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Mira Bluhm

Bewahrer der Nacht

Fantasy Roman





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Titelei

 

 

Text Copyright © 2016 by Mira Bluhm

 

Alle Rechte vorbehalten.

 

Das Werk darf - auch in Teilen - nur mit Genehmigung der Autorin wiedergegeben werden.

 

Coverdesign by Debbie, www.thecovercollection.com

Prolog

 

Eleazar stocherte mit einem Stecken im Feuer. Er beobachtete die Funken, die aufstoben und im Luftzug des Kamins tanzten, bevor sie verglühten und als Ascheflocken auf die Kochstelle niedergingen.

Die Großmutter, die im Schaukelstuhl in der Ecke saß, sah von der Stickarbeit auf, die sie auf ihren Schoß gebettet hatte. »Lass das, du fackelst die Hütte ab.«

»Tu ich nicht.« Er warf das Holz in die Flammen und beobachtete, wie es sich entzündete. Als sich die Rinde des Steckens grau färbte, verlor er das Interesse und setzte sich vor seiner Großmutter auf den Boden. »Erzählst du mir nochmal die Geschichte?«

Lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Du bekommst nie genug, was? Das hast du von mir. Als ich in deinem Alter war, saß ich mit meiner Großmutter am Feuer und lauschte ihren Geschichten, so wie sie als Kind den Geschichten ihrer Großmutter lauschte. Und deren Großmutter«, sie richtete ihren Blick in eine unbestimmte Ferne, »die hat die Sonne noch mit eigenen Augen gesehen.«

Sie machte eine Pause, legte die Stickerei zur Seite, nahm einen Stapel löchriger Socken aus dem Weidenkorb, der neben ihrem Stuhl stand, und begann mit dem Stopfen. »Am Tag war der Himmel so hell erleuchtet, dass man nicht hochsehen konnte, ohne zu erblinden. Mittags, wenn die Sonne am höchsten stand, konnten die Menschen nur mit einer Hand arbeiten. Mit der Zweiten mussten sie ihr Gesicht bedecken, um nicht geblendet zu werden. Es wurde niemals dunkel. Nachts loderten tausende winziger Feuer am Firmament und die Erde erwärmte sich unter ihrem Schein.

Dann brach die Finsternis herein. Nicht von heute auf morgen, sondern langsam und schleichend legten sich Schatten wie ein Nebel über das Land, bis es schließlich in der ewigen Nacht versank.

Es war nicht nur dunkel, es war auch trocken. Kein Regentropfen fiel, die Brunnen trockneten aus und die Bäche hörten auf, zu fließen. Doch die Pflanzen verdorrten nicht auf den Feldern. Sie zerfielen zu Staub. So wie alles, das zu lange in den Schatten weilt, zu Staub zerfällt; Menschen, Tiere, am Ende sogar Stein. Selbst die Luft veränderte sich. Sie wurde dick und träge wie Sirup und sträubte sich dagegen, in die Lungen der Menschen gesogen zu werden. Jeder Atemzug wurde zum Kraftakt.«

Die letzten Worte gruselten Eleazar; unwillkürlich zog er die Beine an und schlang die Arme um die Knie. »Wie konnten die Menschen überleben?«

»Sie hatten großes Glück. Eines Tages wanderte Ahasverosh durch ihr Dorf. In seiner Gegenwart wich die Finsternis einem Zwielicht und die Luft wurde so dünn, dass sie sich mühelos atmen ließ.

Sie schlossen einen Pakt. Er würde fortan im Dorf bleiben und mit seiner Aura die Schatten fernhalten. Im Gegenzug kümmerte sich die Dorfgemeinschaft um ihn. Dieser Pakt gilt heute noch. Er bindet Menschen und Giganten bis ans Ende der Zeit.«

»Wo kommen die Schatten her?«

Die Großmutter stand auf, stapelte die Socken andächtig auf dem Küchentisch, ging zum Fenster und sah in die Nacht hinaus. »Das, mein Junge, erzähle ich dir ein anderes Mal.«

Kapitel 1

 

Samira

 

Samira war die Letzte, die das Haus verließ. Während alle anderen bereits zum Versammlungsplatz aufgebrochen waren, hatte sie das Geschirr gespült und die Reste des Abendessens für den Morgen weggestellt. Es würde spät werden, und sie hatte keine Lust, am nächsten Tag die eingetrocknete Sauce aus den Schüsseln zu kratzen.

