Buchcover

Clara Viebig

Töchter der Hekuba

Saga

1

Die Frau saß aufrecht im Bett. Sie horchte. Es war nichts zu hören. Wie war das früher anders gewesen! Da hatten die Söhne schon am Morgen das Haus mit Gepolter erfüllt, mit soviel frischem Leben. Jetzt war es still. Sie waren fort. Daß Heinz ging, war selbstverständlich, er hätte ohnehin gerade dienen müssen. Und er hatte immer den Wunsch gehabt, Offizier zu werden – was denn auch sonst? Besondere Talente hatte er nicht, fürs Studium keine Neigung; aber Mut, Tatkraft, körperliche Gewandtheit hatte er, gute Haltung und ein hübsches Gesicht. Als er das erste Mal heim kam über den Sonntag aus Spandau – als Fahnenjunker bei der Artillerie –, war etwas wie Stolz in ihr Herz gekommen. Wenn alle so aussahen wie Heinz und sich so leicht in die Anstrengungen des Dienstes schickten, dann konnte es Deutschland nicht fehlgehen. Unwillkürlich richtete sich die Frau höher auf; sie wendete den Kopf zum Nachttisch, auf dem neben ihrem Bett, in einem Rahmen vereint, die Bilder ihrer zwei Söhne standen. Ihr Mann hatte jeden von ihnen kurz vor dem Ausrücken noch photographieren lassen, die Mutter dann Weihnachten, am ersten Weihnachtsfest ohne die Kinder, damit überrascht. Es war gut von ihm gemeint gewesen, er gedachte sie zu erfreuen, aber sie hatte weinen müssen, so sehr weinen, daß er anfangs besorgt war, dann aber ärgerlich wurde: War es denn nicht selbstverständlich, daß die Söhne draußen waren, gesunde, kräftige Menschen? Wenn alle Mütter ihre Söhne nun hätten zurückhalten wollen, was dann? Und die Jungen lebten ja noch, ganz wohlbehalten.

Ja, Gott sei Dank, aber, aber – sie hatte selbst nicht mehr recht gewußt, was sie sagen wollte. Ach, daß ihr Jüngster auch gegangen war! Erst achtzehn; er hätte es noch nicht nötig gehabt. Aber der allgemeine Taumel hatte ihn mitgerissen. Aus der Schule kam er, die Bücher schleuderte er von sich, daß die zerfledderten Blätter umherflogen – wieder hatte ihn heute ein Lehrer gefragt: „Wie, Bertholdi, Sie sind noch immer hier? Sie sind doch groß und stark.“ Diese Schulmeister, oh diese Schulmeister! Die Bitten, die Vorhaltungen der Mutter: ‚Geh nicht! Du bist noch zu jung, du erträgst die Strapazen nicht‘, waren ganz vergebens. Sie waren eben alle nicht bei Sinnen gewesen, die Söhne nicht, die Lehrer nicht, die Väter nicht – alle nicht. Nur die Mütter sahen, wie es wirklich war; die ahnten, wie es kommen würde. Gekommen war.

Fröstelnd zog sich Hedwig Bertholdi die Decke höher an den Hals. Ihre Schultern beugten sich ganz nach vornüber, es legte sich ihr wie mit Eisengewicht ins Genick. Das war die Faust des Krieges.

Falsche Propheten, die damals verheißen hatten: Wenn der erste Schnee fällt, läuten die Glocken Frieden. Es war mehr daraus geworden, als nur ein kurzer Marsch durch Feindesland, als ein keckes Draufgehen, ein rascher Sieg. Der Schnee war gefallen und geschmolzen, Grün war ersprossen und erstorben – Frühling, Sommer, Herbst – Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat. Und wiederum war es Winter geworden, Frühling und Sommer. Nur die Natur hatte ihr Kleid verändert, unverändert stand noch der Krieg. Breit, groß, unerbittlich; jetzt schon fast mit grausamer Selbstverständlichkeit. Es roch nach Blut.

Die Frau schauderte. Ihre feinen Nasenflügel bebten. Durch die geöffnete Balkontür kam von der Straße der Duft der Linden herauf. Sie roch ihn nicht. Die Knie hochziehend, stützte sie beide Ellenbogen auf und barg das Gesicht in den Händen.

Ein Schmetterling wehte herein als flüchtiger Gast, eine Biene irrte ins Zimmer, beladen mit Blütenstaub, und umsummte sie. In der großen Linde, die breitgeästet im Vorgarten schattete, jagten sich zwitschernd ein paar Finken. Jenseits der Villenstraße in dem alten Park gurrten die Waldtauben.

So einsam! Mit einem Aufseufzen ließ die Frau die Hände vom Gesicht und strich sich die Haare zurück, die ihr, zu Zöpfen geflochten, wie einem jungen Mädchen herunterhingen. Der Kopf tat ihr weh, sie hatte schlecht geschlafen und gar keine Lust, aufzustehen. Die Mädchen besorgten ja alles, es war jetzt auch wirklich unwesentlich, was auf den Tisch kam und ob eine Stunde früher aufgeräumt wurde oder später.

Wann sie wohl wiederkamen?! Unruhig, wie suchend, wandte Frau Bertholdi den Kopf hin und her. Oh Gott, wie lange sollte sie denn noch warten? Nun wartete sie schon ein ganzes Jahr. Warten, immer warten. Täglich auf den Briefboten warten: Brachte er einen Brief von Heinz? Einen Brief von Rudolf? Einen Wisch, mit Bleistift geschrieben, verlöscht, kaum leserlich. Und doch immer und immer wieder gelesen, weggelegt, wieder hervorgeholt, jedes Wort herausbuchstabiert, überlegt, bedacht, daran herumgedeutet wie Schriftgelehrte an Hieroglyphen. Dieses langsame Entziffernmüssen hatte etwas so Peinvolles für das Herz, das dem Auge vorauseilt. Und wenn kein solcher Zettel kam? Dann wurden die Minuten Stunden, die Stunden Tage, die Tage Wochen – nein, Jahre.

