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Inhaltsverzeichnis

Buch
Autor
Widmung
ERSTER TEIL - Verluste
1 - Genisa
2 - Der Diamanten-Mann
3 - Die Verabredung
4 - Alfreds Notizbücher
5 - Die kupferne Schriftrolle
6 - Massel un Brocha!
7 - Das Tal von Achor
8 - Jerusalem
9 - Berlin
ZWEITER TEIL - Verstecke
10 - Tamar Strauss
11 - Der Monsignore
12 - Masada
13 - Ein Gedi
14 - Ein Stein für den Heiligen Vater
DRITTER TEIL - Suche
15 - Mea She’arim
16 - Eine Busfahrt
17 - Der junge Rabbi
18 - Der graue Wagen
19 - Die Kanonengießerei
VIERTER TEIL - Finden
20 - Gematria
21 - Rosh Ha’ayin
22 - Der Golan
23 - Der Brunnen in Ghájar
24 - Tiberias
25 - Der SJ Duesenberg
26 - Glück und Segen
27 - Der Makel
28 - Der Wächter
Glossar
Danksagung
Copyright

Danksagung

Bei diesem Buch haben mir Dutzende von Leuten geholfen. Ich kann sie hier nicht alle aufzählen, aber ich möchte meinem Agenten Pat Schartle Myrer und meiner Lektorin Charlotte Leon Mayerson danken, ebenso wie Lise Gordon und Lorraine Gordon, die mir mit ihrem Rat zur Seite gestanden haben.

Außerdem bin ich Albert Lubin, dem leitenden Direktor des Diamond Dealers Club of New York, für seine Einführung in die Welt der Diamanten dankbar; ebenso Dr. Cyrus H. Gordon, Gottesman Professor of Hebraic Studies an der New York University, für seine Hilfe in archäologischen Fragen; Louisa und Emanuel W. Munzer dafür, daß sie sich für mich an einige von Europas dunkelsten Stunden erinnert haben, und Dr. Yigael Yadin in Jerusalem dafür, daß er mit mir über Masada diskutiert hat.

Besonders tief stehe ich bei Yisrael Lazar, meinem Lehrer und Freund, in der Schuld, der meine nicht enden wollenden Fragen über sein Geburtsland Israel stets mit Humor und Geduld beantwortet hat.

Alle Fehler, die dieses Buch in den oben genannten Wissensgebieten aufweisen mag, stammen ausschließlich von mir.

Noah Gordon

Autor

Noah Gordon, 1926 in Worcester, Massachusetts, geboren, arbeitete lange Jahre als Journalist beim »Boston Herald«, bevor er mit seinem ersten Roman »Der Rabbi« den Durchbruch als Schriftsteller erlebte. Mit »Der Medicus« gelang ihm ein Weltbestseller, der auch in Deutschland viele Monate auf der Bestsellerliste stand. Noah Gordon hat drei erwachsene Kinder und lebt mit seiner Frau auf einer Farm in Massachusetts.

1

Genisa

Immer wenn Baruch erwachte, erwartete er, verhaftet zu werden.

Die leere Schriftrolle bestand aus gutem Kupfer, das so lange gehämmert worden war, bis es so dünn und glatt wie ein Stück Leder war. Sie steckten sie in einen Sack und brachten sie, heimlich wie die Diebe, die sie ja eigentlich auch waren, zu ihrem Versteck am Band eines verlassenen Stoppelfelds. In Inneren der kleinen Höhle war es trotz des stahlblauen Himmels draußen, der durch den Eingang zu sehen war, dunkel, und so füllte Baruch die Lampe mit Öl, zündete sie an und stellte sie auf einen flachen Stein.

Drei der jüngeren Verschwörer hielten draußen Wache, indem sie mit einem Schlauch Wein Betrunkene spielten. Der alte Mann in der Höhle hörte sie kaum. Er spürte wieder den Schmerz in der Brust, und seine Hände zitterten, als er sich zwang, den Schlegel und die Ahle zu ergreifen.

Dies sind die Worte des Baruch, Sohn des Neriah ben Maasiah, Sproß der Priester aus Anatoth im Lande Benjamins, der im neunten Jahr der Regierung des Zedekiah, Sohn des Josias, König von Judäa, von Jeremias, dem Sohn des Hilkiahu Kohen den Befehl erhielt, den Schatz des Herrn zu verstecken.

Das war alles, was Baruch am ersten Tag in die Schriftrolle hämmerte. Diese Einleitung würde später, nachdem er das Dokument beendet hatte, wie ein Geständnis wirken und sein eigenes Todesurteil bedeuten, sollte die Schriftrolle vor dem Eintreffen der Invasoren entdeckt werden. Aber Baruch mußte einfach festhalten, daß sie keine gewöhnlichen Verbrecher waren.

Jeremias hatte Baruch gesagt, was der Herr von ihnen verlangte. Nur langsam war ihm klargeworden, daß sein Freund nichts anderes von ihm verlangte, als den Tempel zu bestehlen, diesen heiligen Ort zu entweihen. »Nebukadnezar ist gerade dabei, den Pharao Neeho zu besiegen, und wenn seine Horden Ägypten ausgeplündert haben, dann werden sie zu uns kommen. Der Tempel wird gebrandschatzt und seine Schätze fortgeschleppt oder vernichtet werden. Deshalb hat uns der Herr aufgetragen, die heiligen Gegenstände in Sicherheit zu bringen und zu verstecken, bis sie eines Tages wieder zu Seiner Anbetung verwendet werden können.«

»Dann sag es den Priestern.«

»Das habe ich. Aber wann hat das Haus von Bukki je auf die Pforte des Herrn gehört?«

Baruch war so schnell, wie es ihm sein krankes Bein erlaubte, von dannen gehumpelt.

Er würde bald sterben, aber das machte die Tage, die ihm noch blieben, nur um so wertvoller, und die Risiken, die er einging, erfüllten ihn mit Schrecken. Es gelang ihm, sie aus seinen Gedanken zu verbannen, aber als eines Tages die halbwilden Nomaden, die normalerweise die Stadt in einem weiten Bogen umgingen, an die Tore kamen und um Zuflucht baten, konnte er das nicht mehr. Innerhalb weniger Stunden füllten sich die nach Jerusalem führenden Straßen mit Menschen, die auf der Flucht vor der schrecklichsten Armee der Welt waren. Als Jeremias ihn schließlich fand, sah Baruch das Leuchten in den Augen des Sehers, das manche für den Wahnsinn und andere für die Erleuchtung des Herrn hielten. »Ich höre jetzt Seine Stimme. Immerzu.«

»Kannst du dich denn nicht vor ihr verstecken?«

»Ich habe es versucht. Aber die Stimme folgt mir überall hin.«

Baruch streckte die Hand aus und berührte den Bart des anderen Mannes, der ebenso weiß war wie sein eigener. Er spürte, wie es ihm das Herz brach. »Was will Er, daß ich tue?« fragte er.

