cover.jpg

img1.jpg

 

Nr. 2856

 

Spiegeljunge

 

Er ist auf der Suche nach sich selbst – seine Vergangenheit birgt ein schreckliches Geheimnis

 

Verena Themsen

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

img2.jpg

 

Auf der Erde schreibt man das Jahr 1518 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Die Menschen haben mit der Liga Freier Terraner ein großes Sternenreich in der Milchstraße errichtet; sie leben in Frieden mit den meisten bekannten Zivilisationen.

Doch wirklich frei ist niemand. Die Milchstraße wird vom Atopischen Tribunal kontrolliert. Dessen Vertreter behaupten, nur seine Herrschaft verhindere den Untergang – den Weltenbrand – der gesamten Galaxis.

Während sich der Arkonide Atlan ins vermutete Herz dieser Macht begeben hat – die Ländereien jenseits der Zeit –, reist Perry Rhodan durch vergangene Zeiten, um der Gegenwart Hilfe zu bringen. Denn die Gegenwart, wie er sie kennt, wird nicht nur durch die Atopen bedroht, sondern auch durch die brutalen Tiuphoren, die durch einen Zeitriss aus tiefster Vergangenheit zurückgekehrt sind.

Einer seiner Helfer ist Germo Jobst, ein junger Mann aus einer potenziellen Zukunft. Er ist der SPIEGELJUNGE ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Germo Jobst – Ein Junge weiß nicht, wer er wirklich ist.

Halin Evorett – Der Induzierte sucht seine Fähigkeiten.

Lukio-Varin – Ein Drahtzieher gibt Halt.

Gula Jobst – Die Tochter einer Minenarbeiterin bietet Schutz.

Ch'Daarn – Ein Prophet bringt Licht ins Dunkel.

1.

Sternfall

 

Er stürzte. Endlos.

Ich ...

Die Sterne glitzerten, funkelten ihm ihr Willkommen aus der klaren Kälte des Alls entgegen.

Ich bin ...

Schlieren wuchsen aus den Rändern, als wollten sie ihn empfangen. Er sehnte sich nach ihrer Umarmung, begrüßte den Fall, den Sturz. Auch er streckte die Arme aus.

Ich bin ...

Die Antwort fühlte sich greifbar an, ganz nahe, und doch unendlich weit weg. So weit wie die Sterne.

Er schloss die Lider, rieb die Tränen aus den Augenwinkeln. Der Boden in seinem Rücken war plötzlich wieder hart.

Was brachte es, sich etwas vorzumachen? Er stürzte nicht nach oben, kam den Sternen nicht näher. Es war nur dieses Gefühl, während er auf dem Low-Grav-Hügel am Rande des Parks lag. Dieses Gefühl der Freiheit, der Haltlosigkeit, nach dem er sich sehnte, in das er Hoffnung setzte. Konnte es etwas in ihm befreien? Konnte es ihm die Antwort auf seine Fragen geben?

Immer wieder kam er an diesen Ort und versuchte es. Viel zu oft für jemanden, der sich verborgen halten wollte.

Wer untertaucht, kann sich keine Lieblingsplätze leisten.

Germo hatte das gesagt. Aber wer war Germo?

Und, was viel wichtiger ist – wer bin ich?

 

*

 

Das Geräusch eines brechenden Astes ließ den Jungen zusammenzucken. Er setzte sich auf, vorsichtig, damit er nicht versehentlich den Halt am Boden verlor, und sah sich um.

Die Scheibe von Retilon V, durch Maiters gebundene Rotation gefangen im ewigen Aufgang, füllte an diesem Ort fast ein Viertel des Himmels über dem Mond. Wo die Sonne den Planeten beschien, zierten braunrote Wolkenbänder die Sphäre wie ölige Schlieren auf Schlamm. Ein hauchfeines Messingband teilte den Planeten und den restlichen Himmel in zwei ungleiche Teile.