Das Dorf war verlassen. Die Hühner, die sonst auf den Wiesen nach Futter suchten, waren vorzeitig in ihre Käfige gesperrt worden, und die Bänke, auf denen die alten Frauen zusammensaßen, um sich zu unterhalten, während sie Wolle spannen und Körbe flochten, waren leer.

Obwohl ihr Vater und ihr Großvater im Rat der Sieben waren, wusste sie nicht, zu welchem Zweck diese außerplanmäßige Versammlung einberufen worden war. Ihr Vater hatte vor drei Tagen an jede Tür geklopft und den Leuten eingeschärft, dass sie zu erscheinen hatten. Die Kinder ebenso wie die Alten und die Kranken.

Als sie den Dorfplatz erreichte, war dieser so überfüllt, dass sie etwas abseits zwischen zwei Häusern stehen blieb. Drei Kinder saßen auf der Überdachung des Brunnens und nahmen ihr die Sicht auf das Podium, das man auf der anderen Seite behelfsmäßig aus Fässern und losen Brettern errichtet hatte. Darauf standen in einer Reihe sieben Stühle, auf denen stumm und mit ernsten Mienen die Ratsmitglieder saßen.

Samira entdeckte ihren Vater am äußeren linken Rand. Drei Kinder, die auf das Gestänge des Brunnens geklettert waren, verdeckten ihr die Sicht auf Großvater, der in der Mitte Platz genommen hatte.

Das allgemeine Gemurmel verstummte. Kurz darauf hörte sie Aidan, den Vorsitzenden des Rates, mit tragender Stimme sprechen, sodass sie auch von ihrer Position aus jedes Wort verstehen konnte. »Viele von euch haben bereits bemerkt, dass die Schatten ungewöhnlich nahe ans Dorf herangerückt sind. Das hat einen Grund. Ahasverosh ist krank.« Ein Raunen ging durch die Menge. Aidan wartete geduldig, bis es wieder still geworden war, bevor er weitersprach. »Die meisten von euch waren schon einmal in den Schatten. Es ist eine beliebte Mutprobe unter Kindern, und wie ihr vielleicht wisst, bin ich weiter vorgedrungen als irgendjemand sonst. Dort draußen verändert sich das Licht der Fackeln. Es wird dumpf und diffus, als würde man es durch einen dünngescheuerten Fetzen Stoff hindurch betrachten. An die Anstrengung, die das Atmen in dieser Umgebung bedeutet, gewöhnt man sich. Nur an die Stille nicht.«

Er legte wieder eine Pause ein. Mato, der vor Samira stand, drehte sich zu ihr um und sah sie mit einem fragenden Blick an, doch sie schüttelte nur den Kopf. Sie wusste genauso wenig wie jeder Andere, worauf Aidan hinauswollte.

»Die Luft trägt kein Geräusch ans Ohr«, fuhr Aidan fort, »Nicht das Knirschen der Stiefel im Sand, nicht das Knistern der herabbrennenden Fackel, nicht einmal dein eigenes Röcheln, wenn du nach Luft ringst. Es machte mich wahnsinnig. Ich schrie und tobte, ich wälzte mich im Staub und hämmerte mit beiden Fäusten auf den Boden, nur um mich zu vergewissern, dass ich noch lebte. Aber nachdem ich den Wahnsinn überwunden hatte, wurde mir etwas klar. Nichts lebt in dieser Finsternis. Nichts bewegt sich, sogar die Luft steht still. Das Einzige, wovor man Angst zu haben braucht, ist die Dunkelheit selbst.