 

Jeremias hatte noch andere zu Mitverschwörern gemacht. Sie waren zwei mal sieben und hatten deshalb vielleicht doppelt Glück, aber Baruch befürchtete, daß schon zu viele zu ihren geheimen Treffen kamen. Ein einziger Verräter konnte alles zunichte machen. Baruch war erstaunt, als er sah, wer sich alles gegen das Haus Bukki, die Priesterfamilie, welcher der Tempel unterstand, verschworen hatte. Da waren Shimor der Levit, der Hüter der Schatzkammer, und sein Sohn Hilak, der für die Erhaltung der heiligen Kultgegenstände verantwortlich war. Hesekiel war Befehlshaber der Tempelgarde, Zecheraia kommandierte die Torwächter, und Haggai war für die Packtierherden zuständig. Andere hatte Jeremias rekrutiert, weil sie jung, kräftig und muskulös waren.

Über ein paar der Dinge, die versteckt werden mußten, waren sie sich sofort einig:

die Gesetzestafeln,
die Bundeslade mit ihrem Deckel,
die goldenen Cherubim.
Aber dann entbrannte ein erbitterter Streit.

Auch wichtige Stücke mußten zurückgelassen werden, so die schweren Gegenstände wie die Menorah, der Opferaltar, das eherne Meer, das auf zwölf wundervollen Messingtieren ruhte, und die mit Lilien und Granatäpfeln aus Messing verzierten bronzenen Säulen.

Sie waren übereingekommen, das Tabernakel zu verstecken. Es war bereits zerlegt und transportfähig verpackt worden.

Auch die Beschläge und Zapfen des Tabernakels, die vor neunhundert Jahren von Bezalel ben Uri, dem Handwerker des Herrn, aus massivem Gold angefertigt worden waren, warteten auf den Abtransport.

Ebenso versteckt werden sollte der Brustschild des Hohenpriesters mit den zwölf Edelsteinen, von denen jeder einzelne von einem der zwölf Stämme Israels gestiftet worden war.

Die goldenen Posaunen, die einst das Volk Israel zusammengerufen hatten.

Die alten, wunder voll gewebten Wandteppiche, die am Tor der Sonne gehangen hatten.

Zwei Harfen, auf denen David gespielt hatte. Zehntgefäße und Weihwasserbecken aus Silber. Opferschalen aus getriebenem Gold.

Silberne und goldene Talente, die von der Kopfsteuer von einem halben Schekel jährlich, die jeder Jude zu bezahlen hatte, aufgelaufen waren.

»Lassen wir doch das Geld hier und verstecken dafür mehr von den heiligen Gegenständen«, sagte Hilak.

»Wir müssen auch Schätze in Sicherheit bringen, die nicht heilig sind«, sagte Jeremias. »Eines Tages können wir davon vielleicht ein neues Haus für den Herrn bezahlen.«

»Wir haben Goldbarren, die viele Talente wert sind«, sagte Hilak und blickte zu seinem Vater, dem Hüter der Schatzkammer.

 

»Was ist von den nicht geheiligten Gegenständen denn am wertvollsten?«

»Ein riesiger Edelstein«, antwortete Shimor sofort.

Hilak nickte. »Ein großer, gelber Diamant.«

»Den nehmen wir auch mit«, sagte Jeremias.

Sie saßen da, blickten sich an, und als sie an die vielen Gegenstände dachten, die sie nicht würden mitnehmen können, wurden sie trübsinnig.

 

An drei aufeinanderfolgenden Nächten zog Hesekiel die Tempelwachen in der Mitte der Nacht vom Neuen Tor ab. Der Haupteingang zum Heiligtum der Heiligtümer durfte nur vom Hohenpriester selbst benutzt werden, damit dieser dort am Feiertag des Yom Hakippurim zum Wohl des Volkes Zwiesprache mit dem Allmächtigen halten konnte. Aber vom oberen Geschoß des Tempels gab es noch einen verborgenen Zugang, aus dem ab und zu Priester heruntergelassen wurden, um das Heiligtum zu reinigen und zu polieren.

Diesen Weg wählten auch die vierzehn Verschwörer, um die Bundeslade samt ihrem Inhalt, den Tafeln mit den Zehn Geboten, die der Herr Moses auf dem Berg Sinai gegeben hatte, zu stehlen.

 

Ein junger Priester namens Berechia wurde an einem Seil hinabgelassen.

Baruch hielt sich bei dieser Aktion in gebührendem Abstand vom Allerheiligsten entfernt. Er stammte zwar wie die anderen aus einer Priesterfamilie, aber er war mit zwei ungleich langen Beinen geboren worden, und das hatte ihn zu einem Haya Nega gemacht, einem Fehler Gottes. Als solcher durfte er die Heiligtümer nicht berühren, diese Ehre war den Makellosen vorbehalten. Trotzdem konnte, während die anderen das Seil mit Berechia vorsichtig hinabließen und dieser daran, langsam schwingend wie eine riesige Spinne, in der Dunkelheit des Heiligtums verschwand, die Angst des Jungen kaum größer sein als die, welche Baruch verspürte.

Das schwache Licht, das von oben auf die am Seil baumelnde Gestalt fiel, wurde von einem Paar goldener Flügel reflektiert. Der Cherub war das erste, was Berechia die anderen nach oben ziehen ließ, und Baruch wandte seine Augen ab, denn am feierlichsten aller Tage saß der Unnennbare selbst zwischen den beiden goldenen Wächterengeln und hörte sich das Flehen des Hohenpriesters an. Dann kam der Deckel der Arche herauf. Er bestand aus massivem Gold und ließ sich nur mit Mühe hochziehen. Schließlich die Arche selbst. Und in ihr die Tafeln mit den Zehn Geboten!

Als sie schließlich Berechia wieder hochzogen, war er kreidebleich und zitterte. »Ich mußte dauernd an Uzzah denken«, keuchte er.

Baruch kannte die Geschichte. Als König David die Lade nach Jerusalem hatte bringen lassen, war einer der Ochsen, die sie getragen hatten, ins Straucheln gekommen. Uzzah, der in der Nähe gegangen war, hatte nach der heiligen Truhe gegriffen, um sie nicht herunterfallen zu lassen, und hatte damit den Herrn so erzürnt, daß dieser ihn augenblicklich niederschmetterte.

»Uzzah starb nicht deshalb, weil er die Arche berührt hatte«, sagte Jeremias, »sondern weil er daran gezweifelt hatte, daß der Herr sie beschützen würde.«

»Aber tun wir nicht das gleiche, wenn wir sie jetzt verstecken?«

»Jahwe ist es, der auch jetzt die Lade beschützt, und wir sind dabei nur seine Werkzeuge«, sagte Jeremias scharf zu dem Jungen. »Und nun komm. Unsere Arbeit hat eben erst begonnen.«

 

Shimor und Hilak führten sie auf direktem Weg zu den Schätzen und den anderen heiligen Dingen, auf die sie sich geeinigt hatten.

