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Jürgen Müller

Sternenkill

SF-Roman





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Zum Buch

Covergestaltung: Vivien Stennulat, KreaTiVi-Production

www.kreativi-production.de

 

Bildmaterial des Covers wird mit Lizenz von Shutterstock.com verwendet:

Rashevskyi Viacheslav

maryo

burnel1

Jamen Percy

nienora

 

Nicht 1000, nicht 1 Million – nein alle 4 Trilliarden Planeten des Universums an einem Ort, Atmosphäre an Atmosphäre und ohne das grässliche Vakuum dazwischen, sodass man von einer Welt zur anderen springen kann – das ist der Planetenpulk!

Wie es dazu kam, schildert Band 1 „Sternenkill“.

 

Achtung! Diese Serie ist nicht für Leser geeignet, die auf die Einhaltung der gegenwärtigen Naturgesetze bestehen! Denn in „Sternenkill“ und den geplanten Nachfolgeromanen greifen die unglaublichen Phänomene der Quantentheorie vom Mikrokosmos auf den Makrokosmos über. Das heißt, man braucht selbst als eingeschworener SF-Leser eine gehörige Portion Vorstellungskraft, um sich mit den geschilderten Gegebenheiten abzufinden – oder sogar anzufreunden. Wenn Sie glauben, eine solche Vorstellungskraft zu besitzen, dann greifen Sie jetzt zu! (Falls nicht – Finger weg! Es gibt noch genügend andere Bücher.)

 

Band 2 der Serie, „Snake World“, erscheint Anfang 2017.

 

 

 

 

KAPITEL 1 – Ein Stern spielt verrückt

„Mama? Kann die Wega ausgehen?“ Hell und nervig drang die Kleinmädchenstimme in das Meeresrauschen.

Saranda Uttsch hielt die Augen stur geschlossen. Warum nur kamen Kinder nicht stumm zur Welt und begannen erst mit 18 zu sprechen, wenn sie das Haus verließen? „Nancy! Die Wega kann nicht ausgehen. Sie ist ein Stern und hat keinen Schalter. Heute Abend geht sie unter und morgen früh wieder auf genau wie die Sonne daheim. Komm, spiel mit dem Zauberwürfel oder den andern Kindern oder geh baden. Aber jetzt lass mich bitte die zwei Stündchen bis zum Kaffeetrinken in Ruhe.“

Ein paar Sekunden herrschte Stille. Sie wusste, dass Nancy wie immer bei solchen Gelegenheiten eine Weile auf den Zehen wippen und dabei eine nachdenkliche Schnute ziehen würde, um dann ernsthaft „ja doch“, „mach ich“ oder „in Ordnung, Mama“ zu sagen.

„Mach ich“, sagte Nancy. Die versprochenen zwei Stündchen Ruhe jedoch währten keine zwei Minuten. „Mama? Die Wega geht wirklich nicht aus?“

Nun öffnete sie doch die Augen, vor Empörung und zunächst nur spaltbreit. „Nein, mein Kind, das tut sie nicht. Wie kommst du nur auf diese völlig absur–“ Sie stockte. Riss die Augen auf. Schleuderte die Sonnenbrille vom Gesicht, als hätten deren Bügel zu glühen begonnen. Saß kerzengerade da. Sah sich ungläubig um.

Erschreckend düster war es geworden, als stünde eine Gewitterwolke vor der Wega oder eine stockdustere Nacht bräche herein. Nur war gerade Mittag vorbei und der Himmel über dem Südstrand der Ein-Kontinent-Welt Neu-Hanoi im Sternbild Leier während der Hauptsaison generell wolkenlos. Nancy, den halbgelösten Zauberwürfel in der Hand, starrte bleichen Gesichts zur Wega empor. Sie ahnte, dass sie ihrer Tochter an Blässe in nichts nachstand.

Und die Wega, bis vorhin noch goldorange, schien ebenso bleich zu ihnen herunter. Ein fahles Ocker, mehr war das nicht. Und auch das verlor an Farbe, verblasste während der nächsten Minute, in der sie den Blick nicht von ihr wenden konnte, erst zu Hellgelb und dann zu Aschgrau. Der Fixstern erkaltete sichtbar. Es sah aus, als hätte ihn jemand mit einem Dimmer heruntergedreht.

Aschgrau wurde auch ihr in diversen Sonnenstudios Terras herzhaft gebräuntes Gesicht. Wenn sie sich mit Himmelskörpern auch nicht besonders auskannte – eines wusste sie genau: So große Helligkeitsschwankungen besaß kein Stern. Sie war Zeuge einer Ungeheuerlichkeit.

Ratlos schaute sie in die Runde.

Die Schar der anderen Badegäste wirkte ebenso geschockt. Niemand redete, niemand rührte sich. Aus allen Gesichtern sprach unverhohlene Angst. Der goldgelbe Sand, der türkisblaue Ozean, der freundliche hellblaue Himmel – alles wirkte nun düster und bedrohlich. Kaum dass man noch die Umrisse der Edelpalmen erkennen konnte.

Obwohl überzeugte Atheistin, betete sie jetzt voll Inbrunst, dass diese so absonderlich sich gebärdende Wega wieder aufflamme und heller werde.

