Die Drei Fragezeichen
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Der geheime Schlüssel

erzählt von André Marx

Kosmos

Umschlagillustration von Silvia Christoph

Umschlaggestaltung von eStudio Calamar, Girona, auf der Grundlage

der Gestaltung von Aiga Rasch (9. Juli 1941 – 24. Dezember 2009)

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© 2013, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Mit freundlicher Genehmigung der Universität Michigan

Based on characters by Robert Arthur.

ISBN 978-3-440-14200-4

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Für Olaf – Entdecker der Mobimecs,
Testrätsler und Lieblingsbruder

Ein Schlüssel für den Mobimec

Als Justus Jonas das Blech-Äffchen auf den Boden stellte, begann dieses, wie verrückt im Kreis zu hüpfen und die Metallscheiben in seinen Händen scheppernd gegeneinander zu schlagen. Währenddessen surrte der Schlüssel in seinem Rücken so lange gegen den Uhrzeigersinn, bis die mechanische Feder im Innern des Spielzeugs ihre Spannung verloren hatte und das Äffchen mit einem letzten Scheppern zum Stehen kam. Justus sah die junge Frau, die sich nach altem Blechspielzeug erkundigt hatte, Beifall heischend an. Doch die Dame mit dem dunklen Haar und den vielen Sommersprossen verzog nur missmutig den Mund.

»Das ist nicht ganz das, was mir vorschwebte«, sagte sie.

»Ach so«, antwortete Justus. Aus den Augenwinkeln suchte er das Gelände des Gebrauchtwarencenters Titus Jonas nach seinem Onkel und seiner Tante ab, denen das Geschäft gehörte. Diese Kundin schien ein schwieriger Fall zu sein. Und die überließ er lieber seinen Erziehungsberechtigten, schließlich war er hier nur die Aushilfe. Doch weder Onkel Titus noch Tante Mathilda waren irgendwo zu sehen. »Woran hatten Sie denn gedacht? Ich glaube, wir haben irgendwo noch aufziehbare Blechautos. Ich müsste meinen Onkel fragen, ob –«

»Es ist nicht wichtig, was für ein Spielzeug es ist«, unterbrach ihn die Frau und straffte ihr dunkles Kostüm. »Es ist nur wichtig, wer es hergestellt hat. Ich suche ausschließlich Stücke der Firma Kopperschmidt. Um genau zu sein: ein Spielzeug, zu dem dieser Schlüssel passt.« Sie kramte in ihrer teuer aussehenden schwarzen Handtasche und hielt Justus einen kleinen Schlüssel unter die Nase, der in einem siebeneckigen, hohlen Metallstift endete. Justus nahm ihn entgegen und betrachtete ihn genauer. In kleinen, geschwungenen Buchstaben war der Name ›Kopperschmidt‹ eingraviert, außerdem ein Logo, das einen stilisierten Schlüssel darstellte. »Tja«, sagte Justus ratlos. »Ich muss gestehen, ich habe keine Ahnung, ob wir etwas von der Firma Kopperschmidt hier haben. Aber ich werde meinen Onkel fragen, da kommt er gerade. Einen Augenblick!«

Justus war froh, Onkel Titus endlich erspäht zu haben und sich von der Kundin loseisen zu können. Er eilte auf den kleinen, drahtigen Mann mit dem riesigen schwarzen Schnurbart zu. »Onkel Titus! Da drüben fragt eine Kundin nach Blechspielzeug von der Firma Kopperschmidt. Sagt dir das was?«

»Kopperschmidt? Aber natürlich. Das sind sehr wertvolle Sammlerstücke. Doch ich befürchte, dass ich momentan keine vorrätig habe. Letzte Woche habe ich das letzte verkauft.«

»Sicher?«

»Absolut sicher. Heute früh war nämlich schon einmal jemand da und hat danach gefragt.«

