dr. Gesa Clasen lächelte in die Runde.

Wunderschöne gerade Zähne hatte sie, blendend weiß wie frischer Schnee – in Ewigkeit, om. Seit einer geschlagenen Stunde versuchte Kalle, seine Mitte wiederzufinden.

»Frau Polizeipräsidentin, meine Herren, ich fasse mich kurz, versprochen.« Diesmal lächelte Gesa nur für Kalle. Seine Pumpe drehte am Rad.

»Ich habe Ihnen die anonymisierten Daten im Einzelnen vorgestellt«, fuhr Gesa Clasen fort. »Jetzt folgt die Zusammenfassung und der Ausblick, wie es mit den Workshops weitergehen wird.« Sie klickte die Maustaste. Einen Ehering trug sie nicht. Leise klimperte das bunte Glasperlenarmband an ihrem Handgelenk. Es würde Eliza gefallen. Nicht einmal ein Geburtstagsgeschenk hatte Kalle besorgt. Erneut streifte Gesa ihn mit diesem Blick, der alles bedeuten konnte. Oder nichts. Kalle war kein Frauenversteher. Das rächte sich jetzt. Vermutlich war sie bereits jenseits der 50. Die herzallerliebsten Krähenfüßchen behaupteten tapfer ihre Daseinsberechtigung unter dem Make-up. Verglichen mit Gesa wirkte die junge Polizeipräsidentin wie ein Graureiher: langer Hals, hochgeschlossene Bluse, schiefer Schnabel. Eine karrieregeile Lesbe. Der Flurfunk kannte keine Gnade, und Kalle stimmte absolut zu. Frauen als Vorgesetzte waren noch unerträglicher als kleinwüchsige Männer. Kalles Chef, Kriminaldirektor Guntbert Meyer, der gegenüber am Tisch in seinem Stuhl mehr lag als saß, fielen immer wieder die Augen zu. Guntbert interessierte das Gesabbel, wie er es nannte, einen Dreck. Drei Jahre noch, dann ging er in Pension, und nach ihm würde das Landeskriminalamt zu Staub zerfallen. Sein Potenzial für den Posten des Polizeipräsidenten hatte die Innenbehörde über alle Dienstjahre hinweg verkannt. Zu allem Übel setzte man ihm diese Edeltraut mit Haaren auf den Zähnen vor die Nase, die gerade dem Windelalter entwachsen war. Kalle unterdrückte einen Seufzer der Genugtuung. Guntberts Ehre war schwer traumatisiert, das war offensichtlich – und es geschah ihm recht. Immerhin hatte er es auf den letzten Metern noch zum stellvertretenden Leiter des Landeskriminalamtes gebracht. Was ihm nichts als – Zitat Guntbert –: Bullshit, Extratermine und virenverseuchtes Händedrücken beschert hatte. Für Guntbert Meyer war die Beförderung kein Grund zum Feiern gewesen. Okay, ein paar schimmelige Brötchen aus der Kantine hatte er ausgegeben. Je höher die Besoldung, desto geiziger der deutsche Beamte. In diesem Sinne war Guntbert vorbildlich.

»In den Workshops ging es um diese zentrale Frage: Was bereitet Ihnen auf dem Weg zur Arbeit Bauchschmerzen?« Gesa trank einen Schluck Wasser und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

Alter Falter, Kalles Kehle war staubtrocken.

»Wir haben uns ausgetauscht, die Wortmeldungen gesammelt, die Probleme benannt. Das Ergebnis ist eine Prioritätenliste, die, wie ich Ihnen erläutert habe, für jedes Dezernat anders aussieht, jedoch bei allen auf den Plätzen eins und zwei identisch ist.«

Der Polizeipräsidentin entwich ein Pfiff, als die nächste Folie auf der Leinwand erschien.

»Handlungsbedarf LKA. Priorität 1: Führung. Priorität 2: Kommunikation.«

Plötzlich füllte sich der schlaffe Körper von Guntbert Meyer mit Leben. »Verehrte Frau Clasen, es ist zweifellos hochinteressant, was Sie uns hier im Beisein der geschätzten Personalratsprominenz verkaufen wollen.« Guntbert nickte Kalle zu. »Dennoch möchte ich höflichst daran erinnern – unsere kriminelle Kundschaft raubt, vergewaltigt und mordet in aller Seelenruhe, während wir hier Kaffeekränzchen halten, und das ist ja wohl nicht im Sinne der rechtschaffenen Hamburger Bürgerinnen und Bürger.« Er stand auf, schenkte der Polizeipräsidentin ein schmieriges Lächeln und klopfte mit den Fingerknöcheln dreimal auf den Tisch. »Ich bin dann mal weg.«

Bevor jemand etwas erwidern konnte, knallte es. Entwarnung, es war bloß die Tür. Die Miene der Polizeipräsidentin verriet nicht, ob sie über Guntberts Zwergenaufstand verärgert war. »Nun gut, bitte kommen Sie zum Schluss, Frau Clasen.«

Gesa Clasen schlug die Beine übereinander.

Kalle fühlte sich wie im Schwitzkasten. In der Brusttasche des Jeanshemdes fingerte er nach einer Schachtel Schnoopkrom und schob sich hinter vorgehaltener Hand eine Schokopastille in den Mund.

»Workshop-Phase zwei beginnt übernächste Woche gleich am Montag. Das Dezernat für Todesermittlungen wird den Anfang machen. Wir werden Ursachen analysieren und gemeinsam konstruktive Vorschläge zur Verbesserung der Führungskultur erarbeiten.«

Jau, das hatten sie sich verdient. Endlich, der Krämerladen LKA gehörte richtig aufgemischt. Kalle war 40. Durchschnittlich segneten Männer mit 73 das Zeitliche. Sein Leben raste frontal auf den Tod zu. Er würde keine Minute mehr verlieren, sondern für sein Glück kämpfen und Gesa zum Essen einladen. Morgen bummelte er Überstunden ab, doch der Tag war schon für Eliza reserviert – Rodeln mit Kalle und Oma Emma.

