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Handbuch zur Schulentwicklung

 

 

 

Bibliothek Schulentwicklung

 

 

Band 1

 

 

 

Herbert Altrichter,
Wilfried Schley
Michael Sehratz (Hrsg.)

Handbuch zur
Schulentwicklung

Illustration

 

 

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme

(Bibliothek Schulentwicklung; Bd. 1)

ISBN 978-3-7065-5786-3

Internet: www.studienverlag.at

Satz: Bernhard Klammer

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.studienverlag.at.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Teil 1: Akteure, Prozeßkomponenten und Gestaltungsformen

Wilfried Schley
Change Management: Schule als lernende Organisation

Leonhard Horster
Auftakt und Prozeßbegleitung in der Entwicklung einer Schule

Uwe Hameyer & Michael Schratz
Schulprogramme: Wegweiser von der Vision zur Gestaltung von Schule

Wilfried Schley
Teamkooperation und Teamentwicklung in der Schule

Michael Schratz
Schulleitung als change agent: Vom Verwalten zum Gestalten von Schule

Hans-Günter Rolff
Schulaufsicht und Administration in Entwicklung

Anton Strittmatter
Kontrakte in Beratungsbeziehungen

Elmar Philipp
Organisationsdiagnose: Methoden und Konzepte

Herbert Altrichter
Reflexion und Evaluation in Schulentwicklungsprozessen

Botho Priebe
Entwicklung der eigenen Schule – Impulse aus der Lehrerfortbildung

Teil 2: Entwicklungsaufgaben: Reformimpulse und neue Anforderungen

Ferdinand Eder
Kindheit – Jugend – Schule: Veränderte soziale Bezüge, neue Aufgaben der Schule?

Allan Guggenbühl
Von der Krisenintervention zur Schulhauskultur

Jutta Schöler
Integration: Gemeinsame Erziehung von Kindern mit Behinderungen und Kindern ohne Behinderungen als Normalität von Schule

Barbara Schratz-Hadwich
Feministische Schulentwicklung – Wunsch- oder Alptraum?

Ingrid Gogolin
Interkulturalität als Herausforderung der Schule: einige Überlegungen für die Gestaltung der Schule der Zukunft

Peter Posch
Umwelt als Anlaß für Schulentwicklung

Wulf Wallrabenstein
Werte einer humanen Schule als Ausgangspunkt für Schulentwicklung

Uwe Hameyer
Unterricht adaptiv gestalten

Ewald Terhart
Lehrerberuf: Arbeitsplatz, Biographie, Profession

Hans-Peter de Lorent
Schulreform und die Rolle der Gewerkschaften

Norbert Maritzen
Autonomie der Schule: Schulentwicklung zwischen Selbst- und Systemsteuerung

Jörg Schlömerkemper
Soziale Interaktion als pädagogische Entwicklungsarbeit

Xaver Büeler
Schulqualität und Schulwirksamkeit

Register

Autorlnnen

Einleitung

Das Handbuch für Schulentwicklung liegt vor. Es kann in die Hand genommen werden und enthält Handreichungen. Es beschreibt eine Fülle handhabbarer Konzepte und reflektiert den Handlungsrahmen.

Auf die Hand kommt es uns ganz besonders an, ohne den Kopf und das Herz zu vernachlässigen. Der Band dokumentiert den aktuellen Stand der Schulentwicklung.

Unsere Idee war von Anfang an, ein praxisnahes, praktikables und ansprechendes Werk zu schaffen, das Mut macht und hilft, orientiert und reflektiert. Wer ein Projekt plant, über ein Projekt entscheidet, ein Vorhaben begleitet, eine Entwicklung reflektiert, wer in einem Projekt leitet, wer es berät, wer daran mitarbeitet und möglicherweise auch darunter leidet, soll mit Hilfe des Handbuchs Perspektiven erweitern und Lösungsmöglichkeiten erkennen.

Die Schulentwicklungsdiskussion ist aus den Kinderschuhen heraus, hat die Wachstumskrise der Pubertät bald durchstanden mit emotionalem Auf und Ab, „himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt“, sie wird erwachsen und professionell.

War Schulentwicklung zunächst ein von der Peripherie her kommender Prozeß, so dringen die Fragestellungen längst ins Zentrum vor. Lehrerinnen haben begonnen, Verantwortung für das Programm, die Kultur und das Klima „ihrer“ Schule zu übernehmen. Sie identifizieren sich und bilden Kooperationseinheiten, die dazu dienen, die Qualität von Erziehung und Unterricht zu verbessern.