Wie abwehrend streckte Hedwig Bertholdi beide Hände vor sich. Die weiten Ärmel des Nachthemds fielen von ihren zarten Gelenken zurück. Mit einem sich selber bemitleidenden Lächeln sah die Frau auf ihre Arme: Die waren sehr dünn geworden. Um Gottes willen, nur nicht noch einmal dieses schlimmste Warten wie letzthin! Da hatten sie alle beide nicht geschrieben, fast drei Wochen war von keinem eine Nachricht gekommen; nicht von Heinz aus den Argonnen und nicht von Rudolf, der im Osten stand. Sie war darüber schier vergangen, aß nicht, schlief nicht, die Kleider hingen ihr. Vergebens hatte ihr Mann sie zu beruhigen versucht: „Es ist Sperre. Andere haben auch keine Nachricht.“ Was gingen sie andere an? Ihr Mann sprach immer mit einer gewissen Bewunderung von der Nachbarin, der Witwe Krüger; aber das war eben eine Frau aus Bauerngeschlecht, so viel robuster. –

Der Garten der Frau Krüger stieß von hinten an das Bertholdische Grundstück. Er war noch ganz ländlich, mit Kartoffeln und Gemüse bestellt, ein Überbleibsel aus der Dorfzeit des Vororts. Der Mann lebte schon lange nicht mehr. Frau Krügers einziger Sohn Gustav war im Krieg. Sein Regiment war mit bei Dixmuiden gewesen – lauter junge Soldaten, die noch nicht wissen, was Krieg ist. Was eine Schlacht ist. Sie waren hineingelaufen wie Schafe, die ins Feuer rennen, ahnungslos, daß es sie verbrennt. Es waren ihrer viele gewesen. Frau Krüger hatte emsig die Verlustlisten studiert, ihres Sohnes Name hatte nicht darin gestanden. Darum war sie getrost.

Dreiviertel Jahr war schon verflossen seit Dixmuiden. Frau Bertholdi zog die Augenbrauen hoch: Wie konnte man nur so ruhig sein? Wenn sie dächte, sie sollte so lange warten wie die Frau Krüger! Keine Nachricht erhalten, nur immer warten, warten, bis –

Sie schreckte zusammen. Es hatte geklopft. Erschrocken sah sie nach der Tür.

Das Mädchen war es. „Gnädige Frau“, sagte die junge Person mit den blanken Augen und lächelte, „ich wollte ja nur fragen, ob gnädige Frau etwas wünschen? Der Herr hat gesagt, wir sollen nachsehen, wenn’s zehn ist. Der Herr wollte nicht stören, gnädige Frau schliefen noch.“

„Ich schlief nicht.“ Die Frau sagte es förmlich verletzt: Wie konnte er annehmen, sie schliefe? Nur die Augen hatte sie geschlossen gehalten, als er noch einmal den Kopf in ihr Zimmer steckte.

„Der Herr läßt grüßen“, sagte das Mädchen wieder. „Er ist in die Stadt gefahren. Es ist ein Brief gekommen heut morgen.“ Man sah ihr die Wichtigkeit an. „‚Heeressache‘ stand drauf.“

„Heeressache?!“ Die Frau fuhr auf.

Das Mädchen sah sie ganz mitleidig an. „Gnädige Frau sind immer gleich so ängstlich. Nein, was Schlimmes ist es nicht, der Herr war ganz vergnügt, als er fortging.“

Vergnügt – er konnte vergnügt sein?! Ein etwas verbitterter Zug kam in das schmale Gesicht der Frau.

„Soll ich jetzt das Frühstück heraufbringen?“

„Nein, danke, Emilie. Ich habe keinen Hunger.“

Das Mädchen zögerte noch. „Gnädige Frau, und dann ist die Frau Krüger unten. Sie wollte sehr gern den Herrn sprechen. Wir sind alle ganz aufgeregt. Wir meinen auch: Er ist es!“

„Wer denn?“ Frau Bertholdi wandte kaum den Kopf; es war ihr ja alles so gleichgültig, sie war nur ärgerlich über die Störung.

„Nun, der Gustav, der Krüger ihr Sohn. Sie hat doch ewig lange nichts von ihm gehört. Nun hat sie ’n Bild unten, ein Bild von Gefangenen. Da ist ihr Gustav mit bei. Sie möchte es der gnädigen Frau auch gern mal zeigen.“

Gustav Krüger – nicht möglich?! Nun war Hedwig doch nicht ganz teilnahmslos mehr. Sie verließ das Bett und warf einen Morgenrock über. „Lassen Sie Frau Krüger heraufkommen.“

Die Krüger stand auf der Schwelle des Schlafzimmers. Ihre in die Breite gegangene Gestalt und das ganz ergraute Haar ließen sie älter erscheinen, als sie in Wirklichkeit war. Man sah es ihr nicht an, daß sie erregt war. Ihre tiefe Stimme klang ruhig: „Sie haben ihn doch auch gekannt, Frau Bertholdi, schon als er noch ’n Junge war; er ist ja ungefähr in einem Alter mit Ihrem Heinz. Nu sehn Sie mal, is er das nich?!“ Rasch trat sie näher und hielt ein Blatt, das sie bis dahin in den Falten ihres Rockes gehalten, der andern dicht vors Gesicht.

