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Alexandra Scherer (Hrsg.), Grenzenlos

Umschlaggestaltung: T. Arens

Satz: zuckerstudio waldbrunn

© Berlin, Wangen 2015

Books on Demand GmbH

ISBN: 9783739282909

INHALT

VORWORT

Flucht, Vertreibung, Heimatlosigkeit – in regelmäßigen Abständen bricht diese Thematik aus der Nichtbeachtung aus, stört den Schlaf des gesellschaftlichen Bewusstseins und fordert nicht nur ein Bekennen, ein Stellungnehmen ein, sondern vor allem: Lösungen.

Lösungen zu liefern, kann nicht Aufgabe der Literatur sein. Dennoch geht mit dem Diktum, dass Literatur nicht nur Zustände wiedergeben, sondern Missstände sichtbar machen müsse, eine Verpflichtung zur Ehrlichkeit einher. Andererseits: »Es ist keine Kunst ein ehrlicher Mann zu sein, wenn man täglich Suppe, Gemüse und Fleisch zu essen hat.« (Georg Büchner) Das Paradoxe dieser Situation ruft sich gerade angesichts der oben umrissenen Thematik schmerzlich ins Bewusstsein.

Wie damit umgehen? – Als die Idee zu dieser Anthologie aus einer politischen Diskussion im Schriftstellerforum dsfo.de entstand, zeigte sich schon die Verschiedenartigkeit der Ansätze, der Motivationen: Zum Nachdenken wollte man anregen, die politische oder soziale Debatte beeinflussen, man wollte persönliche Erfahrungen verarbeiten oder die Komplexität der Problematik aufzeigen.

In der Konzeption dieser Anthologie wurden keine Grenzen gezogen, die Art der Herangehensweise den Autoren freigestellt. Dennoch sind weder Zusammenstellung noch Entstehung der Texte willkürlich. Bewusst wurden die Kommunikationsmöglichkeiten des Internets genutzt, die einzelnen Arbeiten einem fortwährenden Diskurs ausgesetzt. Diese Anthologie ist mehr als eine Sammlung isoliert voneinander verfasster Texte – sie ist das Resultat eines gemeinsamen Lesens und Diskutierens. Wir hoffen, dass sich dieser Ansatz in der Spannweite und Aussagekraft der Texte niederschlägt.

Die Herausgeberin dankt allen Beteiligten für ihren Einsatz, ihr Engagement und ihre Offenheit, die aus einer spontanen Idee ein Werk entstehen ließen, das für sich selbst sprechen kann.

Wangen im Allgäu, Berlin, den 13. November 2015

Der gesamte Gewinn aus dem Verkauf dieser Anthologie geht an karitative Projekte. Unter

https://grenzenlosdieanthologie.wordpress.com/ können Sie sich über die Verteilung der Spenden informieren.

I DAS FREMDE UND VERTRAUTE

kay weingarten

ABSTRAKTAT

so lang er handeln kann//  
  //so lang er handeln kann
und er verhandeln kann//  
  //und er verhandeln kann
und was vertreiben//  
  //was vertreiben
wen vertreiben//  
  //wen vertreiben
zählen kann//  
  //zahlen kann
so lang zählt er//  
  //so lang zahlt er
und ist frei//  
  //ist er frei
setzt er frei//  
  //sitzt er frei
zügig zonen//  
  //und verbannt
als ob’s//  
  //hier stirbt
kein// er
so obszön// hinter zäunen
hinter zäunen//  
gäbe//  

Jack Burns

LICHT

Sommer in Wolgograd

Eins, zwei, drei … zähl ich meine Schritte. Geht sie wirklich neben mir durch diesen Park in dieser Stadt? Sie lacht mich an, ohne Berechnung, singt und tänzelt. Vor - zurück.

Sie ist Sveta, sie ist Licht.