Justus zuckte mit den Schultern und kehrte zu der Kundin zurück. Die war nicht sehr begeistert. »Man hatte mir gesagt, dass ich auf dem Schrottplatz von Titus Jonas alles finde.«

»Gebrauchtwarencenter«, korrigierte Justus die Dame. »Und gewöhnlich stimmt das auch. Aber wir können selbstverständlich keine Garantie dafür geben, dass wir jederzeit alles am Lager haben. Vielleicht schauen Sie einfach mal wieder vorbei. Es ist durchaus denkbar, dass wir schon in einigen Tagen –«

»Wäre es möglich, mich zu informieren, wenn etwas von Felix Kopperschmidt hereinkommt?« Die Kundin kramte ein weiteres Mal in ihrer Handtasche.

»Selbstverständlich. Wir sind stets bemüht, unsere Kunden zufrieden zu stellen. Wenn Sie mir Ihre Adresse –«

Sie presste Justus mit ihrem Zeigefinger eine Visitenkarte gegen die Brust. »Ruf mich an!«

Es geschah nicht oft, dass Justus Jonas sprachlos war. Doch nun konnte er nur wortlos die Karte entgegennehmen und nicken. Einen Augenblick später hatte die Kundin auf dem Absatz kehrtgemacht und strebte dem Ausgang zu.

Justus sah ihr kopfschüttelnd nach und warf schließlich einen Blick auf die Visitenkarte. Dort stand:

Caitlin Kopperschmidt – Rechtsanwältin

Am nächsten Tag nach der Schule betrat der Zweite Detektiv Peter Shaw den Schrottplatz und ging zielstrebig auf den staubigen, alten Campinganhänger zu, der am Rande des Geländes in der Sonne stand. Auf den ersten Blick hätte man meinen können, der Anhänger gehöre genauso zum Schrott wie die ausgeschlachteten Autowracks und die kaputten Kücheneinrichtungen drum herum. Doch das war nur der äußere Schein. Im Innern des Wohnwagens hatten sich Peter, Justus und ihr gemeinsamer Freund Bob Andrews ein Detektivbüro eingerichtet, die Zentrale, die mit allen technischen Finessen ausgestattet war. Dies war ihr Hauptquartier, ihre Operationsbasis, wenn sie gerade an einem Fall arbeiteten – oder auch nur ihr Treffpunkt in der Freizeit, wo sie stundenlang vor dem Computer oder Fernseher saßen.

Auf der Treppe entdeckte Peter einen Briefumschlag, den vermutlich Tante Mathilda dort deponiert hatte. Neugierig nahm er ihn zur Hand. Der Brief war an Justus adressiert und in New York abgestempelt. Und die Absenderin war – Lys de Kerk.

Peter stutzte. Lys. Justus’ Freundin. Oder Ex-Freundin.

Peter hatte Lys schon seit Monaten nicht mehr gesehen, und Justus hatte seit mindestens ebenso langer Zeit kein Wort über sie verloren. Es war dem Zweiten Detektiv schon lange komisch vorgekommen, dass Lys auf einmal keine Rolle mehr in Justus’ Leben zu spielen schien. Aber er hatte sich auch nie getraut nachzufragen. Dieser Brief würde vielleicht erklären, was Justus so lange Zeit nicht über die Lippen gebracht hatte.

Einen Augenblick lang überlegte Peter, ob er den Umschlag nicht mithilfe von heißem Wasserdampf heimlich öffnen und dann … nein. Er rief sich innerlich zur Ordnung und stieß die Tür zur Zentrale auf. Im dunklen, warmen Inneren herrschte wie üblich das Chaos. Bob, der für Recherchen und Archiv verantwortliche Detektiv, tippte ihren letzten Fallbericht in den Computer, während Justus in ein dickes Buch vertieft war.

»Sie haben Post«, imitierte Peter eine Computerstimme und legte ihm den Umschlag zwischen die Seiten. Dabei ließ er Justus nicht aus den Augen.