Es war eine illustrierte Zeitung:

„Deutsche Gefangene auf Korsika“

(nach einer englischen Aufnahme).

„Da ist er! Da, da!“ Die Krüger tippte mit dem Finger auf einen der Gefangenen. An dem Zittern dieses Fingers merkte man nun doch, daß sie erregt war. „Und so natürlich! So stand er immer: den Kopf vor, den Rücken ’n bißchen krumm. Ich habe immer gesagt: Du mußt dir grader halten.“ Die tiefe Stimme wurde leise: „Und wenn er auch jetzt gefangen ist, wenigstens kommt er doch wieder!“

Hedwig Bertholdi wurde verlegen. Sie hatte vergeblich in dem Gefangenen Gustav Krüger zu erkennen gesucht. In der Haltung mochte etwas Ähnliches sein. Das war aber auch alles. Die Gesichter waren sämtlich unklar, hellere Flecke; einer sah wie der andere aus. Sie schwieg.

Der Blick der Krüger hob sich jetzt von dem Blatt und bohrte sich in ihr Gesicht. „Sie meinen doch auch, das is er?“

„Es wäre wohl möglich – es ist möglich“, verbesserte sich Hedwig rasch. Sie suchte nach Worten. „Es ist schwer, auf solchem Bilde mit Bestimmtheit jemanden herauszufinden. Ich kenne ja auch Ihren Sohn nicht so genau, wie Sie ihn kennen.“

„Ich bin die Mutter“, sagte die Frau kurz. Und dann, wie um sich selber noch mehr zu vergewissern, hielt sie sich das Bild dicht vor die Augen und trat dann, als sei es ihr noch nicht hell genug, ans Fenster.

Der Sommersonnenschein flutete herein und umwob die dunkelgekleidete Gestalt mit goldenem Geflimmer. So stand sie ganz regungslos ein paar Minuten mitten in der größten Helle und starrte in die illustrierte Zeitung.

Hedwig zog ihr Morgenkleid fester um sich, es fröstelte sie auf einmal, obgleich es heiß war: Die Frau täuschte sich – sie täuschte sich sicherlich – aber wer konnte den Mut haben, ihr das zu sagen?!

„Also Sie meinen, er is es nich!“ sagte plötzlich die Krüger und trat vom Fenster weg. Nun stand sie im Schatten im schwarzen Kleid mit blassem Gesicht. Ihre Stimme war tonlos.

Hedwig wehrte: „Oh nein – ich meinte ja nur – ich dachte – Sie müssen das natürlich besser wissen!“

„Ich weiß es.“ Die Stimme der Krüger hatte jetzt wieder Klang. „Das is mein Junge. Mein guter alter Junge!“ Sie preßte die Zeitung an ihre Brust. „’ne Mutter täuscht sich nich. Nein!“ Sie lächelte beruhigt, ganz überzeugt. Dieses Lächeln verschönte ihr breites, alltägliches Gesicht.

Hedwig wagte nichts darauf zu erwidern – die Krüger täuschte sich auch doch wohl nicht, eine Mutter erkennt ihr Kind nach noch so langer Zeit, und wo es auch sei. Sie hielt der anderen die Hand hin. „Dann freuen Sie sich, Frau Krüger! Aber warum hat Ihr Gustav nur so lange nichts von sich hören lassen? Das ist doch sehr unrecht von ihm.“

„Unrecht – unrecht?!“ Die Frau grollte. „Freilich unrecht. Aber wer sagt denn, daß er alleine unrecht hat. Ich hab’ auch unrecht gehabt.“ Sie trat Hedwig näher. „Ich will Ihnen sagen, Frau Bertholdi, warum der Junge so lange nicht geschrieben hat. Ich – ich bin schuld dran. Der Gustav hatte nämlich hier eine. Und als er von der Garnison noch mal hier war auf Urlaub, wollte er sich kriegstrauen lassen mit ihr. Sie war in der Hoffnung. Ich hab’s nicht zugegeben. ‚Wer weiß, ob das Kind von dir is‘, hab’ ich gesagt. Sie war eigentlich sonst ganz ordentlich – fleißig war sie –, aber ich bitt’ Sie, Frau Bertholdi, man will doch nich, daß ’n junger Mensch, der doch mal was hat, sich eine an den Hals hängt, die nischt is und nischt hat. Besonders hübsch war se auch nich und älter als er. Ich begreif’ ja den Gustav nich –“ sie verbesserte sich rasch – „hab’ ihn nich begriffen. Er is eben so anständig. Den ganzen Urlaub haben wir uns deswegen rumgehabt, ’s war schon nich mehr schön. Zuletzt hatt’ ich ihm die Sache doch ausgeredet. Aber froh is er nich drüber gewesen. Am Morgen, als er fortmachte, hat er mir nich mal die Hand gegeben. Und darum hat er auch nich geschrieben – an keinen.“ Sie atmete tief auf: „Gott sei Dank, daß er lebt! Daß er nich für immer von mir gegangen is im Bösen.“ Ihre Hände schlangen sich ineinander wie beim Beten: „Gott sei Dank!“

„Aber, Frau Krüger, haben Sie ihm denn gar nicht geschrieben?“

„I, wo wer’ ich!“ Die Krüger warf den Kopf in den Nacken. „Wenn er nich schreibt! Aber nu wer’ ich an ihn schreiben, ja ja. Herr Bertholdi wird gewiß so gut sein, mir sagen, wie ich’s anfangen soll. Korsika – auf Korsika – ach Gott, das is wohl sehr weit? Mein Junge, mein guter alter Junge!“ Es zuckte in ihrem Gesicht als wolle sie weinen; aber es kamen keine Tränen. „Wenn man böse auseinandergegangen is mit einem, dann is das Warten auf ihn noch viel schrecklicher. Das glauben Sie man!“