»Ich mag Rammstein, ich mag Deutschland. Magst du Rammstein?“

Ich denke, nein. »Ja«, sag ich. »Sing weiter, Liebste!« Den Gefallen tut sie sich. Mein Verlangen juckt sie nur, wenn es sich mit ihrem trifft. Lange Tage an der Wolga, kurze Nächte im Hotel. Vögeln, Wodka, Borschtsch und Vögeln, bis zum Morgengrau’n. Ich wecke sie mit einem Scherz, den hat der Teufel mir gesagt. »Svetoschka aus Kasachstan, bläst, wie’s keine andre kann.« Kaum heraus, klatscht ihre Hand, so klein und zart, in mein Gesicht.

»Fick deine Mutter, deutscher Arsch, ich komme nicht aus Kasachstan.«

Ich liebe dich, denk ich und sag’s, worauf sie wieder lachen muss. Dann gibt sie meinem ganzen Leib einen letzten nassen Kuss.

Herbst in Skype

»Ich vermisse dich.«

»Warum so melancholisch, meine Schönheit?«

»Scheiße. Schon drei Monate. Und noch immer keine Antwort wegen des Visums.«

»Bürokratie.«

»Ich halt das nicht aus. Vielleicht lehnen sie ab.«

»Quatsch!«

»Kwaaschsch! Deutsch ist lustig.«

Winter in Berlin

»Wie soll ich hier mit meinen Schuhen gehen? Alles voll Eis und Schnee. Ich habe noch nie so lange auf die Bahn gewartet. Warum ist hier alles so dreckig? Wann arbeitet dein Internet wieder? Ich muss Mama anrufen. Das ist ja hier wie im Dorf.«

Die Bahn fährt auch in den nächsten Tagen nicht oder nur sehr unregelmäßig.

Die Frau vom Kundenservice schlägt mir vor, einen Anwalt zu kontaktieren, wenn ich mit dem Provider unzufrieden bin. Svetlana ruft ihre Mutter vom Internetcafé aus an.

Der Schnee wird über mehrere Wochen nicht geräumt. Noch lange nach Svetas Besuch werden die Berliner durch die Straßen rutschen.

Ich schäme mich. Ich entschuldige mich für meine Stadt, für mein Land.

»Normalerweise ist das nicht so.«

»Fünf Monate warten und ein Haufen Geld, um dieses Kackland zu besuchen«, schreit sie.

»Ich dachte, du besuchst mich«, sage ich mit Dackelblick.

»Du bist Kwaaschsch!« Sie hält mein Gesicht fest und schleckt mich ab. Dann vögeln wir. Dann fliegt sie nach Hause.

Frühling in Skype

»Meine Liebste …«

»Ach, schieb’s dir in den Arsch. Ist das eure Demokratie? Wenn sich Männer heiraten, ist das kein Problem für euch. Aber eine russische Frau muss sich erniedrigen, bevor sie reindarf in euer Paradies. Ich hab ein Diplom, einen guten Job. Ich hab das nicht nötig.«

»Ich hab die Gesetze nicht gemacht.«

»Nein.«

»Wir müssen einfach etwas Geduld haben.«

»Der Onkel meiner besten Freundin war in Odessa.«

»Du meinst …«

»Ja. Er wollte demonstrieren, gegen die Faschisten. Sie haben ihn verbrannt.«

»Lass uns nicht jetzt darüber reden.«

»Eure Journalisten, eure Politiker solidarisieren sich mit den Faschisten. Korrupte Oligarchen putschen sich an die Macht und wer protestiert, wird umgebracht.«

»Beruhige dich, Sveta! Ich liebe dich.«

»Wenn du mich liebst, dann weißt du auch, in welcher Stadt ich lebe.«

»Wolgograd?«

»Stalingrad! Und meine Großeltern haben auch hier gelebt – bis ihr sie ermordet habt.«

»Ich war da noch gar nicht geboren.«

»Die neuen Faschisten tragen jetzt auch SS-Abzeichen. Ihr gebt ihnen Geld und Waffen.«

»Svetlana. Ich geb niemandem irgendwas und ich hab niemanden ermordet.«

»Ich weiß. Ich bin nur so …«

»Traurig?«

»Wütend.«

»Vielleicht reden wir besser morgen weiter.«

»Besser übermorgen.«

»Ich lieb dich.«

»Ich … Bis bald!«

Ein Sommer in Barcelona

Eins, zwei, drei … zähl ich meine Schritte. Meine Frau geht neben mir, Katja jagt die Tauben. Die Stadt ist warm und duftet zart, Eiscreme tropft von meinem Bart. Sveta wischt ihn sauber, leckt jeden Finger ab. »Vermisst du – Heimat?«, frag ich sie.