Es war Baruch, der die kupferne Schriftrolle entdeckte und vorschlug, sie mitzunehmen und auf ihr die Verstecke der Schätze festzuhalten. Kupfer war haltbarer als Pergament und ließ sich auch besser reinigen, wenn es einmal im Sinne der Riten unrein geworden war.

Ein Kamel schleppte die Lade und die Tafeln mit den Geboten fort vom Tempel Salomons, ein Esel trug den Deckel. Wie knorrige Stöcke, die aus einer Ladung von Reisigbündeln herausragen, beulten die Flügel der Cherubim das rauhe Tuch aus, das man über sie gezogen hatte.

 

Baruch war in die Verschwörung eingeweiht worden, weil er ein Schreiber war. Jetzt befahl ihm Jeremias, jeden der Orte, zu denen er die dreizehn anderen Männer einen nach dem anderen schickte, um dort die heiligen Gegenstände zu verstecken, auf der Schriftrolle festzuhalten. Die Männer kannten nur die Genisot, zu denen sie persönlich geschickt wurden, ansonsten wurde ihnen keines der Schatzverstecke verraten. Nur Baruch kannte alle Verstecke und was sie beinhalteten.

Warum vertraute man ihm als einzigem so sehr?

Die Antwort auf diese Frage wurde Baruch erst klar, als er von einem heftigen Anfall seiner Krankheit heimgesucht wurde, bei dem der Schmerz ihm den Atem in der Brust gefrieren ließ und seine Hände zu blutleeren, blau angelaufenen Klauen wurden.

Jeremias hatte erkannt, daß Malach ha-Mavet, der Todesengel, bereits wie eine Prophezeiung über Baruch schwebte. Sein nahender Tod war ein Teil der Verantwortung, die Baruch trug.

 

Die Bukki-Priester konnten immer noch nicht einsehen, daß sich ihre Welt verändern würde, aber alle anderen konnten den Krieg förmlich nahen sehen. Holzstapel wurden auf die Stadtmauern gebracht, damit man im Falle einer Belagerung Öl erhitzen und von oben auf die Angreifer gießen konnte. Jerusalem verfügte über ausreichend Quellwasser, aber Nahrungsmittel waren knapp. Also wurde das gesamte Getreide, das sich in der Stadt befand, zusammengeholt und bewacht, und alle Viehherden wurden angesichts der drohenden Gefahr von den Behörden beschlagnahmt.

Baruch taten diejenigen leid, die diese Belagerung überleben mußten, deshalb verschwendete er auch kein Mitleid an sich selbst, obwohl ihn die Schmerzen schließlich so sehr schwächten, daß er weder die Ahle halten noch den Hammer heben konnte.

Ein anderer würde die Arbeit zu Ende bringen müssen. Von den dreizehn anderen Männern hätte sich Abiathar, der Levit, wohl am besten zum Schreiber geeignet, aber Baruch dachte mittlerweile selbst schon so wie Jeremias, und deshalb fiel seine Wahl auf Hezekiah. Dieser fand seine neue Aufgabe beschwerlich, denn er war Soldat und kein Schreiber, aber als Anführer der Schwertkämpfer würde er zweifellos beim Kampf auf den Mauern ums Leben kommen und sein Geheimnis mit ins Grab nehmen.

 

An dem Morgen., an dem die Stadttore verbarrikadiert worden waren, ließ Baruch sich auf die Mauer tragen und sah, daß über Nacht der Feind gekommen war. Seine Zelte erstreckten sich wie die Steinchen eines riesigen Mosaiks bis zum Horizont.

Baruch und Hezekiah begaben sich zur Höhle und schrieben den letzten Absatz:

In der Grube unter der Sakhra, nördlich des Großen Kanals, liegt in einem Rohr, dessen Öffnung nach Norden zeigt, dieses Dokument mit einer Aufstellung und Erklärung aller versteckten Gegenstände.

Baruch wartete, bis Hezekiah den letzten Buchstaben ins Kupfer gehämmert und das Dokument zusammengerollt hatte. Draußen vor der Mauer galoppierten bereits fremde Männer mit kurzen Bärten und hohen Spitzhüten auf struppigen Ponys um die Stadt Davids.

»Und jetzt versteck die Schriftrolle«, sagte er.

2

Der Diamanten-Mann

In Harry Hopemans Büro gab es einen von einer Seite her durchsichtigen Spiegel, der es ihm erlaubte, unbeobachtet auf den gediegenen Reichtum in den Verkaufsräumen der Firma Alfred Hopeman & Sohn nebenan hinabzublicken. Wände, Teppiche und Möbel waren in sanftem Schwarz oder sattem Grau gehalten, und die Beleuchtung bestand aus klarem, weißem Licht, das der Hopeman-Kollektion ihr einzigartiges Funkeln verlieh und den ganzen Laden wie eine mit Samt ausgeschlagene Schmuckschatulle erscheinen ließ.

Harrys Besucher war ein Engländer namens Sawyer, von dem Harry wußte, daß er eben für verschiedene OPEC-Staaten Aktien von amerikanischen Firmen gekauft hatte. Es war allgemein bekannt, daß Sawyer die OPEC außer mit Aktien auch noch mit Informationen für deren schwarze Liste belieferte, auf der alle amerikanischen Firmen standen, die Geschäfte mit Israel machten. »Einer meiner Kunden hat Interesse an einem großen Diamanten«, sagte Sawyer.

Vor acht Monaten hatte ein Kunde aus Kuwait bei Hopeman & Sohn eine Halskette bestellt, dann aber den Auftrag von einer Minute auf die andere storniert. Seitdem hatte die Firma nichts mehr in die arabischen Länder verkauft. »Ich lasse Ihnen gerne von einem meiner Angestellten etwas Passendes zeigen«, sagte Harry gedankenverloren.

»O nein. Meine Auftraggeber wollen einen bestimmten Diamanten, der im Heiligen Land zum Verkauf angeboten wird.«

»Wo?«

Sawyer hob eine Hand. »In Israel. Meine Auftraggeber möchten gerne, daß Sie dorthin fliegen und den Diamanten für sie kaufen.«

»Es ist schön, wenn man gebraucht wird.«

Sawyer zuckte mit den Achseln. »Sie sind eben Harry Hopeman.«

»Und wer sind Ihre Auftraggeber?«

»Ich bin nicht befugt, das zu sagen. Sie verstehen schon.«

»Dieser Auftrag interessiert mich nicht«, sagte Harry.

