Gina Mayer & Frank M. Reifenberg

Mit Illustrationen von Gerda Raidt

Impressum

Alle Abenteuer der Schattenbande:

1. Die Schattenbande legt los!

2. Die Schattenbande jagt den Entführer

Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe

© 2014 bloomoon, ein Imprint der arsEdition GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Gina Mayer und Frank M. Reifenberg, vermittelt
durch Literaturagentur Birgit Arteaga, München

Lektorat: Malte Ritter

Cover- und Innenillustrationen: © Gerda Raidt,
vermittelt durch die Agentur Susanne Koppe, Hamburg,

www.auserlesen-ausgezeichnet.de

Umschlaggestaltung: Grafisches Atelier arsEdition, unter Verwendung von
Bildmaterial von © Getty Images/​Thinkstock

Umsetzung eBook: Zeilenwert GmbH

ISBN eBook 978-3-8458-0150-6

ISBN Printausgabe 978-3-8458-0358-6

www.bloomoon-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Die Schattenbande

1. Kapitel,

in dem Otto die Wand hochgeht

2. Kapitel,

in dem Klara untertaucht

3. Kapitel,

das grässlich anfängt und vielversprechend endet

4. Kapitel,

in dem Paule sein Herz verliert

5. Kapitel,

in dem alles Mögliche verschwindet

6. Kapitel,

das für Klara und Lina wirklich mühsam wird

7. Kapitel,

in dem es eine Menge Qualm und ein paar Gerüchte gibt

8. Kapitel,

in dem endlich die Schlangenfrau auftritt

9. Kapitel,

in dem Paule das Tanzbein schwingt

10. Kapitel,

in dem Klara zu spät kommt

11. Kapitel,

in dem Paule putzt und Otto zittert

12. Kapitel,

in dem ziemlich viel gelogen wird

13. Kapitel,

in dem die Post abgeht

14. Kapitel,

in dem Otto auf den Hund kommt

15. Kapitel,

in dem Messer fliegen und Schüsse knallen

16. Kapitel,

in dem ein Hund einen Fahrschein bekommt

17. Kapitel,

in dem ein Skelett den Mund aufmacht

18. Kapitel,

in dem Madame Fatale richtig Gas gibt

19. Kapitel,

in dem es Tränen gibt

20. Kapitel,

das auch das letzte ist

Die Autoren

Die Illustratorin

DIE SCHATTENBANDE

Schiebermütze, Knickerbocker und Dreck unter den Fingernägeln: Das ist Klara Schlapp. Dass sie ein Mädchen ist, ist geheim. Nur ihre Freunde wissen, dass sie blonde Zöpfe unter der Mütze versteckt. Klara ist eine begnadete Taschendiebin und die Anführerin der Schattenbande. Das Blöde ist nur: Otto will das einfach nicht einsehen.

Im Fassadenklettern nimmt es keiner so schnell mit Otto Karwuttke auf und auch im Pläneschmieden ist er große Klasse. Leider hat Klara oft schon Nägel mit Köpfen gemacht, bevor er sagen kann, wo es langgeht. Otto und Klara sind ein Superteam, das meinen alle. Aber Otto findet, dass sie noch besser wären, wenn Klara endlich einsehen würde, dass er der Chef ist.

Paule Kowalski ist ein genialer Panzerknacker und Erfinder. Aus Schrottteilen und Abfall baut er die erstaunlichsten Apparate, Maschinen und Sprengkörper. Wenn er einmal nicht an seinen Erfindungen tüftelt, stiehlt er Kohlen. Denn die Dampfmaschinen, mit denen er seine Maschinen betreibt, wollen gefüttert werden. Paule träumt von einem eigenen Automobil – und von einer Weste aus Samt mit echten Perlmuttknöpfen.

Lina Kowalski ist Paules kleine Schwester und das jüngste Mitglied der Schattenbande. Sie ärgert sich furchtbar darüber, dass die anderen sie oft nicht ernst nehmen. Dabei könnte sie den Freunden nicht selten den Hals retten, wenn man sie nur mitmachen ließe. Lina hat nämlich einen sechsten Sinn. Sie wittert Gefahr und spürt Dinge, die anderen verborgen bleiben.

