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Kooky Rooster

Zuviel

Dick, sensibel, ungeliebt


Dem Mut und der Liebe.


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

1| Schlangengrube

 

 

 

»Na? Wieder einmal in der Bustür stecken geblieben?«, fragte Rita, die Büroleiterin. Die fünf Kolleginnen, die sich um sie scharten, gackerten.

Wolfgang verzog das Gesicht. Es hätte ein Grinsen werden sollen, vielleicht sogar ein Lachen. Dazu wurde ihm doch immer geraten: Lach einfach mit. Aber es tat weh, es fühlte sich an wie ein Stich ins Herz, jedes einzelne Mal, dabei sollte er es doch schon längst gewöhnt sein. Er schaute zu Boden und fühlte sich unter den geifernden Blicken der Kolleginnen nackt. Sein Platz war in der hintersten Ecke, der Einzige ohne Fenster, man schaute direkt zur kahlen Wand – im Augenblick schienen ihn Kilometer davon zu trennen. Wolfgang musste direkt an den Hyänen vorbei. Panik. Er könnte stolpern, fallen, vielleicht stimmte etwas mit seiner Kleidung nicht oder er hatte Krümel im Gesicht … irgendetwas war doch immer.

»Dein Hosenstall ist offen!«, rief Elke.

Oh Gott!

Wolfgangs Ohren wurden heiß, er wollte im Boden versinken, blickte an sich runter, über den dicken Bauch, tastete nach dem Reißverschluss. Verschlossen. Alles in Ordnung. Jetzt hatte er sich zum Deppen gemacht, weil er nachgesehen hatte.

Die Schnepfen lachten.

Noch drei Meter, dann hatte es Wolfgang geschafft.

Mit einem verzweifelten Schnauben ließ er sich auf den Drehstuhl an seinem Arbeitsplatz nieder und versuchte, das unerträgliche Hämmern seines Herzens in Griff zu bekommen. Ruhig durchatmen. Es sind nur Worte. Nur Worte. Er startete den Rechner und blickte zur Uhrzeit am unteren rechten Rand des Bildschirms. 07:33. Noch zwei Stunden. In zwei Stunden würde er einige Augenblicke lang für all den Spott und Hohn entschädigt werden. Dann nämlich kam er aus dem Lager und holte die Lieferscheine ab: Simon. Ein Gedanke reichte und Wolfgangs Herz hüpfte. Er musste selig grinsen. Wie blöd ihn die Liebe machte – aber es war schön, so schön.

Wolfgang machte den Rücken breit und verschob unauffällig das Keyboard. Auf jedem Schreibtisch lag diese großformatige Unterlage mit Kalender, Logo und einem Gruppenfoto vor dem Firmengebäude. Wolfgang arbeitete erst seit vier Monaten hier und war daher noch nicht mit auf dem Bild, aber Simon. Ein süßer Stich fuhr durch seinen Bauch und ein quälend schweres Seufzen drängte aus seiner Brust. Es war kein besonders vorteilhaftes Foto, aber das war völlig egal, es machte Wolfgang dennoch die Knie weich. Simons dichte Wimpern sahen immer so aus, als wären sie nass, was ihm einen zum Niederknien sensiblen Blick bescherte. Das braune Haar war kürzer auf dem Bild, und Simon war glattrasiert. Er wirkte richtig bieder, zusammen mit dem Hemd und der Stoffhose.

Jeans und Shirts waren verboten – auch für Wolfgang. Sogar die langen Haare hatte er sich abschneiden lassen müssen. Ohne Metal-Bandshirts, schwarze Jeans und Totenkopfringe an den Fingern, fühlte er sich angreifbar und hässlich. Nicht, dass sich Wolfgang in der Kluft attraktiver fühlte, aber zumindest war sie eine Rüstung und sah cooler aus. Das weiße, dünne Hemd und die dunkelblaue Stoffhose, die er in der Firma tragen musste, betonten seine unvorteilhafte Figur, ließen seinen Bauch noch größer erscheinen und die kurzen Haare machten sein Gesicht noch runder. Ein paar Mal hatte er versucht, mit einem Bart das Kinn markanter erscheinen zu lassen, aber die beleidigenden Scherze der Kolleginnen hatten ihm auch das vermiest. ›Was riecht hier so nach Fisch – oh, Wolfgang hat eine Muschi im Gesicht.‹