»Mr. Hopeman. Es wäre ja nur eine kurze Reise, die Ihnen wichtige Türen öffnen und eine Menge Geld einbringen würde. Wir sind doch Geschäftsleute. Lassen Sie doch bitte die Politik aus …«

»Mr. Sawyer! Wenn Ihre Auftraggeber wollen, daß ich für sie arbeite, dann müssen sie mich schon selber fragen.«

Der Besucher seufzte. »Guten Tag, Mr. Hopeman.«

»Auf Wiedersehen, Mr. Sawyer.«

Aber der Mann drehte sich noch einmal um. »Könnten Sie mir vielleicht jemanden empfehlen, der über eine ähnlich große Sachkenntnis verfügt wie Sie?«

»Würde man dann meine Firma von der Liste der boykottierten Unternehmen streichen?«

»Was für eine Liste?« fragte Sawyer verschlagen. Weil er aber ein Geschäft witterte, entfaltete sich ein zuvorkommendes Lächeln auf seinem Gesicht. Auch Harry lächelte. »Ich fürchte, daß ich einmalig bin«, sagte er.

Am Nachmittag war die Befriedigung über den Verlauf dieser Begegnung bereits wieder verflogen.

Auf Harrys Tisch lagen Bestandsverzeichnisse und Verkaufszahlen, der ganze Papierkrieg, den er so haßte. Der Mann, der die Juwelenschleiferei in der West Forty-seventh Street leitete, und die Frau, der das elegante Schmuckgeschäft von Alfred Hopeman & Sohn in der Fifth Avenue unterstand, waren beide darauf getrimmt, ohne seine Hilfe zurechtzukommen. Dadurch konnte er sich darauf konzentrieren, den Grundbesitz der Firma zu verwalten und sich einem erlesenen Kreis von persönlichen Kunden zu widmen, der hauptsächlich aus Superreichen, die seltene Juwelen kauften, und Museumskuratoren, die an Edelsteinen von religiöser und historischer Bedeutung interessiert waren, bestand. Diese Geschäfte waren es, die den meisten Profit abwarfen, aber solche Transaktionen fanden nicht jede Woche statt. Und so mußte es eben auch Tage wie diesen geben.

Tot und leer.

Harry wählte ohne den Umweg über seine Sekretärin eine Telefonnummer.

»Hallo. Soll ich für ein Weilchen zu dir rüberkommen?« Zögerte sie, bevor sie zustimmte?

»Schön«, sagte er.

 

Als er auf dem Rücken lag, die Wange an den Rand der Matratze gepreßt, sagte ihm die Frau, deren lange Haare wie ein Fächer über das Kissen gebreitet waren, daß sie umziehen wolle.

»Wohin denn?«

»In eine kleinere Wohnung. Meine eigene.«

»Aber hier ist doch deine Wohnung.«

»Ich will sie nicht mehr. Und ich will auch keine Schecks mehr von dir, Harry.« Sie mußte ihre Stimme erheben, damit er sie durch das Geräusch aus dem Fernseher überhaupt hören konnte. Sie bestand darauf, daß jedes Mal, wenn sie sich liebten, der Fernseher lief, denn die Wände ihrer Wohnung waren zwar teuer, aber dünn. Trotz der Lautstärke war kein Ärger in ihrer Stimme.

»Was soll denn das?« wollte Harry wissen.

»Ich habe neulich etwas über Rehe gelesen. Kennst du dich mit Rehen aus, Harry?«

»Nicht die Bohne.«

»Rehe vögeln nicht in der Gegend herum. Sie tun es nur, wenn sie brünftig sind. Dann bespringt der Bock irgendein weibliches Reh, und sobald er fertig ist, haut er wieder ab.«

»Wenn er Bock draufhat …«

Sie lächelte nicht. »Entdeckst du da nicht eine gewisse… Ähnlichkeit?«

»Verschwinde ich etwa auch wie der Blitz im Unterholz?«

»Harry Hopeman ist kein Tier, er ist Geschäftsmann. Er sorgt dafür, daß die Dinge in Ordnung sind, damit er sie später wieder benützen kann. Erst dann geht er fort.« Harry stöhnte.

»Ich bin kein Ding, Harry.«

Er hob den Kopf. »Wenn du den Eindruck hast, daß ich dich … benütze, wie erklärst du dir dann die vergangenen zwei Monate?«

»Du hast mich fasziniert«, sagte sie ruhig und sah ihn an. »Dein Haar, diese bronzene Farbe mit den rötlichen Strähnen. Und um deine Haut würden dich die meisten Frauen beneiden.«

»Dann müßten sie sich aber zweimal am Tag rasieren.«

Sie lächelte nicht. »Mir gefallen deine Raubtierzähne. Sogar deine zerdrückte Nase, die aussieht wie die eines Footballstars.«

Harry schüttelte den Kopf. »Ein Typ hat mir draufgeschlagen. Vor langer Zeit.«

Jetzt lachte sie. »Das paßt. Du schaffst es, sogar solche kleinen Tragödien in Aktivposten zu verwandeln.« Sie fuhr mit ihren Fingerspitzen über die schwarzen Härchen auf seinem Handgelenk. »Ich brauchte bloß deine Hände ansehen, um… Du hast perfekte Hände. Und du bewegst sie so kontrolliert. Wie oft habe ich mitten unter der Arbeit dir zugesehen, wie du eine Perle oder einen Stein ans Licht gehalten hast.« Sie lächelte. »Ich war bereit für dich, lange bevor du es wußtest. Ich dachte, ich könnte dich an Land ziehen. So jung und schon so reich. So schön auf deine schlichte Art. Ich dachte, daß deine Frau entweder den Verstand oder ihre Anziehungskraft auf dich verloren haben mußte, als sie aus eurem Haus auszog.«

Er sah sie an.

»Ich hatte vor, genau den passenden Moment abzuwarten, um den ganz großen Treffer zu landen.«

»So ein Hauptgewinn bin ich ja nun auch wieder nicht«, sagte er. »Es kam mir nie in den Sinn, daß du es wirklich so ernst gemeint hast.«

Die Finger, die früher seine Briefe getippt hatten, streichelten jetzt seine Wange. »Der passende Moment wird nie kommen. Brauchst du mich denn, Harry? Willst du mich überhaupt?«

Harry verspürte Gewissensbisse. »Hör zu«, sagte er, »mußt du uns das wirklich antun?«

Sie nickte. Nur ihre Augen verrieten sie.

»Zieh dich an und sag Lebwohl, Harry«, sagte sie fast zärtlich.

 

Die Forty-seventh Street zwischen der Fifth und der Sixth Avenue hatte Harry bereits fasziniert, als er noch ein junger Mann gewesen war, der, wie alle, die das Diamantengeschäft erlernen wollten, hart arbeiten mußte. Irgendwie hatte ihm diese Straße ein Gefühl der Geborgenheit gegeben. Sie war eines der reichsten Pflaster der Welt, aber Harry war die Reihe von schäbigen, schmuddeligen Geschäften immer wie ein abgerissener Einsiedler vorgekommen, der Säcke voller Geld unter seiner Matratze versteckt hatte. Es gab ein paar Ausnahmen – einen berühmten, alten Buchladen, zum Beispiel, und eine Schreibwarenhandlung. Der Rest der Straße aber gehörte der Diamantenindustrie, die hier selbstbewußter auftrat als in der Oberstadt. Hier – und an ein paar anderen, von diesem grundverschiedenen Orten – fühlte sich Harry Hopeman zu Hause.