1. Kapitel,

in dem Otto die Wand hochgeht

Otto zuckte zusammen. Das Klackern in seinem Rücken hörte sich an, als sei die halbe Belegschaft des Polizeipräsidiums in ihren schweren Winterstiefeln im Anmarsch. »Hör auf damit!«, zischte er über die Schulter.

»G-g-g-g-g-e-e-ht-t-t-t ni-i-icht«, antwortete Klara.

»Wie sollen wir die Villa auskundschaften, wenn du so einen Krach machst?« Otto hatte die letzten Silben noch nicht über die Lippen gebracht, da legte es auch bei ihm los: Klackklack-klack-klack-klack schlugen seine Zähne aufeinander.

»Hör doch s-s-selber auf!«, äffte Klara ihn nach. »D-d-ddu bollerst wie eine Stepptänzerin im Admiralspalast.« Sie schaffte es jedoch nicht einmal, eine schnippische Miene zu ziehen, wie sonst, wenn sie sich gegenseitig foppten.

»Mir ist so k-k-alt«, bibberte Otto.

Seit Wochen hatte der Winter Berlin fest im Griff. Ein eisiger, sibirischer Wind fegte durch den Tiergarten; meterhohe Schneewehen türmten sich am Kurfürstendamm links und rechts der Straße; auf dem Landwehrkanal konnte man Schlittschuh laufen – wenn man welche besaß.

Otto und der Rest der Schattenbande hatten nicht einmal feste Stiefel. Lina lief in Halbschuhen herum. Paule trug Holzpantinen und einen selbst geschneiderten Anzug aus alten Pferdedecken, der fürchterlich müffelte und ihn trotzdem nicht richtig warm hielt.

Alles was sie an Kleidungsstücken besaßen, kam zum Einsatz: Klara hatte zwei Paar Knickerbocker und eine lange Männerunterhose über wollene Strümpfe gezogen. Otto trug ein Stück Leintuch um den Kopf wie einen Verband. Darauf saß die Schiebermütze. Aber es half nichts.

Minus fünfzehn Grad waren einfach zu viel. Oder vielmehr zu wenig.

»W-w-wann wird es endlich F-f-f-frühling?«, fragte Klara vorwurfsvoll, als sei Otto schuld an der schrecklichen Kälte.

»Ist doch gerade mal Januar«, gab er mürrisch zurück und blies in seine klammen Hände. »Vor März tut sich hier gar nichts.«

»Noch zwei Monate? Das überleb ich nicht.« Klara verdrehte die Augen und ließ sich nach hinten in eine Schneewehe fallen.

»Steh auf, bist du verrückt?« Otto griff nach ihrer Hand und wollte sie wieder nach oben reißen. »Du musst in Bewegung bleiben, sonst erfrierst du.«

»Ich erfrier auch in Bewegung. Liegend geht es nur schneller. Soll ja ein angenehmer Tod sein.« Sie schloss die Augen.

»Jetzt komm schon, Klara!«

»Ich bin gar nicht mehr da«, sagte Klara verträumt. »Ich sitze an einem prasselnden Kamin und löffle heißen Pudding aus einer riesigen Schüssel. Und auf meinem Bauch liegt eine Wärmflasche. Hach, ist das schön!«

»Klara! Sag mal, spinnst du? Hoch mit dir, und zwar plötzlich!« Otto wurde jetzt wirklich nervös.

Klara antwortete nicht, sondern seufzte nur genüsslich und räkelte sich im Schnee, als wäre es eine Daunendecke.

Otto war auf einmal nicht mehr kalt. Er schwitzte vor Angst. Wenn Klara nicht auf der Stelle aufstand, würde sie auf der Schneewehe festfrieren, und dann wäre alles aus. Er musste sie auf die Beine bringen, und zwar sofort. Aber wie? Wenn Klara sich etwas vorgenommen hatte, dann konnte sie so stur sein wie ein Karrengaul. Und nun hatte sie sich vorgenommen zu erfrieren. Seine Augen glitten panisch die Straße entlang und prallten an den Mauern ab, hinter denen die Grundstücke der Reichen lagen.