Simon sah auch in Hemd und Stoffhose toll aus. Er hatte die perfekte Figur, schlank aber nicht dünn, muskulös, aber nicht zu sehr, breite Schultern und schmale Hüften, aber nicht übertrieben, einen knackigen Hintern und einen schönen Hals mit einem erotischen Adamsapfel. Sein trotziges Kinn hatte ein Grübchen und glattrasiert. Im echten Leben jedoch hatte Simon immer einen Bartschatten, und Wolfgang hätte so gerne mal die Wangen an diese Stoppeln geschmiegt. Simons Lippen waren die perfekte Krönung. Die Essenz der Sinnlichkeit. Zumindest für Wolfgang, der davon träumte, diesen wunderschönen Mann Stück für Stück von seiner Kleidung zu befreien, die glatte Haut über den festen Muskeln zu streicheln, mit den Fingern durch das nun etwas längere Haar zu wühlen, zu sehen, wie sich dieser schön geschwungene Mund in Ekstase leicht öffnete, die weichen Lippen, die kurz noch aneinander hafteten, ehe sie einander losließen, die rosa Zunge, die sie befeuchtete, sodass sie verlockend glänzten …

Stopp. Es war nicht besonders hilfreich, im Büro, als einziger Mann unter Frauen, eine Erektion zu kriegen. Sie ekelten sich so schon genug vor ihm, er musste ihnen keine zusätzliche Munition liefern, indem er mit einem Zelt in der Hose herumlief. Rasch schob Wolfgang das Keyboard wieder über das Bild.

Mittlerweile hatten auch die Hühner ihre Plätze gefunden, es wurde getippt, geklickt, telefoniert und mit Papier geraschelt. Aber neben all dem fanden sie noch Zeit zu plappern, über ihre Kinder, ihre Männer, ihre Schwiegereltern, Kochrezepte, Krankheiten, Urlaube, Königshäuser, Nachbarn, Gewichtsprobleme, Frisuren, Vorabendserien, Gerüchte, die in der Firma in Umlauf waren.

Wolfgang klappte die Ohren zu, meistens zumindest, aber heute ging das nicht. Simons Name war gefallen.

»Was sagt ihr zu Simons Aufriss am Freitag?«

»Diese kleine Schwarzhaarige?«

»Schlampe, wenn ihr mich fragt.«

»Dass diese Tussi gleich mit dem Erstbesten mitgeht … Aber Simon hätte ich das auch nicht zugetraut.«

»Vielleicht musste er dringend einen wegstecken.«

»Männer!«

»Vielleicht war es ja Liebe auf den ersten Blick?«

»Hahaha, der war gut!«

»Hässlich war sie ja nicht gerade!«

»Aber so dünn … und die Brüste waren sicher nicht echt.«

»Simon steht also auf Silikontitten!«

»Männer stehen auf Titten, egal ob Silikon oder nicht, Hauptsache groß.«

»Und fest.«

»Mir war sofort klar, dass Simon auf die abfährt … ich meine, habt ihr das nicht mitgekriegt, wie die sich dauernd angesehen haben, bevor er zu ihr hin ist?«

Wolfgangs Brust zog sich zusammen. Ihm wurde schlecht. Schlimm genug, dass er mit seinen hundertvierzig Kilo bei einem Mann wie Simon sowieso niemals auch nur den Hauch einer Chance hätte, aber gegen eine Frau, die noch dazu nur ein Drittel von ihm wog – aussichtsloser ging es wirklich nicht mehr. Natürlich hatte Wolfgang nicht nur einmal in Erwägung gezogen, dass Simon heterosexuell war, die Chance lag statistisch sogar bei über neunzig Prozent, aber es war etwas anderes, nur zu spekulieren oder etwas genau zu wissen. Die Unschuld der Träume war dahin. In Zukunft würde sich Wolfgang belügen müssen – noch mehr als sonst. Bisher war nur er selbst eine Kunstfigur gewesen, schlank und attraktiv, aber nun musste der Mann seiner Sehnsüchte auch noch kaschiert werden: Aus Simon, wie er war, ein Simon, wie er sein müsste.