Die kristallreichen Ringe um den Gasriesen streuten die hellorangefarbenen Strahlen Retilons so stark, dass sie selbst im Schatten des Planeten noch schwach schimmerten. Dank ihrer herrschte auf Maiter selbst während der täglichen mehrstündigen Sonnenfinsternis keine völlige Dunkelheit.

Der Trümmerring ist wie mein Leben, dachte der Junge. Unzählige Splitter und Bruchstücke, die nicht mehr zusammenfinden können. Jedes reflektiert einen anderen Teil vom Licht, aber die Sonne als Ganzes sieht man durch sie nicht.

Im Moment dominierte im Park am Rand der Zentralsiedlung Rorans Stolz allerdings das Dämmerlicht des Gasriesen. Es war gerade hell genug, um die dicken Äste und hohen Baldachine der verstreut stehenden schlanken Bäumen zu erkennen. Zwischen ihnen konnte man das leichte Wiegen des Grases im Wind der künstlichen Kuppelatmosphäre erahnen. Nirgendwo war irgendwelche Bewegung, die nicht hierhergehörte.

Trotzdem war der Junge sicher, dass sein Gehör ihn nicht getäuscht hatte. Jemand war da, und er oder sie hatte anscheinend Grund, sich im Schatten zu halten.

Friedenswächter? – Nein, die haben Besseres zu tun, als sich nachts im Park herumzutreiben. Pflegeroboter sind um diese Zeit auch nicht hier. Die Minenarbeiter sind entweder auf Schicht oder schlafen. Wer also sonst?

Einige Momente lauschte er noch. Schließlich zuckte er die Achseln. Ein verirrtes Tier oder ein verstecktes Liebespärchen, mehr war es wohl nicht gewesen.

Trotzdem hielt es ihn nicht mehr im Park. Er stieß sich in einem flachen Winkel vom Hügel ab, sodass er nahe dem Rand der Zone natürlicher Mondgravitation wieder aufkam – ein oft geübtes Manöver. Nach einem weiteren kleinen Sprungschritt durch den Übergangsbereich hatte er sein aus der Siedlung gewohntes Gewicht zurück. Es trieb ihn trotz aller Erfahrung ein wenig in die Knie. Das war offensichtlich der Moment, auf den die Leute im Schatten gewartet hatten.

Der Junge hörte etwas sirren und warf sich instinktiv zur Seite. Etwas Hartes streifte sein Bein. Er sprang wieder auf und rannte in geducktem Zickzack-Kurs zwischen den Bäumen und Büschen hindurch. Er wagte nur einen kurzen Blick zurück. Drei von dünnen Flexdrähten zusammengehaltene Metallkugeln hatten sich um den Baumstamm geschlungen, neben dem er eben noch gestanden hatte, und tiefe Kerben geschlagen.

Das Ding hätte mein Bein brechen können!, wurde ihm klar. Oder es hätte mich zumindest zu Fall gebracht. Wer hat es geworfen? Haben sie mich gefunden?

Unwichtig. Im Moment zählte nur die Flucht.

Er unterdrückte den Impuls, das Kinn gegen seine Schulter zu drücken. Stattdessen nutzte er alles aus, was er in den letzten Monaten gelernt hatte – oder woran er sich von davor erinnerte. Die Grenzen waren fließend.

Er schlug Haken durch die Büsche und Rabatten, hetzte durch einen Pavillon, sprang über Beete, immer in der Hoffnung, sie abzuhängen. Er spürte sie. Sie waren gesichtslos in der Dämmerung, drei oder vier, genau konnte er es nicht sagen. Sie waren aus verschiedenen Teilen des Parks aufgetaucht, und sie kamen näher, immer aus der Richtung, in die er gerade lief. Sie waren ebenso durchtrainiert wie er, dabei aber vermutlich ausgeruhter. Satter. Wann hatte er das letzte Mal eine richtige Mahlzeit zu sich genommen?

Unwichtig.

