80128.tif

Titel

Kathrin Lange

Schattenflügel

Arenaneu.tif

Widmung

Für
Monika und Stefanie.
In Freundschaft.

Und für Tjada.
Vielen Dank. Du weißt, wofür.

Impressum

»Alles ist gut« von Reinhard Mey
(1989 Capitol Music a division of
EMI Music Germany GmbH & Co. KG).
Alle Rechte vorbehalten.

Veröffentlicht als E-Book 2012
© 2012 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Frauke Schneider
ISBN 978-3-401-80128-5

www.arena-verlag.de
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Kapitel 1

Manchmal waren es nur Kleinigkeiten, die Kim an den Tod von Nina erinnerten. So wie an diesem Montagvormittag.

Sie saß auf einer der Bänke in der Eingangshalle der Schule, hatte ihre Englischmappe auf dem Schoß und versuchte zu lernen. Vor einem der Terrarien des Schulzoos, die an der Wand aufgereiht waren, standen zwei Fünftklässler und starrten mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen durch die Scheibe.

»Kannst sagen, was du willst«, sagte der eine enttäuscht. »Ich glaube nicht, dass in dem Ding da wirklich eine Echse hockt!«

»Dornschwanz« hatte jemand auf das Schild neben dem Terrarium geschrieben und angeblich befand sich in dem Gefäß eine hässliche, dickschwänzige Echse mit warzigem Rücken und krummen Beinen. Allerdings war sie nachtaktiv. Jedenfalls ließ sie sich während des Schulbetriebes so gut wie nie blicken. Und das führte dazu, dass unter den Fünftklässlern jedes Jahr aufs Neue die Diskussion entbrannte, ob diese Echse wirklich existierte oder nicht.

Kim lächelte vor sich hin, als sie daran dachte, wie sie vor ein paar Jahren selbst vor dem Terrarium gestanden und sich diese Frage gestellt hatte.

Nina hatte sie ausgelacht.

Der Gedanke schoss Kim wie ein Blitz durch den Kopf. Ihr Lächeln zerfiel. Reflexartig presste sie die Fingerspitzen gegen die Schläfe, als könnte sie so die Erinnerungen zurückdrängen, zurück in das schwarze Loch, aus dem sie gekommen waren.

Die Erinnerungen an DAS BÖSE …

»He! Guck mal, Luca!«, hörte sie einen der Fünftklässler sagen. »Wie blöd die glotzt!« Ganz ungeniert starrte der Junge Kim an. Er hatte halblange Haare, die er sich kunstvoll zu einer Justin-Bieber-Frisur gestylt hatte.

Sie wich seinem Blick nicht aus, bemühte sich um eine möglichst neutrale Miene. Aber sie spürte, dass sie ihr Gesicht nicht unter Kontrolle hatte. Ganz sicher sah man ihr das Entsetzen an, das die Erinnerung bei ihr ausgelöst hatte. Es fühlte sich so an, als seien ihre Wangen, der Kiefer, die Lider und auch Stirn und Schläfen zu Eis erstarrt.

Luca schien ihr Blick unangenehm zu sein. »Komm schon!«, drängte er seinen Freund. »Ist doch egal!«

Der Blonde warf mit einer ruckartigen Bewegung seinen etwas zu langen Pony aus dem Gesicht. »Das ist bestimmt diese Irre aus der Neunten, vor der uns Leon gewarnt hat«, sagte er. Er hatte das Kinn vorgeschoben und starrte Kim herausfordernd an.

»Buh!«, machte sie und verspürte Vergnügen dabei, ihn zusammenzucken zu sehen. Schnell wandte er sich ab und rannte mit langen Schritten quer durch die Eingangshalle. Zusammen mit seinem Freund verschwand er durch die Glastür, die in den Trakt der fünften Klassen führte.

Seufzend warf Kim einen Blick in Richtung des Dornschwanzes. »Du hast es gut«, murmelte sie. »Unsichtbarsein ist eine ziemlich clevere Idee!«

Besser jedenfalls, als von den Frischlingen aus der Fünften für eine Irre – einen Freak – gehalten zu werden, dachte sie verbittert.

»Redest du oft mit Tieren?«

Die spöttische Stimme erklang direkt neben ihr. Sie wandte den Kopf und ihr Blick fiel auf einen lang aufgeschossenen Typen mit einer schwarzen Jeansjacke. Die blonden Haare hingen ihm wirr in die Stirn und in seinen Augen erkannte sie einen eigenartig ernsthaften Ausdruck.

»Nur mit unsichtbaren«, antwortete sie.

»Oh, Ernie ist nicht unsichtbar. Nur verpennt.«

Kim runzelte die Stirn. »Ernie?«

Da lachte der Junge und deutete auf das Terrarium. »So haben wir ihn getauft, als ich damals in der fünften Klasse war.« Er zuckte mit den Schultern. »Ist schon ’ne Weile her.«

Kim betrachtete ihn genauer. Er wirkte fast schon erwachsen. Sie schätzte, dass er in die zwölfte, vielleicht sogar schon in die dreizehnte Klasse ging. An der Schule hatte sie ihn noch nie zuvor gesehen, aber das musste nicht viel heißen. Die Albert-Einstein-Gesamtschule hatte immerhin über tausendfünfhundert Schüler.