Justus warf einen Blick auf den Brief und legte ihn auf den Schreibtisch. »Danke.«

»Willst du den Brief nicht lesen?«

»Doch. Sicher.«

»Na, dann mach ihn auf!«

»Später.«

»Wie – später?«

»Später. Wenn du mir dabei nicht über die Schulter siehst.«

»Na, hör mal! Das würde ich doch nie tun!«

»Nein?« Justus legte das Buch weg, öffnete den Brief und faltete ihn auseinander, ohne eine Miene zu verziehen.

Peter, der fast vor Neugier verging, zwang sich, woanders hinzusehen.

Bob grinste in sich hinein, während er vorgab, das Geplänkel der beiden nicht zu bemerken.

Schließlich faltete Justus den Brief wieder zusammen, steckte ihn zurück in den Umschlag und wandte sich wieder seiner Lektüre zu.

Peter setzte zu einer Frage an, doch noch bevor er das erste Wort herausbrachte, klopfte es zaghaft an der Tür. Bob, der direkt am Fenster saß, warf einen Blick nach draußen. »Dein Onkel«, sagte er erstaunt. »Wie nett. Während deine Tante quer über den ganzen Schrottplatz brüllen würde, klopft Onkel Titus höflich an die Tür.«

Justus öffnete. »Onkel Titus! Was gibt’s?«

»Da ist ein Kunde, der nach Kopperschmidt-Spielzeug fragt. Offenbar ein Sammler. Ich habe ihm gesagt, dass wir leider momentan nichts dahaben. Aber dann fiel mir die Dame von gestern ein. Hatte sie dir nicht ihre Visitenkarte dagelassen? Ich dachte, vielleicht könnte man einen Kontakt herstellen.«

Justus lächelte. Das war typisch Onkel Titus – immer um das Wohl seiner Mitmenschen besorgt, auch wenn es bloß um Blechspielzeug ging. »Ich kümmere mich darum«, sagte Justus, warf noch einen Blick auf den Briefumschlag, der auf dem Schreibtisch lag, und trat hinaus auf den Schrottplatz.

Der Mann war kaum größer als Onkel Titus und von ähnlich drahtiger Statur, jedoch wesentlich jünger. Unter dem Arm trug er eine kleine Holzkiste, die mit einer schnörkeligen Schrift versehen war. Sein dunkles Haar stand ihm wirr vom Kopf, und er hatte ein freundliches, jungenhaftes Gesicht. Irgendwie kam er Justus bekannt vor, ohne dass er genau wusste, warum.

»Guten Tag. Ich bin Justus Jonas. Mein Onkel sagte mir, Sie seien auf der Suche nach Blechspielzeug?«

»Ich heiße Jeremy«, stellte sich der Mann vor und reichte Justus die Hand. »Aber ich suche kein Blechspielzeug, sondern Mobimecs. Genauer gesagt: Arme und Beine für Mobimecs. Und Schlüssel.«

Der Erste Detektiv runzelte die Stirn. »Verzeihen Sie, Jeremy, aber ich habe noch nie davon gehört. Was ist ein Mobimec?«

»Das hier.« Jeremy öffnete die Holzkiste, auf der das Kopperschmidt-Logo mit dem Schlüssel zu sehen war. Dabei hielt er den Deckel so, dass Justus die Schrift darauf entziffern konnte. Auf dem rauen Holz stand:

Ein Mobimec, der stille steht,

ein Schlüssel, der sich noch nicht dreht,

ein Bein, das von allein nicht geht,

bis jemand ihren Sinn versteht.

Justus runzelte die Stirn, doch dann wurde seine Aufmerksamkeit schon auf das gelenkt, was Jeremy aus der Holzkiste beförderte: Es war eine etwa faustgroße, kupferfarbene Spielzeugfigur mit clownähnlichem Gesicht und Haaren aus Kupferdrahtwolle. Dort, wo die Extremitäten hätten sein sollen, ragten filigrane Metallstifte aus dem Rumpf. Es war offensichtlich, dass Arme und Beine vorgesehen waren, jedoch fehlten. Als Justus durch einen kleinen Spalt am Schultergelenk einen Blick ins Innere der Figur warf, sah er ein dicht gedrängtes Gewirr aus Zahnrädern und Federn. Im Rücken des Männchens befand sich eine Öffnung, die offensichtlich zum Aufziehen der Mechanik gedacht war.