»Und du?« Wir lachen und wir lachen. Dann ruft sie unsrer Tochter zu: »Wir müssen bald nach Haus.«

Sie ist Sveta, sie ist Licht. Und Katja ist die Sonne.

»Ich liebe euch«, sag ich und denk es und sie denkt es auch. »Hast du Rammstein je gemocht?«, frage ich und sie sagt – nichts. Doch lächeln tut sie, ganz verschmitzt, wie über einen schlechten Witz.

Der trotzdem witzig ist.

Miriam Malik

DREI STUNDEN BIS SONNENAUFGANG

Wumms.

Ahmed schreckt hoch, knipst die Nachttischlampe an. Sein Herz rast. Was war das? Eine Bombe? Eine Granate? Nein. Nur die Tür ist zugeschlagen. Mit zitternden Händen aktiviert er sein Smartphone. Es ist drei Uhr fünf morgens. Er hat geschlafen. Das ist immerhin schon etwas. Allerdings nicht länger als dreißig Minuten. Ahmed ist müde. Todmüde. Er atmet tief durch, legt sich dann wieder hin, zieht die Decke hoch bis zum Kinn. Das Licht lässt er brennen. Er wagt nicht, es wieder auszuschalten. Er braucht Zeit, um sich zu beruhigen. An Schlaf ist erst einmal nicht zu denken.

Wie oft hat er beklagt, dass sie die Türen nicht leise zumachen können.

„Das ist eine Brandschutztür“, sagt der Wachmann. „Die schließt automatisch. Das ist Vorschrift.“

„Es ist eine alte Tür“, meint die Frau vom Hilfskreis und zuckt hilflos mit den Achseln. „Leider kann ich nichts für Sie tun. Die Toiletten sind nun einmal auf der anderen Seite der Brandschutztür. So ist das eben hier in der Kaserne.“

„Natürlich können wir die Tür leise schließen, Ahmed. Wir werden in Zukunft darauf achten“, sagen die anderen, die mit ihm auf dem Gang wohnen. Doch natürlich tun sie es nicht. Und keiner möchte mit ihm das Zimmer tauschen.

Wumms.

Ahmed greift wieder nach seinem Handy. Drei Uhr neun. Der Toilettengänger ist auf dem Weg zu seinem Schlafzimmer. Ahmed hört seine Schritte durch den Gang hallen, lauscht darauf, wie sich irgendwo eine Tür öffnet und kurz darauf wieder schließt. Ahmed atmet tief durch, löscht das Licht. Doch Schlaf will sich nicht einstellen. Irgendwann gibt er auf, schaltet das Licht wieder an, aktiviert sein Smartphone, öffnet Facebook.

Er verzehrt sich nach einem Stück Normalität.

Seine Schwester hat Bilder von einem fröhlichen Kindergeburtstag gepostet. Sie ist jetzt in Saudi-Arabien. Sein Bruder hat ein Video seines Sohnes beim Radfahren eingestellt. Er wohnt jetzt in Schweden. Davor, dazwischen, danach haben Freunde, Cousins und Tanten Nachrichten geteilt – über Fassbomben-Angriffe, Selbstmordanschläge, Folteropfer, Zerstörungen des IS.