»Klar«, sagte sie und wollte sich wieder ihrem Englischtext zuwenden.

Der Junge trat einen Schritt näher an die blau gestrichene Sitzgruppe heran, die Kim sich zum Lernen ausgesucht hatte. »Bist du arrogant oder einfach nur schüchtern?«

Nichts von beidem. Nur ein Freak mit Albträumen und einem Knall.

Sie unterdrückte ein Seufzen. »Weder – noch, schätze ich. Ich versuche nur, das hier zu kapieren!« Sie fand ihren Tonfall ziemlich abweisend, aber der Typ schien davon völlig unbeindruckt zu sein.

»Englisch? Zeig mal!« Ohne eine Reaktion von Kim abzuwarten, setzte er sich zu ihr auf die Bank und schnappte sich ihre Mappe.

»He!« Kim protestierte lahm.

»The influence of media on public and personal life«, las er die Überschrift von Kims Text. »Daran erinnere ich mich. Schnarchlangweilig, oder?«

Kim pustete sich eine Strähne aus dem Gesicht. Eigentlich hätte sie schon längst mal wieder zum Frisör gehen sollen, dachte sie und wunderte sich über sich selbst. Sonst machte sie sich eigentlich nie viele Gedanken über ihre Frisur. Sie hatte genug mit den Dingen zu tun, die in ihrem Kopf vorgingen. Warum sie gerade jetzt ans Haareschneiden dachte, war ihr nicht ganz klar. »Geht so«, sagte sie. Jetzt, als der Typ neben ihr saß, konnte sie ihn unbemerkt ein wenig genauer betrachten. Dieser durchdringende Blick, als könnte er tief in sie hineinsehen. Kam das von einem Kajalstrich am unteren Augenlid? Kim war sich nicht sicher. Wenn der Kerl sich wirklich geschminkt hatte, dann hatte er es zumindest sehr geschickt gemacht, denn er wirkte kein bisschen tuckig. Eher das Gegenteil. Ein eigenartiger, faszinierender Geruch ging von ihm aus, etwas, das Kim nicht einordnen konnte, eine Mischung aus Deo und etwas anderem, etwas sehr Männlichem. In seinem Ohrläppchen trug er einen kleinen silbernen Ohrring, dessen Form Kim seltsam vertraut vorkam. Sie sah genauer hin.

… eine Libelle …

Vor Schreck zuckte sie zusammen.

»Was ist?« Der Junge beugte sich vor. Aus seinen grüngrauen Augen sah er Kim besorgt an. »Du bist plötzlich ganz blass!«

Kim schluckte. Du dumme Kuh, kannst du dich nicht zusammenreißen, schimpfte sie gedanklich mit sich selbst. Der Ohrring hatte in Wirklichkeit gar nicht die Form einer Libelle, sondern war ein kleines silbernes Kreuz. Nur im ersten Moment hatte es so ausgesehen, wie …

Kim schüttelte sich. Nicht an DAS BÖSE denken!, mahnte sie sich, aber es war natürlich längst zu spät. Der Anblick des Ohrrings – eigentlich eine völlig bedeutungslose Kleinigkeit – hatte es geschafft, sie vollkommen aus dem Konzept zu bringen. Sofort hatten die Gedanken in ihrem Kopf wieder angefangen, Karussell zu fahren. Schnell biss sie sich auf die Lippe. »Nein, schon gut. Ich dachte nur …« Sie brach den Satz ab. Diesem Kerl war sie keinerlei Erklärung schuldig, wieso stotterte sie also hier herum?

Ihr Herz klopfte so stark, dass sie es an der Innenseite ihrer Rippen spüren konnte.

Der Blick des Jungen lag schwer auf ihr. »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«

Seine Fürsorglichkeit ging Kim auf die Nerven. Sie schnappte sich die Englischmappe aus seinen Händen und sprang auf. »Ich muss los.«

Auch er erhob sich. »Natürlich.«

»Ich hab jetzt Bio im A-Trakt.« Warum erzählte sie ihm das? Sie konnte den Blick nicht von diesen Augen lassen.

»Okay.«

Ruckartig wandte sie sich um und wollte schon weggehen, als seine Stimme sie noch einmal innehalten ließ.

»Hey!«

Über die Schulter warf sie einen Blick zurück.

»Wie heißt du eigentlich?«

»Kim«, antwortete sie.

Da lächelte er. »Hallo, Kim. Ich bin Lukas.«

Einer seiner unteren Eckzähne stand ein wenig schief.

Als sie den Biosaal erreichte, hatte sie Lukas schon fast wieder vergessen. Aber sie wurde schnell wieder an ihn erinnert, weil Sabrina und Marie, zwei ihrer Klassenkameradinnen, auf sie zugeschossen kamen.

»Was wollte dieser Typ eben von dir?«, fragte Marie neugierig. Offenbar hatte sie Kim mit Lukas zusammen unten in der Halle gesehen.