Der Junge hastete tief geduckt weiter. Endlich tauchte das Grenzmäuerchen des Parks vor ihm auf. Er flankte darüber hinweg und rannte weiter, in die nächste Gasse der Siedlung.

Falle!

Die Erkenntnis kam einen Moment zu spät. Es war eine Treibjagd gewesen, klassisch. Zwei weitere Schatten tauchten vor ihm auf.

Germo hat uns immer vor so etwas gewarnt ... so gehen die Friedenswächter vor.

Er versuchte, sich herumzuwerfen und aus der Gasse zu hasten, bevor die Falle sich schloss. Aber zu spät. Drei seiner Verfolger hatten schon aufgeschlossen und machten den Ausgang dicht. Der größte Schatten holte aus und schleuderte etwas in seine Richtung.

Der Junge warf sich zur Seite, um dem vermuteten Geschoss auszuweichen, und prallte gegen eine Mauer. Ein Blitz blendete ihn. Mit zugekniffenen Augen fiel er auf den Porositboden, rollte sich ab und wollte wieder auf die Beine springen, als ihm jemand gegen den Ellbogen trat. Er versuchte wegzurollen. Ein Tritt gegen die Seite stoppte ihn. Blinzelnd blieb er liegen und starrte nach oben, in ein grinsendes Gesicht.

Es war ein typischer Halbstarker, wie unzählige andere, denen der Junge begegnet war. Über ihnen schwebte eine Leuchtkugel, in deren Licht er auch die anderen sehen konnte, die ihm jeden Ausweg abschnitten – drei Jungen und zwei Mädchen, alle mit dem typischen, bewusst vernachlässigt wirkenden Look der »harten« Minenarbeiterkids. Sie kannten weder Hunger noch Kälte, aber sie glaubten, ganz unten zu leben; da, wo das Recht des Stärkeren galt.

Was wussten sie schon davon, wie tief es gehen konnte und welche Regeln dort herrschten?

»Haben wir dich endlich«, sagte der Große. »Wusste doch, dass es kein Balitin gewesen war, der immer wieder Zeug aus unserem Lager geklaut hat. Hab alle Sachen mit Trackstickern markiert und rausgefunden, wo du so rumhängst. Und jetzt bist du in unsere Falle getappt, kleiner Straßenstreuner. Was, meinst du, sollen wir jetzt mit dir tun?«

Der Junge vermied den Blick des anderen und rollte sich schon einmal vorsorglich am Boden zusammen. Er starrte auf die Schuhe der Jugendlichen. Schöne, warme Schuhe. Keine solchen Fetzen, wie er sie trug.

Nicht herausfordern. Widerstand macht für sie das Spiel nur interessanter.

»Was macht's schon aus, was ich sage? Ihr habt doch eh schon beschlossen, dass es Spaß macht, Schwächere zu schlagen.«

Wieso nur lief ihm ständig sein Mundwerk davon, ehe er es einholen konnte?

Der Tritt ins Kreuz kam nicht unerwartet, löste aber trotzdem einen Schmerzensblitz aus, der ihn winselnd die Augen schließen ließ. Spucke landete auf seiner Wange.

»Hier geht's nicht drum, 'nen Schwächling zu prügeln!«, fauchte der Anführer. »Es geht um Recht und Strafe! Du hast uns beklaut, und hier, unter Minenleuten, klaut man nicht voneinander!«

»Bin keiner von den Minenleuten«, murmelte der Junge. »Also hab ich euer Recht nicht gebrochen.«

Der nächste Tritt ging gegen sein Steißbein und ließ ihn beinahe die gekrümmte Haltung aufgeben, mit der er Bauch und Unterleib schützte.