Ahmed legt sein Handy weg. Die Bilder aus den Nachrichten bleiben. Sie vermischen sich mit seiner Erinnerung an den leblosen Körper seiner Verlobten Maryam, die von einer Mörsergranate tödlich getroffen wurde. Nach ihrem Tod wollte er nichts anderes, als selbst eine Waffe in die Hand nehmen. Um Maryams Tod zu rächen, um diesen gewaltigen Zorn, der in ihm tobte, zu befrieden. Doch für wen hätte er kämpfen sollen? Oder gegen wen? Das Regime, der IS, al-Qaida, die anderen Rebellengruppen – standen sie nicht letztendlich alle für Terror, für Verzweiflung, für Tod? Ahmed wollte nicht für das Blut Unschuldiger verantwortlich sein und entschied sich deswegen für die Flucht.

Wumms.

Ahmed schreckt erneut hoch, seine Hände fangen wieder an zu zittern. Denk nicht an Maryam, ermahnt er sich. Es funktioniert. Doch dafür strömen neue Bilder auf ihn ein. Bilder von der Fahrt durch ein zerstörtes Syrien. Bilder vom völlig überladenen Flüchtlingsboot, das nahe Kos kenterte und drei Menschen das Leben kostete. Und in das er sich als Letzter gewaltsam hineingedrängt hatte. Bilder von der langen Flucht über den Balkan, von Streitereien mit Schleppern, mit anderen Flüchtlingen, mit der Polizei in der Türkei, in Serbien, in Ungarn. Auch in Deutschland hat er keinen Frieden gefunden. In der Erstaufnahmeeinrichtung hat er sich aus nichtigen Gründen mit ein paar Afghanen geprügelt. Er weiß nicht einmal mehr, wieso. Er wollte nicht töten und nicht kämpfen und hat es doch getan.

Wumms.

Dann haben sie ihn in diese Kaserne gesteckt, mitten im Nirgendwo, in der er mit Hunderten Fremden zusammenlebt. Er fragt nicht, woher sie kommen, denn er weiß es anhand ihrer Namen, ihrer Redeweise, ihres Wohnortes. Wie die meisten von ihnen hat er den Tod gesehen, wie die meisten von ihnen selbst getötet. Doch das ist eine Gemeinsamkeit, die sie nicht verbindet, sondern trennt. Sie dürfen nicht wissen, was er getan hat, er darf nicht wissen, was sie getan haben. Sie müssen zusammenleben.

Wumms.

Manche hier versuchen, ihm zu helfen. Bei den Papieren und beim Deutsch lernen zum Beispiel. Andere kommandieren ihn herum. Bei der Registrierung, bei der Essensausgabe, beim Arztbesuch. Das Asylverfahren läuft endlos. Er ist allein mit seinen Gedanken, zur Untätigkeit verdammt, darf nicht arbeiten. Doch selbst wenn – was soll er tun? In Syrien hat er Intarsienarbeiten verkauft. „Du bist nicht qualifiziert“, sagen sie hier. „Das wird schwer.“ Jetzt haben sie wieder Grenzkontrollen eingeführt. Ihr seid zu viele, du bist nicht mehr willkommen, lautet die Botschaft. Deutschland öffnet Türen, um sie wieder zuzuschlagen.

Wumms.

Ahmed sieht wieder Maryams Gesicht vor sich. Er atmet tief durch. Vier Uhr, sagt das Smartphone. Zwei Stunden noch bis Sonnenaufgang. Acht Stunden bis zum Mittagessen. Sechzehn Stunden bis Sonnenuntergang.

Andi Roscher

EINE WOCHE IM PARADIES

wenn

ich mich am montag morgen aus dem schlachtfeld

meiner alpträume schäle

in pflichterfüllung meines ein-euro-jobs alte

kaugummis von parkbänken und

unkraut aus den ritzen von waschbetonplatten pule

rechnungen so alt und groß wie kontinente auf mir lasten

mir eingänge von supermärkten so unüberwindbar wie

die grenzen zum vatikan erscheinen

ich mich nachts in räusche flüchte die ich nie bezahlen könnte

mich am wochenende in ein pokemon verwandle das

meinen kindern eine heile plastikwelt beschert

das am sonntag abend an den rasiermesserscharfen

kanten meiner abgrundtief schwarzen bettdecke

verblutet wie eine sau im schlachthof

dann

ist mein beschissener kosmos nur eine hundertstel facette

vom auge einer schmeißfliege

erahne ich doch

den godzilla der

dich tag für tag und

nacht für nacht

vor sich her treibt,

Refugee

Helen Skrobski

VON WÖLFEN, ZIEGEN UND BIBERN

Vor langer Zeit lebte auf einem Damm eine Familie fleißiger Biber.