Langsam ging die Krüger von der Bertholdischen Villa die Straße hinunter. Die Sonne stand hoch, die Hitze war lähmend. Sie schlich im Schatten. Und doch hätte sie eigentlich gehen sollen wie eine ganz Junge, laufen, fliegen – ihr Gustav, ihr Gustav lebte ja! Ein schwerer Gang stand ihr noch bevor. Den mußte sie machen. Als sie mit Frau Bertholdi gesprochen hatte, war ihr das gekommen wie in einer plötzlichen Aufwallung: Sie mußte zu dem Mädchen hingehen. Sich einmal nach dem umsehen, sich selber überzeugen, wie es ihm ging, damit sie es dem Sohn schreiben konnte. Und lieber wollte sie dann gleich gehen, sofort. –

Es war ein weiter Weg von hier bis dahin. Früher hatte die Hieselhahn ganz in der Nachbarschaft gewohnt, nicht weit vom alten Kirchhof, hinten heraus in der Blumen- und Kränzebinderei. Da hatte der Gustav sie auch kennengelernt. Dann war sie fortgezogen. Jetzt sollte sie entgegengesetzt wohnen, ganz draußen, da, wo die Villen ein Ende haben und Arbeiterwohnungen, in gleichförmigen Bauten, aus Feldern ragen, die nicht mehr Äcker, aber auch noch nicht Gärten sind. Frau Krüger hatte hier nie etwas zu suchen gehabt, nun aber suchte sie von Haus zu Haus. Sie schwitzte, sie hinkte schon. Die Füße taten ihr weh. Dieses Gehen in der Mittagsglut machte sie sehr müde. Hier war gar kein Schatten, die Bäumchen, die zur Seite der Straße angepflanzt waren, standen noch jung und klein. Es wäre ihr sonst nie eingefallen, um diese Stunde ihren schattigen Garten oder ihr kühles Zimmer zu verlassen, in dem der Tisch schon gedeckt stand, und das behagliche breite Sofa, das zu einem Mittagsschläfchen einlud. Aber heute ging es nicht anders, sie hatte Versäumtes nachzuholen; sie wollte wiedergutmachen. Wenn sie dem Gustav schreiben konnte, daß sie die Gertrud aufgesucht hatte, freundlich mit ihr gewesen war, daß sie das Kind gesehen hatte – sein Kind –, dann würde er sich freuen. Sie würde einen Brief von ihm bekommen, einen versöhnlichen Brief, und sie würde, sie würde – ja, was würde sie denn? Das wußte sie jetzt selber noch nicht. Das würde sich finden.

Mit einer Entschlossenheit, die ihre Müdigkeit überwand, suchte die Mutter weiter. Sie fand die Hieselhahn nicht. Wohnte die vielleicht auch hier nicht mehr? Schon gingen die Häuser zu Ende. Endlich erfuhr sie vom Postboten, der des Weges kam: „Hieselhahn – Fräulein Hieselhahn –? Ach so, die mit dem Kind! Die wohnt noch weiter draußen, in dem kleinen Gehöft an dem Kartoffelland, bei Streckenarbeiter Dombrowski.“ –

Frau Krüger stieß die vermorschte Lattentür auf und betrat den eingefriedeten Hof. Es sah hier recht einfach aus, ziemlich armselig. Geringes Ackergerät stand umher; eine Schubkarre, Schippe, Besen, ein paar schadhafte Körbe. An der offengebliebenen Tür eines leeren Bretterschuppens, den kläglich miauend eine Katze umschlich, hing ein verschlissener Männerrock, den Wind und Wetter zur Vogelscheuche gemacht hatten, und ein alter Filzhut, der nur eine Krempe, aber keinen Kopf mehr hatte. Dieser zerwehte Rock, der durchlöcherte Hut, der leere Schuppen hatten etwas Trauriges und Verlassenes, obgleich die Sonne hell schien. Frau Krüger fühlte eine Beklemmung: So sah es hier aus? Nur das Geschnatter einer Gans, die jetzt heranwatschelte, und ein mauseriges Huhn, das im Sand kratzte, beruhigten sie; das war doch etwas einigermaßen Vertrauenerweckendes.

Eine Frauengestalt, die Ärmel hochgestreift, die Füße in Holzpantinen, stand an einer Bütte vor der Haustür und spülte Kinderwäsche. Sie mußte sich tief bücken, Schweißtropfen perlten ihr hinab ins Waschfaß, aber sie hatte flinke Hände. Und fleißig war sie.

Das war die Hieselhahn! Frau Krüger erkannte sie sofort, obgleich sie sie nur flüchtig ein paarmal gesehen hatte. Sie blieb ganz still stehen und sah der Fleißigen zu. Sehr armselige Hemdchen, aus schon dünn getragenem altem Zeug zusammengenäht, ein paar winzige Jäckchen und Windeln!

Frau Krüger wischte sich den Schweiß ab: War das unerträglich heiß heute! Und zu Hause hatte sie noch so viele gute Kindersachen!

Aus dem niedrigen Fenster zu ebener Erde erscholl jetzt eine kräftige Kinderstimme, ein lautes, ungestümes Geschrei.