Kim verdrehte die Augen. »Nichts!«

Zweifelnd sahen die beiden sie an. Früher – vor DEM BÖSEN – waren Sabrina und Marie einmal Kims beste Freundinnen gewesen, aber das war lange her. Heute konnte Kim ihr ewiges Gerede, ihre neugierigen Fragen und musternden Blicke manchmal nur schwer ertragen.

»Du kannst uns nichts vormachen, Süße!«, behauptete Sabrina nun. »Du hast was, das sehe ich dir an! Hat es was mit dem Kerl zu tun?«

»Lukas«, sagte Kim automatisch.

Sabrina zog die Augenbrauen zusammen. Sie hatte sehr helle Augenbrauen, die sie mit einem schwarzen Stift nachzog. In ihrem blassen Gesicht und unter den weißblonden Haaren sahen sie aus wie zwei schwarze Balken. »Erzähl!«, verlangte sie und machte Anstalten, sich unterzuhaken.

Doch Kim entzog sich dem Annäherungsversuch. »Was soll ich erzählen?«

Sabrina seufzte. »Es wird wirklich Zeit, dass du mal wieder normal wirst, weißt du das? Da baggert dich ein total süßer Typ aus der Zehnten an und du bleibst kalt wie eine Hundeschnauze!«

»Aus der Zehnten?«, rutschte es Kim heraus. Sie hätte schwören können, dass Lukas mindestens in die Zwölfte ging.

Triumphierend grinste Sabrina sie an. »Wusste ich’s doch! Er gefällt dir!«

»Er riecht seltsam«, gab Kim so unberührt wie möglich zurück. Im Stillen dachte sie jedoch an Lukas’ Augen. Dann fiel ihr Blick auf Marie. Sie sah ziemlich sauer aus.

Sabrina lachte. »So nah war er dir also schon?«

Marie presste die Lippen aufeinander und strich sich ihre sorgsam frisierten Haare hinter die Ohren. Für gewöhnlich war sie diejenige, die sich die süßesten Jungs angelte, und es war ihr deutlich anzusehen, dass Lukas’ offensichtliches Interesse für Kim sie ärgerte.

Demonstrativ wandte Kim sich ab, aber Sabrina ließ sie nicht so einfach aus ihren Klauen entkommen. Sie umrundete Kim und versperrte ihr auf diese Weise den Weg in den Unterrichtsraum, den Herr Schröder, ihr Biolehrer, in diesem Moment aufschloss. »Er ist wirklich erst in der Zehnten«, erklärte sie. »Ich weiß das von ein paar Zehntklässlern. Die haben sich auf dem Schulhof über ihn unterhalten. Er ist erst seit ein paar Tagen wieder an der Schule. Angeblich hat er länger ausgesetzt.«

Kim presste sich ihre Schultasche vor die Brust und musterte Sabrina mit abfälligem Blick von Kopf bis Fuß, um ihr klarzumachen, dass sie an Einzelheiten über Lukas nicht im Geringsten interessiert war. »Und?«, sagte sie betont gelangweilt.

Da endlich begriff Sabrina, dass Kim wieder einmal einen ihrer asozialen Anfälle hatte. »Manchmal bist du echt ätzend, weißt du das?«, stöhnte sie.

Als Kim nur gleichgültig mit den Schultern zuckte, fluchte Sabrina leise und zischte: »Ach, mach doch, was du willst!« Dann drehte sie sich auf dem Absatz um. »Komm, Marie!« Statt bei Kim hakte sie sich nun bei Marie unter und zog die noch immer missmutig aussehende Freundin in den Biosaal.

Sabrina hatte ja recht! Kim verhielt sich manchmal einfach unmöglich. Aber sie konnte nicht anders. Wenn die Erinnerungen an DAS BÖSE in ihrem Kopf kreisten, war sie nicht in der Lage, sich an dem belanglosen Gequatsche ihrer Klassenkameraden zu beteiligen.

Mit einem Seufzen folgte sie den anderen.

Naturwissenschaften mochte Kim nicht besonders, aber das Fach Biologie hasste sie geradezu. Um auf keinen Fall einen Blick auf die Bildtafeln werfen zu müssen, die an der Längsseite des Klassenzimmers aufgehängt waren, durchquerte sie den Raum mit gesenktem Kopf. Immer noch mit gesenktem Kopf legte sie ihre Schultasche auf ihren Platz. Nachdenklich streifte sie sich die Jacke von den Schultern und hängte sie über die Stuhllehne. Lukas trug eine Jeansjacke. Wer hatte heutzutage eigentlich noch so was an?

Sie setzte sich.

Vorn am Lehrerpult begann Schröder, seine mitgebrachten Bücher auszupacken.

Sabrina, die eine Reihe vor Kim saß, lehnte sich zurück. »Sie sagen, er war im Gefängnis«, raunte sie. Marie warf ihr einen bösen Blick zu.