»Das ist ein original Mobimec aus dem Hause Kopperschmidt. Bei diesem Exemplar handelt es sich um einen Schlupfkrabbler. Bedauerlicherweise fehlt mir der Schlüssel dazu, deshalb kam ich hierher.«

Justus konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Schlupfkrabbler?«

»Ja. Er heißt so, weil er in Unterschlupfe krabbelt. Es gibt eine ganze Serie davon, alles handgefertigte Einzelstücke, jeder mit einem ganz eigenen Schlüssel. Aber ich dachte, ich finde möglicherweise einen anderen Schlüssel, der ebenfalls passt.«

Justus runzelte die Stirn und betrachtete die Schlüsselöffnung noch einmal genauer. Sie war siebeneckig. »Das kann kein Zufall sein«, murmelte er.

»Was meinst du?«

»Gestern war eine Kundin hier, die sich ebenfalls nach Kopperschmidt-Spielzeug erkundigte«, erklärte Justus. »Wir haben leider gerade überhaupt nichts vorrätig, aber die Dame ließ mir ihre Visitenkarte hier. Vielleicht wollen Sie sich mit ihr in Verbindung setzen. Möglicherweise kommen Sie irgendwie ins Geschäft.« Justus kramte in der Hosentasche, zog die Karte hervor und reichte sie Jeremy. Doch dieser warf nur einen kurzen Blick auf den Namen, und von einer Sekunde auf die andere verwandelte sich seine offene, freundliche Ausstrahlung in unverhohlene Ablehnung. Er lachte bitter. »Auf gar keinen Fall!«

»Sie kennen die Dame?«, fragte Justus überrascht.

»Und ob ich sie kenne. Und es ist absolut undenkbar, dass ich mich mit ihr in Verbindung setze.«

»Darf ich fragen, warum?«

»Das ist eine lange und für dich bestimmt sehr uninteressante Geschichte. Ich werde nicht mit ihr sprechen. Belassen wir es dabei.«

Justus überlegte einen Augenblick, ob er nachhaken sollte, entschied sich dann jedoch dagegen. Aber eine andere Frage ging ihm schon seit gestern nicht aus dem Kopf: »Sagen Sie, es ist doch bestimmt kein Zufall, dass Caitlin Kopperschmidt und der Spielzeughersteller den gleichen Namen haben, oder?«

Jeremy schüttelte den Kopf. »Nein, es ist kein Zufall. Caitlin ist Felix Kopperschmidts Tochter.«

»Ich verstehe. Und sie sammelt die Spielzeuge ihres Vaters?«

Wieder lachte Jeremy freudlos. »Nein, ganz bestimmt nicht.«

»Und warum hatte sie dann einen Schlüssel, nicht aber das dazugehörige Spielzeug?«

Jeremy stutzte. »Sie … sie hatte einen Schlüssel?«

»Ja. Einen siebeneckigen. Ohne mich in dieser Branche auszukennen, würde ich sagen, dass er zu Ihrem … Schlupfkrabbler passen könnte. Denken Sie, das ist ein Zufall?«

Einen Moment lang schwieg Jeremy. Nachdenklich blickte er auf das Spielzeug in seiner Hand. »Nein«, murmelte er. »Das ist ganz sicher kein Zufall. Aber ich will dich damit nicht weiter belästigen. Es war nett, dass du mir geholfen hast. Ich muss jetzt gehen.«

Noch bevor Justus etwas erwidern konnte, hatte Jeremy sich schon umgedreht. Während er zur Straße ging, packte er den Schlupfkrabbler hektisch zurück in die Kiste. Dabei hatte er es so eilig, dass sie ihm aus der Hand rutschte und auf den Boden fiel. Schnell hob er sie wieder auf, stieg in seinen Wagen und fuhr los.