„Ja ja, na, warte man, du!“ Die Waschende hob den Kopf, da begegnete ihr Blick dem fest auf ihr ruhenden Auge der Krüger. Sie stutzte; sie schien einen Augenblick nachzudenken, dann flog ein rasches Rot über ihr Gesicht. Etwas Feindseliges kam in ihren Ausdruck. „Sie wünschen?“

Frau Krüger wußte sofort: Die hat dich erkannt, und böse ist sie dir auch noch. Hatte die Hieselhahn nicht Groll in den Augen – etwas Herausforderndes –, oder war es nur Abwehr? Aber das half ja jetzt alles nicht, jetzt mußte sie gutmachen, sie kam wegen Gustav, ja, wegen Gustav, und – wegen ...

Das Kindergeschrei erhob sich immer stärker, und mitten in das Geschrei hinein sagte die Krüger, sagte es ganz ruhig, aber das Herz schlug ihr dabei: „Ist das der Kleine? ’ne gute Lunge, ’is doch ’n Junge, was?“

„Jawohl“, sagte die junge Mutter kurz und kehrte sich ab, um ins Haus zu gehen.

Da faßte die alte Mutter einen starken Entschluß: Sie durfte sich nicht an der Abwehr der anderen kehren, sie mußte der sagen, was sie zu sagen hatte, die mußte hören. Und mit einem großen Schritt war sie bei dem Mädchen und faßte es beim Handgelenk: „Sie, wissen Sie was? Der Gustav lebt!“

„Was geht mich das an?“ Die Hieselhahn wollte gleichgültig tun, aber dann wurde sie doch totenblaß. Sie strebte nicht mehr fort, sie blieb stehen. Mit weitgeöffneten, fast angstvollen Augen starrte sie seine Mutter an: Warum, warum kam die und sagte ihr, ihr das?! Wollte die sie wieder beleidigen, ihr wieder wehe tun wie damals? Oh, sie wußte sehr wohl, die mochte sie nicht leiden, die hatte es hintertrieben, daß Gustav ehrlich an ihr gehandelt hatte. Aus sich selber hätte der ja niemals gesagt: „Das Kind ist nicht von mir.“ Er wußte es ja, daß sie keinen andern angesehen hatte, seit er mit ihr verkehrt, daß sie nicht einmal den Kopf nach einem andern gedreht hatte. Was kam nun seine Mutter und sagte ihr: ‚Er lebt?‘ Für sie war er tot, doch tot, und wenn auch Nachricht von ihm gekommen wäre.

Gertrud Hieselhahn setzte die Zähne fest aufeinander, ein Weinen wollte ihr kommen, aber sie zwang es nieder. Was, auch noch weinen? Hatte sie nicht schon genug geweint, als er sie sitzen ließ? Und genug heimlich geweint, als sie von anderen hörte, Gustav Krüger werde vermißt seit Dixmuiden, seine Mutter habe gar keine Nachricht von ihm? Nun, jetzt würde sie doch nicht etwa weinen vor Freude, daß er noch am Leben war! Was ging sie das an? Tot oder lebendig, ihr konnte es gleich sein! Das Mädchen machte ein steinernes Gesicht, es strebte sich loszumachen, aber die Hand der Krüger hielt sie fest.

„Hören Sie denn nicht, verstehen Sie denn nicht?! Der Gustav!“ Die Hand der Mutter schüttelte die nassen verwaschenen Finger. „Der Gustav ist noch am Leben. Er ist nicht tot. Er ist nur gefangen. Und ich kann ihm schreiben – ich schreib noch heute – soll ich ihn grüßen von Ihnen? Was – was sagen Sie nu?!“

Gertrud hatte einen unwillkürlichen Ausruf getan in Freude und Schmerz. Nun sagte sie langsam, sich mit der freien Hand an die Stirn fassend und die Augen schließend, als schwindle es ihr: „Woher wissen Sie das?“

„Woher? Hier, sehn Sie mal!“ In triumphierender Freude zog die Mutter aus ihrer Tasche das Blatt. Und wie sie es vordem Frau Bertholdi getan hatte, so hielt sie es jetzt der Hieselhahn dicht vors Gesicht: „Kennen Se ihn wieder, kennen Se ihn? Der da, der so krumm dasteht! Er hat sich nie gerade gehalten. Und abgefallen is er auch mächtig. Gefangen – na, denn kann’s einen ja auch nich verwundern. Aber sein altes liebes Gesicht is es doch noch. Der Gustav!“

Ihr Finger, mit dem sie immer wieder auf die jungendlichschmächtige Gestalt eines Gefangenen, der, den Kopf gesenkt, betrübt dastand, getupft hatte, fuhr jetzt, wie liebevoll streichelnd, übers Papier. „Der Gustav – das ist er! Erkennen Sie ihn?“

„Den da kenn’ ich nicht.“ Gertrud schüttelte ernst den Kopf. „Sie irren sich wohl.“

„Ich, mich irren?!“ Nun lachte Frau Krüger förmlich hell auf. Und dann sah sie das Mädchen mißbilligend, verächtlich fast, von der Seite an. „Wenn Sie ihn auch nich erkennen, ich erkenn’ ihn.“ Sie fühlte sich plötzlich ernüchtert, in ihrem ehrlichen Entgegenkommen zurückgestoßen, verletzt. Es bröckelte etwas von ihrer Freude ab. Ja, was so’n Mädchen Liebe nennt! Die erkannte ihn ja nicht einmal! Am liebsten hätte sie sich gleich umgedreht und wäre fortgegangen – was wußte die denn, wie ihr zumute war –, aber das Geschrei des Kindes hielt sie fest. Am Ende mußte sie sich das doch einmal ansehen; wer weiß, vielleicht hatte es gar keinen Zug von ihm! Ein häßlicher Verdacht stieg wieder in ihr auf. Sie hatte damals nicht ohne Grund den Sohn gewarnt, die Hieselhahn sollte früher einmal etwas flott gewesen sein. Jetzt sah sie freilich nicht danach aus. Kümmerlich, recht blaß. Der täte schon eine gute Pflege not. Es war nicht angenehm, das dem Gustav zu schreiben. „Kann ich den Kleinen mal sehen?“ fragte sie kleinlaut.