Aber Kim ignorierte die beiden einfach. Sie wusste, dass Sabrina von Lukas sprach, aber das war ihr im Moment egal. In diesem verdammten Bioraum brauchte sie ihre gesamte Willenskraft, um den Blick die ganze Zeit starr auf ihre Hände gerichtet zu halten. Auf keinen Fall durfte sie zu den bunten Zeichnungen auf den Bildtafeln schauen! Ganz vorn, das wusste sie natürlich, hingen die Katzenartigen, daneben die Wassersäugetiere. Der Große Tümmler grinste den Betrachter an. Nach den Wassersäugern kamen die Nagetiere. Und dann, gerade so weit hinten, dass Kim sie noch aus dem Augenwinkel sehen konnte, hing eine Tafel mit Insekten.

Angestrengt starrte sie auf ihre weißen Knöchel, die aus den verkrampften Handrücken hervortraten. Doch wie magnetisch wurde ihr Blick immer wieder von den schillernden, geflügelten Tieren angezogen. Er wanderte zu der großen grünen Libelle in der Mitte des Bildes.

In diesem Moment wurde Kim schlecht.

Kapitel 2

Wie Dr. Schinzel, ihr Psychotherapeut, es ihr beigebracht hatte, bekämpfte sie die Panikattacke durch gleichmäßiges und tiefes Ein- und Ausatmen. Herr Schröder warf ihr kurz einen besorgten Blick zu, doch sie schaffte es, ihm beruhigend zuzulächeln, und so drehte er sich wieder zur Tafel.

Zu ihrer Erleichterung überstand sie die Stunde ohne einen wirklich dramatischen Zwischenfall und war froh, als es endlich klingelte und der Schultag für heute geschafft war. Auf dem Heimweg im Bus setzte sie sich in die erste Reihe. Alle anderen versammelten sich gern ganz hinten, möglichst weit weg vom Busfahrer. Kim war froh, hier vorne ihre Ruhe zu haben. In der Plexiglasscheibe hinter dem Fahrer betrachtete sie ihr Spiegelbild: über dem schwarzen T-Shirt das blasse Gesicht und die hellbraunen Haare, die sie – wie immer – zu einem losen Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Sie versuchte, ihren eigenen Blick einzufangen, aber das Bild war zu unscharf. Es gelang ihr nicht, sich an sich selbst festzuhalten. Nur dass ihr Pony zu lang war, das bemerkte sie erneut.

Als sie zu Hause ankam und die Haustür aufschloss, drang ihr der Geruch von gebratenem Fleisch und Pommes in die Nase.

»Sigurd?«, rief sie, während sie ihre Tasche in die Ecke warf und die Jacke aufhängte. »Ich bin da!«

»Schön!«, kam es aus der Küche.

»Riecht gut«, log sie. In Wahrheit war ihre Kehle so eng, dass sie nicht einen einzigen Bissen herunterbekommen würde.

Als sie die Küche betrat, wandte sich Sigurd vom Herd ab und warf Kim einen langen Blick zu. Er war so was wie ihr Stiefvater. Wie immer, wenn er zu Hause war, trug er Jeans und ein Hemd, das ihm lose über den Bund hing und seinen durchtrainierten Bauch verbarg. Kim erkannte, dass er sich heute Morgen nicht rasiert hatte. Das bedeutete, dass er das Haus nicht verlassen und den ganzen Vormittag über geschrieben hatte. Sigurd war Journalist und nebenbei Extremsportler. Seine blonden Haare hingen ihm bis auf die Schultern herab und seine Haut war gebräunt von seinem letzten Auslandsaufenthalt, von dem er vor Kurzem erst zurückgekehrt war.

»Was ist passiert?«, fragte er. Er hatte eine weiche, sehr tiefe Stimme.

Kim biss die Zähne zusammen. »Kann man dir eigentlich gar nichts vormachen?«, knurrte sie. Widerwillen machte sich in ihr breit. Fang jetzt bloß nicht an, mich auch noch zu bemuttern, dachte sie bei sich.

Sigurd grinste breit. Seine Zähne waren makellos und weiß und unwillkürlich musste Kim an den schief stehenden Eckzahn von Lukas denken. »Berufskrankheit«, sagte er. »Ich bin gezwungen, so genau wie möglich zu beobachten!« Er zog einen Stuhl unter dem Küchentisch hervor und nötigte sie, sich darauf zu setzen.

Der Tisch war bereits gedeckt, Teller und Besteck lagen bereit. Zu Kims Erleichterung hatte Sigurd auf Servietten verzichtet. So einen Ausbruch von Häuslichkeit hätte sie im Moment nur schwer ertragen.

Jetzt schaltete er die Platte, auf der die Schnitzel brutzelten, auf die kleinste Stufe und setzte sich Kim gegenüber. »Erzähl! Was ist dir über die Leber getrampelt?«

Normalerweise hätte Kim über diesen Ausdruck gelächelt. Früher hatte Sigurd ihn immer benutzt, wenn er sie vom Weinen ablenken wollte. Heute jedoch fühlte sich alles in Kim so wund an, dass sie nicht einmal so tun konnte, als amüsiere sie sich über Sigurds Wortwahl.