Er ging an einem gerade dem Jünglingsalter entwachsenen Mann vorbei, der wie ein Wasserfall auf einen Mann einredete, der sein Großvater hätte sein können. Am Fenster des Ladens, vor dem die beiden standen, klebte ein zerrissener, verblichener Zettel:

Das Ansprechen von Passanten
zum Zweck des Geschäftemachens ist

PER GESETZ VERBOTEN

Lizenz Nummer 435-10.1

Komitee zur Selbstkontrolle der Juweliere

»Nein, aber ich habe etwas ganz Ähnliches«, sagte der Junge mit ernster Miene. »Und außerdem gebe ich Ihnen einen Riesenrabatt drauf.«

Harry grinste und dachte an seine eigene Lehrzeit auf diesem Gehsteig.

Die Läden hier waren buchstäblich nur Fassade. Die wirkliche Forty-seventh Street fand man in den kleinen Gruppen orthodoxer Juden, die wie Inseln im Strom der Menge auf dem Trottoir standen und in ihren langen, graubraunen Kaftans und breitkrempigen, pelzbesetzten Hüten, die sie Streimel nannten, wie semitische Quäker wirkten. Manche von ihnen hatten auch dunkle Filzhüte und moderne, schwarze oder dunkelblaue Anzüge an. Harry nickte denjenigen, die er kannte, grüßend zu. Manche untersuchten den Inhalt kleiner Päckchen aus verknittertem Seidenpapier, wie kleine Jungen, die Murmeln tauschten  – nur daß sie mit diesen Murmeln die Ausbildung ihrer Kinder, Goldzähne, Miete, Essen und die monatliche Spende für die Synagoge, die Schul, finanzierten.

Ein oberflächlicher Betrachter hätte das, was diese Männer da beäugten, nicht wahrgenommen. Diamanten sind der einfachste Weg, um eine große Summe Geld auf kleinstem Raum zusammenzupressen. Die Mehrzahl der Männer waren Zwischenhändler, die die Steine – oft auf Kredit – von Importeuren wie Harrys Vater bekamen und sie dann an die Juweliere weiterverkauften. Die meisten von diesen Zwischenhändlern hatten keine Verkaufsräume, ja oft nicht einmal ein Büro. Bei schlechtem Wetter machten sie ihre Geschäfte statt auf der Straße bei einer Tasse Kaffee oder in den Gängen und im Schauraum des Diamond Dealers Club, wo auch viele ihre Schätze über Nacht im Tresorraum einschlossen.

Manche von diesen Händlern brachten es irgendwann zu einem winzigen Büro im Straßengewirr beiderseits der Forty-seventh Street. Nur wenige kamen noch weiter nach oben. Ein paar der wirklich reichen Männer Amerikas hatten als einer dieser kleinen Diamantenhändler begonnen, die ihre Geschäfte auf dem Gehsteig abwickelten, ihr Büro in der Tasche mit sich herumtrugen und auf Jiddisch verhandelten, bis schließlich statt eines Vertrags ein Handschlag das Geschäft besiegelte.

Harry ging die Fifth Avenue hinauf in die Gegend, in der der mehr offizielle Diamantenhandel zu Hause war, und bewunderte im Schaufenster von Tiffany & Co. kurz einen wunderschönen, als Brosche gefaßten weißen Solitär, der gut und gerne seine 58 Karat hatte. Es war ein beeindruckender Stein, aber kein Diamant, um den sich Legenden ranken konnten. Harry aber handelte mit genau diesen Legenden.

Er genoß jeden Blick, auch wenn er noch so flüchtig sein mochte, den er von einem der wenigen sagenumwobenen Steine erhaschen konnte. Schon in seiner Kindheit hatte er all die Geschichten über die Halskette der Queen, den Großmogul, den Orloff den Stern von Afrika und das Auge des Brahma begierig aufgesogen. Die meisten dieser berühmten Diamanten waren für immer in tiefen Tresorgewölben weggeschlossen und in diesem Jahrhundert nur ganz wenigen Menschen zu Gesicht gekommen, aber die Männer, die sich am Sonntag vormittag zu einer Tasse schwarzen Tee in der Wohnung von Harrys Vater trafen, sprachen ganz vertraut von ihnen, so, wie ihre Väter es ihnen erzählt hatten.

Manche der alten Diamantenhändlerfamilien erinnerten Harry an die Waldmurmeltiere, die an den Ufern des Hudson gediehen. Die Familien wuchsen, und wenn es zu Hause zu eng wurde, suchten sich die Jungen, ganz wie bei den Murmeltieren, ein neues Revier, und so kam es, daß französische, englische, deutsche, italienische, holländische und belgische Zweige derselben Familie zur gleichen Zeit das Juweliergeschäft betrieben.

Ein paar Diamantenhändler können ihre Familie viele Generationen zurückverfolgen, was in einer Zeit, in der die meisten Menschen nicht einmal mehr etwas von ihren Urgroßeltern wissen, recht beachtlich ist. Von solchen Leuten sagt man auf Jiddisch, sie hätten Yikhus Avot, eine hohe Abstammung. Alfred Hopeman, Harrys Vater, sagte immer voller Stolz, daß er ein Nachfahre von Lodewyk van Berken sei.

Bis zum Auftreten dieses jüdischen Edelsteinschleifers aus Brügge war es einem glücklichen Zufall der Natur zu verdanken gewesen, wenn ein Diamant geglitzert hatte; polieren hatte man sie damals nur durch das Aneinanderreiben von zwei Steinen können. Van Berken hatte Mathematik studiert und klügelte 1467 eine präzise Anordnung von Facetten aus, die er mit Hilfe einer sich schnell drehenden, mit einer Mischung aus Diamantenstaub und Olivenöl beschichteten Scheibe in die Steine schliff. Mit dieser Methode, die er fortan als ein Familiengeheimnis hütete, war es ihm möglich, jeden Diamanten so zu schleifen, daß er sein ganz spezielles Feuer offenbarte. Van Berkens Nachkommen wurden aufgrund der von ihm weitergegebenen Kunst zu den Begründern der holländischen und der belgischen Diamantenindustrie und den führenden Juwelenlieferanten vieler europäischer Höfe. Einer von ihnen hatte einen Stein geschliffen, der später als der Diamant der Inquisition Berühmtheit erlangen sollte, und zwar im Tausch gegen das Leben eines spanischen Vetters, der andernfalls als Ketzer verbrannt worden wäre.

Diese und ähnliche Geschichten hörte der junge Harry in einem Alter, in dem anderen Kindern Märchen erzählt wurden.