Das Mädchen antwortete nicht, es zuckte die Achseln. Aber dann machte es doch eine einladende Handbewegung. Es ließ die Frau vor sich ins Haus treten.

Die Stube war sehr bescheiden eingerichtet: ein Bett, ein Tisch, ein paar Stühle, ein Schrank, am Fenster die Nähmaschine und neben dem Bett in einem alten Kinderwagen das Kleine.

Es hatte aufgehört zu schreien, als ob es den Eintritt der Mutter schon wahrnehme. Die Augen in dem runden Köpfchen guckten groß und blau. Die Krüger bekam einen förmlichen Schreck: Die Hieselhahn hatte braune Augen, das aber waren Gustavs Augen, auffallend große Sterne, von langen dunklen Wimpern umsäumt. Sie war früher oft auf Gustavs Augen angesprochen worden, als sie ihn noch auf dem Arme trug. Und dieses Kind hatte dieselben hübschen Augen, die er als Kind gehabt und die er auch jetzt noch hatte. Sie beugte sich über das Bettchen; sie hatte den Wunsch, den Jungen einmal herauszunehmen, auf ihrem Arm zu halten.

Aber das Mädchen kam ihr zuvor. Es stieß den Wagen mit dem Fuß in die Ecke und sagte unwirsch: „Schreihals!“ Dann kehrte es sein wieder rot gewordenes Gesicht der unwillkommenen Besucherin zu: „Was wünschen Sie eigentlich?“

Die Krüger wurde ganz verlegen, der Ton der Hieselhahn war so abweisend-barsch. Aber recht hatte die ja eigentlich: Warum sollte sie besonders höflich und freundlich sein? „Na, wegen Gustav – ich wollte – ich dachte doch, Sie würden sich auch freuen, daß er noch am Leben is.“

„Wer sagt Ihnen denn so sicher, daß er noch am Leben ist? Das Bild da?“ Mit einer grausamen Deutlichkeit sprach die Hieselhahn jedes Wort aus. „Ich glaube noch nicht dran. Glaube überhaupt nicht dran. Glaube überhaupt nichts in der Welt mehr. Wenn man einmal so geglaubt hat wie ich, und es war dann doch nichts, dann glaubt man nicht mehr.“ Ein verbitterter Zug grub sich um ihren Mund, sie kreuzte die Arme über der Brust und sah finster drein.

Die arme Person! Gustavs Mutter fühlte plötzlich großes Mitleid. Alles, was sie damals nicht empfunden hatte, als sie den Sohn von dem Mädchen abzubringen suchte, das empfand sie jetzt. Sie streckte die Hand aus. „Fräulein Hieselhahn“, sagte sie versöhnlich, „ich bin gekommen in meiner großen Freude. Seit Oktober voriges Jahr habe ich auf Nachricht von meinem Sohn gewartet, nu weiß ich endlich, daß er noch am Leben is – und ich bin so froh, so dankbar, so – so –“ Sie stockte einen Augenblick, überlegte: nicht zuviel versprechen. Aber dann stieß es sie förmlich vorwärts, rasch schloß sie: „Ich will dem Gustav ’ne Freude machen. Und das wird ihn freuen: Kommen Sie zu mir, heute, morgen, wann Sie wollen! Holen Sie sich was von Gustavs Kinderwäsche – und auch sonst noch was. Und nu darf ich wohl mal den Kleinen aufnehmen?“

Ohne erst Antwort abzuwarten, trat sie rasch zum Wagen, nahm das strampelnde Kind heraus und hob es mit beiden Armen hoch. Der Kleine krähte. „Na siehste, da biste ja! Du bist aber schon ’n Kerl. Ei, du, du!“

So hatte die Krüger mit ihren Kindern, von denen nur der Gustav noch am Leben war – die zwei andern waren klein gestorben –, dereinst auch geschäkert. Es wurde alles wieder wach, wieder lebendig. „Wie alt is er denn jetzt? So’n strammer Junge!“ Sie war entzückt.

„Erst vier Monat!“ Nun lag doch ein gewisser Stolz im Ton der jungen Mutter, der klang nicht mehr so abweisend. Sie wurde gesprächiger. „Er war gleich von Anfang an so kräftig. Die Hebamme sagte: ‚Sicher acht Pfund.‘ Das macht die gute Luft hier draußen; viel anderes kann ich ihm ja auch nicht geben.“

„Nähren Sie selber?“

„Das kann ich nicht. Ich hab’ meine Beschäftigung. Die Frau, bei der ich hier wohne, sieht nach dem Kind. Es ist ’n Zufall, daß ich heute zu Hause bin. Ich bekomme Milch für den Jungen.“

„Die zahle ich“, sagte Frau Krüger rasch. Das war doch das mindeste, was sie tun konnte; sie hätte gern mehr, viel mehr getan. Sie wußte nur nicht, wie sie’s anfangen sollte, sie traute sich nicht. Die Hieselhahn war ihr nicht recht verständlich. War die nun böse auf Gustav, so böse noch auf ihn, daß sie nichts mehr von ihm wissen wollte? Oder war es nur der Groll gegen sie, seine Mutter? Oder hatte sie den Gustav schon vergessen und verschmerzt? Die war so gleichgültig, seltsam teilnahmslos. Aber gleichviel, es war ihre, der Mutter, Pflicht, Gustav zu Gefallen freundlich zu sein. Und sie legte das Kind rasch hin, deckte es zu und streckte der anderen die Hand hin: „Na, denn will ich jetzt mal gehen, Fräulein. Aber nich wahr, Sie besuchen mich bald? Es wird mir sehr freuen!“ Sie wartete auf eine Antwort. Die kam nicht. Sie mußte schon direkt fragen: „Sie kommen doch?“