Kapitel 2

Emden, Ostfriesland

Marga Terbeek zog die Wohnungstür zu. Die Zähne fest in einen roten Apfel versenkt, sperrte sie ab. Kurz blickte sie sich im Treppenhaus um, dann deponierte sie ihren Wohnungsschlüssel unter der Fußmatte und sah vor ihrem geistigen Auge den guten alten Eduard Zimmermann die Hände vors Gesicht schlagen. Und das bei ihrem Job. Als Alternative kam nur der Blumentopf mit dem ausgemergelten Efeu in Frage. Auch blöd. Der Pott stand auf der Fensterbank, viel zu hoch, da war die Fußmatte besser. Außerdem saß Ludger, Margas Mischlingshund, auf der anderen Seite der Tür. Momentan fiepte Ludger allerdings wie ein frierendes Ferkel. Dabei hatte Marga das Haus noch nicht einmal verlassen, und die Gassirunde auf dem Emder Stadtwall war wirklich groß gewesen. Sie trommelte zum Abschied mit den Fingerspitzen an die Tür und lief die Treppe hinunter. Ihren Apfel kauend verließ sie das Haus, und ihr schlechtes Gewissen sprang gleich hinterher. Bei ihren Arbeitszeiten hätte sie sich niemals einen Hund anschaffen dürfen. Aber erstens hatte sie ihn quasi gefunden, verdreckt und verwurmt neben dem leblosen Körper eines Berbers, der seine letzte Reise ohne Hund angetreten hatte, und zweitens hatte Ludger frische Farbe in Margas Leben gebracht. Und jede Menge Haare. Das Problem war nur, dass Ludger einen ausgeprägten Freiheitssinn besaß. Er blieb eben ein Hund der Straße. Marga stieg in ihren grauen Skoda, der ein bisschen nach nassem Fell roch, und nahm sich vor, im Präsidium wegen des Hundes anzufragen. Vielleicht konnte sie mit den Kollegen von der Hundestaffel etwas aushandeln oder bekam einen verlässlichen Hundesitter. Wie musste erst Frauen mit Kindern zumute sein, die ihre zarten Ableger in Fremdbetreuung gaben? Ludger war wenigstens groß und kräftig. Heute Mittag würde Peter den Hund zum Laufen abholen; außerdem einen Blick auf die Heiztherme werfen. Sweet Pete war nicht nur ausgesprochen nett, sondern Margas handwerklich begabter Vermieter, und die Therme fiel somit in seinen Aufgabenbereich. Die letzten zwei Tage hatte Marga morgens nur kaltes Wasser zum Duschen gehabt. Grauenhaft. Entsprechend strähnig war Margas blonder Zopf – und ihre Laune vom Eiswasserguss schockgefrostet. Nicht einmal der Gedanke an Peters heilende Hände konnte daran etwas ändern. Sie fädelte den Skoda in den morgendlichen Berufsverkehr ein und fuhr in der langen Schlange aus Blech in Richtung Aurich. Seit zwei Jahren arbeitete Marga im 1. Fachkommissariat der Polizeiinspektion Aurich, war zuständig für Mord und Totschlag in halb Ostfriesland und auf den ostfriesischen Inseln, mit Ausnahme von Borkum. Die Borkumer fielen in den Leeraner Zuständigkeitsbereich. Eine Anstellung in Emden hätte ihr die Fahrerei erspart, aber dort war keine Stelle frei gewesen. Den Wohnort wechseln kam nicht in Frage. Die Hafengeräusche, die Verladekräne – sie brauchte einfach Wasser in ihrer direkten Nähe wie Füße zum Laufen. Viele Bekannte hatte Marga nicht, und auch nur eine Handvoll Freunde überall verstreut. Die Eltern lebten auf Baltrum, einer kleinen ostfriesischen Insel, auf der Marga auch aufgewachsen war. Ihre ältere Schwester Beate wohnte seit Jahren in Hamburg Volksdorf. Sie war verheiratet und spielte mit dem Gedanken, ein Kind zu bekommen. Ein beunruhigendes Thema, wie Marga fand. Als sie sich einer Freundin anvertraute, die als Heilpraktikerin arbeitete, erhielt Marga umgehend die Empfehlung, mit Familienaufstellung und Hypnose ihre Bindungsängste behandeln zu lassen. Frechheit. An Ludger hatte sich Marga schließlich auch gebunden. Und zeitlich gebunden durch ihren Beruf war sie allemal. Außerdem brauchte sie sich nicht zu rechtfertigen, sie hatte sich immer mit Männern getroffen. Nett, aber das war’s auch schon. Und in letzter Zeit mit Sweet Pete, aber so nannte sie ihn nur in Gedanken und aus Spaß. Er war fast zehn Jahre älter als sie und geschieden. Sie gingen manchmal essen oder tranken ein Glas Wein. Nur so. Unverbindlich. Und Marga hoffte, Peter sah das genauso. Am Himmel drängten sich die Wolkenberge um die besten Plätze vor der Sonne. Heute früh würde mit Sicherheit kein einziger Strahl Margas Laune oder die Landschaft erhellen. Auf Höhe Suurhusen öffnete Marga das Fenster und warf den Apfelpitt hinaus. Sie wischte sich die Finger an der Jeans ab und stellte das Radio an. Ein gut gelaunter Moderator gab feixend seine Weisheiten zum Besten und erklärte einem Gesprächspartner via Telefon, dass er soeben keine fünfzigtausend Euro gewonnen habe. Margas Stirn wurde noch krauser, und sie drückte die halbausgespuckte CD zurück in den Schlitz. Zwanzig Minuten später rollte der Skoda vom Fischteichweg auf den Parkplatz ihrer Dienststelle in Aurich.

Kapitel 3

Fachkommissariat Aurich, Ostfriesland

Marga wickelte sich fest in ihre Jacke. Es war saukalt, sie hätte eine Mütze vertragen können. Mit großen Schritten betrat sie das Gebäude, grüßte rechts und links und nahm die Treppe in den zweiten Stock. Ihr Kollege Johann war schon da, seine knautschige Lederjacke hing über seinem Schreibtischstuhl. Montags kam Johann gerne früh, holte sich Kaffee und die Neuigkeiten des Wochenendes brühwarm bei den Kollegen ab. Der Raum war hell mit mehreren Fenstern. Zwei Schreibtische, eine Ostfrieslandkarte an der Wand, ein Wimpel der Polizei Niedersachsen auf Johanns Schreibtisch, ein Foto seiner Enkelkinder. Margas Schreibtisch war aufgeräumt. Außer dem PC, ein paar Meldungen vom Wochenenddienst und dem hellbraunen Kringel eines Kaffeebechers gab es nichts zu sehen. Bei Johann stapelten sich die Akten zu einem schiefen Turm. Da wurde schließlich gearbeitet, verteidigte er sein Chaos. Eine frische Tageszeitung, ein angetrunkenes Glas Wasser. Das Schmerzmittel hatte Johann wieder eingesteckt, doch der kleine Fetzen Silberpapier verriet Marga, dass er es genommen hatte. Marga reagierte von Haus aus allergisch auf Tabletten. Ihre Mutter hatte Pillen geknuspert wie Smarties, angeblich gegen Schmerzen. Tat sie es eigentlich noch? Sie sahen sich selten, seit Marga auf dem Festland wohnte. Obwohl das Telefon natürlich schon erfunden war. Aber ihre Schwester Beate hatte schon immer einen besseren Draht zur Mutter gehabt. Der Duft von frischem Kaffee wehte durch die Luft, und sie hörte Johanns leicht hinkenden Gang; da halfen auch keine Luftpolstersohlen an den Schuhen, auf die er so schwor. Der Kerl hatte ernste Probleme mit seinem Knie.