Das kann doch nur eine vorübergehende Erscheinung sein, dachte sie. Gleich, gleich wird alles wieder so sein wie immer!

„Mama? Kann die Wega schrumpfen?“

„Aber nein, Nancy! Weshalb sollte –“ Der Rest der Frage blieb ihr im Hals stecken. Während der letzten Viertelminute, in der sie nicht nach oben geblickt hatte, hatte das Gestirn etwa ein Achtel an Größe eingebüßt, und ständig nahm sein Umfang ab. Trotz Hochsommer wurde es spürbar kalt. Kälteschauer jagten über ihren Leib.

Erst jetzt brach Panik aus.

Wie allen Menschen auf den Besiedelten Welten waren auch ihr im zweiten Lebensjahr organische Sende- und Empfangszellen ins Gehirn transplantiert worden. Zahllose Rufe auf der allgemeinen SOS-Welle dieses Kopffunks, der über Relaisstationen weltweite Verbindungen von Mensch zu Mensch ermöglichte, schossen ihr nun durch den Sinn. Es war ein unverständliches Wörterwirrwarr.

Schreiend und wild gestikulierend stürzten die Menschen davon. Sie schloss sich ihnen ebenso schreiend und wild gestikulierend an, stockte, kehrte um und riss die achtjährige Nancy mit sich, die zu keiner eigenen Bewegung mehr fähig schien.

Die Wega, nur noch ein Punkt am Firmament, verschwand nunmehr gänzlich, löste sich vollkommen auf. Das Verschwinden, vom ersten zögerlichen Verblassen bis hin zur Nichtexistenz, dauerte keine zehn Minuten. Den Menschen kam alles wie ein Spuk vor. Nicht einmal explodiert war das Gestirn. Es schien, als hätte niemals ein Stern namens Wega existiert. Zeitgleich verging auch das von der Wega ausgestrahlte trübe Restlicht.

Für einen Moment brach Schwärze herein, dann flammte automatisch und kunterbunt die Promenadenbeleuchtung auf. Verschiedenartige Lampen und Leuchten in den Häusern gingen an und hier und da eine flackernde Kerze. Stabtaschenlampen blitzten auf, Streichhölzer, Feuerzeuge und Laternen. In Gärten und Vorgärten zündeten offene Feuer. Neu-Hanoi wirkte auf einmal fremd und geheimnisvoll. Doch niemand besaß dafür noch den geringsten Sinn.

Unerbittliche Kälte zwackte und biss. Die Arktis war nichts dagegen. So jedenfalls kam es ihr vor.

Nancy wimmerte. Sie stoppte ihren Lauf, riss Nancy empor. Eng an sich gedrückt, rieb sie ihr Rücken und Arme. Nancy weinte an ihrer Brust.

Die Angst der Menschen steigerte sich in Richtung Wahnsinn. Nicht wenige drehten durch. Einige wenige hetzten zum Meer, um sich zu ertränken, andere schlugen auf jeden ein, der ihnen begegnete. Manch einer warf sich zu Boden, vergrub den Kopf zwischen den Armen, rührte sich nicht mehr und versuchte, das Unbegreifliche zu ignorieren. Die Meisten aber rannten schreiend und dem Irrsinn nahe weiter.

Mit Nancy im Arm stolperte sie die Böschung hinauf und hastete dem noch dreihundert Meter nahen, aber jetzt viel zu fernen Vier-Sterne-Hotel entgegen, dessen Beleuchtung soeben aufflammte und als hochwillkommener Wegweiser diente. Ihr Verstand hatte auf Tunnelblick geschaltet. Sie nahm nur die nächsten paar Meter Boden vor sich wahr und hin und wieder zur Orientierung das Hotel. Und gerade wegen dieser gelegentlichen Blicke weit voraus trat sie mit dem linken Fuß in eine Glasscherbe. Irgendein Angetrunkener hatte wohl aus purer Lust eine leere Flasche zerschlagen. Zwischen großer und zweiter Zehe blutend, humpelte sie weiter.

Immer beängstigender wurde die Szene. Der Boden Neu-Hanois strahlte unvermittelt ein intensives rotes Leuchten aus. Das Licht sengte und blendete nicht und wärmte sogar wohltuend Füße und Leib. Trotzdem lief sie nur umso schneller weiter und trug Nancy mit sich.

Endlich waren sie im Hotel. Sie wähnte sich in Sicherheit und atmete auf.

Was haben wir Menschen auf fremden Planeten verloren, dachte sie, nachdem sie hastig die Verletzung desinfiziert und bepflastert hatte. Wäre ich bloß auf der Erde geblieben, da wäre das nicht passiert. Unsere Sonne scheint immer und macht so etwas nicht.

 

KAPITEL 2 – Sonnenuntergang

Der erfolgreichste Film aller Zeiten war aus. Der Abspann verblasste, die Titelmusik verklang. Die elektrischen Kerzen der Kronleuchter flammten auf. Die Kinobesucher schnellten aus ihren Sitzen und strebten zum Ausgang. Belinda Keil ließ die drängelnden Menschen an sich vorbei. Als Letzte schlenderte sie aus dem Saal.