Vor drei Tagen waren den Schatten in ihrem Bandenversteck am Lützowufer die Kohlen ausgegangen. Den letzten schwarzen Brocken hatte Otto so lange wie möglich aufgespart, aber dann hatten sie in der verlassenen Schreinerei gesessen und dabei zugesehen, wie die Flamme im Ofen erlosch. Keine Minute später stand der tödliche Besuch vor ihrer Tür: der Frost. Er kroch durch alle Ritzen und Mauerlücken.

Das war schlimm. Noch schlimmer war, dass Klaras Finger entweder starr vor Kälte waren oder zitterten oder beides, wenn sie die Handschuhe abstreifte. Aber wenn sie ihre wulstigen Fäustlinge anzog, war selbst eine hervorragende Taschendiebin wie sie chancenlos.

In ihrer Verzweiflung hatten sich Otto und Klara am Morgen auf den Weg nach Charlottenburg gemacht. In der Villengegend am Schloss reihte sich schließlich ein Palast an den anderen, neureiche Fabrikbesitzer lebten neben berühmten Revuestars, italienischen Grafen, ungarischen Baronen und deutschen Freiherrn.

»Die schwimmen doch inne Moneten und merken dit jar nich, wenn wa uns wat mopsen«, hatte Paule gesagt.

Sie brauchten ja auch nicht viel. Ein kleiner Sack Kohle, ein Beutel Kartoffeln, ein Laib Brot, ein Topf Fett, damit würden sie die nächste Woche überstehen. »Vielleicht noch ’n paar Knackwürschte«, sagte Paule hoffnungsvoll.

Aber jetzt wanderten Otto und Klara schon seit über zwei Stunden durch die breiten Charlottenburger Straßen, linsten durch schmiedeeiserne Gitter in verschneite Gartenanlagen, rüttelten hin und wieder an einem Tor, doch dann brach sofort wütendes Gebell los und sie mussten wegrennen.

Es war eine Schnapsidee gewesen, hierher zu kommen, dachte Otto. Aber das durfte er auf keinen Fall zugeben, sonst würde Klara nie und nimmer aufstehen.

»In der Seitenstraße da hinten waren wir noch nicht.« Er versuchte so viel Begeisterung wie möglich in seine Stimme zu legen. »Komm, Klara, die Häuser sind ein bisschen kleiner und bestimmt nicht so gut bewacht.«

Klara antwortete nicht. Sie lag mit ausgebreiteten Armen im Schnee und sah aus wie tot. Vielleicht war sie ja wirklich schon erfroren?

»Klara?« Jetzt bebte Ottos Stimme vor Angst, nicht vor Kälte. »Hörst du mich?«

»Sei still«, sagte Klara. »Ich esse gerade einen Bratapfel. Er ist mit Rosinen und Mandelkernen gefüllt. Hm, ist das lecker.« Dann richtete sie sich abrupt auf. »Was war das?«

»Was?«

»Hörst du das nicht?«

Otto lauschte in die Winterstille, schüttelte den Kopf und überlegte insgeheim, ob Klara die Kälte aufs Gehirn geschlagen war.

»Komm mit!« Sie sprang auf die Füße, packte seine Hand und zog ihn hinter sich her, die Straße entlang.

»Was soll das denn? Klara, kannst du mir bitte erklären …?«

»Sei still. Schschsch!«

Jetzt hielt sie an und schubste ihn hinter einen der Schneehügel, die den Straßenrand säumten. »Duck dich!« Gehorsam zog er den Kopf ein. Dann hörte er es auch: das Klirren und Quietschen, das Klara wieder auf die Beine gebracht hatte. Auf der anderen Straßenseite öffnete sich ein schweres Eisentor. Otto linste über den Schneehügel und sah einen Kutscher im Pelzmantel. Der Mann stapfte zu dem Pferdeschlitten, der auf der breiten Zufahrt vor dem Haus stand.

»Worauf wartest du noch? Los!« Wieder sprang Klara auf. Flink wie ein Kaninchen flitzte sie über die Straße. Otto rannte ihr nach. In dem Moment, in dem der Kutscher auf den Bock kletterte und ihnen den Rücken zudrehte, schlüpften sie durchs Tor. Als der Mann die Zügel ergriff, mit der Peitsche knallte und die Pferde lostrabten, hockten die beiden bereits hinter einem großen, schneebedeckten Busch und hielten die Luft an. Im Schlitten saßen sechs Personen, mit Pelzen vermummt und in dicke Decken gehüllt.