»Moin, mien Wicht!« Eine lautstarke Begrüßung und ein Pott Kaffee, nur mit Milch, so wie Marga ihn immer trank, wurde ihr von seiner Pranke gereicht. Wenn Johann vor dem Fenster stand, wurde es dunkel. Marga mochte Johann. Er erinnerte sie irgendwie an Ludger. Bullig, gutmütig und mit sandfarbenem Haar. Nur, Ludgers waren dichter und die Haut schimmerte nicht durch. ›Drittes Knie‹ nannte Johann seine Halbglatze, und Marga verkniff sich einen Spruch. Er hatte eben auch große Knie. Dankbar nahm Marga den Kaffee an und spürte, wie sich ihre Stirn glättete. »Moin, Joki. Wochenende gut überstanden?«

»Alles bestens. Wir haben Samstagabend gegrillt. So ’n lecker Stück Grillfleisch nach dem Winter ist doch was Feines.« Johann grinste über beide Ohren und ließ sich steifbeinig in den Stuhl fallen.

Noch eine Übereinstimmung mit Ludger. Beide brauchten Fleisch, sonst wurden sie nicht satt. Marga nahm einen Schluck und griff sich die Meldungen. »Was Besonderes dabei?« Sie ging die Blätter durch. »Schlägereien in der Innenstadt, Sachbeschädigung, mehrere Widerstandsdelikte. Das Übliche nach dem Wochenende. Noch eine Sachbeschädigung durch Inbrandsetzung und eine Vermisstenmeldung aus Pewsum.«

Johann rieb sich die Bartstoppeln gegen den Strich, dass es schubberte. »Hariasses. Dass die nicht ohne Klopperei saufen können.«

Marga setzte sich halb auf ihren Schreibtisch und nahm einen Zettel genau unter die Lupe. »Bei der vermissten Person handelt es sich um eine 82-jährige Frau aus Pewsum. Ist gestern Nachmittag aus dem Garten ihrer Pflegeeinrichtung verschwunden.«

»Nicht gut«, Joki schüttelte den Kopf, »heute Nacht hat es in Oldersum noch gefroren. Hoffentlich hatte die ’ne dicke Jacke dabei.«

»Sitzt im Rollstuhl und ist dement, die Dame. Die Kollegen in Pewsum haben mit einem Trupp der freiwilligen Feuerwehr den ganzen Ort auf den Kopf gestellt, bis in die Nacht hinein. So weit kann die mit ihrem Rolli doch nicht gekommen sein.« Margas Stirn bekam wieder ein Gewinde.

Kapitel 4

Uttum, Ostfriesland

Der Junge läuft gebückt durchs hohe Gras am Rand der Weide. Vom Uttumer Kirchturm hört er drei Schläge. Eine Viertelstunde bleibt ihm noch, um eins gibt es Mittag. Geduckt läuft er weiter und fegt mit den Händen die harten Schilfhalme zur Seite, die ihm augenblicklich in die Haut ritzen. Bei jedem Schritt steigt Wasser nach oben und dringt durch die Nähte seiner Turnschuhe. Er fühlt die Feuchtigkeit in seinen Socken; seine Mutter wird sich aufregen, denn es ist immer noch frostig kalt. Der Wind weht scharf aus Nordwest und bläht ihm den Anorak auf. Er spürt die Kälte nicht. Zu zweit kommen die Fänger aus dem Schilf und nehmen ihn in die Zange. Sie sind nicht dumm, machen ihre Sache gut. Er kennt sie schon aus den letzten Ferien und auch aus den Ferien davor. Wilde Bengels, schimpft seine Mutter, er nennt sie Freunde. Immer tiefer läuft er ins Schilf, das Brackwasser reicht ihm bis an die Knöchel, nur noch schmatzend kann er die Füße aus dem Modder ziehen. Er hockt sich hin und wartet ab. Seine Blase meldet sich, er müsste dringend pinkeln, doch er kann die Stimmen seiner Verfolger hören. »Er muss hier irgendwo sein!«

»Geh weiter bis zum Schlot, dann haben wir ihn!«

Der Junge sitzt in der Falle. Den breiten Entwässerungsgraben zu überspringen, wird er ohne Anlauf niemals schaffen, und selbst mit Anlauf ist es ein Riesensatz. Vorsichtig läuft er parallel zum Graben weiter, geht halb in der Böschung. Er rutscht auf dem nassen Untergrund aus und tritt eine Lawine an Kleiklumpen und Steinen los, die plätschernd im Wasser verschwindet. Helles Sediment vom Grund steigt auf und wird zu einer Wolke am Wasserhimmel. Ein aufgeschreckter Fasan fliegt vor ihm aus dem Schilf, und der Junge zuckt zusammen. Ob es im Schlot noch andere Tiere gibt? Dann sieht er das Brett. Eine halbverrottete Eichenbohle, grün und eingewachsen, führt auf die andere Seite. Von wegen in der Falle. Er wippt, prüft die Festigkeit der Planke und ist auch schon drüben. Ein Gespinst aus wilden Brombeeren liegt vor ihm. Das Grundstück liegt viel höher und ist bedeutend trockener. Ein Trampelpfad führt durchs Gebüsch. Tonscherben in Rot-orange knirschen unter seinen Sohlen und färben sich dunkel, als das Wasser aus dem Nylonstoff seiner Turnschuhe quillt. Verdeckt durch einen Baumwipfel erscheint der niedrige Giebel eines alten Landarbeiterhauses. Das Gebäude ist völlig verwittert. Dachsparren ragen wie zersplitterte Knochen aus Löchern in der Ziegeldecke, auch die Fenster sind größtenteils herausgebrochen. Der Sämling einer Eberesche streckt einen nackten Trieb aus einem Loch in der Wand, als würde er am liebsten davonlaufen. Der Junge entdeckt das mahnende Schild: Betreten verboten! Der Satz mit den Eltern, die für ihre Kinder haften, ist zur Hälfte abgebrochen. Der Junge will das Haus nicht betreten, sondern er hält sich links, in Richtung Landstraße, hofft, dass er trotzdem rechtzeitig zum Essen im Dorf ist. Merkwürdig – von seinen Verfolgern ist nichts mehr zu hören. Vielleicht schluckt der Wind alle Geräusche? Selbst die dichten Brombeerbüsche bewegen sich mittlerweile so stark, dass ihm immer wieder Triebe ins Gesicht und an die Hosenbeine schlagen. Der Pfad wird breiter, das Gestrüpp weniger. Mit der Pieke tritt er gegen einen Stein, der im hohen Bogen davonschießt. Spätestens heute Nachmittag auf dem Bolzplatz wird er seine Freunde wiedertreffen. Er hat die Straße schon fast erreicht, hört den Motorenlärm eines vorbeifahrenden Autos und sieht hinten im Hammrich die Windräder sich drehen, als er die Spuren entdeckt. Sehen fast aus wie von einem Kinderwagen. Reifenspuren, parallel nebeneinander, ziehen sich durch den Matsch und führen ihn wieder zu dem maroden Backsteinbau. Sie enden vor einem schiefen Schuppen rechts neben dem Häuschen, das ihn aus leeren Augen anglotzt. Er will nur mal nachschauen. Vor der Holztür des Verschlags ist das Gras heruntergetreten. Der Riegel fühlt sich spröde an, Rost hat ihn wundgefressen. Es ist ein Rollstuhl, kein Kinderwagen. Der Junge sieht ihn nur von hinten. Und sich im Wind bewegendes weißes Haar. Seine Füße gehen einfach weiter, ob er will oder nicht, dabei scheint um ihn herum alles stehen zu bleiben. Er sieht eingestanzte Vierecke in der hellblauen Steppjacke, farblich abgesetzte Nähte an der Brusttasche. Dann das Gesicht der Frau. Und er kriegt Angst, als er das schreckliche Geräusch hört. Ein Pfeifen, das sich ausbreitet und von den Wänden wieder auf ihn zukommt. Unmöglich, dass es von der Frau in dem Rollstuhl stammt, denn die ist tot, er weiß das. Nicht wegen der grauen Haut oder des Drecks, der aus ihrem Mund rieselt und ihre Lippen schmutzig macht. Er sieht es an ihrem Blick. Und an dem Käfer. Träge läuft das Insekt durch ihr Gesicht und geradewegs in eins der Augen, das starr bleibt wie ein gefrorener See. Trüb und unbeweglich. Das Geräusch schwillt an und lässt das Herz des Jungen in seinem Brustkorb vibrieren. Er stolpert rückwärts, reißt am Verschluss seiner Jacke, denn der Kragen ist viel zu eng. Und plötzlich ist keine Luft mehr da, die er einatmen kann.