In ihrem Handspiegel überzeugte sie sich, dass die Perücke mit den nussbraunen Ringellocken noch saß. Niemand durfte sie erkennen oder gar ein Foto von ihr schießen. Dank der Prominenz ihres Mannes war sie bekannt wie ein Fernsehstar. Das Bild würde bestimmt augenblicklich mit einer entsprechenden Anspielung versehen ins Besiedelte-Welten-Netz eingestellt. Peer würde nie verstehen, dass sie sich diesen Film angeschaut hatte, und vor Eifersucht vergehen. Dabei war ihr Marcos schon lange egal. Seinen Film wollte sie dennoch sehen. Immerhin waren sie als Teenager ein Jahr lang miteinander gegangen und es interessierte sie weiterhin, was er so trieb. Jedenfalls wenn das, was er trieb, so erfolgreich war wie dieser Film.

Ideen hat der Mann, dachte sie, während sie das Spiegelchen zusammenklappte und in ihrer Handtasche versenkte. Ein abendfüllender Trickfilm über den Alienjungen F’fljusch, der mit seinem Kinderraumschiff auf der Erde abstürzt und sich nach seiner fernen Heimatwelt sehnt. E.T. lässt grüßen.

Der Film lief seit Wochen und war ein Straßenfeger. Vor allem die Kinder strömten in die Vorstellungen und ließen sogar für zwei Stunden ihre heiß geliebten Zauberwürfel in Ruhe. Viele hatten den Streifen schon mehrfach gesehen und diskutierten heftig über den Inhalt. Auch viele Erwachsene waren begeistert und sogar die dem Kommerziellen gegenüber ansonsten skeptischen Jugendlichen. Marcos hatte den Nerv der Zeit getroffen. Über drei Jahre arbeiteten er und sein Team an dem Film, aber es hatte sich gelohnt.

Der Inhalt war banal oder genial, je nachdem, wie man es sah: F’fljusch gewinnt viele irdische Kinder als Freunde. Er erzählt ihnen von seiner märchenhaft schönen Welt, die ob des zerstörten Raumschiffs für ihn unerreichbar geworden ist. Bald schon beginnt er davon zu träumen, dass alle Planeten des Universums ganz nahe zueinander stehen, mit ein paar Dutzend Meter Abstand nur und ohne dieses grässliche Vakuum dazwischen, sodass man mit kurzem Anlauf von einer Welt zur anderen springen kann. Und er weiht seine irdischen kleinen Freunde in diese Tagträume ein.

Die Mädchen und Jungen erzählen ihren Eltern und Verwandten davon, Freunden und Bekannten, allen, die sie treffen.

Als dann alle Kinder und die meisten Erwachsenen auf der Trickfilm-Erde von so einer Welt sprechen, über sie reden, sie für möglich oder sogar für besser als die bestehende halten und nachts oft von ihr träumen, formt sich ihr Universum wunschgemäß zu einer ebensolchen Welt um: Alle Sonnen, Monde, Gasriesen und sonstigen Himmelskörper verschwinden. Übrig bleiben nur die erdgroßen Planeten, und diese hängen auf engstem Raum und Atmosphäre an Atmosphäre im ansonsten leeren All. Einige Naturgesetze verändern sich, sodass es zwischen den Planeten nicht zu gravitativen Auswirkungen wie Erdbeben und Überschwemmungen kommt. F’fljusch aber verabschiedet sich unter Tränen von seinen irdischen Freunden, nimmt Anlauf und springt von Planet zu Planet heim zu seinen Eltern. Und dort lebt er glücklich und zufrieden noch immer auf seiner märchenhaft schönen Welt, die plötzlich gar nicht mehr so weit entfernt ist, sondern relativ nah.

Das Trickfilm-Universum behält diese Form bei, und Hochspringer, Weitspringer, Dreispringer und vor allem die Stabhochspringer müssen bei Freiluftwettkämpfen höllisch aufpassen, um nicht urplötzlich auf dem Nachbarplaneten zu landen statt auf der Matte oder in der Sandgrube. Disziplinen wie Kugelstoßen, Speer-, Diskus- und Hammerwerfen jedoch werden generell verboten.

Marcos hatte sogar eine wissenschaftliche Erklärung für diese Weltveränderung in den Film eingebaut: Intention – der Geist formt die Materie. Immer das, was der Großteil der Menschheit für wahr oder wünschenswert hält, geschieht, und sei es auch der größte Schwachsinn.

Marcos’ Meinung nach war die Erde früher tatsächlich eine Scheibe. Erst als die meisten Menschen glaubten, sie wäre rund, formte sie sich um. Das Atom war wirklich einmal ein unteilbares Teilchen. Erst als die Wissenschaftler von kleineren Bestandteilen der Materie redeten und nach ihnen suchten, entstanden die Quarks. Das Higgs-Boson oder sogenannte Gottesteilchen wurde auch erst real, nachdem die Wissenschaftler über vier Jahrzehnte lang verbissen nach ihm forschten. Ohne diese Sucherei wäre es nie entstanden. Und so weiter und so fort. Es gab zahllose Beispiele.