»Wiedersehen«, murmelte Justus und sah ihm nach. Dann fiel sein Blick auf den Boden. Dort lag ein kleiner, zusammengefalteter Zettel, der vorher noch nicht da gewesen war. Hatte Jeremy ihn verloren? War er aus der Kiste gefallen? Justus wollte dem Mann nachlaufen, doch das Motorengeräusch verklang bereits in der Ferne. Schulterzuckend hob Justus das Papier auf. Es war wahrscheinlich nur ein Einkaufszettel. Auf dem Rückweg zur Zentrale entfaltete er ihn – und blieb überrascht stehen. Nein, kein Einkaufszettel. Es war ein in schnörkeliger schwarzer Handschrift verfasstes Gedicht.

Ein Krabbler ohne Arm und Bein

und ohne Schlüssel – kann das sein?

Zudem fehlt auch zu sei’m Verdruss

das Loch, in das er schlüpfen muss.

Drum findet alles, was ihm fehlt,

das ist das Einzige, was zählt.

Die Höhle, die der Krabbler braucht,

das sei verraten, ist verraucht.

Im roten Turm, den lange Zeit

kein Mensch erklommen weit und breit,

ist sie verborgen, gut getarnt.

Es ist gefährlich, seid gewarnt!

Denn damals, als kurz vor dem Ziel

der ganze Rest zu Staub zerfiel,

blieb nur der Turm, ganz kahl und nackt.

Seitdem ist er nicht mehr intakt.

Doch wer erklimmt den roten Stein,

der wird der Antwort näher sein.

Ein Drink für Caitlin

Als Justus in die Zentrale zurückkehrte und einen Blick auf Lys’ Brief warf, bemerkte er es sofort: Die aufgerissene Seite des Umschlags zeigte in die falsche Richtung. Er sah Peter böse an. »Könnte es sein, dass du mir etwas zu sagen hast, Zweiter?«

»Ich, äh … du … du meinst …«

»Du hast meinen Brief gelesen.«

»Ich …«, begann Peter – und verstummte. Wie auch immer Justus es herausgefunden hatte, es hatte keinen Zweck, es zu leugnen. Da half nur noch die Flucht nach vorn. »Stimmt. Warum hast du uns nicht erzählt, dass Lys aufs College nach New York gegangen ist?«

»Weil es euch überhaupt nichts angeht!«

»Was soll denn das heißen? Immerhin ist sie deine Freundin. Oder war es.«

Justus erwiderte nichts.

»Oder war es?«, wiederholte Peter, diesmal jedoch als Frage.

»Ich sehe nicht ein, warum ich jemandem, der mein Vertrauen missbraucht, indem er meine Post liest, Fragen über mein Privatleben beantworten sollte«, sagte Justus kühl.

»Mensch, Just. Bob und ich, wir sind dein Privatleben! Und trotzdem wissen wir nicht, was zwischen Lys und dir eigentlich gelaufen ist. Findest du das nicht irgendwie seltsam?«

Der Erste Detektiv ließ sich im Stuhl zurückfallen und seufzte. Stirnrunzelnd spielte er mit dem Brief zwischen seinen Fingern.

»Na?«

»Mit Lys ist Schluss, wenn ihr es genau wissen wollt«, antwortete Justus gereizt. »Und zwar schon eine ganze Weile.«

»Und warum?«, fragte Peter.