»Schmarotzer wie dich brauchen wir hier nicht!«, bellte der Große. Die anderen murmelten zustimmend. »In 'ner Minensiedlung hat man nichts zu verschenken, da arbeitet jeder für das, was er isst. Also werden wir dir jetzt mal gründlich zeigen, was einem blüht, der sich nicht dran hält, und wenn du dann noch stehen kannst, schau'n wir mal, was für Arbeiten wir für dich finden, als Bezahlung für das Geklaute!«

Der Junge schielte hoch. Das dreckige Grinsen im Gesicht des Anführers sagte ihm, dass er sicher nicht mögen würde, was immer die Bande ihm auftrug – falls er ihre »Bestrafung« überstehen sollte. Er biss sich auf die Lippe, um die nächste bissige Bemerkung erfolgreicher zurückzuhalten. Stattdessen wappnete er sich für das, was kommen würde. Er hatte in einer langen und harten Schule gelernt, mit Schmerz umzugehen. Die Halbstarken würden sich wundern.

Als die Stange mit voller Wucht seine Seite traf, war er nicht mehr so sicher, wie lange er es aushalten würde. Er hatte mit Fäusten und Tritten gerechnet, aber nicht damit. Dabei hätte er es nach der Bola wissen müssen. Diese Bande war auf Blut aus, nicht bloß auf ein paar Prellungen. Hastig zog er den Kopf tiefer ein und legte die Arme darum, die knochigen Knie fest an die Stirn gepresst.

Tu es. Dreh den Kopf ... du kannst weg, wenn du nur willst ... willst du wirklich dein Leben riskieren?

Er kam nicht dazu, den Gedanken zu Ende zu denken. Schläge und Tritte prasselten auf ihn ein, so viele, dass er sie nicht zählte. Die Welt bestand aus Schmerz und dem erdigen Geruch der Straße, den er tief einsog, um wegzuatmen, was wegatembar war. Metallischer Geschmack im Mund. Er hatte sich in seinem Bemühen um Stille die Lippe blutig gebissen. Es war sicher nicht das einzige Blut, das er am Ende verlieren würde.

Ein Tritt gegen den Hinterkopf ließ seinen Schädel dröhnen und seine Muskeln fast erschlaffen. In seinen Ohren summte es, während er versuchte, gegen die zupackenden Hände seine Haltung beizubehalten. Er wusste, dass es ihm nicht gelingen würde, nicht gelingen konnte. Er hatte schon zu lange nichts Richtiges mehr gegessen.

Vielleicht hätte ich doch ...

Er schüttelte den Kopf, während sie ihn hochzerrten und seine Deckung aufbrachen. Sein ganzer Körper schrie ihn an, besonders dort, wo Hände ihn gepackt hielten. Die Kopfbewegung verursachte Schwindel.

Nein. Wenn irgendwer bei den Friedenswächtern davon hören würde ... du hättest sie sofort wieder auf den Fersen. Alles ist besser als das. Vielleicht sogar der Tod.

Er ließ sich in den Armen hängen, die ihn hielten, und öffnete zögernd die Augen, als sei er bereits halb bewusstlos, was im Grunde gar nicht so weit weg von der Wahrheit war. Er glaubte zu erkennen, dass die Gruppe größer geworden war. Die restlichen Jäger aus dem Park mussten angekommen sein. Der Große stand vor ihm, immer noch grinsend.

»So viel zum Vorspiel«, sagte er und wägte die Metallstange in der Hand. »Jetzt kommt der interessante Teil.«

Der Junge schluckte. Die Nacht versprach sehr lang zu werden.

 

*

 

Gerade als die Stange den Zenit der Ausholbewegung erreicht hatte, verdrehte der Halbstarke die Augen und schrie. Klappernd fiel das Metall zu Boden. Er ballte die Hände und fuhr herum.

»Na, na, Hirkam«, erklang eine tiefe Mädchenstimme von irgendwo hinter dem Großen. »Hast du etwa weniger Selbstbeherrschung als ein Straßenstreuner?«

»Die verrückte Gula«, murmelte jemand aus der Gruppe.