So ein Schmarren, dachte sie. Damit erobert Marcos mich nicht zurück. Dass der Inhalt des Films auf sie gemünzt war, war ihr klar. Marcos wusste nur zu gut, wie sehr sie die Sterne liebte.

Nicht, dass er je eine Chance hätte. Sie hatte sich für Peer entschieden, und basta. Stundenlang konnte sie mit dem Fernrohr in den nächtlichen Himmel schauen, die Sternbilder und die Milchstraße und vor allem die farbenprächtigen filigranen planetaren Nebel bewundern. Marcos war ein Träumer, hatte ihr in zärtlichen Stunden versprochen, die Sterne für sie vom Himmel zu holen, und nichts getan. Peer, der bekannte Astronom, zeigte sie ihr wenigstens hin und wieder im Teleskop.

Sie durchquerte das Foyer und trat hinaus auf die Straße. Die Nacht war klar und lau. Der Mond stand am Himmel und viele Sterne. Silbriges Licht überflutete die Straßen, Häuser und Plätze Groß-Berlins. Obwohl das Kino weitab vom Zentrum lag, konnte sie die Spitze des antiken Fernsehturms sehen, das alte und neue Wahrzeichen der gigantischen Stadt.

Zwei Stunden vor Mitternacht. Sie beschloss, noch etwas durch den angrenzenden Park zu bummeln, hin und wieder in die glitzernde Sternenpracht zu schauen und von Peer zu träumen. Übermorgen sah sie ihn wieder, kam er endlich von seinem Kongress zurück. Derzeit weilte er auf der anderen Seite der Erde. Wahrscheinlich stand er gerade vom Frühstückstisch auf. Mit Mühe unterdrückte sie das Verlangen, ihn spontan kopfanzufunken. Bestimmt bereitete er sich gerade auf die nächste Rede vor und wünschte, dabei nicht gestört zu werden. Man musste Abstriche machen als Ehefrau einer Koryphäe.

Trotz der späten Stunde war der Stadtpark belebt. Sie erblickte viele Liebespärchen, und wieder dachte sie voller Sehnsucht an Peer. Drei Wochen war er schon weg. Drei, vier Mal im Jahr kam das vor, und immer wieder tat es ihr in der Seele weh. Mitkommen konnte sie aber wegen ihrer Arbeit nicht. Von Peer aus wäre das kein Problem gewesen. Er hätte sie gerne bei jeder Reise an seiner Seite gehabt, der Gute.

Ein Gefühl drohenden Unheils schreckte sie aus ihren Gedanken. Etwas hatte sich verändert, war auf unbegreifliche Weise anders geworden.

Unsicher schaute sie sich um.

Die Pärchen waren noch da und knutschten auf den Bänken, sie erkannte es im schummrigen Licht der Laternen genau. Einigen unverkennbaren Geräuschen zufolge taten hinter Hecken und Büschen manche von ihnen noch weit Intimeres. Nichts Ungewöhnliches also. Und dennoch ...

Plötzlich wusste sie es. Das silbrige Mondlicht fehlte. Und zwar fehlte es schon eine ganze Zeit.

Na toll, dachte sie, Wolken. Die Wetterfritzen haben doch eine klare Nacht vorhergesagt.

Enttäuscht blickte sie nach oben. Und schrie gellend auf.

Wie angekündigt stand nicht das kleinste Wölkchen am Himmelszelt. Dafür aber auch nirgendwo der Mond. Weg war er. Einfach weg! Sie zitterte unkontrolliert und zweifelte an ihrem Verstand.

Noch einmal spähte sie in die Runde. Mit Entsetzen bemerkte sie, wie ein Stern nach dem anderen verblasste und erlosch. Minuten nur, während derer sie gebannt dastand, und der Himmel war leer und schwarz.

Dafür strahlte auf einmal der Boden auf. Alles, das Gras zu ihren Füßen, die Erde in den Rabatten, das sanft rauschende und glucksende Wasser eines nahen Baches – alles leuchtete rot. Zu allem Überdruss strahlte das seltsame Licht auch noch Wärme aus. Mit der linden Frische der Nacht war es vorbei. Nacht? Dank des intensiven roten Lichtes war es inzwischen taghell. Wenn es auch ein ziemlich rötlicher Tag war.

Jetzt endlich merkten die anderen, dass etwas nicht stimmte. Angstschreie erfüllten die Stadt: „Ein Vulkan bricht aus!“ – „Quatsch, Vulkan! Ich sage euch, das ist Radioaktivität, pure Radioaktivität ist das. Los, bloß nichts wie weg von hier, sonst werden wir zerstrahlt!“ Chaotische SOS-Rufe des Kopffunks überschwemmten ihren Geist.

Nichts wie weg? Gut gesagt. Aber wohin? Bis zum Fernsehturm und darüber hinaus, in jeder Richtung, wohin sie auch sah; überall drang das rote Leuchten aus dem Boden. Nirgendwo gab es ein Entkommen.