Atemlos warteten Otto und Klara ab, bis der Kutscher das Tor von außen wieder schloss.

»Und jetzt?«, fragte Otto.

»Jetzt sind wir drin.«

»Im Garten. Aber noch lange nicht im Haus. Und wahrscheinlich kommt gleich ein Wachhund … «

»Der wär doch längst hier«, unterbrach ihn Klara. »Aber ich kann mich auch wieder in den Schnee legen und sterben, wenn dir das lieber ist.«

»Nee. Schon gut.« Otto erhob sich und blickte sich vorsichtig um. »Scheint keiner hier zu sein.«

»Sag ich doch.« Klara deutete auf die verschlossenen Fensterläden. »Das Haus ist menschenleer, die sind alle weg. Wahrscheinlich in Afrika. Oder an einem anderen Ort, wo’s wärmer ist als hier. Jetzt müssen wir nur noch rein, dann können wir uns in aller Seelenruhe bedienen.«

Jetzt müssen wir nur noch rein. Das war natürlich ein Witz. Die Villa war verriegelt und verrammelt wie das Zuchthaus in Moabit. Nur mit dem Unterschied, dass in Moabit keiner rein, sondern alle raus wollten. »Mist!«, zischte Klara, nachdem sie vergeblich an sämtlichen Fensterläden gerüttelt und an jeder Tür gerissen hatten. »Das ist mal wieder typisch. Diese Reichen gönnen einem nicht den klitzekleinsten Spaß.«

»Da oben«, sagte Otto.

»Was? Wo?« Klara hob den Kopf. Otto zeigte auf das winzige runde Fenster direkt unter dem Dachfirst. Das einzige Fenster, das nicht mit einem Fensterladen gesichert war.

»Vergiss es«, sagte Klara. »Das sind mindestens zehn Meter. Oder achtzig oder so.« Zahlen waren nicht gerade ihre Stärke. »Das schafft niemand. Nicht einmal du.«

»Es sind genau elf Meter und fünfzig Zentimeter.«

Das machte Otto keiner nach. Ein Blick reichte, und vor seinem inneren Auge baute sich das ganze Haus auf. Seine Augen wanderten über die Fassade, über Fensternischen, Erker, Haken, die in der Wand steckten, und winzige Vertiefungen, in denen seine Finger Halt finden könnten.

Für einen kurzen Moment zuckte ein Hauch von Bewunderung über Klaras Miene, dann sagte sie jedoch noch einmal: »Das schafft niemand.«

Otto tat, als habe er die Bemerkung überhört.

»Das Fenster ist zu«, legte sie nach.

»Es ist aus Glas«, erwiderte Otto.

»Und viel zu klein. Da bleibst du drin stecken.«

»Glaub ich nicht.«

»Lass es«, sagte Klara.

Aber Otto hatte sich bereits in die Äste eines Baumes geschwungen, der neben dem Haus stand. Schnee rieselte in seinen Nacken, er bemerkte es kaum. Geschmeidig wie eine Katze kletterte er nach oben und schob sich dann auf den Zweigen nach außen in Richtung Haus.

Wenn nur der verdammte Schnee nicht gewesen wäre. Auch wenn er ihn wegwischte, blieben die Äste glatt und rutschig. Und seine Finger waren steif vor Kälte.

Otto spähte hinüber zur Hauswand. Der Abstand zur Fassade betrug höchstens zwei Meter. Das wäre ein Kinderspiel für ihn. Normalerweise.

»Tu’s nicht!«, hörte er Klara zischen.

Er beachtete sie gar nicht. Sein Blick war fest auf den winzigen Mauervorsprung neben dem Erker gerichtet, den sein rechter Fuß erreichen musste. Mit der linken Hand würde er sich am Fensterbrett darüber festhalten, die rechte Hand musste nachgreifen, dann konnte er sich nach oben ziehen. Im Sommer hätte er das Dachfenster innerhalb von Sekunden erreicht. Aber es war nicht Sommer.

»Los, Otto«, hörte er jemanden flüstern.