In den Sommerferien seines zweiten Jahres auf der Columbia University kam Harry zum ersten Mal nach Europa. In Antwerpen, wo die Diamantenindustrie bis heute einer der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren ist, fand er damals ein Denkmal von Lodewyk van Berken, das den Meister in dem für seinen Beruf typischen Lederwams darstellte. Er hatte den linken Arm in die Hüfte gestützt und betrachtete aufmerksam einen Diamanten, den er sich mit rechtem Daumen und Zeigefinger vors Auge hielt.

Harry konnte in den hausbackenen Gesichtszügen der Statue nur wenig Familienähnlichkeit erkennen, aber er mußte daran denken, wie ihm sein Vater Van Berkens Methode zum Edelsteinschleifen, die sich in den vergangenen fast fünfhundert Jahren so gut wie nicht verändert hatte, beigebracht hatte. Alfred Hopeman hatte diese Methode wiederum von seinem Vater gelernt, ebenso wie unzählige Generationen vor ihm, die von Lodewyck van Bergen abstammten.

»Bist du wirklich mit dem verwandt?« fragte das Mädchen, mit dem er damals für ein paar Tage unterwegs gewesen war.

Sie war eine kühle Blondine, die Enkelin eines Bischofs der Episkopalkirche. Sie hielt Juden für etwas aufregend Exotisches, und Harry hatte von dieser Auffassung profitiert.

»Das sagt jedenfalls mein Vater.«

»Dann mach uns bitte miteinander bekannt.«

Mit feierlicher Förmlichkeit stellte Harry das Mädchen der Statue vor.

Eine Woche später, als sie sich in Polen das Konzentrationslager in Auschwitz ansahen, wo die tschechischen Verwandten seines Vaters umgebracht worden waren, war Harry überwältigt von Trauer und Schmerz über diese toten Juden, die sein eigen Fleisch und Blut gewesen waren, und das kühle, blonde Mädchen war zu Harrys Überraschung so tief ergriffen, daß es fast hysterisch wurde. Ein paar Tage vorher, in Antwerpen, hatte sie noch ein Geschichtsverständnis wie ein Fernsehkomiker gehabt. »Komisch, der sieht nicht jüdisch aus«, hatte sie mit einem Blick auf das Denkmal gesagt.

 

Als Harry zurück in sein Büro kam, waren einige Anrufe für ihn eingegangen. Zuerst rief er bei einer Nummer in Kalifornien zurück.

»Harry? ›Mit Gott für Harry, England und den heiligen Georg!‹«

Die Stimme, die sonst Millionen von Menschen begeisterte, war ein undeutliches Genuschel. Der Schauspieler war einer der leidenschaftlichsten Diamantensammler der Welt. Momentan allerdings befand er sich in einer von den Medien hämisch kommentierten Persönlichkeitskrise.

»Was gibt es, Charles?«

»Harry, Sie müssen mir helfen. Ich brauche wieder mal einen Stein.«

Harry fragte sich, was es wohl diesmal sein sollte: Ein Versöhnungsgeschenk an eine laufende oder ein Pflichtgeschenk an eine vorübergehende Affäre? »Soll es etwas Großes sein, Charles? Oder eher etwas Nettes, Kleines?«

Der Schauspieler verstand sofort, worauf Harry hinauswollte. »Groß soll er sein, Harry. Und außergewöhnlich obendrein. Ich brauche etwas wirklich Beeindruckendes.«

Also ein Versöhnungsgeschenk. »Das höre ich gerne, Charles. Aber so einen Stein kann man nicht von heute auf morgen besorgen. Wie eilig ist es denn?«

»Sie ist grade nach Spanien geflogen. Wir haben also ein wenig Zeit.«

»Wunderbar. Und, Charles…« Harry zögerte. »Ich freue mich für Sie.«

»Vielen Dank, Harry. Sie sind ein wahrer Freund.«

Als nächstes rief Harry eine Frau aus Detroit an, die schon seit einiger Zeit versuchte, ihren Ehemann davon zu überzeugen, einen Teil ihres gemeinsamen Kapitals in einen blauweißen Diamanten von 38,26 Karat anzulegen.

»Und Sie halten das nach wie vor für eine gute Investition?« wollte die Frau von Harry wissen.

»In den vergangenen fünf Jahren hat sich der Wert solcher Steine praktisch verdreifacht.«

»Dann schätze ich, daß ich meinen Mann herumbekommen kann«, sagte sie.

Harry war sich da nicht so sicher.

Als er dreiundzwanzig Jahre alt war, hatte er einmal einen großen weißen Diamanten aus Indien als Kommissionsware verkaufen können. Der Händler, der ihm den Stein ohne Hinterlegung von Sicherheiten anvertraut hatte, hatte das nur getan, weil er ein langjähriger Bekannter von Harrys Vater war. Es hatte keine zwei Wochen gedauert, bis er den Diamanten einer Ölmillionärin, der Mutter einer Kommilitonin aus Tulsa, Oklahoma, verkauft hatte. Bei diesem, seinem ersten erfolgreichen Diamantenhandel hatte Harry eine fast sexuelle Erregung verspürt. Aber das Gefühl, das Harry zunächst für eine körperliche Empfindung gehalten hatte, war nichts anderes als das Prickeln seiner Intuition gewesen, das er damals zum erstenmal präzise und intensiv verspürt hatte.

Als jetzt dieses innere Radar nicht anschlug, hatte Harry den starken Verdacht, daß die Frau aus Detroit wohl eher nicht seine Kundin werden würde.

»Drängen Sie Ihren Gatten nicht, Mrs. Nelson. Einen so großen Stein kauft man nicht auf die Schnelle. Er wird Ihnen schon nicht weglaufen.«

Sie seufzte. »Ich melde mich wieder bei Ihnen.«

»Tun Sie das.«

Der nächste Anruf ging an Saul Netscher bei S.N. Netscher & Co., Import und Export von Industriediamanten.

»Harry, ein Mann namens Herzl Akiva würde sich gerne mit dir treffen.«

»Herzl Akiva?« Harry blätterte durch die Gesprächsnotizen und fand diejenige, nach der er suchte. »Ja, der hat bereits hier im Büro angerufen. Der Name klingt israelisch.« Harry schwante nichts Gutes. Netscher war der beste Freund seines Vaters und ein hartnäckiger Spendeneintreiber für die Sache des Staates Israel. »Er ist im New Yorker Büro einer Textilfirma. Schau doch mal bei ihm vorbei.«

Textilfirma? Harry war erstaunt. »Natürlich werde ich das, wenn ich dir damit einen Gefallen tun kann.«

»Danke. Und wann sehen wir uns wieder einmal?«

»Laß uns zusammen zu Mittag essen. Ende der Woche vielleicht? Halt, das geht bei mir nicht. Anfang nächster Woche wäre besser.«

»Wann du willst. Du kennst ja meine Einstellung. Ich überlasse deinem Vater die Kopfschmerzen bei deiner Erziehung und heimse bloß die Freuden ein.«

Harry lächelte. Er hatte Saul sehr gerne, aber manchmal war es auch von Nachteil, zusätzlich zu einem leiblichen Vater noch einen anderen alten Mann zu haben, der Ansprüche an einen stellte. »Ich ruf dich an.«

»Okay. Bleib gesund, mein Junge.«

»Du auch, Saul.«

Aus einem Impuls heraus rief Harry als nächstes seine Frau an, obwohl von ihr keine Nachricht vorlag.