Sie konnte jetzt nicht allein sein und strebte eiligen Schrittes auf die Hauptstraße zu. Vortrag hin, Vortrag her – sie brauchte jetzt Peers Stimme, sonst drehte sie durch. Gedanklich aktivierte sie die gemeinsame Privatwelle des Kopffunks. „Der Mond ist weg“, überfiel sie ihn mit der unglaublichen Nachricht, kaum dass er sich meldete. „Und alle Sterne.“

„Ich weiß“, hörte sie ihn langsam und bedächtig in ihrem Kopf denken. „Die Sonne auch. Ist erst immer schwächer geworden und dann immer kleiner, bis sie gar nicht mehr da war. Dafür leuchtet jetzt der Boden rot und warm. Bei dir bestimmt auch, nicht wahr? Den neuesten Meldungen zufolge soll es weltweit so aussehen. Ich bin übrigens nicht mehr auf der Tagung, sondern im hiesigen Observatorium. Draußen im Weltraum tut sich etwas Unbegreifliches. – Äh, ich meine, da draußen tut sich etwas noch Unbegreiflicheres, als es das Verschwinden der Sonne und der Sterne bereits ist. – Ich muss Schluss machen, Schatz, die Arbeit ruft. Wirst es bald selbst sehen, denke ich. Wird nicht mehr lange dauern, bis sie groß genug fürs bloße Auge sind. Behalte den Kopf oben. Alles wird gut. Ich liebe dich. Tschüß.“

Die Sonne war weg? Fassungslos starrte sie auf die verwandelte Welt. Was um Gottes willen sollte dann gut werden? Ohne Sonne konnte nichts auf der Erde überleben. Alles würde sterben, erst die Pflanzen, dann die Tiere, dann der Mensch. Dass Peer sie mit einem so billigen Trost abspeiste! Den Weltraum beobachten musste er, statt die vielleicht letzten Minuten ihres Lebens mit ihr zu reden? Selbst vor dem sicheren Untergang der Zivilisation dachte er nur an seine Arbeit. Sie wusste nicht, sollte sie nun stolz sein auf ihn oder doch lieber schrecklich enttäuscht. Was er wohl entdeckt haben mochte? Was sollte bald groß genug sein fürs bloße Auge? Nun ja, schlimmer als das Verschwinden der Sonne konnte es kaum werden. Sicherlich würde sie bald davon hören.

Auf der Nebenstraße klatschte es. Der erste Selbstmörder Groß-Berlins war aus dem Fenster gesprungen. Erschüttert wandte sie sich ab. So etwas kannte sie bisher nur aus alten Filmen.

In einem Raumschiff müssten wir sein, Peer und ich, dachte sie. In einem Raumschiff lebt man sicher. Das hat ein Schutzfeld, da passiert einem nichts ...

 

KAPITEL 3 – Neugier kommt vor dem Fall

Es war 6 Uhr 02 Bordzeit. Ein gewöhnlicher Samstagmorgen, wie es schien. Das quaderförmige Hotelraumschiff In Familienbesitz flog in bekannter Route den nächsten Stern an.

Meteoriten waren für das Schutzfeld kein Problem, im All treibende größere Brocken gab es auf Flugstunden hinaus nicht. Der Planet Laues Lüftchen, das von den irdischen Auswanderern und den Urlaubern der Besiedelten Welten heiß begehrte nächste Ziel, wartete anderthalb Wochen voraus. Die Flugsicherheit lag bei einhundert Prozent. Niemand machte sich die geringsten Sorgen.

Mit geschätzten sieben Meilen pro Stunde rannte der Kapitänssohn Jérôme Bjeerl den Hauptgang des unteren Frachtraumstockwerks der In Familienbesitz entlang. Er war in Bestform und hätte nebenbei noch eine Arie schmettern können, ohne außer Atem zu geraten. Sein Laufstil war elegant, sein Blick hellwach. Beneidenswert für so früh am Tag. Fast alles an Bord schlief noch. Nur die diensthabende Wachmannschaft tat ihre Pflicht.

Die Schiffsanlagen umhüllten ihn mit ihrem Gesumm und Gebrumm. Der eigene harte Schritt hallte ihm in den Ohren. Die Geräusche übertönten das Pochen seines Herzschlags. Fad und abgestanden roch die Luft. Hier, im Reich der voluminöseren Frachtgüter, wurde sie nur selten erneuert. Aber in den hundertsechsundfünfzig bewohnten Etagen mit bester Luft und fußschonendem Bodenbelag durfte er nun einmal nicht laufen, um die Fluggäste nicht zu belästigen. Das mittlere Frachtraumstockwerk jedoch war vollgestopft mit dem Gepäck der fünfhunderttausend Fluggäste und das obere Frachtraumstockwerk mit Millionen von Zauberwürfeln. Wie alle paar Jahrzehnte waren sie wieder einmal der absolute Renner auf jeder besiedelten Welt. Die irdischen Werke kamen kaum nach mit den Bestellungen von erst kürzlich erschlossenen Planeten ohne eigene Industrie. Aber wie auch immer, in den beiden letzteren Stockwerken fehlte einfach der Platz zum Laufen. Das oberste und hundertsechzigste Stockwerk jedoch beherbergte seine Großfamilie, den Rest der Crew und die zahlreichen Servicekräfte und war ansonsten der Schiffssteuerung vorbehalten. Dort war aller Lärm verpönt. So blieb ihm zum täglichen Morgenlauf nur dieser Ort im 400 mal 400 mal 400 Meter großen Schiff.