Das war nicht Klara, sondern er selbst. Er spannte seinen Körper an, stieß sich ab und flog aufs Haus zu. Sein Fuß landete genau in der Vertiefung, aber die Wand war glatt, er rutschte sofort ab. Seine Hand packte nach dem Fensterbrett, zu spät, viel zu spät, er sauste nach unten. Ein schneebedeckter Zweig schlug ihm ins Gesicht, er würde sich das Genick brechen, aber im letzten Moment schnappte ihn jemand am Kragen und hielt ihn fest. Ein Riese, ein Ungeheuer hatte ihn gepackt, dachte er im ersten Schreck, aber dann stellte er fest, dass er an dem schmiedeeisernen Haken hängen geblieben war, an dem die Türglocke hing.

»Meine Nerven«, ächzte Klara, die direkt unter ihm stand. »Das reicht jetzt. Komm sofort runter!« Sie stampfte mit dem Fuß auf, dass der Schnee in alle Richtungen stäubte.

Otto schüttelte den Kopf. Nie und nimmer. Wenn er jetzt aufgab, dann würde sich Klara für den Rest ihres Lebens über ihn lustig machen. Sie würde allen immer wieder aufs Neue erzählen, wie er vom Baum gefallen war und wie eine Fledermaus am Glockenhaken gebaumelt hatte.

Entschlossen drehte Otto sich zur Hauswand. Er schwang sich am Haken nach oben, bis seine Finger Halt in einer Spalte zwischen zwei Ziegeln gefunden hatten. Auch seine Füße lösten sich von dem Haken. Eine Fußspitze links, eine rechts, er zog sich nach oben, suchte neuen Halt, kletterte weiter. Klara sagte jetzt nichts mehr. Als er nach unten blickte, sah er, dass ihr Gesicht weiß wie der Schnee war. Nur ihre Lippen waren blau. Aber darum konnte er sich jetzt nicht kümmern. Er schob sich immer weiter nach oben.

Klara war die geschickteste Taschendiebin der Schattenbande, beim Klauen machte ihr keiner was vor. Paule war ein begnadeter Tüftler und Erfinder; kein Panzerschrank, kein Schloss, kein Tresor waren vor ihm sicher. Und Lina … Lina war eben Lina. Ihre besonderen Fähigkeiten ließen sich nicht in ein paar Worte fassen. Otto aber konnte besser klettern als alle anderen Schatten zusammen.

Und auch diesmal schaffte er es. Er war oben. Während er sich mit der Linken am Dachfirst festhielt, glitt seine Rechte in die Hosentasche. Da war der große Kiesel, den er eingesteckt hatte, bevor er losgeklettert war. Er wog ihn einen Moment in seiner Hand. Hoffentlich war das Haus wirklich leer. Sonst würde man ihn sofort hören, wenn er jetzt die Scheibe zerschmiss.

Egal, dachte er. Er hob die Hand und schleuderte den Stein mit aller Kraft gegen das Fenster. Das Glas zersprang mit einem lauten Klirren. Er ballte seine Rechte zur Faust, schloss die Augen und stieß die Glassplitter nach innen. Als er die Augen wieder aufmachte, sah er, dass seine Hand blutete, aber es tat nicht weh. Das lag wahrscheinlich an der Kälte. Wenn er nun abstürzte und sich das Genick brach, würde er das vermutlich auch nicht spüren. Ein toller Trost.

Otto biss sich auf die Lippen, griff dann mit beiden Händen zum Dachfirst und schwang sich mit den Füßen voran durch die runde Fensteröffnung in den Raum. Klara hatte wieder mal recht gehabt, das war ziemlich eng. Verdammt eng.

Seine Beine rutschten durch, und auch sein Bauch flutschte nach, zum Glück hatte er in den letzten beiden Tagen so gut wie nichts gegessen. Aber seine Schultern waren zu breit, sie blieben im Fensterrahmen stecken. Er zappelte, strampelte, trat um sich und wand sich wie ein Fisch an der Angel. Hin und her und her und hin, irgendwie musste er da reinkommen!