»Weil … keine Ahnung. Es hat einfach nicht gepasst. Sie war zu alt und zu schön. Und ich war zu jung und zu dick. Und dann ist sie nach New York gegangen. Und ich habe es euch erst mal nicht gesagt, weil … keine Ahnung, wieso. Reicht das jetzt?«

Peter schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, das reicht absolut nicht. Wie kommt es, dass wir das erst jetzt erfahren? Seit wann reden wir nicht mehr über solche Dinge?«

»Wir haben noch nie viel über ›solche Dinge‹ geredet. Mit gutem Grund. Diese ganze Gefühlsduselei lenkt uns nur von unserer Detektivarbeit ab!«

»Blödsinn. Wir haben doch gar keinen Fall in Arbeit.«

»Doch. Seit gerade eben.« Er steckte den Brief von Lys in die Hosentasche und zog aus selbiger den Zettel hervor, den er auf dem Schrottplatz gefunden hatte. Stolz präsentierte er ihn seinen Freunden und erzählte von dem seltsamen Kunden und der Dame, die am Vortag da gewesen war. Doch Peter sprang nicht darauf an.

»Du willst doch nur von Lys ablenken.«

Justus seufzte. »Dein Mangel an Begeisterungsfähigkeit für ungewöhnliche Begebenheiten im Alltag ist beklagenswert.«

»Dass du uns alles Wichtige, was sich in deinem Leben ereignet, verschweigst, finde ich beklagenswerter.«

»Peter, bitte …«

»Nein, im Ernst. Wir sollten das ausdiskutieren. Unbedingt.«

»Schön!«, entgegnete Justus gereizt. »Aber nicht jetzt! Okay?«

»Okay.«

Der Erste Detektiv atmete einmal tief durch und wandte sich wieder dem Zettel zu. »Ich finde die Geschichte mit diesen Schlupfkrabblern wirklich faszinierend. Und dieser seltsame Text hier … ich bin mir nicht einmal sicher, ob Jeremy überhaupt wusste, dass das Papier in seinem Besitz war. Es könnte auch aus der Kiste gefallen sein, die ist ihm nämlich aus der Hand gerutscht. Da fällt mir ein: Auf dem Deckel seiner Holzkiste stand noch so ein seltsamer Spruch. Etwas mit Mobimecs, Schlüsseln und Beinen. Und zwar in der gleichen Handschrift. Seltsam, oder? Ein guter Detektiv sollte für solcherlei skurrile Koinzidenzen immer ein offenes Auge und Ohr haben.«

»Also, ich find’s auch ganz spannend«, meinte Bob.

Justus warf ihm einen dankbaren Blick zu. »Sieh dir das mal an!« Er hielt den Zettel gegen das Licht. In dem Papier war ein Wasserzeichen. Ein stilisierter Schlüssel. »Das ist das Markenzeichen der Firma Kopperschmidt«, erklärte Justus. »Also, was sagt ihr dazu?«

Peter runzelte die Stirn. »Was sollen wir dazu sagen?«

»Komm schon, Peter! Ein rätselhafter Spielzeughersteller. Zwei fanatische Sammler, die an zwei aufeinander folgenden Tagen hier aufkreuzen. Nein, Moment: drei Sammler! Onkel Titus sprach von einem weiteren Kunden, der gestern Vormittag hier war. Und dann taucht auch noch ein Gedicht mit dem Kopperschmidt-Logo auf, das, wenn ihr mich fragt, viel mehr als nur ein Gedicht ist. Nämlich –«

»Ein Rätsel«, fiel Bob ihm ins Wort. »Das glaubst du doch, oder, Justus?«

Der Erste Detektiv nickte. »Liegt das nicht auf der Hand? In diesem Gedicht wird jemand aufgefordert, etwas zu tun. Nämlich das zu finden, was dem Krabbler fehlt. Dem Schlupfkrabbler, nehme ich an. Arme und Beine, einen Schlüssel und eine Höhle. Ich würde sagen, einen Teil des Rätsels haben wir bereits gelöst – den Schlüssel hat Caitlin. Die Höhle scheint an einem geheimen Ort irgendwo in einem roten Turm zu sein. Und Arme und Beine … nun, Fakt ist, dass dem Schlupfkrabbler, den Jeremy mir gezeigt hat, die Extremitäten fehlten.«

»Was soll das heißen?«, fragte Peter. »Du willst dich jetzt doch nicht ernsthaft mit diesem komischen Gedicht beschäftigen?«

»Das Gedicht ist ein Rätsel, Peter!«, erwiderte Justus nachdrücklich. »Womit sollte ich mich sonst beschäftigen wollen?«

»Wie kommt es eigentlich, dass, sobald irgendeine Person in Kalifornien ein Rätsel verfasst, dieses Rätsel früher oder später auf unserem Schreibtisch landet?«, fragte Bob.