*
Fachkommissariat Aurich, Ostfriesland

»Die Norder haben heute Morgen bei Harm Verstärkung für die Suche in Pewsum geordert.« Joki schielte zu Marga rüber. »In zehn Minuten ist Besprechung. Harm hat es gerade angekündigt. Es muss schnell gehen.«

Schnell gehen. Marga rutschte vom Schreibtisch, spürte plötzlich Hummeln im Hintern. Die alte Frau wurde seit siebzehn Stunden vermisst. Wie lang hielt sie durch bei der Kälte? Der Radius, in dem sie sich befinden musste, konnte nicht besonders groß sein. Die Kanäle schossen Marga in den Sinn. Vielleicht bräuchten sie auch Taucher. Hastig suchte Marga ihre Sachen zusammen, stopfte sich mehrere Kugelschreiber in die Jackentasche und nahm ein Notizbuch aus dem Schreibtisch. Gemeinsam mit Johann betrat sie kurze Zeit später den Versammlungsraum am Ende des Flurs. Keiner der Kollegen hatte auf den rauchblauen Polsterstühlen Platz genommen, Anspannung lag in der Luft. Harm grüßte knapp und richtete das Wort an alle. »Die Kollegen in Norden brauchen Unterstützung, zwei Teams fahren nach Pewsum und leiten die Suche nach der vermissten Person.«

Marga streckte sich und fixierte Harm. Nur mit Mühe unterdrückte sie den brennenden Drang, mit den Fingern zu schnippen, doch er übersah sie, und der Fall der Vermissten ging an ältere Kollegen. Als sei das nicht schon schlimm genug, schloss er die Einteilung mit den Worten: »Joki, ihr macht die Inbrandsetzung.«

Weiter hörte Marga nicht hin. Schon wieder waren die guten Sachen an andere gegangen, und für sie blieben ein angezündeter Müllcontainer und Akten, nichts als Akten. Papier war geduldig, aber Marga nicht. Nach fünf Minuten war alles vorüber; enttäuscht zog Marga ab in ihr Büro.

»Nun macht dir man nix draus. Du bist eben unser Küken.«

Johann rüttelte freundlich an Margas Schultern.

Ihr flogen alle Gedanken durcheinander. Sie war 30 und hatte weder gelben Flaum noch Eierschale auf dem Kopf. Drei Jahre Studium, anschließend Streifendienst. Sie war bereit, und das seit Jahren.

»Wenn ich erst mal in Rente geh, gibt es auch bessere Happen für dich. Harm hat da schon so was angedeutet.«

Marga biss die Zähne aufeinander. Also noch zwei Jahre. Das war ganz und gar nicht tröstlich, auch wenn es von Joki so gemeint war. Der und sein Scheißknie. Ihre Beine waren in Ordnung. Was aus Rücksichtnahme auf Joki geschah, ließ sie versauern. Mit starrer Miene verließ sie den Raum und besorgte die Akte zur Inbrandsetzung. Noch auf dem Rückweg warf sie einen Blick hinein. Der Müllcontainer eines Fleischerei-Fachbetriebes war angezündet worden und zu einem Klumpen zerschmolzen. Na großartig. Sie hatte es geahnt. Demonstrativ legte sie Joki den Schinken auf den Tisch. Mahlzeit. Geräuschvoll nahm sie ihre Unterlagen aus dem Schreibtisch und arbeitete sich schweigend durch. Hin und wieder ein Husten von Johann war alles, was sie hörte. Sie sah erst wieder auf, als sich die Tür öffnete und Harm eintrat. Er war ernst wie immer. Das Lachen schien ihm abhandengekommen zu sein in den Jahren als Dienststellenleiter. »Aufbruch! Ihr müsst nach Uttum. Wir haben einen Leichenfund.«

Margas Magen rutschte nach unten, und die Aufregung nahm den direkten Weg übers Rückenmark. So schnell konnte es gehen. Es war so weit, Zeit für einen ordentlichen Happen!