„Nein.“ Das klang wieder eisig; so wie zu Anfang. „Wir beide haben nichts miteinander zu tun. Wenn der Gustav was will, kann er ja kommen. Oder er soll schreiben an mich. Aber er kommt nicht wieder. Er kann auch nicht mehr schreiben. Ich weiß es.“ Sie legte wie vordem die Hand über die Augen, als schwindle es ihr.

Was hatte die Hieselhahn eigentlich damit sagen wollen? Die Mutter grübelte darüber nach, als sie durch die Sommerhitze nach Hause schlich. Sie fühlte ihre Füße wie Bleigewichte, und es wurmte sie, daß die Person sie hatte so abfallen lassen. Und was sollte das heißen: Er kommt nicht wieder, er kann auch nicht schreiben mehr –?! Glaubte die vielleicht nicht, daß er noch am Leben war? Oder wollte sie nur damit sagen: Er kommt nicht zu mir? Ja, so war’s, das nur meinte sie. Denn der Gustav war ja am Leben, Gott sei Dank! Und es konnte nicht mehr lange dauern, ein Jahr war schon Krieg, bald kam der Friede und brachte allen Gefangenen die Freiheit. Und den Gustav nach Haus!

Gertrud Hieselhahn hatte den Besuch nicht hinausbegleitet, ihre Füße waren wie angewurzelt. Sie stand, wo sie stand, gleichsam festgewachsen an die nackte Diele. Ihre Augen blickten wie geistesabwesend in die leere Luft. War die Frau, seine Mutter, verrückt, daß sie glaubte, er wäre das? Der Mann auf dem Bild, der Gefangene, der so zur Erde blickte? Das konnte auch nur eine denken, die den Gustav nicht so liebte, wie sie ihn geliebt hatte. Sie, die sein Gesicht – jeden Zug – seine Stirn, seine Nase, seinen Mund, seine Augen noch so genau in der Erinnerung hatte, als hätte sie ihn gestern zuletzt gesehen. Sie wußte ganz genau: Das war er nicht. Ein anderer war es, von Statur und Haltung ihm vielleicht ein wenig ähnlich, aber ein ganz, ganz fremdes Gesicht. Denn wenn er auch schlecht gegen sie gehandelt hatte, wenn sie auch hundertmal an ihn gedacht hatte in tiefem Groll, sie würde ihn doch erkennen, allüberall. Seine Mutter, die täuschte sich; sie aber würde ihn noch erkennen nach vielen, vielen Jahren, erkennen am Ende ihres Lebens, wenn sie schon alt war, eisgrau.

Gertrud Hieselhahn weinte, bittere enttäuschte Tränen. Einen Augenblick hatte sie doch geglaubt, er sei noch am Leben, es hatte sie durchzuckt mit einem freudigen Schrekken, der sie schwach machte. Nun war’s doppelt schwer. Nun fühlte sie erst, daß sie ihn noch immer liebhatte – trotz allem. Sie nahm das Kind aus dem Wagen und küßte es heftig, ihre Tränen machten das kleine Köpfchen ganz naß. Sie sank mit ihm auf den nächsten Stuhl.

So fand Frau Dombrowski sie, die mit ihren zwei Kindern, die sich hinter dem Rücken der Mutter heimlich knufften, von ihrem Stück Land kam. Sie war heiß und müde. Seit ihr Mann im Krieg war, mußte sie sich allein um den Acker kümmern; es war zwar nur ein kleines Stück, was sie besaßen, aber es machte doch Arbeit, zumal sie noch Wasch- und Reinemachstellen hatte.

„Na, Fräulein, is ’s Essen fertig? Noch nich? Aber nu!“ Sie war ungehalten, das Fräulein hatte heute doch mal dafür sorgen wollen. Nun waren die Kartoffeln wohl geschält, aber sie standen noch nicht auf dem Feuer. „Ich sage schon“, fuhr sie los, „alles wird auch von unsereinem verlangt, und Sie sitzen da und –.“ Sie verstummte, als sie die Tränen der anderen sah. Es war etwas in der Haltung des Mädchens, das so ganz zusammengesunken dasaß, das Kind an sich pressend, was sie mitleidig stimmte. „Na, was is Ihnen denn?“ Gutmütig fing sie an zu trösten: „Gottchen, nu weinen Se doch nich. Noch immer wegen Ihrem Liebsten? Fräuleinchen, sind Sie aber dumm! Sie kriegen noch zehne für einen. Da sagen se immer, die Männer wären jetzt rar – ach was! Wenn se jetzt auf Urlaub kommen, sind se rein doll. Ich sage Ihnen, Fräulein, ich könnt’ Ihnen erzählen. Wenn ich so wollte!“ Sie lachte und reckte mit einem gewissen Wohlbehagen ihre üppige Gestalt.