Am liebsten wollte Wolfgang hinausstürzen, auf die Toilette und sich die Seele aus dem Leib heulen – aber das ging nicht. Die Hyänen würden es mitkriegen und ihm das Herz zerfleischen. Außerdem geziemte sich das nicht für einen neunzehn Jahre alten und fast eins neunzig großen Kerl.

Die Kolleginnen lästerten weiter, als wären sie eifersüchtig auf diese dürre Schlampe. Wolfgang ärgerte das. Sie hatten kein Recht dazu. Sie hatten Männer, waren teilweise sogar verheiratet, hatten Kinder und das hieß, sie hatten Sex, sie hatten jemanden, der auf sie wartete, der sie liebte. Für sie war die Eifersucht bloß ein albernes Spiel, ein Kokettieren mit ihrer eigenen Verruchtheit. Sie hatten keine Ahnung, was es hieß, Simon zu lieben. Sie waren oberflächliche Puten. Sie heulten nachts nicht ins Kopfkissen, weil ihnen klar war, dass keine Hoffnung bestand, mit ihm zusammenzukommen. Ihnen ging es noch nicht einmal darum, ihn zum Freund zu haben. Wolfgang schon! Er wollte Simon mit jeder Faser seines Leibes und wusste zugleich, dass es unmöglich war, aussichtslos, hoffnungslos. Und nun musste er sich eingestehen, dass sogar diese blöden Weiber mehr Chancen bei Simon hätten als er selbst, trotz Mann und Kind und Alter: Sie waren Frauen.

Der Schmerz wurde unerträglich, zumal sie über Simon redeten, als wäre er ein Objekt. Sie scherzten darüber, was sie mit ihm anstellen würden, als wäre er eine Puppe, die man einfach herumreichen konnte. Es war gemein, niveaulos, geschmacklos. Wolfgang würde Simon auf Händen tragen und hätte er nicht solche Angst, dass die Kolleginnen herausfinden könnten, dass er in ihn verliebt war, hätte er ihn verteidigt, hätte er ihnen verboten, so respektlos über ihn zu sprechen. Es versteckte sich nicht, weil sie Wolfgang auslachen und für seine verzweifelte Liebe verspotten würden, sondern weil es eine Demütigung für Simon wäre, der feuchte Traum eines Schwabbelmonsters zu sein. Jede Gelegenheit würden die Schlangen nutzen, ihn deswegen aufzuziehen. ›Simon, du hast eine fette Fangemeinde‹ – ›Wie fühlt man sich als Schwabbelschwarm?‹ – ›Achtung, wenn Specki dich küsst, wirst du versehentlich gefressen.‹ Frauen liebten Schwule, das hatte Wolfgang schon öfter gehört, aber nur die schlanken und schönen. Nicht einmal diesen Bonus konnte er im Fall des Falles ausspielen.

Obwohl er mit dem Rücken zur Tür saß, spürte Wolfgang Simons Herannahen. Als Simon das Büro betrat, verstummten die Kolleginnen prompt, die Drehstühle quietschten – sie drehten sich zu ihm herum – und Wolfgang konnte regelrecht hören, wie sie ihr Kreuz durchstreckten, um ihre blöden, weiblichen Vorzüge zu präsentieren. Er selbst blieb hocken wie ein Klotz. Er war sauer auf Simon, weil er das Wochenende mit einer Frau verbracht hatte. Zutiefst verletzt war er und wollte Simon nicht sehen, nicht einmal kurz. Es würde doch nur wehtun.

»Uuuh, wie siehst du denn aus, Simon, heißes Wochenende gehabt?«, fragte Rita, fünfundvierzig, seit achtzehn Jahren verheiratet, und zwei Kinder in der Pubertät. Es ging sie also nichts an, was Simon am Wochenende getrieben hatte und Wolfgang wollte es auch nicht hören. Doch die Bemerkung über Simons Äußeres zerrte an seiner Nase wie eine unsichtbare Schnur und ließ ihm keine andere Wahl, als sich umzudrehen.