Wenn doch noch jemand im Haus ist, dachte er plötzlich, dann stecke ich in der Falle – und zwar gründlich. Vielleicht wartete da drinnen im Zimmer bereits der Hausherr auf ihn, mit einem Gewehr im Anschlag. Oder noch schlimmer – ein Schupo mit Schlagstock und Handschellen. Otto konnte nicht sehen, was ihn erwartete, sein Kopf und seine Arme hingen immer noch draußen.

Ein letztes verzweifeltes Aufbäumen. Endlich! Nun kam Bewegung in die Sache, seine Schultern quetschten sich nach vorn, Arme und Kopf folgten. Er landete mit einem dumpfen Aufprall auf dem Fußboden, mit dem Hintern in den Glasscherben.

»Aaaaaaah«, hörte er seine eigene Stimme. Wahrscheinlich schreckte sogar die Goldelse auf der Siegessäule zusammen, so laut gellte sein Schrei.

Das lag nicht an den Glassplittern, die in seinem Po steckten. Die spürte er gar nicht. Er schrie, weil er sah, wer im Haus auf ihn gewartet hatte. Es war kein Hausbesitzer und auch kein Schutzpolizist.

Vor ihm stand der leibhaftige Tod.

2. Kapitel,

in dem Klara untertaucht

Klara stampfte noch einmal auf dem Boden auf. Es war zum Verrücktwerden mit Otto. Warum hörte er nicht auf sie? Wann würde er endlich kapieren, dass Klara und kein anderer der Boss der Schattenbande war?

Über ein Jahr war es inzwischen her, dass sie zusammen mit Paule und Lina Kowalski aus dem Waisenhaus von Tante Elfi ausgebrochen und in die verlassene Schreinerei am Lützowufer gezogen waren. An ihrem ersten Tag in der Freiheit hatten sie die Schattenbande gegründet. Wir sind die Schatten, schnell und schlau, keiner sieht sie je genau – das war ihr Motto.

Seitdem schlugen sie sich mit Gelegenheitsarbeiten, Botengängen und Taschendiebstählen durch und hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Ihre Entscheidung für ein hartes, aber freies Leben hatte keiner von ihnen auch nur eine Sekunde bereut. Es ging ihnen gut, auch wenn sie sich wohl alle im Moment an den Bollerofen im Schlafsaal des Waisenheims zurücksehnten.

Es könnte uns aber noch viel besser gehen, wenn Otto endlich mal einsehen würde, dass ich die Bestimmerin bin, dachte Klara finster. Aber nein, ständig musste er seinen eigenen Kopf durchsetzen. Diese Nummer mit der Hauswand zum Beispiel war vollkommen lächerlich. Er würde abstürzen und sich den Hals brechen, das war klar wie Kloßbrühe.

Klara spähte angsterfüllt nach oben. Nun war Otto schon im zweiten Stock angekommen. Gerade eben zog er sich an einem Fensterladen nach oben, der besorgniserregend in den Angeln quietschte.

»Ich k-k-kann da nicht mehr hing-g-gucken«, murmelte Klara. Ihre Zähne schlugen wieder aufeinander. Sie schlang die Arme um die Brust, hüpfte von einem Bein auf das andere, aber das half nichts. Sie brauchte einen heißen Ofen, eine dicke Decke, warme Suppe. Lindenblütentee mit viel Zucker, obwohl sie das Zeug eigentlich verabscheute.

Otto klebte an der Hauswand wie eine riesige Stubenfliege. Wenn er in diesem Tempo weitermachte, wäre es Mitternacht, bis er oben am Dach ankam. Jetzt rutschte er wieder ein Stück nach unten und Klara biss sich vor Schreck auf die Lippen. Nein, Schluss jetzt! Nicht hinschauen! Wenn Otto schon in sein Unglück stürzen wollte, dann konnte er das auch allein machen.

In der Zwischenzeit würde sie einen einfacheren Weg ins Haus finden. Das konnte doch nicht so schwer sein! Wäre Paule hier, hätte er schon längst das Schloss an der Eingangstür geknackt.

Vielleicht hatten sie bei ihrer ersten Runde irgendetwas übersehen. Sie schlich erneut um die Hausecke zur Terrasse hinter der Villa. Und blieb erschrocken stehen, als sie plötzlich ein Flüstern hörte.