Seine Stirn legte sich in Falten. »So schlimm?« Er zog eines der altmodischen Taschentücher hervor, die er immer bei sich hatte, und wollte es ihr reichen.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich musste vorhin nur an Nina denken«, sagte sie. Insgeheim hatte sie gehofft, dass ihn das betroffen machen würde, und so war es auch. Er zuckte zusammen, als sie den Namen ihrer Schwester erwähnte. Mit einem Anflug von Grausamkeit fügte sie hinzu: »Im Biosaal haben wir so eine Tafel mit Insekten. Da sind auch ein paar Libellen darauf!«

Sigurd seufzte tief und steckte das Taschentuch wieder weg. »Du Arme!« Er langte über den Tisch und griff mit beiden Händen nach Kim. Dabei fiel ihr Blick auf den dicken Silberring, den er am Finger trug. Es war ein indianisches Schmuckstück, das er von einer seiner vielen Reisen nach Nordamerika mitgebracht hatte. Ein Adlerkopf zierte den Ring, der Kim schon immer zu protzig und schwer vorgekommen war. Sie schauderte. Etwas in ihr wollte, dass Sigurds Berührung sich unangenehm und aufdringlich anfühlte, aber das tat sie nicht. In Wahrheit war sie tröstlich und angenehm.

Kim schluckte, weil sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen. Sie wollte jetzt nicht heulen. Auf keinen Fall! »Es ist nur …« Genervt von sich selbst schüttelte sie den Kopf, doch sie konnte den Gedanken nicht loswerden, der plötzlich in ihrem Kopf zu kreisen begannen. Eine Weile rang sie um Worte. Sigurd saß nur da und hielt ihre Hände in den seinen. Er streichelte sie nicht, was sie wahrscheinlich auch nicht ertragen hätte. Wartend sah er ihr ins Gesicht.

»Ich habe vorhin zwei Fünftklässler beobachtet«, flüsterte Kim endlich. »Und da musste ich daran denken, wie ich selbst in der fünften Klasse war.« Sie schniefte, aber sie konnte jetzt nicht mehr verhindern, dass ihre Augen überliefen. »Damals hat Nina noch gelebt«, fügte sie sehr leise hinzu.

»Es muss schrecklich sein«, sagte Sigurd.

Kim entzog ihm ihre Hände. Die Schnitzel auf dem Herd brutzelten noch immer vor sich hin und langsam machte sich ein leichter Brandgeruch in der Küche breit. Es kümmerte sie beide nicht.

»Das Schlimmste ist«, flüsterte Kim und wischte sich die Tränen fort, »dass alles immer völlig unerwartet wieder da ist. Diese überfallartigen Erinnerungsschübe, wenn man eigentlich glaubt, endlich darüber weg zu sein …« Sie schluckte schwer. Dann erhob sie sich. »Nimm es mir nicht übel«, murmelte sie, »aber ich glaube, ich habe keinen Hunger.«

Sigurds Blick huschte zu den vor sich hin kokelnden Schnitzeln. »So wie es aussieht«, versuchte er sich an einem unbeholfenen Scherz, »ist das nicht weiter tragisch.«

*

Zwei Jahre war es nun schon her, dass ihre zwanzig Monate ältere Schwester Nina nach einem Kinobesuch nicht nach Hause gekommen war. Immer wieder durchlebte Kim jede einzelne Minute dieses einen, alles entscheidenden Sonntagabend. Sie sah alles vor sich, als sei es gestern gewesen. Zusammen mit ihrer Mutter hatte sie auf dem Sofa gesessen und gewartet. Im Fernsehen lief ein Tatort, den sie eigentlich mit Nina zusammen anschauen wollten. Kim erinnerte sich noch daran, dass sie sich erschrocken hatte, als auf dem Bildschirm Schüsse fielen.

Nina war nicht durch Schüsse gestorben.

Die drei Tage nach Ninas Verschwinden waren die schlimmsten in Kims Leben gewesen. Immer wieder hatten sie und ihre Mutter versucht, Nina auf dem Handy zu erreichen, aber vergeblich. Dort hatte sich nur die automatische Ansage gemeldet, die verkündete, dass der Teilnehmer zurzeit nicht erreichbar war. Die Angst, ihrer Schwester könnte etwas Schlimmes passiert sein, die Ungewissheit darüber, wo sie war – das alles hatte sich angefühlt wie ein Schraubstock, der sich langsam immer fester um Kims Körper schloss.

Am Donnerstag darauf klingelte es dann an der Tür. Kim saß in ihrem Zimmer und machte Hausaufgaben, aber von einer ungewissen Ahnung getrieben, lief sie auf den Flur hinaus. Von dem oberen Treppenabsatz konnte sie die Haustür sehen – und ihre Mutter, wie sie die Tür öffnete. Kim sah, wie sie zurücktaumelte.

Vor der Tür standen zwei Polizisten.