Der Stich, der durch Wolfgangs Körper jagte, jedes Mal, wenn er Simon sah, war erregend und schmerzhaft zugleich. Es war wie ein Schuss in die Brust und inwendig tröpfelten zähes Verlangen und lähmende Verzweiflung in seinen Bauch, kochten darin, brodelten, schäumten hoch, färbten die Wangen rosa, die Ohren dunkelrot und Wolfgangs Augen brannten. Was war das bloß für eine Liebe, die ihn jedes Mal am liebsten losheulen ließ, wenn er Simon sah. Eine hoffnungslose. Eine unglückliche.

Worauf Rita angespielt hatte, war der Dreitagebart und das Schlimmste daran: Er ließ Simon nicht etwa härter und verwegener wirken, sondern im Gegenteil – er sah aus wie jemand, der tagelang aus dem Kuscheln nicht herausgekommen war.

Wolfgangs Herz blutete. Er wollte sterben. Auf der Stelle.

»Ein Gentleman genießt und schweigt«, trällerte Simon gutgelaunt und zwinkerte geheimnisvoll.

Falsche Antwort. Hätte er nicht sagen können, dass es ein Desaster gewesen war, er den Frauen ab nun für immer den Rücken kehren und sich in Zukunft nur noch Männern hingeben wollte, beleibten Männern?

Eine Blase platzte in Wolfgangs Kopf. Jetzt musste er sich vorstellen, dass Simon dieses Flittchen, diese dürre Schlampe, gefickt hatte, bis das ganze Stadtviertel von ihren Schreien alarmiert worden war.

»Aha – es ist also etwas Ernstes«, folgerte Elke – gierig nach frivolen Informationen!

Wolfgangs Blick zuckte zu Simon. Er starrte ihn an wie ein Kätzchen, das man gegen die Wand schlagen wollte. Nein! Bitte nicht verknallt sein! Die Vorstellung, dass Simon in den nächsten Wochen wegen dieser Frau herumlaufen würde wie ein verliebter Trottel, war die Hölle. Am Ende verlobte er sich mit ihr, heiratete sie, zog mit ihr in ein Reihenhaus und gründete eine Familie! Wolfgang würde sterben, wenn er das mit ansehen müsste. Langsam und qualvoll.

»Wer weiß, wer weiß?«, summte Simon, grinste, zuckte zugleich mit Schultern und Augenbrauen und hielt den Kopf schief.

Was meinte er damit? Wer weiß ja? Oder wer weiß nein? Wolfgang wetzte im verzweifelten Kampf um Fassung hin und her.

Simon sammelte die Lieferscheine der Kolleginnen ein und steuerte zuletzt auf Wolfgang zu. Je näher er kam, umso lauter und schneller galoppierte Wolfgangs Herz, trommelte heftig gegen die Brust. Am liebsten hätte Wolfgang die Arme um Simons Taille geschlungen, das Gesicht an seinen Bauch geschmiegt, den Duft tief in sich eingesogen, ihm gestanden, dass er ihn liebte, so sehr liebte. Wolfgang schluckte schwer und drehte sich rasch um. Ruhig Blut. Bleib auf dem Teppich.

Kühle, raue Hände fuhren in Wolfgangs Nacken und packten beherzt zu. Gänsehaut. Im Reflex zog Wolfgang die Schultern hoch und den Kopf ein.

»Wo warst du denn – am Freitag?«

Für einen kurzen Moment strichen Wolfgangs Haarspitzen über Simons Hemd, so nah, so verführerisch. Am liebsten hätte er sich nach hinten gegen Simons warmen Körper sinken lassen, dann war der Moment vorbei. Simon ließ Wolfgang los und lehnte sich mit den Hintern gegen den Schreibtisch.