Wir haben versucht, Handelsbeziehungen mit anderen Dörfern aufzubauen. Dazu haben wir Boten ausgesandt, im Laufe der Zeit mindestens ein Dutzend. Keiner davon ist je zurückgekehrt. Trotzdem müssen wir jetzt, da Ahasverosh krank ist, einen weiteren Versuch wagen.

Es gibt ein Heilmittel, das wir finden müssen...«

»Stop!« Livius, der neben ihrem Vater gesessen hatte, sprang auf, eilte mit zwei schnellen Schritten in die Mitte des Podiums, schob Aidan an der Schulter zurück und stellte sich vor ihn.

Die Leute auf dem Platz fingen an, sich einander zuzuwenden und wild durcheinanderzureden. Samira nutzte den allgemeinen Tumult, um sich zwischen Mato und Yella hindurch nach vorne zu drängen. Unter Einsatz ihrer Ellbogen drängte sie sich bis zum Brunnen vor, wo sie auf die Ummauerung kletterte. Von dort aus hatte sie freie Sicht aufs Podium.

Keines der Ratsmitglieder saß mehr auf seinem Stuhl. Livius hatte sich zu Aidan umgedreht und redete auf ihn ein. So leise, dass Samira nicht verstehen konnte, was er sagte, aber wild gestikulierend. Es war nicht zu übersehen, dass die beiden stritten. Die anderen fünf stellten sich im Halbkreis um sie auf, ihr Vater legte die Hand besänftigend auf Livius‘ Schulter.

Sie hatte noch nie erlebt, dass der Rat öffentlich Unstimmigkeiten zeigte. Aus Erzählungen wusste sie, dass die Entscheidungen selten einstimmig getroffen wurden. Die Abstimmungsergebnisse waren aber für alle bindend und wurden nach außen hin in Eintracht präsentiert.

Livius riss sich von ihrem Vater los und drängte an Aidan vorbei nach vorne. Er räusperte sich mehrmals laut, bevor er zu sprechen begann. »Ahasverosh ist nicht krank, er liegt im Sterben. Der Rat hat mit nur einer einzigen Gegenstimme«, er drehte sich zu Aidan und warf ihm einen zornigen Blick zu, »beschlossen, dass es keinen Sinn hat, das Heilmittel zu suchen. Es handelt sich dabei um einen einzelnen Strauch, der mitten in den Schatten wächst. Dieser Strauch ist das Einzige, das in der Dunkelheit gedeihen kann. Mag sein, dass Ahasverosh weiß, wo er wächst, aber ohne Licht, ohne Landmarken und ohne Anhaltspunkte, an denen man sich orientieren könnte, ist es unmöglich, ihn zu finden.

Der Rat hat beschlossen, sechs zu eins«, wieder drehte er sich zu Aidan, der nun eine wegwerfende Handbewegung machte und sich mit verschränkten Armen auf seinen Stuhl setzte, »dass es aussichtsreicher ist, nach einem anderen Dorf Ausschau zu halten und die Bewohner zu bitten, uns aufzunehmen.

Wie ihr alle wisst, gab es ursprünglich vierzehn Giganten. Das heißt, es muss noch dreizehn weitere Siedlungen geben. Mit etwas Glück schaffen wir es, eine davon zu erreichen.«

»Und wie willst du das anstellen, ohne Landmarken und ohne Anhaltspunkte?« Samira drehte den Kopf und suchte in der Menge nach dem Mann, der diese Frage gerufen hatte, sie konnte ihn jedoch nicht ausmachen.