»Es muss aber hier sein. Ich bin mir ganz sicher«, sagte eine helle Stimme.

»Wir finden es aber nicht«, wisperte eine zweite Person. »Hier liegt viel zu viel Schnee.«

Dann ertönte Gebell. Ein Hund! Klara machte auf den Fersen kehrt und wollte weg, aber es war schon zu spät. Ein pelziges Ungeheuer, das aussah wie ein kleiner Löwe, schoss um die Ecke und sprang aufgeregt kläffend und schwanzwedelnd an ihr hoch.

Zumindest beißt er nicht gleich zu, dachte Klara erleichtert. Im selben Augenblick war ihr jedoch klar, dass sie nicht mehr davonkommen würde: Zwei Mädchen tauchten an der Hausecke auf.

»Konfuzius!«, schrie die eine.

»Chop Suey!«, die andere.

Eigentlich war es ein Mädchen. Oder zweimal die gleiche Ausgabe eines Mädchens. Beide trugen Mäntel aus grauem Pelz, dazu einen passenden Pelzmuff, in dem ihre Hände steckten, knallrote Schals und Mützen. Und nicht nur die Klamotten waren gleich, sondern auch die Gesichter.

Zwei identische pausbäckige Gesichter mit Augen, blau wie Vergissmeinnicht, die Klara anstarrten. Der Miniaturlöwe bellte triumphierend wie ein Jagdhund, der eine halb tote Wildente aufgestöbert hat.

»Pingpong!«, rief das eine Mädchen.

Der Hund schien den seltsamen Befehl zu verstehen, jedenfalls klappte er das Maul zu und setzte sich zu ihren Füßen in den Schnee.

Klaras Herz hämmerte. Ob die Mädchen aus der Villa kamen? Vermutlich nicht, sonst wären das Haus nicht dunkel und die Fensterläden nicht verrammelt gewesen. Frechheit siegt, sagte Klara zu sich selbst und holte tief Luft.

»Wer seid denn ihr? Und was macht ihr in unserem Garten?« Es wirkte. Die Mädchen machten sofort ein betretenes Gesicht.

»Wir … äh … «, begann die eine.

»Konfuzius … «, sagte die zweite.

»Das ist unser Hund«, ergänzte die erste.

»Er ist weggelaufen.«

»Wir dachten … «

» … hier ist keiner.«

»Die Shuffleburgers sind doch … «

» … vorhin abgereist.«

»Dafür wohnen wir jetzt hier«, erklärte Klara. »Wir sind die neuen Untermieter.«

»Wer ist denn wir?« Die Vergissmeinnichtaugen wurden noch größer.

»Ich bin Klara«, sagte Klara. »Und mein Bruder, der ist bereits im Haus.« Hoffentlich war Otto im Haus, dachte sie. Und lag nicht mit einem gebrochenen Bein vor dem Eingang.

»Wir wussten gar nicht, dass die Shuffleburgers schon Nachmieter gefunden haben. Wohnt ihr etwa allein hier?«

»Natürlich nicht«, erklärte Klara mit hochgezogenen Augenbrauen. »Unsere Eltern sind noch unterwegs. Sie kommen … äh … morgen.«

»Unterwegs?«, echote die linke.

»Mit dem Orientexpress.«

»Dem Orientexpress?«

Warum mussten die Mädchen eigentlich alles wiederholen, was Klara von sich gab? Dadurch erschien ihr das Ganze noch blödsinniger, als es ohnehin schon war.

»Bist du deshalb so komisch angezogen?«, fragte die Linke.

»Dein Mantel sieht lustig aus«, fand die Rechte.

Klara warf einen Blick auf ihren Mantel. Lustig war das falsche Wort – zerlumpt hätte die Sache besser getroffen. Aber zum Glück war es im Garten schon ziemlich dunkel.

»Unsere Eltern haben sich verspätet, weil der Zug im Schnee stecken geblieben ist«, log Klara. Kalt war ihr nicht mehr. Sie spürte, wie ihr vor Aufregung der Schweiß über den Rücken rann.