»Wer hier verrückt ist, sei mal dahin gestellt«, sagte die für den Jungen immer noch Unsichtbare. »Aber ich bin auf jeden Fall besser bewaffnet als ihr. Also wenn ihr nicht eine Lektion darüber lernen wollt, wie es sich anfühlt, wenn alle Nervenenden stimuliert werden ...«

»Das wagst du nicht«, fauchte Hirkam. »Das ist ein Tabitentreiber! Damit kannst du jemanden umbringen!«

»Auf schwächster Stufe nicht, auch wenn es zugegebenermaßen verdammt schmerzhaft ist. Aber wenn jemand sich dumm wie ein Tabite benimmt, finde ich es angemessen, ihn und seine ebenso unterbelichtete Herde damit ins Gatter zurückzutreiben.«

Die Hände ließen von dem Jungen ab, und er hörte, dass alle außer Hirkam ein paar Schritte zurückwichen. Auch der Große wirkte, als hätte er das gerne getan. Allerdings hätte er dafür nach hinten schauen müssen, um nicht rückwärts gegen sein vormaliges Opfer zu rennen. Er wagte es aber anscheinend nicht, den Blick von seiner Angreiferin zu lassen.

Vorsichtshalber – und da er ohnehin kaum noch Kraft zum Stehen hatte – ließ der Junge sich auf das Straßenporosit sinken und krabbelte ein Stück zur Seite. Falls der Bandenführer doch noch den Rückzug antrat, wollte er nicht im Weg sein. Er schlang die Arme um die Beine und verfolgte vom Gassenrand das weitere Geschehen – so gut es ihm trotz des dumpfen Pulsierens in den Ohren und des gelegentlichen Flackerns in seiner Sicht möglich war.

»Also, Hirkam? Gatter oder Gegenwehr?«

Der Junge spuckte aus. »Was geht dich der Kerl an? Er ist nur Straßendreck, und er hat uns beklaut!«

»Und er hat dabei sicherlich Sachen genommen, die ihr alle redlich im Schweiß eures Angesichtes erworben hattet, hm? Nichts, das ihr vielleicht aus den Kammern eurer Leute als Zusatzrationen ungefragt habt mitgehen lassen und das ihr darum in eurem Bau verstecken musstet?«

Hirkam zögerte mit der Antwort. »Nichts, das wir nicht verdient hätten!«, stieß er schließlich schon nicht mehr ganz so selbstsicher hervor.

»Wer was verdient, liegt im Auge des Betrachters – und in diesem Fall im Auge dessen mit dem Treiber, fürchte ich. Also, Hirkam, willst du nicht dem guten Beispiel deiner Trottelherde folgen und dich aus dem Staub machen, bevor ich dich für die Schlachtbank vorbereite und morgen deinem Onkel stecke, wo sein Kalutkraut geblieben ist?

Oder glaubst du, ich wüsste nicht von eurem Lager? Ich habe auch einen Sticktracker, weißt du, und in letzter Zeit hat der an einer Stelle ziemlich heftig angeschlagen. Das hat mich neugierig gemacht ...«

Der Große stieß einen derben Fluch aus, den der Junge so noch nie gehört hatte. »Also gut, du hast gewonnen! Da hast du dein Spielzeug. Mach mit ihm doch, was du willst!«

Hirkam versuchte, würdevoll zu wirken, während er dem Mädchen den Rücken zudrehte und wegging, aber der Junge sah die nackte Angst in seinem Blick. Er unterdrückte den Impuls, ihm ein Bein zu stellen. Man musste es nicht auf die Spitze treiben – und noch wusste er nicht, was ihm selbst blühte.

Seine Retterin trat in das Licht der Schwebelampe. Sie war ein Mädchen an der Schwelle des Erwachsenenalters, und obwohl sie die typische gedrungene und kräftige Statur der hiesigen Minenfrauen hatte, würde sie sicher keine hässliche Frau werden. Der Blick des Jungen blieb schließlich an dem schwarzen Stock hängen, den sie in der Hand hielt. Sie deutete damit nicht auf ihn, aber sie steckte ihn auch nicht weg, als sie neben ihm stehen blieb.