»Ich wusste nicht, dass ihr zusammen weggeht!«, gestand Wolfgang. Niemand hatte ihm gesagt, dass sich alle Kollegen nach der Arbeit in einem Pub trafen. Er hatte zwar mitbekommen, dass sie darüber gesprochen hatten, aber niemand hatte Wolfgang direkt eingeladen, also war er davon ausgegangen, dass sie ihn nicht dabei haben wollten. Er war ja noch nicht so lange in der Firma und so gut wie nicht integriert und … er war fett. Ihnen wäre sicher peinlich gewesen, mit ihm gesehen zu werden.

»Echt?« Simon wirkte ehrlich überrascht. Er griff nach dem Locher auf Wolfgangs Schreibtisch und untersuchte die Mechanik. Das blöde Teil quietschte erbärmlich, wenn man es bediente, aber genau das schien Simon gerade zu faszinieren.

»Aber ich hätte eh nicht gekonnt, ich hatte schon etwas anderes vor«, log Wolfgang. Er wollte vor Simon nicht wie ein bemitleidenswerter Außenseiter dastehen, der alleine daheim hockte und darauf wartete, dass ihn jemand mitspielen ließ. Das hatte er bereits in der Kindheit erlebt und es war demütigend genug gewesen. Es war besser, den Vielbeschäftigten zu spielen.

»Oh – schade!« Simon stellte den Locher wieder an seinen Platz zurück. Einen verstörenden Moment lang schaute er Wolfgang an, als wollte er etwas sagen, zwei Sekunden vielleicht, oder drei. Einundzwanzig. Zweiundzwanzig. Dreiundzwanzig. Das war lang, richtig lang, wenn einer nichts sagte, nur schaute – und das der Mann, in den man heimlich bis über beide Ohren verliebt war. Die schönsten und quälendsten Sekunden des Tages, der Woche, vielleicht des ganzen Monats. Ein Moment, der eine Tür aufstieß – zumindest kam es Wolfgang so vor – hinter der alles möglich war. Atemlos blickte er zu Simon hoch – ich liebe dich, ich liebe dich so sehr – dann schlug knallend die Tür zu.

»Ich muss dir etwas zeigen«, sagte Simon, schleifte den überflüssigen Drehstuhl, der seit Wochen im Weg herumstand, herbei, und ließ sich darauf plumpsen. Mit den Füßen stieß er sich am Boden ab, rollte mitsamt Stuhl auf Wolfgang zu – und rammte ihn. Ein kurzer Moment, in dem sich Schultern und Knie trafen, ein Augenblick, in dem die Ellenbogen aneinander streiften. Wolfgangs Augenlider klappten zu und er stöhnte. Er war so kurz davor, Simon zu packen und an sich zu drücken, so verdammt kurz davor.

»Hab ich dir wehgetan?«, fragte Simon und legte Wolfgang sanft eine Hand auf den Arm. »Sorry!«

Ein Schauer breitete sich von dort aus und kribbelte durch den ganzen Körper. Wolfgang konnte nichts sagen, seine Mundwinkel bebten. Kaum merklich schüttelte er den Kopf.

Es gab zwei Sorten von Menschen, was Wolfgangs Leibesfülle betraf. Die einen wagten sich kaum näher als zwei Meter an ihn heran, als fürchteten sie, dass er stinken, mit Schweißperlen um sich spritzen oder sie mit Übergewicht anstecken könnte. So waren die meisten. Die anderen, oft Kinder oder alte Frauen, mussten ständig ihre Finger in Wolfgangs Speckrollen stupsen, den Bauch anfassen oder die Arme packen. Während es die Kinder lustig fanden, wie das Fett wieder in Position zurück schwabbelte, betonten die alten Frauen die Kraft. Auch wenn Wolfgang stark war, das war Fett, keine Muskeln, daher war ihm ihre Bewunderung stets suspekt.