Es war ein leises Befremden in dem Blick, mit dem Gertrud jetzt die Frau ansah: Oh, die Dombrowski! Aber recht hatte sie, es hatte keinen Sinn, es war dumm, dem einen, dem einzigen nachzuweinen. Entschlossen richtete sie sich auf und wischte ihr Gesicht und das naßgeweinte Köpfchen des Kindes ab. Es war an ihrer Brust still geworden und eingeschlafen. Behutsam legte sie es in den Wagen und wehrte dann den Kindern, die wieder hinausgelaufen waren und jetzt draußen vorm Fenster mit der eisernen Schippe und dem Besen wie mit Waffen aufeinander losschlugen. „Wollt ihr das wohl lassen! Um Gottes willen, ihr haut euch ja noch tot!“

Die Dombrowski lachte: „Aber lassen Se se doch, Fräuleinchen. Das schadet ja nischte.“ Sie nahm die Ungezogenheit ihrer Sprößlinge sehr ruhig.

Früher war der Vater dazwischengefahren, da war der Junge ganz ordentlich und das Mädchen auch lange nicht so unartig. Aber nun war der Vater im Krieg. Selbst die Lehrerin wurde des Knaben nicht mehr Meister, wenn sie ihn auch mindestens viermal die Woche nachsitzen ließ. Das Fräulein hatte sich schon ein paarmal die Mutter kommen lassen: „Ich bitte Sie, Frau Dombrowski, halten Sie doch darauf, daß Ihr Erich seine Aufgaben macht. Er tut rein nichts zu Hause. Und freche Antworten gibt er!“ Es zuckte nervös im Gesicht der blassen, angestrengten Lehrerin. „Keiner ist so ungezogen wie Ihr Junge, er steckt mir die ganze Klasse an. Gott, ich sage, es ist wirklich nicht auszuhalten mit dem Bengel!“

„Aber Fräuleinchen!“ Die Dombrowski blieb gelassen. „Regen Se sich man nich auf! Das is nu nich anders. Davor is Krieg. Was soll ich denn machen, wenn der Erich nu nich gut tun will? Ich gehe auf Arbeit, ich muß auf Arbeit gehen, von den paar lumpigen Kröten Kriegsunterstützung kann man doch nicht existieren. Schlimm genug is es, daß man noch nich mal sagen darf, daß man was zuverdient – was die sich eigentlich denken! Das ’s doch ’ne Ungerechtigkeit: Frauen, die arbeiten gehen, müssen sich fürchten, daß se de Unterstützung entzogen kriegen, andere sind stinkfaul und die – na, aber ich bin nu mal so, ich arbeite ganz gerne. Das is man nu mal so gewöhnt von Jugend an: Wochentags-Arbeit und sonntags – na sonntags –!“ Sie lachte; aber dann seufzte sie: „Ja, sonntags, da hat man nu auch gar nischte.“ Ihre Augen, die wie schwarze Beeren in dem tiefgebräunten Gesicht funkelten, trübten sich.

Die Dombrowski war wirklich eine hübsche Frau, und sie hatte auch gar nicht so unrecht, es war schwer für Mütter, die auf Arbeit gingen, zugleich sorgsam auf ihre Kinder zu achten. Die Lehrerin lenkte ein. „Ja, ja. Aber das könnten Sie doch wenigstens, mir den Jungen morgens sauber in die Schule schicken. Ich muß ihn erst immer an die Pumpe führen.“

„Na, denn dreckt er eben unterwegs wieder ein!“ Die Dombrowski war nicht aus der Fassung zu bringen.

Es brachte sie auch heute nicht aus der Fassung, als jetzt ihre beiden wieder heulend in die Stube hereingestürzt kamen. Erich hatte Minna mit der Schippe gegen die Nase gestoßen, daß ein Bächlein von Blut heruntertroff, und war dann doch selber von Entsetzen ergriffen, als er sah, was er angerichtet hatte. Sie schrien beide und schimpften zwischen ihrem Heulen gegeneinander an. Gertrud war erschrocken zugesprungen und wusch dem Mädchen das Blut ab.

Frau Dombrowski sagte nur: „Erich, wart’ mal, ich schreibe es Vatern. Der kommt und nimmt dich mit in’n Schützengraben. Da fressen dich die Ratten. Oder die schwarzen Franzosen kommen und holen dich; die fressen auch Kinder!“ Sie hatte ihren Spaß darüber, daß der Junge sie mit weit aufgerissenen Augen anstarrte.

„Frißt unser Vater auch Kinder?“ fragte er langsam.

„Das nich“, sagte die Mutter lachend. „Der is doch nich schwarz. Aber fuchtig kann der auch werden, wenn ihm was nich paßt.“ Es flog wie ein leiser Schatten über ihr lachendes Gesicht.

Sie mochte wohl daran denken, daß er sie einmal geschlagen hatte. Und nur wegen einer Kleinigkeit. Er war eines Sonntagabends mit ihr in einem Lokal gewesen, da hatten verschiedene Männer am Nebentisch gesessen, und der eine von ihnen, ein hübscher Mensch, hatte Blicke mit ihr gewechselt. Das war alles. Aber ihr Stanislaus konnte so was nicht leiden. Eifersüchtig war der, oje!

Minka Dombrowski blickte einen Augenblick nachdenklich: Wie hatte er doch gesagt, als er von ihr fortmußte?: ‚Minka, ich sag’ dir, wenn du mir nich treu bleibst!‘ Er hatte gezittert dabei, der arme Kerl. ‚Minka, ich sag’ dir, dann –‘ Sie hatte ihn gar nicht ausreden lassen. Sie hatte ihm rasch die Hand vor die Augen gelegt, die anfingen unruhig umherzurollen, und war dann so zärtlich, so heiß gewesen, daß sie im besten Einvernehmen schieden.

Auf der Bahn beim Abschied hatte keine so sehr geweint wie Minka Dombrowski und keine so lange nachgewinkt.