Die Mädchen schauten sich an. Fast gleichzeitig legten sie den Zeigefinger an die Lippen, dachten eine Sekunde nach, bis die eine sagte:

»Aber der Orientexpress hält gar nicht in Berlin. Wir sind nämlich schon mal damit gefahren, die ganze Strecke – von Konstantinopel bis Paris.«

»Das war schön«, seufzte die andere sehnsüchtig. »Im Salonwagen der Ersten Klasse gibt es die beste Schokolade, die wir je getrunken haben!«

Und die beiden Gören hatten schon ziemlich viel davon getrunken, dessen war sich Klara gewiss. Sie hingegen war in ihrem ganzen Leben noch nicht ein einziges Mal bis zum Wannsee gekommen, und der gehörte ja immerhin noch zu Berlin.

»Das weiß doch jeder«, hielt Klara dagegen. »Aber Mama musste dringend noch etwas besorgen, in Paris, und da sind wir … «

»Oh ja, man kann nirgendwo besser einkaufen als in Paris«, flötete die eine.

»Warum bist du denn nicht mitgefahren?«, zwitscherte die andere.

Klara beschloss, die Fragestunde zu beenden und zum Angriff überzugehen. Das war immer noch die beste Verteidigung. »Aber nun zu euch«, sagte sie barsch. »Wer seid ihr?«

»Ich bin Olympia«, sagte die eine.

»Und ich Sylvestra.«

»Prockauer-Waldenfels«, schlossen sie beide im Chor.

»Eigentlich von«, fügte Olympia hinzu. »Von Prockauer-Waldenfels.«

»Aber das von haben sie uns gestohlen. Weil euer Kaiser und unser Kaiser den Krieg verloren haben und Österreich nun eine Republik ist.«

»Na so was«, sagte Klara. Sie verstand kein Wort. Wer hatte was gestohlen? Es war auch ganz egal, beschloss sie.

»Unser Vater ist der österreichische Botschafter«, sagte Olympia stolz, die offensichtlich die Wortführerin war. »Wir wohnen nebenan.« Sie deutete auf die von Hecken umrankte Mauer, die den Garten der Villa vom Nachbargrundstück trennte. Irgendwo musste es eine kleine Pforte geben, durch die die Mädchen geschlüpft waren. »Und Konfuzius ist uns entwischt. Deshalb sind wir hier.«

»Nur deshalb«, bekräftigte Sylvestra.

»Entschuldigung«, sagte Olympia. »Wir wussten nicht, dass die Shuffleburgers untervermietet haben.«

»Schon gut«, meinte Klara gnädig. »Seid ihr Zwillinge?«

Die beiden nickten im Gleichtakt. »Aber ich bin achtzehn Minuten älter«, erklärte Olympia.

»Wenn wir jetzt Nachbarn sind, können wir doch zusammen spielen«, schlug Sylvestra vor. »Wäre das nicht schön?«

»Klar«, meinte Klara. Spielen! Was für ein Quatsch! Für so etwas hatte keiner der Schatten Zeit. Aber das konnte sie den Gören natürlich nicht sagen. »Heute geht es nicht. Wir müssen noch auspacken.« Oder vielmehr einpacken. Sie musste unbedingt nach Otto schauen. Doch vorher musste sie diese Mädchen loswerden.

»Vielleicht morgen?«, fragte Olympia hoffnungsvoll.

»Warum nicht?«

Die Zwillinge lächelten ihr identisches Lächeln. Eigentlich waren sie ganz nett. Auf einmal tat es Klara fast leid, dass sie sie so belügen musste. Aber wenn sie ihnen die Wahrheit erzählt hätte, wären sie schreiend nach Hause gelaufen, um alles ihren Eltern zu petzen. Und die würden die Polizei alarmieren.

»Also dann.« Sylvestra hob die Hand und winkte zum Abschied. »Kungfu litschi, Konfuzius.«

Der kleine Löwe sprang auf und rannte in Richtung Hecke.

»Wieso sprecht ihr so komisch mit ihm?«, fragte Klara.

»Konfuzius ist ein reinrassiger Chow-Chow«, erklärte Olympia.

»Aus China«, sagte Sylvestra.

»Ihr redet Chinesisch mit dem Hund?« Klara war beeindruckt. »Alle Achtung.«

»Sonst würde er uns doch nicht verstehen«, sagte Olympia. »Bis morgen, Klara!«