Ruhige, verständnisvolle, mitfühlende Menschen in Zivil. Doris Keller und Jan Weidenschläger hießen sie. Kriminalkommissare. Was sie genau gesagt hatten, wusste Kim nicht mehr. Aber es war von einer Leiche die Rede gewesen und von dem Waldschlösschen, einer Ruine, anderthalb Kilometer außerhalb der Stadt. Während die Polizisten sprachen, ging Kim langsam die Treppe hinunter. Vor der Tür zum Wohnzimmer, in das die Erwachsenen sich zurückgezogen hatten, blieb sie stehen. Aus irgendeinem Grund schaffte sie es nicht, den Raum zu betreten. Die Tür war nur angelehnt und so sah sie, wie die Polizistin ihre Mutter auf das Sofa drückte und ihr den Arm um die Schultern legte. »Ich fühle mit Ihnen«, sagte sie, aber Kims Mutter schrie sie an: »Was erlauben Sie sich? Haben Sie Kinder?« Als Frau Keller beklommen nickte, klappte Kims Mutter den Mund zu und für drei oder vier Minuten sagte sie gar nichts. »Hat man eines von ihnen tot im Wald gefunden?«, flüsterte sie dann.

In diesem Moment erst begriff Kim, weswegen die Polizisten gekommen waren. Sie spürte, wie ihre Knie weich wurden und musste sich am Türrahmen abstützen. Ein Wimmern stieg in ihrer Kehle hoch. Sie stopfte sich die Faust in den Mund, um nicht loszuschreien.

Die darauf folgenden Ermittlungen hatten Monate gedauert. Jeden Stein hatten Keller und Weidenschläger mit ihrer Mordkommission in der Stadt umgedreht, jeder noch so kleinen Spur waren sie nachgegangen. Vergeblich! Auch zwei Jahre nach dem Mord war der Täter immer noch auf freiem Fuß. Seit jener Zeit war Kim die Tatort-Titelmelodie unerträglich. Genauso wie der Anblick von Libellen aller Art.

*

Während Sigurd die verkokelten Schnitzel entsorgte, ging Kim die Treppe hoch und verzog sich in ihr Zimmer. Der Raum bot ihr Zuflucht vor der Vergangenheit und den Erinnerungen, und das, obwohl sie ihn früher mit Nina geteilt hatte. Ungefähr zehn Monate nach Ninas Tod hatte Kim eine unglaubliche Wut gepackt. In einem Anfall von Raserei hatte sie fast alle ihre Möbel zertrümmert. Ihre Mutter hatte das zum Anlass genommen, den gesamten Raum zu renovieren. Kim hatte sich die Wandfarbe und die Stoffe für Vorhänge und Teppiche aussuchen dürfen. Am liebsten hätte sie Schwarz genommen, aber sie wusste, dass ihre Mutter sich ohnehin schon Sorgen um sie machte, und Schwarz als schlimmes Zeichen interpretieren würde. Aber da Libellen in allen möglichen Farben schimmerten und Kim seit Ninas Tod alles Bunte verhasst war, hatte sie sich für Weiß entschieden. Klinisches, reines, neutrales Weiß. Keine Bilder. Und keinerlei Deko oder Schmuck.

Nichts.

Das schien ihr angemessen für den Zustand, in dem sie sich befand. Trugen nicht auch Buddhisten bei Beerdigungen Weiß als Zeichen der Trauer? Manchmal überlegte Kim, Buddhistin zu werden.

Jetzt warf sie sich der Länge nach auf ihr Bett, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte aus dem Fenster, vor dem ein alter Apfelbaum seine Zweige bis fast an die Scheibe reckte. Früher waren Nina und Kim an seinem Stamm heimlich nach unten geklettert, wenn sie für irgendeine gemeinsame Aktion Zimmerarrest bekommen hatten …

Eine ganze Weile blieb Kim völlig erstarrt liegen, bis ihr Körper anfing, wie verrückt zu kribbeln, dann riss sie sich zusammen und richtete sich wieder auf.

Über dem Kopfende des Bettes hing ein Regal mit ihren Lieblingsbüchern. Neben einer Reihe von Vampirromanen stand dort auch ein dünner Band mit Texten von William Blake. Nina hatte Blake geliebt und Kim brachte es nicht übers Herz, das Buch wegzuwerfen, auch wenn sie selbst all die Verse von Göttern und Geistern und die ständige Beschäftigung mit Gut und Böse nicht leiden konnte. Neben dem Buch von Blake stand ein dickes Notizbuch, gebunden in dunkelroten Samt.

Kim zog es heraus und hielt es einen Moment unschlüssig in der Hand.

Es war Ninas Tagebuch.

Nach ihrem Tod hatte die Polizei es beschlagnahmt, weil man gehofft hatte, darin irgendwelche Anhaltspunkte für die Tat zu finden. Doch diese Hoffnung war vergeblich gewesen und so hatten Kim und ihre Mutter das Tagebuch vor ein paar Monaten zurückerhalten, mit der Bitte, es aufzuheben. Man würde vielleicht noch einmal darauf zurückkommen, sollten sich irgendwann neue Spuren ergeben.

Zögernd schlug Kim das Buch auf.

Es enthielt die üblichen Einträge, wie man sie im Tagebuch einer Fünfzehnjährigen erwartet: Irgendwelche ständig wechselnden Schwärmereien für Jungs aus ihrer eigenen oder der Parallelklasse. Geläster über Lehrer und Mitschüler. Hin und wieder hatte Nina auch ihre Sorgen aufgeschrieben – über eine verpatzte Klassenarbeit oder Streit mit einer Freundin. Alles nur harmlose Geschichten, ohne auch nur den kleinsten versteckten Hinweis auf ihren Mörder.