»Ein Dorf ist größer als ein Strauch, und in den Schatten schon von Weitem gut zu erkennen. Außerdem besitzen wir alte Landkarten. Wir haben lange diskutiert, welches der Dörfer infrage kommt. Dabei haben wir all jene ausgeschlossen, die zu weit entfernt liegen oder sich in einem ungastlichen Gebiet befinden, in dem ein Überleben ohne Handelsbeziehungen über einen längeren Zeitraum zumindest schwierig, wenn nicht unmöglich ist. Was übrig bleibt, ist einen Versuch wert.«

»Im Gegensatz zur Rettung unseres eigenen Dorfes. Die ist dir keinen Versuch wert.« Aidan spuckte auf die Bretter des Podiums. »Selbst wenn uns jemand aufnehmen wollte, heißt das noch lange nicht, dass die Kapazitäten dafür vorhanden sind. Um zusätzliche Leute zu ernähren, braucht man zusätzliches Land. Wo soll das herkommen?«

Livius fuhr fort, als hätte er Aidans Einwand nicht gehört. »Zweck der Versammlung war es, euch mitzuteilen, dass wir bereits in drei Tagen aufbrechen werden. Wir wissen nicht, wie lange Ahasverosh seine Aura noch aufrechterhalten kann, daher müssen wir schnell handeln. Wir fordern euch auf, in drei Tagen bei Morgengrauen am Fuße des Berges zu warten, abmarschbereit. Nehmt alles mit, was ihr für die Reise braucht, aber nicht mehr. Ein Ochsenkarren pro Familie. Wenn wir zu viel mit uns tragen, sind wir zu langsam.«

Livius drehte sich um und verließ das Podium. Samira beobachtete, wie der große Mann um die Ansammlung wartender Menschen herumging und sich dann schnurstracks in die Richtung seines Zuhauses davonmachte. Da die anderen Ratsmitglieder auf dem Podium sitzen blieben und ihm ebenfalls nachschauten, blieben auch die Leute auf dem Versammlungsplatz stehen und warteten gespannt.

Es dauerte nicht lange, bis Aidan sich noch einmal vorne am Podium aufbaute und die Stimme erhob. »Ihr habt Livius gehört. Aber ich sage euch noch einmal, dass das, was er gesagt hat, nur eine Möglichkeit ist. Eine Möglichkeit von Zweien. Ich bin zu alt und zu schwach, um das Heilmittel selbst zu holen. Wenn einer von euch mutig genug ist, steht ihm meine Tür offen.« Danach stand auch er auf und ging, die restlichen Ratsmitglieder folgten ihm in einigem Abstand.

Danach brach ein Tumult auf dem Platz aus. Die Leute fanden sich blitzschnell zu Gruppen zusammen und tuschelten. Samira fing nur ein paar Gesprächsfetzen auf. Hilkah war der Meinung, dass Aidan recht hatte, Jurek stimmte ihr brummend zu, woraufhin Teun mit voller Inbrunst verkündete, dass er Livius vertraute und ihm auf alle Fälle folgen würde.

Samira beschloss, sich nicht verunsichern zu lassen. Sie würde nach Hause gehen und tun, was ihr Vater und Großvater ihr rieten. So schnell sie konnte, zwängte sie sich zwischen den Gruppen hindurch, und versuchte, nicht darauf zu hören, was die Anderen sagten, während sie durch das Dorf eilte.

Kapitel 2

 

Eleazar

 

Eleazar schlug die Decke zurück und stand auf. Seine Zehen waren von der Kälte violett angelaufen. Als er die Füße auf dem klammen Teppichboden abstellte, bemerkte er, dass sie nicht nur kalt, sondern auch taub waren. Er ging zur Kleiderkiste am Fußende seines Bettes und durchwühlte sie zuerst nach dicken Wollsocken, bevor er sich ein Unterhemd und seine warme Winterkleidung anzog.