Kapitel 5

Uttum, Ostfriesland

An der Landstraße in Richtung Uttum war ein Stück Wiese provisorisch abgesperrt mit rot-weißem Flatterband, das sich im Wind bog wie ein grinsender Mund. Marga hielt gleich hinter einem Einsatzfahrzeug. Zwei uniformierte Kollegen und ein Rettungswagen der Johanniter waren vor Ort. An der Absperrung hatte sich eine kleine Menschentraube gebildet, und im Wagen der Johanniter saß, in glitzernde Folie gewickelt, ein blasser Junge. Argwöhnisch beobachtete eine großbusige Frau jeden Handgriff des Sanitäters. Regen wurde vom Wind durch die Luft gewirbelt. Marga ging an den Kofferraum ihres Wagens und tauschte die schwarzen Lederschuhe gegen Gummistiefel. Das Gelände war wässrig wie ein Feuchtbiotop. Joki kam mit seinem eigenen Wagen, Margas roch angeblich nach Hund. Sie schloss den Kofferraum und sah sich um. Auf den sumpfigen Pfützen überschnitten sich die Regentropfenkreise,wurden olympisch und noch viel größer. Einer der Uniformierten kam auf Marga zu. Söcker hieß er. Sie wies sich aus und reichte ihm die Hand zur Begrüßung. Er stellte auch seinen jungen Kollegen vor, aber Marga hörte vor Anspannung nur noch mit einem halben Ohr zu.

»Sie ist da drin.« Er deutete mit dem Kopf auf das baufällige Gebäude und sah Marga an, als hätte er Schmerzen.

»Ganz kleines Persönchen. Ich bin gleich wieder raus.«

»So schlimm?«

Söcker zuckte mit den Schultern. »Seien Sie vorsichtig, da sind überall Reifenabdrücke, vielleicht ist das was für die Spurensicherung.«

Marga spürte, wie sich ihre Haarwurzeln aufrichteten. Jokis dunkelblauer Passat hielt am Straßenrand. Sie winkte beiläufig, während sich ihre Augen schon an die Fährte im weichen Untergrund hefteten. Ein unangenehmer Geruch stieg Marga in die Nase, und ihre Augen fanden eine Lache Erbrochenes, dann sah sie durch die geöffnete Schuppentür einen Rollstuhl. Ihre Hände begannen zu schwitzen, während sie noch überlegte. Pewsum lag mindestens fünf Kilometer südwestlich. Luftlinie. Im Rollstuhl und quer durch die Meeden? Sie nahm einen tiefen Atemzug und warf einen Blick auf die Leiche. Mein Gott. Die alte Frau gehörte in eine warme Stube mit Tee und Kokosplätzchen und nicht in dieses abgewrackte Kabuff. Auf dem Kopf die flauschigen Löckchen. So schutzlos. Und so tot. Marga wurde flau, und der Boden unter ihren Füßen schwankte. Fast wäre sie vornüber in den Schoß der Leiche gekippt. Die Tote nahm es gelassen. Sie saß gerade und fast ordentlich, die Hände auf den Oberschenkeln abgelegt. Über 80 war sie geworden. 82 oder 83, Marga konnte sich nicht mehr genau erinnern, was im Bericht gestanden hatte. Es gab keinen Zweifel, dass sie es war. Margas latexbehandschuhte Finger suchten vorsichtig im Genick der Toten. T. Neehuis war auf ein Schildchen im Kragen der Bluse gedruckt. Armes, altes Menschlein. Marga blickte auf den Mund der Frau, der, grotesk aufgerissen, wie eine dunkle Höhle mitten im Gesicht lag. Dreck und Speichel hatten die fahle Unterlippe grauschwarz eingefärbt. Behutsam tastete Marga mit dem Finger, stieß aber sofort auf Widerstand. Sie rieb die dunklen Krumen, lehmhaltig und fest waren sie, und sie zerfielen nicht durch die Reibung. Marga roch daran. Kleiboden, der Mundraum schien komplett damit angefüllt zu sein. Offensichtlich kein natürlicher Todesfall. Sie bemerkte, dass ihre Knie zitterten, sie bekam wieder Puddingbeine. Tief durchatmen, Marga, und Ruhe bewahren. Das einzig Tote, was sie bis dato zu Gesicht bekommen hatte, war der Kater ihrer Eltern gewesen. Sie musste sich konzentrieren. Aber die Augen der Toten. Irgendwie transparent, wie dünnes Porzellan. Ohne jegliches Leben. Margas eigene Augen waren voll funktionsfähig und gerade im Begriff, sich mit überschüssiger Flüssigkeit zu füllen. Sie beschloss, dass es fürs erste Mal reichte, und verließ so schnell wie möglich den Schuppen.

Joki stand im Gespräch mit Söcker und dem anderen Uniformierten, der aussah wie 17. Englisch. Es war ein englischer Vorname gewesen. Steven? Brian? Er lag Marga auf der Zunge, aber sie kam nicht drauf. Als sie auf die Gruppe zustapfte, sah Joki sie erwartungsvoll an.

»Die Vermisste aus Pewsum.«

Er hob die buschigen Brauen, und Marga sprach weiter. »Kein Zweifel, die Personenbeschreibung passt, und in ihrer Kleidung sind Namensschilder eingenäht, du weißt schon, damit es bei der Wäsche keine Verwechslungen gibt. Und … es war keine natürliche Todesart.«

»So ’n Schiet nu wer! Ich sag sofort in Pewsum Bescheid. Die suchen sich ’nen Wolf, und die Frau sitzt hier doed im Huck.«

Jokis Blick bohrte sich strafend in die Gesichter der Kollegen.

»Den Schuh zieh ich mir nicht an. Die Norder haben uns hergeschickt, weil es schnell gehen sollte. Von einer Vermissten in Pewsum weiß ich nichts.« Söcker war beleidigt. Steven, oder wie er hieß, blieb stumm. Weiter auf Platt fluchend, steckte Joki sein Handy zurück in die Lederjacke. »Hier weiß die Rechte wieder nicht, was die Linke macht. Und kein Netz. Marga, mach Meldung über Funk. Ich möchte mal wissen, wie die im Rollstuhl hierhergekommen ist.«

Und wer ihr den Dreck in den Mund gestopft hat. Marga musste unwillkürlich schlucken. Jokis Jahreswagen, frisch aus dem Werk und ausgerüstet mit allen Schikanen, hatte Funk an Bord. Marga informierte die Dienststelle und orderte die Spurensicherung. Ihr Blick fiel auf den Aufkleber, der sich, glatt und präzise gesetzt, mühelos an dem mit Cockpitspray bearbeiteten Armaturenbrett hielt. Gu(r)te Fahrt!

*

Joki stand am Rettungswagen mit der Mutter des Jungen. Sie kamen aus Moers und verbrachten das Wochenende in einer Ferienwohnung in Uttum. Frau Schulz redete wie ein geöffneter Wasserhahn. »Marek ist kein gesundes Kind. Er hat’s mit den Atemwegen, schon seit er klein ist, deswegen verbringen wir so viel Zeit wie möglich an der Nordseeküste.« Sie spielte nervös mit dem Anhänger ihrer Kette. »Es hat uns auch immer gut gefallen. Wer hätte denn damit rechnen können? Ich dachte, er könnte wenigstens hier auf dem Land ungefährdet draußen spielen. Man kann ihn wirklich keine Minute aus den Augen lassen. Was hast du dir nur dabei gedacht, Marek?« Ihre Stimme wechselte ins Schrille und tat Marga in den Ohren weh.