Simon war weder ein Kind noch eine alte Frau und trotzdem hatte er keine Scheu, Wolfgang anzufassen. Das war einer der Gründe, warum Wolfgang gar so verschossen in ihn war. Weder stupste Simon in wissenschaftlicher Neugier in die Fettrollen, noch tatschte er an Bauch, Armen und Schultern herum, um die angebliche Kraft zu bestaunen. Er fasste Wolfgang vielmehr an, wie einen … ganz normalen Kumpel, obwohl sie nicht einmal Kumpel waren, sondern nur Kollegen. Manchmal legte er ihm eine Hand auf den Rücken, packte ihn von hinten am Nacken, rempelte ihm den Ellenbogen in die Seite und einmal, das war vor einer Woche passiert, hatte Simon ihm doch glatt einen Klaps auf den Po gegeben.

Wolfgang hatte am Kopierer gestanden, genau genommen hatte er sich gerade gebückt, um einen Papierstau zu beheben und Simon war zufällig an ihm vorbeimarschiert und hatte zugelangt. Der Vorfall machte Wolfgang immer noch zu schaffen. Direkt danach hatte er sich auf dem Klo eingesperrt, um die Tränen zu verstecken, die Simon damit ausgelöst hatte. Natürlich war es idiotisch, gleich loszuheulen, nur weil der Mann des Herzens die Hände nicht bei sich lassen konnte, aber diese Berührung hatte Wolfgang bis ins Mark erschüttert. Zum einen, weil sie trotz ihrer Harmlosigkeit die sinnlichste Erfahrung seines Lebens gewesen war, zum anderen, weil sie ihm bewusst gemacht hatte, wie viel zwischen seiner Sehnsucht und der Realität lag. Zu dieser bedeutungslosen, kleinen Geste, dieser spontanen Albernheit, hätte sich Simon doch nie verleiten lassen, wenn er Wolfgang als Mann wahrnähme, der sexuelles Interesse hatte. Für die meisten Menschen fiel Wolfgang in die Kategorie Weihnachtsmann oder lustiger Buddha. Keiner kam auf die Idee, dass er ausgehungert nach Liebe sein könnte und an kaum etwas anderes mehr denken konnte, als daran, endlich einmal Sex zu haben.

Simon griff nach der Maus. Sein Arm und sein Rücken streiften Wolfgangs Brust und sein duftender Nacken war so nah, dass Wolfgang die Lippen darauf pressen konnte, wenn er wollte. Und wie er wollte! Hoffentlich kam Simon nicht auf die Idee, runterzuschauen. Wolfgangs Erektion drängte sich gegen den Hosenstall und er konnte unmöglich hinfassen, um sie zu verbergen, ohne die Aufmerksamkeit erst recht darauf zu lenken.

Simon verschob das Keyboard, um besser tippen zu können. Wolfgang hielt den Atem an. Zwar hatte jeder Mitarbeiter die Schreibunterlage mit dem Gruppenfoto unter der Tastatur, aber Wolfgang fürchtete, man könnte seiner ansehen, dass er sie jeden Tag stundenlang anschmachtete. Als wäre Simons Konterfei durch die vielen sehnsüchtigen Blicke abgenutzt oder würde verräterisch leuchten. Aber Simon fiel nichts Ungewöhnliches auf, er beachtete das Foto noch nicht einmal.

»Kennst du das schon? Es ist ganz neu«, fragte Simon und warf Wolfgang aus nächster Nähe einen Blick zu. Kaum zwanzig Zentimeter lagen zwischen Wolfgangs kribbelnden, nach Berührung fiebernden Lippen und Simons weichem, sanft geschwungenem Mund. Gott, wie sehr wollte Wolfgang ihn küssen, die Wange an Simons schmiegen – die Sehnsucht wurde so überwältigend, dass er am liebsten laut aufgeschrien und Simon grob weggestoßen hätte, um ihr nicht zu erliegen. Stattdessen schluckte er die Aufregung runter, zwang die tobenden Gefühle in die Schranken und wandte den Blick dem Bildschirm zu.

Ein Musikvideo spielte im Internetbrowser. Blasse Gestalten bewegten sich in unnatürlichen Verrenkungen und neurotischen Bewegungen durch rostige Räume, hatten gar keine, oder viel zu große Augen. Ein schöner Alptraum, künstlerisch anspruchsvoll, und über die Musik musste man ohnehin kein Wort verlieren, auch wenn sie über die miesen Lautsprecher des Bürocomputers vergewaltigt wurde.