Eines Tages brach ein fürchterliches Unwetter über sie herein. Der Damm wurde zerstört und die Biber machten sich auf die Suche nach einem Unterschlupf. So kam es, dass sie eine alte Scheune fanden, die von Ziegen bewohnt war.

Der älteste der Biber trat an das Tor und erhob seine Stimme. »Bitte, Ziegen, seid so gütig, lasst uns hier nächtigen. Es regnet und stürmt und unser Damm kann uns nicht mehr beschützen. Wir werden euch nicht zur Last fallen und helfen, wo wir können!«

Die Ziegen betrachteten die Fremdlinge mit Misstrauen und berieten, was zu tun sei.

»Habt ihr diese langen Zähne gesehen?«, wollte eine der Ziegen wissen.

»Und ihre platten Schwänze?«, fragte eine andere.

»Wie sollen sie uns helfen, so klein wie sie sind?«, wunderte sich eine Dritte.

Die älteste der Ziegen trat vor die Jüngeren und bat um Ruhe. »Ihre Zähne mögen lang sein, die Schwänze platt und ihre Größe gering. Aber sie haben uns um Hilfe gebeten und sie wollen sich erkenntlich zeigen. «

»Und wenn sie Böses im Schilde führen?«, fragte die jüngste und ängstlichste Ziege.

»Das, mein Kind, kann niemand wissen, nicht einmal die Sterne«, antwortete die Älteste.

»Platz ist hier nicht einmal für unsereins genug!«, jammerte die Nächste. »Zu klein ist die Scheune, zu groß sind die Löcher im Dach und zu stark ist der Regen.«

Die Biber hörten den Streit der Ziegen und überlegten, was sie tun könnten.

»Wenn wir ihr Dach reparieren«, sagte einer von ihnen, »dürfen wir vielleicht in ihrer Scheune hausen. Es würde nicht lange dauern, und wenn das Unwetter vorbei ist, kehren wir zu unserem Damm zurück. Dann bauen wir einen, der dem nächsten Regen standhält!«

Die Ziegen schliefen bereits tief, als die Dämmerung anbrach. In stillem Einverständnis hatte ihr Oberhaupt den Bibern angeboten, den Unterschlupf zu teilen. Die Biber begannen mit ihrer Arbeit und versuchten, sie so leise wie möglich zu verrichten. Sie sammelten große, stabile Äste und kletterten auf das Dach der Scheune.

»Es ist kalt«, sagte der eine Biber. »Was haben wir davon, wenn wir ihr Dach herrichten?«

»Wir sollten weiterziehen«, grummelte ein anderer.

»Liebe Freunde«, fing der Älteste an, »stellt euch vor, das Schicksal führt unsere Brüder und Schwestern eines Tages an genau diesen Ort, wenn sie Not leiden. Auch für sie wird es dann trockene Stellen geben.«

»Und wenn sie uns fortschicken, nachdem wir unsere Arbeit getan haben?«

»Das, meine lieben Freunde, kann niemand wissen, nicht einmal die Sterne.«

Auf der Jagd nach Beute pirschte sich ein Rudel Wölfe an die Scheune heran. Sie waren hungrig und schon seit vielen Nächten umhergestreift.

Kaum hatten sie die Ziegen in der Scheune gewittert, lief ihnen das Wasser im Maul zusammen.

Sie versteckten sich hinter den Büschen und legten sich auf die Lauer.

Als sie jedoch die Biber entdeckten, zögerten sie für einen Moment.

»Seht ihr diese langen Zähne?«, fragte der eine Wolf.