Joki versuchte zu beschwichtigen. »Nu mal langsam. Das Einzige, was man dem Jungen zur Last legen könnte, ist, dass er den baufälligen Stall betreten hat. Das hätte gefährlich werden können. Ansonsten haben die Kinder nichts angestellt. Wir bräuchten noch Ihre genauen Daten. Alles andere klären wir später, wenn Ihr Lütscher wieder auf dem Damm ist.« Er nickte Marga zu und nahm Frau Schulz mit Formalitäten in Beschlag.

Der Sanitäter war bereits dabei, seine Siebensachen wieder einzuräumen.

»Wie sieht es aus mit dem Jungen?« Marga duckte sich. Sie suchte am geöffneten Heck des Rettungswagens Schutz vor Wind und Regen – mit mäßigem Erfolg.

»Alles halb so schlimm, sofern ich das beurteilen kann. Hat einen Schock, aber seine Atmung hat sich schon fast wieder normalisiert. Die Kinder haben goldrichtig gehandelt. Einer der Jungen ist los, um Hilfe zu holen, der andere blieb bei Marek und hat ihm geholfen, seinen Inhalator zu benutzen. Im akuten Fall ist das Medikament schon die halbe Miete.« Er zurrte die Haltegurte um den Jungen und machte ihn fertig zum Abtransport.

Der Junge sah noch spitzgesichtig aus, guckte jedoch erwartungsvoll, als Marga sich vorstellte. »Sieht so aus, als würden sie dich mit ins Krankenhaus nehmen, aber deine Mutter kann sicher mitfahren.«

»Hier hinten ist doch gar kein Platz mehr für sie. Und man kann sich auch nicht anschnallen.« Marek blickte sich um.

»Klar kann man«, warf der Sanitäter ein, und der Junge verzog den Mund.

»Du würdest lieber alleine mit dem Krankenwagen fahren? Mütter können ganz schön nervig sein. Das kenn ich.« Verstohlen deutete Marga ein Würgen an. Treffer, Marek grinste.

»Ich glaube, deine Mutter hatte Angst um dich. Sie hat sich erschrocken. Vielleicht genauso doll wie du.« Er war immer noch sehr blass. Marga versuchte ihr Glück. »Marek, ich muss ganz genau wissen, was du alles gesehen hast, als du in dem Schuppen warst.«

»Sie hatte einen Käfer im Auge. Sie ist tot, nicht? Die Frau, mein ich. Sie muss tot sein, niemand lässt einen Käfer durch sein Auge kriechen.«

Marga nickte. »Ja, sie ist tot.«

»Ist sie gestorben, weil sie den Schmutz gegessen hat?«

»Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, warum sie gestorben ist. Um das rauszufinden, muss ich wissen, was passiert ist. Es ist ganz wichtig, dass du dich genau erinnerst, ob du irgendwas oder irgendwen gesehen hast. Einen Mann oder eine Frau, vielleicht ein Auto?«

Seine Augen wurden kreisrund, und er überlegte angestrengt. »Nee, ich glaube nicht. Da war nur der Rollstuhl und die alte Frau und der Käfer. Und dann habe ich mich so erschrocken, dass meine Bronchien gepfiffen haben, aber richtig. Und dann war meine Jacke so eng am Hals, die hat mir Tobi später aufgemacht. Und ich hatte ganz viel Spucke im Mund und musste sogar kotzen.«

»Marek!« Frau Schulz hatte sich offensichtlich von Joki freimachen können. »Ich denke, es reicht jetzt. Er hat ihrem Kollegen doch schon alles erzählt.« Sie funkelte Marga an.

»Okay, Marek. Danke für deine Hilfe und gute Besserung. Wir besprechen später noch mal alles in Ruhe, ja?« Marga winkte ihm zu, er winkte zurück.

Frau Schulz schob sich an Marga vorbei in das Innere des Rettungswagens, und Joki ließ Luft ab, als der Krankentransporter startete. »Himmel, war die gute Frau aufgelöst, die ging ja am Stock. Wenn du mich fragst, hätte die auch auf eine Bahre gehört, nicht nur der Lütsche.«

»Sie war besorgt um ihr Kind.«

Joki wusste doch, wie das war. Marga stopfte die Hände tief in die Hosentaschen. Seite an Seite liefen sie auf die kleine Gruppe Menschen zu, die Steven-Brian gerade wie eine Schafherde zur Seite trieb. Der Rettungswagen schob sich schwerfällig auf die Landstraße und fuhr davon. Joki hatte keinen Grund, den Abgeklärten zu mimen. Als sein Enkel sich vor kurzem beim Schlittschuhlaufen verletzt hatte und genäht werden musste, hatte Joki tagelang von nichts anderem gesprochen: eine Betäubungsspritze direkt in die Wunde und sieben Stiche. Bis es sogar die Spülhilfe in der Kantine am Fischteichweg wusste, die nur alle vierzehn Tage stundenweise arbeitete. Marga spürte die vielen Blicke. Sie und Joki wurden genau beäugt. Ein Blondschopf mit weißen Wimpern und massig Sommersprossen im Gesicht und ein aschblonder Junge mit einrasiertem Wellenschliff im Nacken seines Kinderkopfes waren Mareks vorbildliche Freunde. Joki entließ sie mit einem Dankeschön, aber Fehlanzeige. Der eine scharrte mit den Füßen im Dreck, der andere kaute am Nagel seines kleinen Fingers. Beide hatten Ohren groß wie Topfdeckel. Ein dunkelhaariger Mann mit Schnauzer stellte sich als Hermann Tjaden vor. Als Uttumer Ortsvorsteher war er schwer in Sorge, ob sich die Einwohnerzahl seines Dorfes verringert hatte. »Es ist doch hoffentlich niemand aus dem Ort? Die Jungen haben sie jedenfalls nicht erkannt.«

Marga verzog den Mund. Die Kinder waren also schon ausgequetscht worden.

»Wir können im Augenblick noch nichts Genaues sagen«, setzte Joki an.

»Wir dürften es auch gar nicht«, warf Marga dazwischen.

»Richtig, Frau Terbeek«, fuhr Joki fort, »aber allem Anschein nach handelt es sich bei der Toten um eine Vermisste aus Pewsum.« Er wandte sich an den Ortsvorsteher. »Ich möchte Sie bitten, mir eine Liste aller Anwesenden zusammenzustellen, wir müssen im Rahmen der Ermittlungen noch einige Befragungen durchführen. Wem gehört eigentlich das Grundstück, auf dem die Bruchbude steht?« Joki rieb sich die Hände. »Leev kolt hem ji dat hier. Können wir nicht irgendwo reingehen? Hier draußen bekommen wir sonst alle Iesjöckels an’t Fauten.« Er wechselte willenlos vom Plattdeutschen ins Hochdeutsche und wieder zurück.