Seine Augen waren schwer, seine Gedanken waren lahm und seine Bewegungen quälend langsam. Alle Versuche, sich in vernünftiger Geschwindigkeit anzukleiden, scheiterten an seiner Müdigkeit. Er hatte die Nacht über kaum geschlafen. Das, was er gestern auf der Versammlung gehört hatte, hatte ihn nicht zur Ruhe kommen lassen. Sein Vater und mit ihm die meisten anderen Ratsmitglieder waren davon überzeugt, dass sie die Reise zu einem anderen Dorf antreten mussten. Aber Aidans Argumente waren nicht von der Hand zu weisen. Warum sollte ein anderes Dorf sie aufnehmen? Und wovon sollten diese Leute sie durchfüttern? Das, was das Land im Dunstkreis des Giganten abwarf, reichte kaum, um ihre eigene Dorfgemeinschaft durchzufüttern. Es hatte Jahre gegeben, in denen die Ernten so schlecht ausgefallen waren, dass sie den halben Winter hindurch hungern mussten. Wären sie doppelt so viele Menschen gewesen, wäre die Hälfte von ihnen verhungert. Andererseits war Eleazar auch nicht bereit, bei dem Versuch, das Heilmittel zu finden, allein zu sterben. So war er nach langem Überlegen zu dem Schluss gekommen, seinem Vater zu folgen.

Er ging zur Waschschüssel, die neben seiner Zimmertür auf einem Beistelltisch stand, kippte sich eine Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht und trocknete sich mit seinem Nachthemd ab, bevor er in die Küche hinunter ging. Das Feuer war zu einem Häufchen Glut herabgebrannt und seine Mutter hatte noch kein Frühstück gekocht. Wahrscheinlich waren seine Eltern, genauso wie er, lange wach gewesen und schliefen noch.

Eleazar legte ein paar Scheite in den Kamin, fachte das Feuer an und stellte einen Topf mit Getreidebrei auf. Dabei achtete er darauf, den Brei nicht zu dick anzurühren, damit er nicht zu einer steinharten Pampe wurde, wenn er zu lange warmgehalten wurde.

Nachdem das Getreide weichgekocht war, nahm er sich eine Schöpfkelle davon und dickte seine Portion mit einem Löffel der kostbaren Marmelade ein, die seine Mutter in der Kommode neben dem Herd aufbewahrte und hütete wie ihren Augapfel. Gerade, als er sich damit an den Tisch setzen wollte, wurde die Eingangstür aufgestoßen und seine Mutter stürmte herein.

»Ich dachte, ihr schlaft noch«, stellte er fest, während er sich den ersten Löffel seines klebrig süßen Frühstücks in den Mund schob.

»Nalani ist fort.«

Eleazar spürte, wie seine Kehle schlagartig trocken wurde, und er hatte Mühe, die dicke Pampe in seinem Mund hinunterzuschlucken. »Was heißt, Nalani ist fort?«

»Heute morgen wollte ich sie aufwecken. Ihr Bett war leer und ihre Decke und ihre Stiefel fehlten.«

»Habt ihr sie gefunden?«

»Euer Vater ist gerade bei Aidan, aber der alte Trottel will ihm nicht verraten, in welche Richtung er sie fortgeschickt hat. Er will mit aller Gewalt verhindern, dass jemand sie zurückholt. Natürlich könnte man in den Schatten um das Dorf herumwandern, bis man ihre Spuren findet, und ihr dann folgen, aber bis dahin hätte sie einen so großen Vorsprung, dass es unmöglich wäre, sie noch einzuholen.«

Eleazar steckte den Löffel in die Schüssel. Seine Schwester hatte nachts wohl die gleichen Gedanken gehabt wie er, nur war sie zu einem anderen Schluss gekommen. Und hatte Nägel mit Köpfen gemacht. Er stand auf und nahm seinen Mantel vom Haken. »Pfeif Vater zurück. Ich gehe und rede mit Aidan. Und dann hole ich diese Mistgöre zurück.«

Seine Mutter schloss ihn in die Arme und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Beeil dich, ich packe inzwischen deine Sachen. Aber tu mir einen Gefallen, nenne deine Schwester nie wieder eine Mistgöre.«

 

Kapitel 3

 

Samira

 

Sie wickelte die Decke fest um Rhea und Dereje, die sich eng aneinander gekuschelt hatten. Ihre Nichte war noch zu klein, um zu verstehen, was vor sich ging, aber der Junge sorgte sich schon länger wegen der vorrückenden Schatten, und die Geschehnisse bei der Versammlung hatten seine Sorge noch vergrößert. Er wälzte unruhig den Kopf hin und her, sodass Samira befürchtete, er würde früher oder später seine Schwester aufwecken. Deswegen blieb sie am Bettrand sitzen und streichelte ihm beruhigend den Rücken.