»Sie dringen durch Holz, als wäre es Butter!«

»Und diese platten Schwänze?«, wunderte sich der Zweite. »Sie schlagen damit sogar Nägel in die Balken!«

»Aber sie sind doch so klein, was können sie schon ausrichten?«, warf ein Dritter ein.

Der älteste und weiseste Wolf trat hervor und knurrte. »Das, meine lieben Freunde, kann niemand wissen, nicht einmal die Sterne. Wir müssen achtgeben.« Er schwieg eine Weile und lief ziellos hin und her. »Treue Freunde, ich habe eine Idee.«

Lautlos näherten sich die Wölfe der Scheune und starrten mit sabbernden Mäulern durch eine Spalte im Holz.

»Liebe Ziegen, kommt und hört, was ich zu sagen habe«, sprach ihr Anführer.

Die Ziegen wachten auf und gähnten.

»Wer wagt es, uns um diese Zeit zu stören?«, wollte die älteste Ziege wissen.

»Ein Freund, der euch vor großem Unglück bewahren möchte!«, antwortete der Wolf. »Drum lauscht meinen Worten mit Bedacht.«

Die älteste Ziege bat die Jüngeren, näherzukommen, damit sie dem Fremden zuhören konnten.

»Eure Gäste, die Biber«, begann der Anführer der Wölfe, »wollen euch Böses antun.«

»Sie wollen uns helfen!«, protestierte die jüngste Ziege.

»Helfen?«, sprach der Wolf und grinste. »Habt ihr die langen Zähne gesehen? Sie dringen durch Holz, als wäre es aus Butter. Ihre Schwänze sind so stark, dass sie Balken zerstören können! Und sind die Löcher im Dach nicht größer geworden? Könnt ihr es denn nicht sehen? Seid ihr so blind, werte Ziegen?«

Die Ziegen schauten nach oben und betrachteten das Dach.

»Jetzt kann ich es sehen!«, rief die eine Ziege aufgeregt. »Das Loch hier vorne war gestern noch kleiner!«

»Und das dort drüben«, meckerte die Nächste, »ist ganz neu!«

Der Anführer der Wölfe senkte den Kopf und beteuerte sein Mitleid. »Es war töricht von euch, diesen Fremden zu vertrauen. Ihr solltet sie noch heute Nacht verjagen!«

Während die Wölfe in ihr Versteck zurückkehrten, versammelten sich alle Ziegen im Kreis und berieten, was nun zu tun sei.

»Die Biber, sie wollen uns ertränken!«, empörte sich die Erste. »Sie machen Löcher ins Dach, damit der Regen in die Scheune kommt.«

»Und sobald wir tot sind«, meckerte eine Zweite, »machen sie die Löcher zu und nehmen unsere Scheune ein!«

»Sie dürfen keine Sekunde länger bleiben!«, beschloss die älteste Ziege.

Und so geschah es, dass die Ziegen die Biber von ihrem Hofe vertrieben.

»Endlich«, sagte die erste Ziege, »muss ich keine Angst mehr haben, zu ertrinken!«

»Endlich«, sagte die zweite Ziege, »muss ich keine Angst mehr haben, von Balken erschlagen zu werden!«

»Endlich«, sagte die dritte Ziege, »muss ich keine Angst mehr haben, totgebissen zu werden!«

»Endlich«, sagte die älteste Ziege, »ist alles wieder wie vorher!«

Als der Mond hoch am Himmel stand, legten sich die Wölfe auf die Lauer.

Der Anführer beobachtete die schlafenden Ziegen durch den Spalt und bleckte die Zähne.