Die schlechte Luft machte ihm nichts aus, längst hatte er sich an den geringen Sauerstoffgehalt gewöhnt. Seine roten Blutkörperchen leisteten Schwerstarbeit, als wäre nichts dabei. Wahrscheinlich besaß er inzwischen mehr davon als ein Hochgebirgsbewohner. Nichts konnte ihn bremsen. In Gedanken wähnte er Asphalt unter sich und Kopfsteinpflaster, links und rechts Zuschauermassen, vorn und hinten die Kontrahenten und in der Luft das anfeuernde Gebrüll des Trainers und tat unbeirrt Schritt für Schritt, erfüllt von Euphorie und Bewegungsrausch.

In seiner Fantasie war er John Haynes. Er war Haile Gebrselassie. Er war Greg Gregson, der göttliche Sieger des Jahres 2480 mit 1:59:32. Aber er war auch Dorando Pietri, der 1908 in London völlig erschöpft ins Stadion einläuft und für die letzte Runde von 355 Metern, auf der er mehrfach zusammenbricht, 9:46 Minuten braucht. Er war der Reihe nach jeder berühmte Marathonläufer der Welt. Jetzt aber wähnte er eine Aschenbahn unter sich, und mit einem Mal war er wieder er selbst in einem imaginären Olympia-Stadion, umtost von den Massen, als Erster kurz vor dem Ziel.

Nur mit äußerster Willensanstrengung fand er zurück in die Wirklichkeit. Er musste es tun, sonst wäre er binnen Kurzem gegen die Wand oder ein Schott gerannt. Das kannte er schon; es war ihm schon mehrfach passiert. Viel zu oft verlor er sich in Tagträumen.

Wartungsroboter staksten ihm über den Weg und beachteten ihn nicht. Weiter hinten glitzerte das Dreifach-Schott zum Haupttriebwerk wie ein ungeheures, zum Zuschnappen bereites Maul.

Obwohl der Gang viereckig war und nicht rund, kam er sich vor wie Jona im Bauch des Fisches; das heißt, wie in dessen Speiseröhre, und das Dreifach-Schott zum Triebwerk entsprach in seiner Vorstellung dem Magenpförtner des riesigen Tiers.

Hier ging es für Menschen ohne Schutzskaphander nicht weiter – verbotene Zone, die Strahlung hinter dem Schott war viel zu hoch. Er bog im rechten Winkel ab.

Auch jetzt, nach der Hälfte der Strecke, perlte ihm kein Schweiß von der Stirn, schnaufte er nicht. Er war neunzehn Jahre alt und in Topform. Wie viele Kilometer er während des Fluges schon absolviert hatte, wussten allein seine zahllosen durchgewetzten Laufschuhe.

Er beschloss, eine Weile nur schnell zu gehen, um dann einen Schluss-Sprint einzulegen, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte.

Die imaginäre Ziellinie zog ihn magisch an wie jeden Tag. Wenn er den Endspurt etwas früher ansetzte als gewöhnlich, könnte es sogar eine persönliche Bestzeit werden. Den Blick auf den Zeiter gerichtet, stob er seinem Ziel förmlich entgegen. Die Spitzen seines Schnauzbarts, den er sich hatte wachsen lassen, obwohl ihn deswegen vor allem die Mädchen verlachten, wippten lustig im Takt der Schritte. Er kam sich vor wie d’Artagnan auf dem Weg zu einem Duell.

In diesem Moment passierte er die Frachtbox A-11.

A-11, direkt an der Außenhülle des Schiffes gelegen, maß satte tausend Kubikmeter und beherbergte seit dem letzten Halt vor elf Tagen beim Planeten Landunter die Überlebenskapsel des Großindustriellen Gratz-Häußer. Was Gratz-Häußer auf diese verschriene Starkregenwelt getrieben hatte, hätte er nur zu gerne gewusst. Dort hauste nur, wer trotz aller Mühe keine andere Bleibe fand. Wahrscheinlich war Gratz-Häußer ein ausgemachter Tourist, der alles gesehen haben musste, den nichts schrecken konnte, ein Sadist am eigenen Leben und Gemüt. Solcherart Leute hatte er schon einige an Bord erlebt. Verstehen konnte er sie nicht. Die In Familienbesitz würde er nie verlassen. Sie war seine Wiege, sein Heim, sein Arbeitsplatz, sein Lebensinhalt, sein zukünftiges Grab. Nirgendwo anders fühlte er sich wohl. Er brauchte die gewohnte Umgebung, seine Arbeit, den immerwährenden Flug zwischen den Sternen und die Nähe seiner Großfamilie. Außerdem würde er in zwanzig Jahren, wenn sein Vater in Ruhestand ging, der neue Kapitän des Hotelraumschiffes sein.