»Du bist ein Dummkopf, weißt du das?«

Der Junge nickte – vorsichtig, denn das Brummen in seinem Schädel nahm zu.

»Warum hast du nicht geschrien?«

»Keine Lust gehabt«, murmelte er.

»Du weißt, dass sie dann viel früher aufgehört hätten, oder? Sie waren drauf und dran, dich ins Koma zu prügeln, nur weil du so stur bist. Vielleicht hättest du es allein dafür sogar verdient gehabt.«

Er versuchte ein Lächeln, aber nur einer seiner Mundwinkel reagierte. Das Adrenalin ließ ihn im Stich. Zurück blieb eine bleierne Erschöpfung, die sogar den Schmerz dämpfte. »Vielleicht.«

»Hey, Junge – kipp mir jetzt bloß nicht weg, hörst du? Ich hab eigentlich keine Lust, dich zu tragen, auch wenn du mir ein Fliegengewicht zu sein scheinst.«

»Geht schon«, log er und machte Anstalten, aufzustehen.

Da steckte sie endlich den Stock weg und packte ihn am Arm, um ihm aufzuhelfen. Sie musterte ihn von oben bis unten.

»Du bist 'ne traurige Gestalt«, stellte sie fest. »Ich glaub, ich hab noch nie vorher so ein dürres Wesen gesehen. Wie alt bist du überhaupt? Zehn? Elf? Diese räudigen Bastarde, sich an einem Kind zu vergreifen ...«

Er zuckte die Achseln und bereute die Bewegung sofort, als der Schmerz im Rücken wieder aufflammte. Er wusste selbst nicht genau, wie alt er war, auch wenn man ihm schon vor drei Jahren gesagt hatte, er sei zehn. Aber woher sollte er wissen, ob das stimmte? Und es schadete sicher nicht, für jünger gehalten zu werden.

»Also gut. Gehen wir!«

Der Junge versuchte, Gulas Hand abzuschütteln. Es machte das Dröhnen in seinem Kopf lauter, ihm wurde schlecht. »Gibt nichts, wo du mich hinbringen könntest«, ächzte er und atmete tief durch. »Hör mal, danke und so, aber ... ich muss allein hier weg.«

»Und wo willst du hin, so, wie du aussiehst?« Gula schüttelte den Kopf. »Keine Angst, Junge, ich schlepp dich schon nicht zu den Friedenswächtern. Aber unter den Minenleuten gibt es eine alte Tradition, und die heißt, dass wir niemanden zurückweisen, der Schutz sucht. Und du suchst doch Schutz, oder?«

Er zögerte. Jeder Teil seines Körpers schrie ihn an, er solle sich hinlegen und schlafen. Aber das ging nicht.

»Ich ...« Er seufzte und ließ den Kopf hängen. »Ein bisschen Schutz wäre toll, ja. Aber ...«

»Kein ›aber‹. Du brauchst Schutz. Ich gebe ihn dir, nach echter Miner-Tradition, nicht dem Buklukmist, von dem Hirkam gesprochen hat. Ich nehme dich mit nach Hause.«

»Und deine Eltern?«

»Mutter denkt wie ich. Was glaubst du, wo ich's herhabe?« Sie schob ihren Arm unter seine Schultern. »Kannst du gehen?«

Vorsichtig ging er einen Schritt nach vorne. Die Welt drehte sich, und er glaubte, wieder die Sterne zu sehen. »Weiß nicht ... vielleicht musst du mich doch ...«

Die Sterne zwinkerten ihm zu und gingen aus.

2.

Nebelland

 

»Halin!«

Die Stimme kam aus dem Nichts. Er schlug um sich, wollte vertreiben, was auf ihn zukam. Seine Hände hinterließen Schlieren im Dunst. Es waren faszinierende Gebilde, filigran, wie treibende Schnüre. Sie verzwirnten sich und wurden zu Schlingen, die ihn fangen wollten.