Tjaden schlug das Dorfgemeinschaftshaus vor. Joki war selig. »Sehr gut. Sagen wir in einer Dreiviertelstunde?«

Tjaden willigte ein und zog ab, das halbe Dorf im Schlepptau.

»Warum hast du das gemacht? Das sind schließlich alles Tatverdächtige.« Marga puffte Johann in die Seite.

»Ach, nu hol upp! Ich hab denen doch nichts erzählt, was die nicht längst wussten. Die haben den Kindern schon alles aus der Nase gezogen, das glaub mir man. Außerdem war das Taktik. Die sind hier alle so …« Joki legte den Mittelfinger über den Zeigefinger und schüttelte sein Fingermakramee vor Margas Gesicht. »Wenn du denen gleich am Anfang doof kommst, kriegst du gar nichts raus.«

Marga biss sich auf die Unterlippe. Da war was dran. So ausgebufft kannte sie Joki gar nicht. Sie hatte eher auf kollegiale Geschwätzigkeit unter Männern getippt. Söcker stand bei einem älteren Mann, den Marga spontan auf über 80 schätzte. Die blaue Arbeitsjacke war an den Schultern ausgeblichen, und an der Stange seines Herrenrads war eine Harke mit Bontjeband festgebunden. Als Marga sich noch fragte, ob es zulässig war, den Alten so fahren zu lassen, schmiss dieser erstaunlich behende das Bein über den Gepäckträger und trat in die Pedalen, ein Hosenbein mit einer Spange ans Bein geklemmt, damit die weiten Piepen nicht in die Fahrradkette gerieten.

»Theda Neehuis ist eine aus Uttum.« Söcker blickte zufrieden. Marga und Joki sahen sich an. »Wie bitte?«

»Hat der Opa gerade erzählt.«

»Was hat er denn gesagt?« Joki blickte dem davonradelnden Mann hinterher.

»Weißt ja wohl.« Söcker winkte ab. »Wie alte Leute halt so schnacken. Theda Neehuis ist eine geborene Hayenga und auf dem Hof dahinten im Hammrich groß geworden. Und das Grundstück hier gehörte wohl auch den Hayengas.«

»Und wer war der gute Mann?« Joki blickte fragend.

»Keine Ahnung.« Söcker zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung?«

Als Söcker sah, wie Joki einen knallroten Kopf bekam, entgleisten ihm die Gesichtszüge. »Kann ich doch nichts für. Der Alte sagte, he har keen Tied.«

»Keine Zeit?« Jokis Stimme klang wie das Grummeln eines nicht mehr ganz fernen Donners.

»Ich konnt ihn ja schlecht vom Fahrrad ziehen.«

»Du Pfeife!«, explodierte Joki, und Söcker war wieder beleidigt. Marga kniff die Augen zusammen und plierte durch den Regen. In der Ferne konnte sie einen ostfriesischen Gulfhof erkennen, mit dem typisch herabgezogenen Dach, eingesäumt von Bäumen, Sträuchern und Windrädern. Sehr idyllisch.

Kapitel 6

Hamburg-Neustadt, Bismarck-Denkmal

Kalle und Emma saßen auf der Mauer zu Füßen des Bismarck-Denkmals und feuerten Eliza und ihre Freundin Laura an, die bäuchlings auf ihren Schlitten die vereiste Rodelpiste hinunterjagten. Kalles Füße waren nass und kalt.

»Warum hast du die ollen Bommelslipper nicht wenigstens imprägniert?«

Emma hatte gut reden, ihre Füße steckten in Wollsocken und Wanderboots.

»Lohnt sich nicht mehr.« Kalle umfasste den Deckel der Thermoskanne mit beiden Händen und nippte am heißen Kaffee.

»Papa, hier liegt eine Tote!« Das schrille Geschrei von Eliza ging Kalle durch Mark und Bein.

Er warf den Becher in den Schnee und rutschte den Berg hinunter.

»Vorsicht! Vorsicht, du wirst dir noch was brechen!«, rief Emma ihm hinterher.

Laura kniete dicht neben Eliza, die vom Schlitten gekippt war und der Länge nach im Schnee lag. »Da, die Hand«, flüsterte Laura.

Kalle schob das Eichenlaub beiseite.

»Was ist? Nun sag doch, was los ist?« Emmas Stimme überschlug sich.

Mit einem Ruck zog Kalle an der Hand, die unter dem Schnee hervorlugte. Eliza und Laura kreischten hysterisch.

»Kalle, soll ich die Polizei rufen?«

»Lieber die Müllabfuhr.« Er hob die Schaufensterpuppe hoch. »Hallo, Mädels, mein Name ist Nacki Dei.«

»Sehr lustig, Papa.« Eliza war den Tränen nahe.

»Hey, das war doch nur Spaß.«

»Guntbert Meyer will dich sprechen, sofort!« Emma wedelte mit dem Handy in der Luft.

Als Kalle nach gefühlten Stunden wieder oben am Hang angelangt war, stand der silberne Dienstwagen schon bereit. Tinta Krieger, die Assistentin im Dezernat für Todesermittlungen, saß am Steuer und warf Kalle eine Kusshand zu. Emma runzelte die Stirn, sagte aber nichts.

»Tut mir leid, Mam. Wat mutt, dat mutt.« Kalle hob den Kaffeebecher auf und drückte ihn Emma in die Hand. Mit ein paar Schritten war er am Wagen und riss die Beifahrertür auf. Er rief ein schnelles »Moin!« und ließ sich in den Sitz fallen.

Ohne seinen Gruß zu erwidern, schenkte ihm Tinta ihr Zahnpastalächeln, startete, wendete und brauste den Berg hinunter zur Seewartenstraße. Sie bremste abrupt, um den roten Doppeldeckerbus der Stadtrundfahrt vorbeizulassen.

»Was liegt an?«

»Leichenfund in einer Gartenlaube, Nähe Israelitisches Krankenhaus.« Tinta erhielt von der Zentrale die Freigabe für Sonderrechte, befestigte das Blaulicht auf dem Wagendach und schaltete das Martinshorn ein. Sie gab Gas. Kalle klammerte sich am Türgriff fest. Ihm war schlecht.