Aber dann war da noch dieses rätselhafte Gedicht, das Nina an einem der letzten Tage vor ihrem Tod geschrieben hatte. Kim hatte es in den vergangenen zwei Jahren mindestens tausendmal gelesen und konnte es längst auswendig. Trotzdem huschte ihr Blick über die zierlichen, eng geschriebenen Zeilen, als sie es vor sich hin murmelte:

»Töte mich zärtlich, Liebster!
Denn bis zum anderen Ufer der Nacht
ist es ein endloser Tunnel,
ein finsterer Schacht.
Seit die wolfsgelben Augen
kholenschwarz wurden
und die lautlosen Pfoten
des Wolfes
mir ihre Krallen ins Herz schlugen.
Der Hirsch,
der meine Geheimnisse kennt,
hat gesehen,
wie der flirrende Schatten des
Todes
auf mich gefallen ist.«

Kims Blick blieb an der ersten Zeile des Gedichtes hängen.

Töte mich zärtlich, Liebster!

Ihre Gedanken wanderten zurück zu jenem Sonntag vor zwei Jahren, zu jenem Augenblick am Nachmittag, als ihr Handy geklingelt hatte …

Kim schloss die Augen, so fest sie konnte.

Nicht dran denken!, befahl sie sich. Ruhig atmen! Das alles ist schon lange vorbei!

Seufzend öffnete sie wieder die Augen und schluckte. Sachte strich sie mit der Fingerkuppe über das Papier des Tagebuchs.

»Liebeskummer« hatte Nina das Gedicht genannt, als sie es geschrieben hatte, aber irgendwann später – niemand wusste, wann und warum – hatte sie diesen Titel durchgestrichen und durch einen anderen ersetzt.

Schattenflügel.

In dunkelroter Tinte hatte Nina dieses eine Wort über ihre rätselhaften Zeilen geschrieben.

Schattenflügel.

Was auch immer das bedeuten sollte!

Während Kim weiter über den seltsamen Titel nachgrübelte, kehrte die eben noch verdrängte Erinnerung zurück.

Der besagte Sonntag. Ein langweiliger Nachmittag, den sie damit verbracht hatte, für eine Mathearbeit zu lernen. Und dann hatte plötzlich ihr Handy geklingelt. Genervt von der Störung hatte sie es einfach ausgeschaltet.

Seitdem hatte sie verzweifelt versucht, diese Erinnerung zu verdrängen. Warum nur musste sie gerade heute immer wieder an all das BÖSE denken, das damals geschehen war?

Es klopfte an ihrer Zimmertür und Kim war erleichtert über diese Ablenkung.

»Kim?« Natürlich war es Sigurd. »Darf ich reinkommen?«

»Wenn’s sein muss«, gab Kim zurück, klappte das Tagebuch zu und stellte es rasch zurück zwischen die anderen Bände auf dem Regal. Sigurd öffnete die Tür und schob seinen Kopf durch den Spalt ins Zimmer. »Ich habe Johanna am Telefon«, sagte er. »Willst du mit ihr sprechen?«

Johanna war Kims Mutter.

Kim nickte, auch wenn sie sich zwingen musste, dabei nicht die Augen zu verdrehen. Vermutlich hatte Sigurd ihre Mutter angerufen, weil er sich Sorgen um Kim machte. Er kam ins Zimmer, gab ihr den Hörer und zog sich so lautlos zurück wie ein diskreter Butler in einem alten Schwarz-Weiß-Film.

»Hi, Mom!«, sagte Kim. »Wie geht’s dir?«

»Hallo, mein Schatz!«, hörte sie die Stimme ihrer Mutter. »Besser. Es geht jeden Tag ein bisschen aufwärts.«

Kims Mutter hatte sich beim Skifahren an Ostern eine so komplizierte Knieverletzung zugezogen, dass sie nach der Operation für ein paar Wochen in eine Reha-Klinik eingewiesen worden war. Das war auch der Grund, warum sie Sigurd gebeten hatte, sich um Kim zu kümmern, obwohl die beiden schon seit …

… DEM BÖSEN …

… zwei Jahren kein Paar mehr waren.

Kim seufzte erneut. Heute war offenbar so ein Tag, an dem alles und jeder sie an Ninas Tod erinnerte. Es war wohl besser, sich damit abzufinden und nicht länger darüber nachzudenken.

»Was ist los, Schätzchen?« Besorgnis lag in der Stimme ihrer Mutter, die das Seufzen natürlich gehört hatte.