Seine Mundwinkel bogen sich nach unten, die Spitzen des Schnauzbarts sanken herab. Ein tiefer, gequälter Seufzer entwich seiner Brust. Wenn es nur endlich soweit wäre! Sobald man auf ein bestimmtes Ereignis wartete, zog sich ein Jahr so unendlich lang dahin. Zwanzig mal dreihundertfünfundsechzig Tage, in denen er dienen musste. Bei allen Bewohnten Welten! Er wollte im Hotelraumschiff regieren, er wollte anführen. Er wollte bestimmen, wo es lang ging. Er wollte beim Kapitänsdiner an der Stirnseite der Tafel sitzen, die berühmtesten Gäste zu beiden Seiten. Er wollte anerkannt, berühmt und bewundert sein. Dazu fühlte er sich berufen, dazu war er geboren, das war der Zweck seines Lebens. Und die Kenntnisse dazu besaß er längst. Er konnte die In Familienbesitz ebenso gut führen und leiten wie sein Vater oder jeder andere der Crew. Und was musste er noch zwanzig Jahre lang tun – gehorchen.

Und das Allerschlimmste: Er war zum Dienen, zum Gehorchen erzogen worden. Er würde nie einen Befehl verweigern, einer Aufgabe nicht nachkommen, gegen die Herrschaft seines Vaters rebellieren oder gar gegen ihn intrigieren, sondern immer nur gehorchen. Das wusste er ganz genau; er konnte gar nicht anders. Sein Wesen ließ nichts anderes zu.

Und was blieb ihm somit? Die übliche Tagträumerei. Morgens träumte er davon, ein berühmter Marathonläufer zu sein; abends in der Viertelstunde vor dem Einschlafen war er der geachtete und erfolgreiche Kapitän der In Familienbesitz. Kein Hotelraumschiff hatte mehr illustre Gäste als seines, keines flog begehrtere Welten an. Immer war es ausgebucht.

Er seufzte abermals. Für zwanzig Jahre nichts als Träume: Die Welt war ungerecht.

Wieder traf sein Blick die Frachtbox A-11. Zehn Tage lang hatte er der Versuchung widerstanden, ausgerechnet an diesem Morgen gab er ihr nach.

Er kehrte um, spähte nach allen Seiten und drückte und zog verstohlen hier und da am Portal der Überlebenskapsel herum. Bald schon fühlte er den verborgenen Knopf.

Ein weiterer spähender Blick und ein zaghafter Druck, und ihm entfuhr ein ungläubiges Ächzen. Denn das Portal schwang tatsächlich auf und bot ihm Einlass. Entweder musste Gratz-Häußer ein äußerst positives Menschenbild besitzen und niemandem einen Diebstahl oder ein Attentat zutrauen oder aber ziemlich schusselig sein und die bestimmt vorhandene Sicherheitsschaltung vergessen haben. Dass der Knopf nur eine Notlösung darstellte, war ihm klar. Gratz-Häußer betätigte das Portal auf jedem Fall mithilfe eines persönlichen Kopffunk-Codes.

Ein weiterer spähender Blick. Er schlüpfte ins Innere der Kapsel. Das Portal blieb offen und nahm ihn nicht gefangen, wie er kurz bangte.

Staunend schaute er sich um. Der Begriff Kapsel entpuppte sich als ziemliche Verniedlichung. Sie besaß die Ausmaße eines dreistöckigen Hauses und selbstredend das Aussehen und die Ausstattung einer Pracht-Villa.

So etwas hatte er noch nie gesehen. Luxus ringsum und neueste Technik pur. Bereits die Andruckliegen nahmen es mit einem prunkvollen Himmelbett auf. Da konnte niemand darüber mäkeln, und sei er auch noch so verzärtelt. Selbst die Prinzessin auf der Erbse würde sich hier wohlfühlen. Allüren hatte der Mann.

Laut Buschfunk war diese Art Überlebenskapsel für Monate autonom. Er wusste: Diese Kapsel überstand den Aufenthalt am Grunde der Tiefsee wie den in Lava und Magma oder im Vakuum. Stärkste Orkane, Feuersbrünste, Explosionen in unmittelbarer Nähe – allem hielt sie stand. Sie musste hundert Millionen Universal-Taler wert sein, vielleicht sogar zweihundert Millionen UT. Davon konnte ein Mann wie er nur träumen. Was nicht hieß, dass er sie gegen die In Familienbesitz eintauschen würde. Aber sich die Sache von innen ansehen, konnte nicht schaden. Schließlich herrschte Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern. Auch ein Mann durfte einmal neugierig sein.

Die Aufzüge gehorchten ihm aufs Wort. Staunend erforschte er die Räume aller drei Etagen. Mehr Zeit als eine Viertelstunde dafür nahm er sich allerdings nicht. Um sieben begann sein Dienst, und duschen und frühstücken musste er auch noch. Es wurde ohnehin denkbar knapp. Eine kurze Fahrt nach unten, und schon stand er wieder bei den Andruckliegen. Mit bedauerndem Blick wandte er sich von ihnen ab.

Drei Meter vor dem Portal, schwang dieses nun doch zu. Vergebens drückte er mehrmals den inneren Öffner. Der Eingang blieb verschlossen. Er war gefangen.