»Das liegt an Justus. Unser Erster Detektiv zieht Rätsel auf magische Weise an. Und bisher hat es uns nichts als Ärger eingebracht. Aber schön, da es nun schon hier herumliegt – wie lautet die Lösung, Just? Oder kennst du sie etwa noch nicht?«

»So zutreffend deine Einschätzung meiner geistigen Fähigkeiten auch ist, Zweiter, in diesem Fall muss ich dich leider enttäuschen. Noch bin ich völlig ratlos. Daher schlage ich ein kleines Brainstorming vor: Eine verrauchte Höhle, ein roter Turm und etwas, das zu Staub zerfiel. Was fällt euch dazu ein?«

Doch so angestrengt die drei ??? auch nachdachten, sie konnten überhaupt nichts mit diesen Stichworten verbinden. Schließlich sagte Bob zögernd: »Ich habe eine Idee: Wie wäre es, wenn wir uns weniger mit dem Rätsel beschäftigen als vielmehr mit der Person, die uns bei der Lösung vielleicht behilflich sein könnte?«

»Jeremy?«, fragte Justus. »Der Gedanke ist mir auch schon gekommen. Allerdings dürfte es schwierig werden, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Ich kenne nur seinen Vornamen.«

Bob schüttelte den Kopf. »Ich rede nicht von Jeremy, sondern von der Frau, die gestern hier war und dir ihre Karte gegeben hat. Wie heißt sie? Catherine?«

»Caitlin!«, rief Justus und schlug sich gegen die Stirn. »Natürlich! Mensch, Bob, wieso bin ich nicht gleich darauf gekommen?«

»Weil es langweilig wäre, wenn immer nur der Erste Detektiv Geistesblitze hätte«, sagte Bob grinsend. »Caitlin kann uns bestimmt etwas über Schlupfkrabbler, Höhlen und die Firma Kopperschmidt erzählen. Das dürfte uns einen Schritt weiterbringen.«

»Absolut richtig, Bob!« Justus durchwühlte die Papierstapel auf dem Schreibtisch, bis er die Visitenkarte gefunden hatte. »Sie wohnt in Santa Monica. Am besten machen wir uns sofort auf den Weg.«

Caitlin Kopperschmidt wohnte in einem schicken Apartmenthaus mitten in Santa Monica. Justus, Bob und Peter fuhren mit dem Fahrstuhl in den vierten Stock und klingelten an ihrer Tür. Zu ihrem Erstaunen öffnete jedoch nicht Caitlin selbst, sondern ein hochgewachsener Mann im schwarzen Anzug, der aussah, als käme er frisch aus einem Aftershave-Werbespot. »Ja bitte?«

»Guten Abend. Mein Name ist Justus Jonas. Wir würden gern Miss Kopperschmidt sprechen.«

Ihr Gegenüber runzelte die Stirn. »Erwartet sie euch?«

»Nicht direkt. Aber sie hat uns ihre Karte gegeben.« Justus hielt dem Mann zum Beweis Caitlins Visitenkarte entgegen. Daraufhin drehte er sich um.

»Caitlin?«

»Was ist denn, George?«, drang es aus dem Apartment.

»Hier sind drei Jungs, die dich sprechen wollen.«

Einen Augenblick später stand sie neben ihm in der Tür. »Nanu! Wenn das nicht der eifrige Junge vom Schrottplatz ist.«