*
Hamburg-Alsterdorf

Das rot-weiße Flatterband mit dem Aufdruck Polizei sperrte den Eingang zum Kleingartenbauverein Birkenhain e.V. ab. Eine Menschenmenge hatte sich davor versammelt. Die Leute machten bereitwillig Platz, als Tinta in den von immergrünen Hecken umrahmten Weg einbog. Kalle musste sich an ihre Fersen heften, bevor die Gasse sich wieder schloss. Tinta, groß und eine der letzten echten Blondinen weltweit, verströmte offenbar auch in Zivil reichlich staatliche Autorität, ganz ohne Erklärungen. Kalle in seiner nassen Hose kam sich vor wie der Asi persönlich. Die Blutlache im Schneematsch neben dem Gartentor war unübersehbar. Er machte einen Bogen darum. »Wurde geschossen?«

Kalles Teamkollege Kriminalrat Bodo Steinhoff nickte. Er setzte zu einer Antwort an, aber Kalle eilte bereits voraus zur Laube, in der die Beamten der Spurensicherung in ihren weißen Einwegoveralls aussahen wie überdimensionierte Maden. »Stopp!« Vor Kalles Nase baumelten die weißen Überziehschuhe. Auf einem Bein um das Gleichgewicht ringend, schaffte er es, erst den einen, dann den anderen Bommelslipper einzutüten.

Die Leiche lag auf dem Boden unter dem vergitterten Fenster. Noch waren die Scheinwerfer nicht verkabelt und die Lichtverhältnisse in der kleinen Butze unter aller Kanone. Kalle ging in die Hocke und betrachtete das Gesicht der Toten. Die Frau schätzte er auf mindestens 70 Jahre, womöglich auch älter. Die Mundpartie war mit einer dunklen Masse beschmiert? »Was ist das? Matsch?«

»Es wird sich um Hasenscheiße handeln«, sagte der Kollege von der Spurensicherung.

»Lecker.« Kalle wandte sich wieder der Toten zu. Sie war nur mit Unterwäsche bekleidet. Teure Marke aus Angorawolle. Ächzend erhob er sich wieder. Der feuchte Stoff seiner Jeans klebte an seinen Oberschenkeln. Er sah sich um. Auf dem Boden waren Mantel, Pullover, Hose und Stiefel verstreut, wie achtlos weggeworfen. »Habt ihr die Rektaltemperatur gemessen?«

»Mensch, Kalle, lass uns unsere Arbeit machen, und du machst deine, okay!«

»Is ja schon gut.« Blödmann. Kalle verließ die Laube. Er kniff die Augen zusammen, während er das Plastik von seinen Schuhen schälte. Das Sonnenlicht blendete. »Was ist mit dem Blut, Bodo?«

Bodo Steinhoff deutete auf einen hageren jungen Kerl, der in Handschellen neben der rostigen Regentonne stand und gut und gerne als Designervogelscheuche durchgehen könnte. Der Hosenbund saß ihm in den Kniekehlen, die Unterhose schaute hervor, und der Ledergürtel mit den spitzen Nieten hielt das ganze Kunstwerk kurz oberhalb der Schamhaare zusammen.

»Sein Köter wollte wohl dem Kollegen Dominko in die Hand beißen. Daraufhin hat der Kollege Jansen kurzen Prozess gemacht.« Bodo Steinhoff zeigte zum Zaun hinter der Laube.

»Armes Viech, mausetot.«

»Wer ist der Typ?«

»Eine Nachbarin hat ihn beobachtet, als er in die Kolonie rein is. Und weil in den letzten Wochen immer wieder Lauben aufgebrochen worden sind, hat sie die Kollegen benachrichtigt. Die haben ihn dann um exakt vierzehn Uhr in der Laube erwischt.«

»Hat die Nachbarin sonst noch etwas beobachtet? Gibt es einen weiteren Eingang zur Laubenkolonie?«

»Ja, an der Alsterkrugchaussee. Nein, sie hat nichts beobachtet, aber du kannst sie ja selbst noch mal befragen. Sie heißt …« Bodo blätterte in seinem Notizblock.

Kalle winkte ab und ging auf die abgerissene Gestalt zu. »Moin, Bärwolff, Kripo. Wie ist Ihr Name?«

Der Typ glotzte Kalle an.

»Verstehen Sie mich? Wie heißen Sie?«

Der Typ glotzte.

»Warum sind Sie hierhergekommen?«

Wieder keine Antwort. Die schwarzen lockigen Haare, der Vollbart, der starre Blick und der dunkle Teint ließen ihn wie den jungen Räuber Hotzenplotz erscheinen.

»Wie alt sind Sie?«

»Der redet nichts, Kalle.«

»O senhor fala português?« Kalle gab es auf. »Abführen.«

Kapitel 7

Pewsum, Ostfriesland

Kurz bevor Marga sich auf den Weg nach Pewsum machte, war die Spurensicherung eingetroffen und hatte das zerfallene Gebäude in eine Filmkulisse verwandelt. Überall Lampen, Stative und Männer in weißen Schutzanzügen. Die sterblichen Überreste von Theda Neehuis wurden nach einer kurzen Untersuchung am Fundort in die Gerichtsmedizin überführt, den Obduktionsbericht würden sie morgen erhalten. Joki war in Uttum geblieben, nachdem Marga ihm versichert hatte, alleine klarzukommen. Sie brauchte niemanden zum Händchenhalten. Das Pflegeheim von Theda Neehuis war eigentlich nur ein größeres Doppelhaus und lag mitten in einer Wohnsiedlung aus den 1960ern. Marga hatte es sich wesentlich größer vorgestellt. Erst im letzten Augenblick nahm sie das Schild wahr, das im Vorgarten hinter einem Rhododendronbusch stand, der seine Blätter bis zum Anschlag aufgerollt hatte.

»Wir legen Wert auf Überschaubarkeit.« Frau Lorei bot Marga einen Platz am Esstisch an. Das Esszimmer ging nahtlos in einen gefliesten Wintergarten über, in dem eine Frau auf dem Sofa saß und strickte. Eine andere im Rollstuhl war geparkt mit Blick ins Grüne. Außer einem Schluckauf zeigte sie keinerlei Regung. Im Radio dudelte Plüschmusik. Frau Lorei schloss die gläserne Schiebetür zwischen Esszimmer und Wintergarten. Musik und Schluckauf waren nur noch gedämpft zu hören. Sie bot Marga Kaffee an, Marga lehnte ab. »Und trotzdem ist Frau Neehuis einfach verschwunden.«

»Ich habe mich die ganze Nacht gefragt, wie das passieren konnte.« Die Schatten unter Frau Loreis Augen waren nicht zu übersehen, und dicke Tropfen rollten ihre Wangen hinab. Sie sah vergrämt aus. Marga ließ ihr Zeit, sich zu schneuzen. Anschließend wischte sich Annette Lorei die Tränen mit dem zerknüllten Tempo vom Kinn, die nassen Stellen auf der Tischplatte übersah sie.