»Nichts«, behauptete Kim und fügte schnell hinzu: »Hast du angerufen oder Sigurd?«

»Sigurd.« Es knackte in der Leitung, dann knisterte es leise. Kim stellte sich vor, wie Johanna in ihrem kleinen Zimmer in der Klinik auf dem Bett saß, das verletzte Bein hochgelegt und das Handy ans Ohr gepresst. »Ist bei euch alles in Ordnung?«

»Ja.« Kim kniff die Lippen zusammen. »Ich hatte Bio und die blöden Bildtafeln haben mich ein bisschen … durcheinandergebracht.«

Am anderen Ende der Leitung ertönte ein leiser Fluch. »Ich habe deinen Lehrer jetzt mindestens schon drei Mal gebeten, diese verdammte Tafel abzunehmen, aber offenbar muss ich mich direkt an den Schulleiter wenden!«

»Nein, Mom!«

»Doch, Schätzchen! Es kann doch nicht so schwer sein, so eine Schautafel abzuhängen! Immerhin weiß in der Schule jeder, was passiert ist, da kann man doch ein bisschen Rücksicht …«

»Es ist zwei Jahre her, Mom!« Kim spürte, wie sich ihr Unterkiefer vor lauter Anspannung verkrampfte. »Außerdem hat die Polizei die Sache mit der Libelle nie öffentlich gemacht. Warum sollten die in der Schule also verstehen …«

»Ach, Mist! Ich weiß ja …«

Kim unterbrach ihre Mutter. »Warum hat Sigurd dich angerufen?« Zu ihrer Erleichterung ließ Johanna sich auf den Themenwechsel ein.

»Er macht sich ein bisschen Sorgen um dich.«

»Er macht sich schon Sorgen, wenn ich nur mal barfuß über den Flur laufe.«

Kims Mutter lachte. »Stimmt! Er war schon immer überfürsorglich.«

»Warum muss er hier sein? Ich komme ganz gut allein zure…«

Diesmal war es ihre Mutter, die sie unterbrach. »Kommt nicht infrage! Ich bin noch mindestens vier Wochen in dieser blöden Klinik! Du wirst nicht die ganze Zeit allein zu Hause sitzen.«

»Aber Sigurd …«

»… ist ein guter Kerl!«, würgte Kims Mutter alle Proteste ab.

Kim wurde zunehmend genervt und wütend. »Ja, klar«, hörte sie sich selbst sagen. »Darum hast du ihn ja auch in die Pampa geschickt!«

Einen Moment lang war es ganz still am anderen Ende. Alles, was Kim hörte, war das leise Knistern in der Leitung.

Ihre Mutter und Sigurd waren zusammen gewesen, seit Kim denken konnte. Sigurd war zwar nicht ihr leiblicher Vater und auch nicht der von Nina, aber er hatte sich so benommen, als sei er es. Ihren richtigen Vater kannte Kim nicht. Zwar hatte sie ab und an das Bedürfnis gehabt, etwas über ihn zu erfahren, ihn vielleicht auch mal zu treffen, aber Johanna hatte sich stets geweigert, ihr zu sagen, wer er war. Bisher hatte Kim das auch nicht weiter schlimm gefunden. Sigurd war schließlich ein ganz passabler Ersatz gewesen.

Aber dann, ein paar Wochen nach Ninas Tod, hatte Kims Mutter sich völlig überraschend und von einem Tag auf den anderen von Sigurd getrennt.

Als Nina verschwand, war Sigurd gerade in der Wildnis Nordamerikas unterwegs. Mehrere Male war er dort gewesen und hatte für einen großen Artikel über die Navajo-Indianer recherchiert. Man hatte ihn erst ungefähr zwei Wochen nach jenem grauenhaften Sonntag erreichen können. Das hatte Kims Mutter ihm nie so recht verziehen. Sie habe die Tatsache nicht ertragen können, dass er ausgerechnet in ihrer schwersten Stunde nicht bei ihr gewesen sei, hatte sie gesagt.

»Entschuldige«, lenkte Kim ein, weil sie trotz der Entfernung spürte, dass sie ihre Mutter verletzt hatte.

»Schon gut«, kam es zurück. »Du hast ja recht.«

Als sie in die Klinik gemusst hatte, hatte Kims Mutter keine andere Möglichkeit gesehen, als Sigurd zu fragen, ob er sich um Kim kümmern könnte. Natürlich hatte er mit Freude eingewilligt, und Kim wusste, dass er sich Hoffnungen machte, wieder mit Johanna zusammenzukommen.

Sie spürte schon wieder ein Seufzen in ihrer Brust aufsteigen. Diesmal unterdrückte sie es.

»Muss ich mir Sorgen um dich machen?«, fragte ihre Mutter.

Kim schielte zu dem Bücherregal und dem dunkelroten Tagebuch. »Nein, natürlich nicht!«

Sie sprachen noch eine Weile über belanglose Dinge wie die letzte Mathearbeit, bei der Kim nur mit Mühe eine Vier geschafft hatte, und über den neuen Arzt ihrer Mutter, der anscheinend einen unerträglichen Mundgeruch hatte. Nachdem es Kim gelungen war, glaubwürdig ein- oder zweimal zu lachen, war auch ihre Mutter so beruhigt, dass sie das Gespräch beenden konnte.

»Kim?«, sagte ihre Mutter zum Abschluss.

»Ja?«

»Ich hab dich lieb!«

Kim nickte, obwohl ihre Mutter das nicht sehen konnte. »Ich weiß, Mom!«