»Della?«

»Harry?« Ihre Stimme klang wie immer warm und lebendig. Aber er war lange genug mit ihr verheiratet, um nicht zu hören, wie sie kaum hörbar schnaufte. »Wie geht es dir?«

»Mir geht es gut. Ich wollte nur wissen ob du… etwas brauchst.«

»Ich glaube nicht, Harry. Aber es ist lieb, daß du dir Gedanken machst. Ich bin am Dienstag zu Jeff ins Internat gefahren und habe ihn besucht«, sagte sie. »Das Wochenende mit dir hat ihm gut gefallen.«

»Ich war mir nicht ganz sicher, weil ich am Sonntag arbeiten mußte.«

»O Harry«, sagte sie matt. »Es war doch schon schlimm genug für Jeff, daß wir ihn wegen deiner … Situation ein Jahr früher aufs Internat schicken mußten. Diese Trennung hat ihn am meisten von uns allen mitgenommen.«

»Das weiß ich. Aber Jeff ist in Ordnung.«

»Das hoffe ich. Ich bin froh, daß du angerufen hast«, sagte sie. »Können wir heute abend zusammen essen? Wir sollten ein paar Dinge wegen Jeffs Bar-Mizwa besprechen.«

»Wegen der Bar-Mizwa? Du meine Güte, bis zu seiner Bar-Mizwa ist es doch noch Monate hin.«

»Harry, solche Sachen muß man Monate im voraus organisieren. Würdest du lieber morgen abend mit mir essen?«

»Morgen hin ich zum Abendessen bei meinem Vater. Aber ich könnte ihn ja anrufen und …«

»Tu das bitte nicht«, sagte sie rasch. »Aber grüße ihn ganz herzlich von mir, tust du das?«

»Das werde ich. Und über Jeffs Bar-Mizwa sprechen wir bald einmal.«

»Danke, daß du angerufen hast. Das meine ich ernst.«

»Auf Wiedersehen, Della.«

»Bis bald, Harry«, sagte sie mit ihrer klaren Stimme.

 

Der Lamborghini, den Harry selber fuhr, war gerade in einer Werkstatt in East Nyack zur Inspektion, und so kam Sid Lawrenson, Harrys Mädchen für alles, herein nach Manhattan und holte ihn mit dem zweiten Wagen, einem drei Jahre alten Chrysler, ab. Lawrenson fuhr, so schnell er konnte, durch die verhaßte Stadt nach Norden, bis schließlich der Verkehr immer dünner wurde und sie im Westchester County waren. Hier bogen sie auf einer Nebenstraße in eine elegante, überteuerte Wohngegend ab, deren Häuser auf sanften Hügeln zwischen alten Lorbeerbäumen und Rhododendronbüschen standen. An einem Torhaus vorbei fuhren sie eine serpentinenförmig gewundene Auffahrt hinauf, die von einem kleinen Wäldchen aus hohen Eichen, Platanen und Nadelbäumen vor neugierigen Blicken von der Straße her verborgen wurde.

Die Hälfte des herrschaftlichen Wohnhauses war Anfang des 18. Jahrhunderts vom Nachkommen eines Mitglieds der holländischen westindischen Kompanie erbaut worden; die andere Hälfte hatte man mehr als ein Jahrhundert später hinzugefügt, aber so geschickt, daß man kaum sagen konnte, wo der eine Teil des hübschen Kolonialgebäudes endete und der andere begann. »Ich brauche Sie heute abend nicht mehr, Sidney«, sagte Harry, als er aus dem Wagen stieg.

»Sind Sie… äh … sicher, Mr. Hopeman?«

Harry nickte. Lawrensons Frau Ruth, die im Hopemanschen Haus als Haushälterin fungierte, hatte einen ziemlich beherrschenden Charakter, und so vermutete Harry schon seit längerer Zeit, daß sich Sidney irgendwo, vielleicht sogar im nahegelegenen Dorf, eine etwas weniger kratzbürstige Freundin hielt.

»Dann werde ich ein paar Besorgungen machen.«

»Viel Spaß dabei.«

Harry zog sich um und aß in Jeans und Pullover das Abendessen, das Ruth gekocht hatte. Nach der Trennung der Hopemans hatte die mürrische Haushälterin, die Della geliebt, Harry aber lediglich gemocht hatte, keinen Zweifel daran gelassen, für wen sie und ihr Ehemann lieber gearbeitet hätten. Aber Della war in eine kleine Wohnung in der Stadt gezogen, wo sie nur noch zweimal die Woche eine Putzfrau brauchte, und so waren die Lawrensons im Haus geblieben, und Harry – ebenso wie Sidney, dachte er mit plötzlichem Amüsement – hatte allen Grund, dafür dankbar zu sein. Nach dem Essen ging er in sein gemütliches, vollgestopftes Arbeitszimmer im ersten Stock. In einer Ecke stand ein Arbeitstisch zum Edelsteinschleifen, auf dem sich neben Sägen, Feilen und einer Poliermaschine auch einige Bergkristalle und Halbedelsteine in verschiedenen Stadien des Schliffs befanden. Der Rest des Raumes war eher ein Studierzimmer als eine Werkstatt. Auf einem Tisch stapelten sich mit handschriftlichen Kommentaren versehene Bücher und Manuskriptseiten, und in den Regalen befand sich eine merkwürdige Sammlung unterschiedlichster Zeitschriften – BIBLISCHE ARCHÄOLOGIE, EDELSTEINE UND MINERALIEN, ORIENS ANTIQUUS, das JOURNAL FÜR DEN EDELSTEINSCHLEIFER, das ARCHIV DER ISRAELISCHEN FORSCHUNGSGESELLSCHAFT und die ZEITSCHRIFT DER DEUTSCHEN MORGENLÄNDISCHEN GESELLSCHAFT.

Die Nacht versprach für eine Frühlingsnacht sehr mild zu werden, und so öffnete Harry das Fenster, um die vom Fluß heraufwehende Brise hereinzulassen, bevor er sich an den Tisch setzte und zu arbeiten begann. Heute abend wollte er noch die Recherchen für einen Zeitschriftenartikel mit dem Titel: »Kaiserlich-russische Juwelen von der Kasan-Krone Iwans bis zum edelsteinbesetzten Brustharnisch von Michail Feodorowitsch Romanow« zu Ende bringen. Immer wenn Harry sich mit dieser Epoche beschäftigte, wußte er es besonders zu schätzen, daß er als freier Mann im Amerika des zwanzigsten Jahrhunderts lebte, Hunderte von Jahren nachdem jene slawischen Juwelenliebhaber, die sogar ihre Pantoffeln mit kostbaren Steinen versahen, sich ihren kaiserlichen Prunk mit dem Blut von Millionen ihrer Untertanen erkauft hatten. Er las schnell, machte sich auf kleinen Karteikarten in seiner sauberen, wenn auch ein wenig verkrampften Handschrift Notizen und war zum erstenmal an diesem Tag glücklich.