»Halin!«

Er wich zurück. Sie wollten ihn fangen, ganz sicher. Etwas hinderte ihn am Wegrennen. Er sah nach unten: Aus den Schnüren waren dicke Seile geworden, die den ganzen Boden bedeckten und sich ihm um die Knöchel schmiegten, die Beine hinaufrankten und kaum eine Bewegung zuließen. Panisch versuchte er, die Seile abzustreifen.

»Halin, wach auf!«

Mit einem Schrei fuhr er hoch und schlug die Hände weg, die ihn rüttelten. Er blinzelte in das schwache Licht seiner Bettleuchte und starrte das Mädchen an, das vor ihm zurückgewichen war.

Mit einem Stöhnen schloss er die Augen wieder. Hitze pulsierte in ihm, als müsste sie gegen eine innere Kälte ankämpfen. Tränen stiegen auf und rannen über seine Wangen.

»Halin?« Sacht strich ein Finger über die Tränenspur. Er hatte sie nicht wieder herankommen hören. Der Junge hob den Kopf, sah in Iraides wasserblaue Augen. Als sie sich auf seine Bettkante setzte, schlang er die Arme um sie. Fest drückte er das Gesicht in ihren Schlafanzug, um das Schluchzen zu unterdrücken.

Er lauschte auf sein pochendes Herz. Was hatte er geträumt? Von Sternen, roten Sternen, die vom Himmel rannen. Vom Schmutz auf Straßen und von Bändern, die zu Fesseln wurden, zu Fäden, die an ihm rissen. Es machte ihm Angst, so viel Angst. Woher kamen diese Bilder? Was hatten sie zu bedeuten?

Iraide legte die Arme um ihn und drückte ihn sanft.

»Ich kapier das nicht«, wisperte er endlich, als sein Herzschlag sich wieder beruhigt hatte. Er sprach leise, obwohl sicher niemand im Dormitorium mehr schlief. »Ich will diese Albträume nicht. Woher kommen die bloß?«

»Das fragst du ernsthaft?« Iraides Flüstern klang belustigt. Als er den Kopf hob, sah er, dass sie lächelte. Es war ungewohnt auf ihrem sonst so ernsten, schmalen Gesicht.

»Du hast den ersten Schritt in ein neues Leben gemacht, Halin. Alles ist anders. Gleichzeitig fühlst du dich unter Druck gesetzt durch die Erwartungen, die man in dich setzt.« Sie berührte sacht seine Schulter.

Obwohl die Operationsnarbe unter der Dermaflexschicht so gut wie verheilt war, zuckte Halin unwillkürlich zurück.

»Entschuldige.« Sie legte ihre Hand auf seine. »Es verläuft bei jedem etwas anders. Manche nehmen es schwer an, manche leicht. Aber für alle bedeutet es eine Umwälzung. Du hast einen Induktor eingepflanzt bekommen, Kleiner. Manchmal setzt das irgendwas im Kopf frei. Unterdrückte Gefühle. Seltsame Gedankenverbindungen. Ohne genau zu wissen, was du geträumt hast: Ich bin sicher, es ist nur die Art, wie dein Gehirn versucht, mit der Veränderung fertigzuwerden.«

»Aber warum braucht es so lange dafür?«, wisperte Halin. »Drei Wochen! Seit drei Wochen ist das Ding drin, und ich kapier immer noch nicht, was ich damit wie machen soll. Nichts ist anders außer diesen miesen Träumen, die mich kaputt machen. Die anderen Kinder lachen mich schon aus. Die nennen mich den Blindgänger. Ich wünschte ...«

»Hör nicht auf Idioten!«, flüsterte Iraide. »Einige Native tun einfach gegenüber allen Induzierten überlegen, ohne dafür den geringsten Grund zu haben. Wahrscheinlich haben sie in Wirklichkeit einfach Angst, irgendwann nichts Besonderes mehr zu sein. Und die Induzierten, die dir blöd kommen, sind nur neidisch, weil dein Reihe-8-Induktor theoretisch viel mehr kann als ihre eigenen. Die zittern vor dem Tag, an dem du sie alle überflügelst.«