Sie durfte nicht riskieren, dass die Kinder aufwachten und nach ihrer Mutter verlangten. Seit Aada gestern von der Versammlung zurückgekommen war, saß sie in der Küche und schluchzte hysterisch.

Von ihnen beiden war Aada immer die mädchenhaftere gewesen. Ständig darauf bedacht, ihre Kleider nicht schmutzig zu machen, schmerzempfindlich und eitel. Obwohl sie nicht viel älter war als Samira, hatte sie sich ihr gegenüber nie verhalten wie eine Schwester, sondern sich als zweite Mutter aufgespielt. Nach ihrer Hochzeit mit Thamar war sie ruhiger geworden. Obwohl sie immer noch jeden Tag in ihrem Elternhaus vorbeischauten, sprach Aada kaum ein Wort mit ihrer kleinen Schwester. Die beiden Kinder hingen umso mehr an ihrer Tante.

Samira schob Rhea fast bis zur Wand, dann rollte sie eine Decke zusammen und legte sie zwischen die Kinder, damit sie sich nicht gegenseitig im Schlaf traten. Nachdem sie jedem von ihnen einen Kuss auf die Stirn gedrückt hatte, schlich sie in die Küche. Aada saß auf einem Stuhl, die Knie angezogen, den leeren Blick auf einen Punkt an der Wand gerichtet, und schniefte. Wenigstens hatte sie aufgehört, zu schluchzen. Thamar stand hinter ihr, die Hände auf ihre Schultern gelegt. Ihr Vater und ihr Großvater saßen am Tisch, ihre Hände fest um Teebecher geschlossen, die ihre Mutter aus einer Kanne nachfüllte, die sie anschließend wieder über das Feuer hängte.

Samira nahm sich etwas von dem frischen Tee, bevor sie sich zu den anderen setzte. »Sollten wir packen? Oder wollt ihr hierbleiben und auf Nalani warten, wie Aidan es vorgeschlagen hat?«

Ihr Vater räusperte sich. Er sprach leise, als wollte er verhindern, dass Aada ihn hörte und wieder in Tränen ausbrach. »Nalani hat keine Chance. Livius meinte, wir sollten unsere Sachen auf einen Ochsenkarren laden. Wenn die Tiere unterwegs eingehen, können wir immer noch nehmen, was wir tragen können, und den Rest zurücklassen. Vorerst versuchen wir, so viel mitzunehmen, wie irgend möglich, damit wir nicht mit leeren Händen ankommen.«

Ihre Mutter deutete auf einige Körbe und Fackeln, die in der Ecke standen. »Es ist schwierig, abzuschätzen, was wir mitnehmen sollten. Ursprünglich wollte ich alle unsere lang haltbaren Vorräte einpacken. Aber Livius meinte, Lebensmittel verfallen sowieso innerhalb weniger Tage. Wir sollten lieber dicke Kleidung und Decken mitnehmen. Es ist kalt in den Schatten.«

Samira spürte die Kälte, von der ihre Mutter sprach, als wäre sie bereits in der Wüste. Sie zog sich die Ärmel ihres Wollpullovers über die Finger. »Was macht Aidan? Wird er hierbleiben?«

Großvater schnaubte. Zwischen Aidan und ihm brannte eine Fehde, die weit älter war als Samira und an deren Auslöser sich wahrscheinlich längst niemand mehr erinnerte. »Er hat sich gestern einige neue Feinde gemacht. Nicht damit, dass er Nalani auf eine aussichtslose Mission geschickt hat, sondern damit, dass er den Rat hintergangen und die Aussichtslosigkeit des Unterfangens kleingeredet hat. So weit ich das mitbekommen habe, wollen sich trotzdem alle Livius anschließen. Das ist für Aidan natürlich ein Schlag in die Magengrube. Lieber bleibt er hier, um alleine zu sterben, als sich weiter zu blamieren, indem er mit uns kommt.«