Erst letzten Freitag hatte sich Wolfgang in einem Moment überschäumenden Mutes getraut, Simon auf den Tool-Sticker am Heck seines kleinen, giftgrünen Autos anzusprechen. Wochenlang, genau gesagt drei Monate, hatte Wolfgang mit sich gerungen, den Hinweis, dass Simon eventuell Fan derselben Musikgruppe war wie er, zu nutzen, um mit ihm ins Gespräch zu kommen. Hunderte Male hatte es ihm auf der Zunge gelegen und dann war er doch zu feige gewesen. Aber letzte Woche, da hatte plötzlich alles gestimmt. Die Sonne hatte den Mond geküsst, die Venus den Mars an den Händen gepackt und zusammen waren sie in den großen Wagen gestiegen, um über die Milchstraße zu fahren. Wolfgang hatte eine schwere Kiste ins Lager bringen müssen und Simon alleine angetroffen. Gerhard, der beängstigend mürrische Kollege, war auf der Toilette und Simon hatte Wolfgang so offen und freundlich angelächelt … der Moment war einfach perfekt und es rutschte ihm einfach so heraus.

»Du magst Tool? Weil … wegen dem Sticker auf deinem Auto.« Knallrot war er angelaufen, aus Angst, wie ein Stalker zu wirken, weil er wusste, welches der Autos auf dem Parkplatz Simon gehörte. Doch Simon hatte zu Wolfgangs Überraschung keinen Revolver gezogen, sondern zu strahlen begonnen und drauflos geplappert. Plötzlich war eine halbe Stunde vergangen, in der sie sich begeistert über ihren Musikgeschmack ausgetauscht hatten, und sie hatten das Gespräch nur unterbrochen, weil Rita im Lager angerufen und gefragt hatte, wo Wolfgang blieb.

Wolfgangs amouröser Überspanntheit war zuzuschreiben, dass er danach einen halben Tag lang geglaubt hatte, es gäbe vielleicht doch irgendeine Chance. Dann war die Realität wiedergekommen und hatte ihm gesagt, dass er sich mit einem Kollegen nur über Musik unterhalten hatte. Mehr nicht. Dennoch fühlte es sich für Wolfgang an, als hätten sie etwas miteinander gehabt. Idiotisch, aber so war das nun mal, wenn man bis über beide Ohren verliebt war.

Wolfgang bekam von dem Video nicht viel mit. Simons Nähe ließ ihn ganz blöd werden, die Hitze dieses geliebten Körpers drang ihm bis unters Hemd und die Muskeln seiner Schenkel krampften unwillkürlich. Wolfgang war kurz davor, erregt aufzustöhnen und die Arme um Simon zu schlingen, ihn auf den Schoß zu zerren und ihn spüren zu lassen, was seine unbekümmerte Nähe, seine schamlose Nettigkeit und seine wunderbare Existenz anrichteten. Wolfgang verlangte noch nicht einmal danach, von Simon berührt zu werden, oder ihn unsittlich berühren zu dürfen, nur halten wollte er ihn, festhalten, während er …

»Geil!«, presste Wolfgang hervor und meinte nur am Rande das Video.

Simon musterte ihn, lächelte und bestätigte: »Definitiv, geil!«

Natürlich meinte er das Video, oder hatte er die Latte entdeckt? Wolfgangs Ohren begannen zu glühen, er räusperte sich und zerrte die Tastatur wieder an ihren Platz zurück. »Ich muss arbeiten«, knurrte er in einem Tonfall, der ihn selbst tiefer traf als Simon, und streckte ihm energisch die Lieferscheine entgegen.

Über diese unerwartet rüde Wendung verwundert, rollte Simon mit dem Drehstuhl davon und murmelte: »Schon gut.«

Er sprang hoch, schnappte die Lieferscheine und eilte aus dem Büro.

Wolfgang hätte am liebsten den Monitor gepackt und quer durchs Büro geschleudert. Sinnlos klickte er mit der Maus herum und täuschte Arbeit vor – durch den verschwommenen Blick konnte er nichts auf dem Bildschirm erkennen.