Halin schniefte. »Ich glaub nicht mehr, dass das passiert. Die haben einen Fehler gemacht bei den Tests. Ich gehöre nicht hierher. Ich will zurück in mein altes Heim. Ich wünschte ...«

»... sie würden das Ding einfach wieder rausnehmen und dich nach Hause lassen?« Iraide nahm auch seine zweite Hand. »Du hast kein Zuhause mehr da draußen. Keiner von uns hier hat das. Wir alle sind Waisen wie du, und wir alle sind anders als die anderen. Kein normales Heim kann jemals unser wahres Zuhause sein. Das können wir nur hier finden. Im Hort der Geistesblüte sind wir nicht nur irgendwelche elternlose Kinder, sondern bedeuten etwas. Wir können uns ein Leben aufbauen und durch das, was wir gemeinsam erreichen, zur Familie zusammenwachsen.«

Halin sah in Iraides Augen und wollte ihr glauben. Aber es war schwer.

Natürlich würde das Leben nie mehr so sein wie vor dem Unfall seiner Eltern, als er noch ein eigenes Zuhause gehabt hatte. Aber eigentlich war es auch im Wanderflusshaus nicht schlecht gewesen. Mit den Betreuern und den anderen Kindern war Halin gut zurechtgekommen, er hatte sogar richtige Freunde gefunden. Da war ein älterer Junge gewesen, Germo ...

Etwas schoss durch seinen Kopf und hinterließ eine Spur aus blendendem Schmerz. Echos hallten in seinem Schädel wider, begleitet von bunten Stroboskopbildern ohne Sinn. Einen Moment glaubte er, sich selbst reden zu hören, dann wurde ihm klar, dass es jemand anderes war, der ihm gleichzeitig fremd und vertraut vorkam.

So unvermittelt, wie es begonnen hatte, klang es wieder ab. Halin bemerkte, dass er auf das Bett zurückgefallen war, und zitterte. Iraide hielt immer noch seine Hände.

»Hast du etwas gespürt? Der Induktor – hattest du Verbindung?«

Benommen schüttelte Halin den Kopf. »Ich weiß nicht ... da war irgendwas. Als ob ... ich kann's nicht erklären. Als ob da ein anderer in meinem Kopf wäre, der auch ich wäre. Fühlt sich der Induktor so an?«

Iraide runzelte die Stirn, zog die Bettdecke bis zu seinem Kinn hoch und stopfte sie um ihn herum fest. Das Zittern ließ schon wieder nach. »Keine Ahnung. Ich bin eine Native, das weißt du doch. Aber vielleicht ...« Sie biss sich nachdenklich auf die Unterlippe.

»Was?«

Iraide winkte ab. »Nichts. Ich muss über etwas nachdenken. Schlaf jetzt, Halin. Ich bleibe eine Weile bei dir sitzen.«

»Danke.« Er brachte es nicht fertig, abzulehnen. Iraide war mit ihren dreizehn oder vierzehn Jahren zwar deutlich älter als er, aber sie würde ebenso ihren Schlaf brauchen. Trotzdem – nur wenn sie bei ihm saß und leise summte, schlief er traumlos. Nur dann konnte er so etwas wie Frieden empfinden. Und den brauchte er im Moment dringend.

 

*

 

Die Entspannungshalle summte wie ein Bienenstock. Es war das wöchentliche Planungstreffen der Ausbilder, und ihre Schützlinge nutzten die Stunde relativer Freiheit. Zwar hatte jeder Aufgaben erhalten, aber die wenigsten beschäftigten sich damit. Auch Halin hatte lieber ein kleines schlichtes 2-D-Puzzle mitgenommen, das er in seiner Spielstube gefunden hatte. Es zeigte ein Haus am Fluss, das ihn an sein früheres Heim erinnerte.