»Wenn Nalani Erfolg hätte, würde ihm das nichts mehr bringen«, stellte Thamar fest. »Er wäre mit Dore und ihr allein im Dorf und niemand würde jemals davon erfahren.«

»Du denkst doch nicht, dass er im verlassenen Dorf hocken würde?« Vater schüttelte den Kopf. »Er würde uns suchen und zurückbringen. In den Schatten weht kein Wind, der unsere Spuren verwischt. Er würde uns finden.«

Mutter setzte sich neben Aada und strich ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. »Wir könnten nicht mehr zurück. Wer weiß, was Ahasverosh als Wiedergutmachung für unseren Verrat verlangen würde.«

Nach diesen Worten legte sich eine vollkommene Stille über den Raum, die alles unter sich erstickte, wie eine fest gewebte Decke ein Feuer erstickt. Aadas Brust bebte, doch kein Laut drang über ihre Lippen.

Samira war nun selbst zum Heulen zumute, aber keine Träne stieg in ihr hoch, als wären die Quellen hinter ihren Augen versiegt. Das war die wahre Schwachstelle in Livius‘ Plan. Indem sie den Giganten aufgaben, begingen sie Verrat. Überlebte er, würde es ihn nach Rache dürsten.

Ein dumpfes Klopfes durchbrach die Stille. Großvater war der erste, der sich aus seiner Starre löste. Ohne zu kommentieren, was er tat, ging er nach draußen. Obwohl er die Haustür geschlossen hatte, hörte Samira, wie er sich mit jemandem unterhielt. Sie konnte nicht verstehen, was gesprochen wurde, erkannte aber an der Tonlage des Gemurmels, dass der zweite Sprecher ebenfalls ein Mann war.

Großvater kam wieder herein und setzte sich. »Es ist für dich, Samira. Du solltest hinausgehen.«

Sie nickte und ging vors Haus. Dort stand Eleazar, die Schultern gebeugt, als würde er jederzeit damit rechnen, von ihr verprügelt zu werden. Neben ihm lag ein großer Rucksack im Dreck.

»Was hast du vor?«

»Komm her.« Er langte nach ihrer Hand und versuchte, sie an sich zu ziehen, doch sie widersetzte sich. Also schlang er seine Arme um sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

Samira erwiderte die Umarmung nicht, stieß ihn aber auch nicht weg. »Du willst Nalani holen.«

»Wenn ich mich beeile, schaffen wir es rechtzeitig zurück, bevor ihr aufbrecht.«

»Ohne dich gehe ich nicht.«

»Sei nicht dumm.« Er strich ihr das Haar aus der Stirn und versuchte, sie zu küssen, doch Samira wich ihm aus. »Du musst gehen. Versprich es mir. Wenn ich bis dahin nicht zurück bin, heißt das nicht, dass wir uns nie wiedersehen. Das heißt nur, dass ich zu langsam war. Denn wenn wir wiederkommen und das Dorf leer vorfinden, bleiben wir nicht hier. Wir folgen euch. Zwei Menschen mit nichts als den Rucksäcken auf ihren Rücken sind schneller als ein ganzes Dorf mit Ochsenkarren.«

»Woher weißt du, wohin sie gegangen ist? Ich dachte, Aidan verrät niemandem, an welchem Punkt sie in die Schatten getreten ist, um zu verhindern, dass jemand sie nach Hause bringt, bevor sie ihre Mission vollenden kann.«

»Ich habe ihm gesagt, dass ich sie unterstützen werde. Er hat wohl mehr Vertrauen in mich als in sie. Außerdem verdoppelt das unsere Chancen.«

Samira nickte langsam. Sie schlang die Arme um seinen Hals und gab ihm einen langen Kuss. »Ich verstehe ja, dass du das tun musst. Aber bitte, geh einfach. Je länger du jetzt noch bleibst, desto schwieriger wird es für mich, dich ziehen zu lassen.«

Er löste sich von ihr, schulterte den Rucksack und ging.