 

Ein paar Stunden später klopfte es an der Tür.

»Es ist jemand für Sie am Telefon«, sagte Ruth Lawrenson.

»Worum geht’s denn?« Normalerweise störte sie ihn nie bei der Arbeit.

»Ich weiß es nicht. Es ist ein Mann namens Akiva dran, der sagt, es sei sehr wichtig.«

»Sagen Sie ihm, er soll mich morgen anrufen. Im Büro.«

»Das habe ich schon. Er besteht darauf, daß es dringend sei.«

Harry ging zum Telefon und sagte ziemlich knapp: »Hallo?«

»Mr. Hopeman? Ich glaube, Mr. Saul Netscher hat Ihnen von mir erzählt.«

Die Stimme hatte einen Akzent, den Harry normalerweise mochte. Sie klang wie die eines Mannes, der Englisch als zweite Sprache bei den Briten gelernt hatte. »Ja. Aber im Moment bin ich leider sehr beschäftigt.«

»Ich bitte Sie aufrichtig um Entschuldigung für die Störung. Aber ich muß mich in einer höchst wichtigen Angelegenheit mit Ihnen treffen.«

»Geht es um etwas Geschäftliches, Mr. Akiva?«

»Das könnte man sagen, Mr. Hopeman.« Er zögerte. »Aber es geht außerdem um noch viel mehr.«

»Dann kommen Sie bitte morgen vormittag in mein Büro.«

»Das wäre höchst unklug. Könnten wir uns nicht woanders treffen?« Die Stimme hielt inne. »Ich müßte übrigens auch dringend mit Ihrem Vater sprechen.«

Harry seufzte. »Mein Vater hat sich praktisch zur Ruhe gesetzt.«

»Bitte, haben Sie ein wenig Geduld mit mir. Sie werden alles verstehen, wenn wir uns getroffen haben.«

Harry spürte, wie sein inneres Radar ganz leicht anschlug.

»Ich werde morgen abend in der Wohnung meines Vaters in der East Sixty-third Street Nummer 725 sein. Könnten Sie um acht Uhr dort hinkommen?«

»Das paßt mir wunderbar, Mr. Hopeman. Shalom

»Shalom, Mr. Akiva«, sagte er.

 

Das Telefon weckte Harry um vier Uhr morgens. Als er abhob, hörte er ein Rauschen und zweisprachiges Wortgewirr.

»Pronto? Mr. Hopeman?«

»Hallo? Hallo?«

»Mr. Hopeman?«

»Ja. Wer, zum Teufel, spricht dort?«

»Bernardino Pesenti. Kardinal Pesenti.«

Bernardino Kardinal Pesenti war der Verwalter der Vatikanischen Kunstsammlungen. In seiner Obhut befanden sich neben unzähligen Gemälden und Statuen auch die vielen unbezahlbaren Antiquitäten des Vatikans – juwelenbesetzte Kreuze, byzantinisches Geschmeide, Altarbilder, Opferkelche und Taufschalen. Auf Kardinal Pesentis Vermittlung hin war es Harry vor ein paar Jahren gelungen, die Edelsteinkrone der Madonna von Tschenstochau käuflich zu erwerben. Er hatte damit der Erzdiözese von Warschau eine Erleichterung ihrer drückenden Schuldenlast und der Firma Alfred Hopeman & Son ein funkelndes Kleinod für ihre schwarzgraue Schmuckschatulle verschafft.

»Wie geht es Ihnen, Eminenz?«

»Meine Gesundheit erlaubt es mir, dem Heiligen Vater weiterhin zur Hand zu gehen. Und wie ist Ihr wertes Befinden, Mr. Hopeman?«

»Ausgezeichnet, Eminenz. Kann ich irgend etwas für Sie tun?«

»Das können Sie in der Tat. Haben Sie vielleicht in naher Zukunft einmal vor, nach Rom zu kommen?«

»Das plane ich eigentlich nicht. Aber ich kann es mir natürlich jederzeit einrichten.«

»Wir würden Sie gerne zu unserem Repräsentanten machen.«

»Bei einem Ankauf?« Die Kirche bekam ihre Schätze normalerweise vererbt. Ab und zu verkaufte sie einen Edelstein, aber Harry hatte noch nie erlebt, daß sie etwas käuflich erwerben wollte.

»Bei der Wiederbeschaffung eines gestohlenen Gegenstands.«

»Handelt es sich dabei um einen Edelstein oder um eine Antiquität, Eminenz?«

»Es geht um einen Diamanten, der im Heiligen Land zum Verkauf angeboten wird.« Kardinal Pesenti hielt inne. »Es ist Das Auge Alexanders, Mr. Hopeman.«

»Ist es wieder aufgetaucht?« Der Stein wurde seit Jahrzehnten, als man ihn aus dem Museum des Vatikans gestohlen hatte, vermißt. Sofort war Harrys Interesse geweckt. »Meine Familie hat viel mit diesem Stein zu tun gehabt.«

»Dessen sind wir uns bewußt. Einer Ihrer Vorfahren hat den Stein geschliffen, und ein anderer hat ihn als Teil der Tiara von Papst Gregor für die Heilige Mutter Kirche gefaßt. Ihr Vater selbst hat vor Jahren die Tiara und den Diamanten gereinigt. Und jetzt wären wir Ihnen dankbar, wenn Ihre Familie uns abermals zu Diensten sein könnte. Bringen Sie als unser Bevollmächtigter den Stein dorthin zurück, wo er hingehört.«

»Darüber muß ich erst nachdenken«, sagte Harry.

Es gab eine kurze, ungeduldige Pause. »Nun gut«, sagte Bernardino Pesenti schließlich. »Sie sollten hierherkommen und die Sache mit uns besprechen. In Rom ist es im Moment herrlich warm. Wie ist das Wetter in New York?«

»Ich weiß nicht. Draußen ist es stockfinster.«

»Ach, du meine Güte«, sagte der Kardinal schließlich.

Harry lachte.

»Daran denke ich nie«, sagte Kardinal Pesenti. »Ich hoffe, daß Sie schnell wieder einschlafen können.«

»Prego«, sagte Harry. »Ich werde Sie in ein oder zwei Tagen anrufen. Auf Wiedersehen, Eminenz.«

»Buona notte, Mr. Hopeman.«

Harry stand auf und legte den Hörer wieder auf die Gabel. Das Prickeln seiner Intuition war jetzt so stark, daß er es fast hören konnte. Er setzte sich auf die Bettkante und wartete darauf, daß es nachließ und er in Ruhe darüber nachdenken konnte, was eigentlich los war.