»Endlich«, fing er an, »sind die Biber verschwunden!«

»Endlich«, sagte der Zweite, »müssen wir nicht mehr hungern!«

»Endlich«, sagte der Dritte, »ist die Zeit gekommen!«

Christof Sperl

MIT ERHOBENEM FINGER

Passkontrolle. Departure. Gelbe Schrift auf braunem Hintergrund. Die Beamtin in der erdfarbenen Uniform lächelte mir kurz zu, nickte, um mich zum Herantreten aufzufordern. Ein Blick ins runde Kameraauge, das ich während der gesamten Prozedur fixieren sollte. Foto, Abgleich, alles schien zu stimmen, denn die Beamtin hämmerte schon den Stempel in meine Papiere und entfernte die Ausreisekarte. Eine kurze Kopfbewegung nach hinten, weitergehen. Das war hier alles andere als unhöflich, zumal die Geste von einem Lächeln begleitet wurde, das lange anhielt. Die Frau schob mir den Pass durch die Aussparung im Fenster in meine Bewegung links vorbei am Schalter hinein. Ich dankte mit zusammengelegten Händen, dazwischen Bordkarte und Pass, die Spitzen der Zeigefinger auf Nasenhöhe: »Korp khun khrap.«

Auf dem endlos langen Flug kamen Erinnerungen. Wie immer war es sehr heiß gewesen, meistens mehr als dreißig Grad, was meine Körperfunktionen verzögert hatte. Zweimal pro Woche rasieren, das war in diesem Klima genug: Feuchtwarme Luft, die auch die Menschen in ihren Bewegungen sehr langsam werden ließ. Bestellte man sich ein kaltes Getränk, bildete sich nach ein paar Sekunden auf der Tischplatte eine kleine Pfütze aus Kondenswasser ums Glas herum.

Ich hatte mich, wieder einmal, für ein paar Wochen in diesem goldverzierten, bunten Land aufgehalten, in dem Frauenstimmen wie Gesang, die der Männer aber wie Nachrichten aus einem billigen Transistorradio klangen, in dem alle Entscheidungen langwierig im Kollektiv getroffen wurden, und die wichtigste Gesprächsgrundlage diejenige über das Essen war. Man aß hier ohnehin fast ohne Unterlass, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Wer um sieben schon einmal satt war, holte sich auch um zehn noch was.

Ich hatte mich an die unablässige Sozialkontrolle gewöhnt, mich Tag und Nacht in der Familie bewegt, immer jemanden um mich gehabt, in den wenigen Augenblicken des Alleinseins manchmal nach dem Weg gefragt und oft den erhobenen Zeigefinger zu sehen bekommen, der nicht zum ersten Stock deuten, sondern so etwas wie ›dort hinten‹ bezeichnen sollte. Manches Mal hatte man mich zum Herbeikommen gelockt; ich hatte schon gelernt, dass es immer etwas zu verkaufen gab, doch das war mit der Handfläche nach unten geschehen, wobei alle Finger außer dem Daumen sich mehrmals und flink zum Handgelenk hin gekrümmt hatten. Eine Geste, wie sie zu diesem Zwecke bei uns üblich ist, wäre sehr unhöflich gewesen, genauso wie auch ein Pfeifen, ob es nun eine Melodie war, oder bloß einem Hunde galt.

Die armen Hunde. Sie waren ohnehin nur gekommen, wenn es Aussicht auf etwas zu fressen gegeben hatte. Und hatte man ein Stück Holz aufgenommen, um mit dem Tier zu spielen, war es, als das ewig geschlagene und verjagte Wesen, vor lauter Angst mit geducktem Schritt und durchhängendem Rücken geflüchtet.

Nicht nur die Bedeutungen der Gesten unterschieden sich von denen, die ich aus meiner Heimat kannte, sondern auch die Art, wie und worüber man sich unterhielt: Warum ist dein Mann so dick geworden? Warum bist du so dünn? Warum hast du so viele Pickel? Was verdienst du im Monat? Das wären bei uns Fragen höchster Indiskretion, die nach den Pickeln konnten Teenager zum Heulen bringen, und vor allem die nach dem Einkommen wäre für jeden Franzosen der Tabubruch schlechthin. Dort aber, im Land der siebenundvierzig Personalpronomen, war all das gewöhnliche Frage und Rede, deren ungenaue Beantwortung ein Höchstmaß an Ideenreichtum erforderte. Manches Mal war ich für Erklärungen zu faul, und manches Mal hielten die Regeln meiner Herkunft und Prägung mich davon ab, genauer auf all die Fragen einzugehen.