Also doch. Ein schändliches Katz-und-Maus-Spiel hatte Gratz-Häußer mit ihm gespielt, ihn in falscher Sicherheit gewiegt und jetzt zugeschlagen. In die Falle getappt wie ein kleiner Junge! Er schüttelte den Kopf über seine Dummheit. Da musste er jetzt durch.

Gratz-Häußer würde nicht allein kommen. Mit Sicherheit hatte er seine Leibwache dabei. Dennoch wartete er gelassen auf das Erscheinen des Besitzers. Was hatte er schon Verbotenes getan? Neugier war nicht strafbar.

Gratz-Häußer schien anderer Ansicht zu sein. Halbintelligente Bänder schossen auf ihn zu, zerrten ihn auf eine der Andrucksliegen und fesselten ihn derart, dass er kaum noch zu atmen vermochte. Vergebens versuchte er, sich zu befreien. Erbarmungslos hielten sie ihn fest.

Das verblüffte „Was soll denn das?“ blieb ihm im Hals stecken. Plötzlich war oben unten und unten oben. Links und rechts vertauschten in einem fort die Plätze. Er kam sich vor wie in einer Zentrifuge. Ein paar Sekunden noch, und ihm würde schlecht.

Mächtige Aggregate liefen an. Es zischte und krachte. Das ganze Geschehen dünkte ihm unheilvoll. Unwillkürlich schloss er mit seinem Leben ab.

Ein harter Aufschlag, der ihm ohne Andruckliege sämtliche Knochen gebrochen hätte, und alles war wieder ruhig und still. Die halbintelligenten Bänder gaben ihn frei und zogen sich in ihre Hülsen zurück.

Benommen taumelte er von der Liege hoch. Starke Befürchtungen trieben ihn zum Ausstieg. Eine Überlebenskapsel dieser Güte riss sich nicht von allein aus der Halterung und kullerte im Schiffsleib herum. Der In Familienbesitz musste etwas Schreckliches passiert sein.

Er aktivierte den Kopffunk und rief um Hilfe, fragte, was geschehen sei. Niemand antwortete. Er glaubte es nicht – noch nie war diese gedankliche, dreifach abgesicherte Verbindung ausgefallen – und rief noch einmal auf verschiedenen Wellen. Abermals keine Reaktion. Panisch sprang er auf das Portal zu.

Entgegen seiner Befürchtung öffnete es sich auf den ersten Fingerdruck. Er sprang auf den Hauptgang hinaus, doch –

Da war kein Hauptgang.

Da war keine Frachtbox A-11.

Da war kein unteres Frachtraumstockwerk des Hotelraumschiffes In Familienbesitz.

Da war nicht einmal mehr die In Familienbesitz.

Einsam ruhte Gratz-Häußers grandiose Überlebenskapsel auf dem Sandboden eines fremden Planeten.

Wo kommt der denn her?, dachte er entgeistert. Bis zum Lauen Lüftchen waren es doch noch anderthalb Wochen Flug, und keine andere Welt lag näher.

Perplex schaute er sich um ...

 

KAPITEL 4 – Luftangriff

Saranda Uttsch hatte mit Nancy kaum das Hotelzimmer betreten, da erfolgte die erste Explosion. Einige Kilometer entfernt, nahe des Sträucherdickicht-Reservats – ein unter Naturschutz stehendes Gebiet mit der ursprünglichen skurrilen Pflanzen- und Tierwelt Neu-Hanois – schoss grellweiß eine Stichflamme empor. Gleich darauf heulten die Sirenen los.

Obwohl draußen beim Sträucherdickicht-Reservat keine Menschen in Gefahr sein konnten, rückte die Feuerwehr aus. Weit kam sie nicht. Eine Granate oder Bombe – sie kannte sich mit Kriegsgerät nicht aus – auf allen Besiedelten Welten herrschte seit mehr als einem Jahrhundert Friede – zertrümmerte genau vor dem Fahrzeug den Straßenasphalt.

Über die SOS-Welle des Kopffunks schrie eine männliche Stimme auf sie ein, jeder solle unverzüglich einen Bunker oder ähnlichen schützenden Unterstand aufsuchen. Sie reagierte nicht und stand wie angewurzelt, Nancy neben sich.

Dann ging es Schlag auf Schlag. Ein Haus stürzte ein. Erde und Gestein spritzten Dutzende Meter weit weg. Hinter dem Südstrand schäumte das Wasser auf. Hohe, rote Wellen rollten grollend heran.

Der dreizehnte Einschlag – sie hatte unbewusst mitgezählt – verwandelte den Nordflügel des Hotels in einen Krater. Heil gebliebene Fensterscheiben gab es nirgendwo. Ungefiltert drangen die Schmerzens- und Todesschreie vieler Gäste und Hotelangestellter ins Zimmer. Nancy hielt sich kalkweiß im Gesicht die Ohren zu.

Ein Zimmermädchen stürzte zur Tür herein. „Kommen Sie! Schnell, in den Keller. Hier oben sind Sie des Lebens nicht sicher. Unten haben wir wenigstens einen Meter Beton über dem Kopf. Los doch, machen Sie schon! Ich will wegen Ihnen nicht sterben.“

sofort

„Wettersatellit?“, fragte sie tonlos. „Weltraumstation?“