Themen, die bislang bloß Diskussionsgegenstand waren, Leistung, Lehrerrolle, Kooperation mit den Eltern, Verhältnis zur Schulaufsicht, Problemkinder u.a. werden immer häufiger als Projekte definiert und in Prozesse verwandelt. So wandelt sich ein hierarchisches Verhältnis von Erlaß und Umsetzung in Rahmen und Inhaltsgestaltung. Anordnungen entwickeln sich zu Konzepten, die implementiert, evaluiert und weitergedacht werden. Lehrerinnen handeln und verhandeln, ihre Rollen wandeln sich.

Die Technologie trägt erheblich zum Rollenwandel bei. Medien sind längst Teil der schulischen Lernwirklichkeit, die Computer werden es demnächst auch sein. Die gesellschaftliche Revolutionierung der Arbeitswelt mit krisenartigen Anpassungsprozessen beschleunigt die Entwicklung. Der Übergang zur Wissens- und Kompetenzgesellschaft des Informationszeitalters ist bereits da.

Bildung, Lernen und Sozialerziehung gewinnen dadurch an Bedeutung. Schulische Entwicklungen nehmen gesellschaftliche Veränderungen auf und beziehen daraus ihre Schubkraft.

•     Lehrerinnen werden zu Entwicklern und Gestaltern von Lernumwelten und Kompetenzaneignungen,

•     Leiterinnen entwickeln sich zu Impulsgebern, Ermutigern und Change Managern,

•     Schulräte, Dezernentlnnen, Fachreferentlnnen verstehen sich mehr und mehr auch als Schulentwickler, Prozeßbegleiter und Projektleiter,

•     Seminarleiterinnen, Dozentinnen konzentrieren sich auf die Reform der Lehrerinnenausbildung und entwickeln neue Formen des Praxiseinstiegs und der Praxisreflexion,

•     Moderatorinnen, Supervisorlnnen, Beraterinnen schöpfen die kreativen Potentiale und sozialen Ressourcen in den sozialen Systemen aus. Sie sind mit ihrer externen Rolle zu Sparingspartner, Systementwickler und Coaches geworden, die das Empowerment ermüdeter, gleichförmig routinierter Bildungs- und Erziehungseinrichtungen betreiben.

Für sie alle ist das Handbuch geschrieben, und wenn unsere Intentionen als Herausgeber aufgehen, dann wird dieses Buch oft in die Hand genommen, um etwas zu planen, vorzubereiten, zu reflektieren oder als Orientierung für die Vorhaben und Projekte im eigenen Handlungsfeld zu nutzen. Trotz einer sprunghaft angestiegenen Zahl an Veröffentlichungen stehen wir nämlich am Beginn einer Professionalisierung in der Schulentwicklung. Zu dieser Profes-sionalisierung wollen wir beitragen.

Alle an Schulreformprozessen beteiligten und von ihnen betroffenen Menschen, Schüler, Eltern, Lehrer, Begleiter, Berater, Dienstleister haben erheblich zu lernen.

Zu lernen ist der Umgang mit Komplexität, Dynamik, Widerspruch, Intransparenz und Vernetzung. Die Erweiterung des Blickwinkels, eine systemische Sicht auf Schule führt zu einer Auseinandersetzung mit der Rolle der Schulen in der Gemeinde, mit der Identität von Schulen, mit dem Lebenszyklus von Konzepten bis hin zu einer dynamischen Theorie von Schule und einer Entfaltung ihrer Binnenstrukturen. Zu lernen ist ein umfassenderes Wissen und Können im Umgang mit Lernformen und -prozessen. Der Lernbegriff verändert sich, offenes Lernen ergänzt die zielgerichtete Vermittlung, fächerübergreifendes Lernen, Lernen in Projekten, epochale Arbeit, individuelles und gemeinsames Lernen, Aktionsforschung im Unterricht. Integration, Interkulturalität und damit verbundene Heterogenität der Lerngruppen stellen neue Anforderungen dar.

Das hat Rückwirkungen auf das Selbstverständnis von Lehrern und Lehrerinnen. Ihr gesamtes Repertoire aus Fachlichkeit, Aufgabenbewältigung, Rollen verhalten und Beziehungsgestaltung gegenüber Schülerinnen, Eltern, Leitung und Schulaufsicht sieht sich herausgefordert. Die Lehrerrolle verliert an Kontur und muß doch profiliert ausgeübt werden. Die Anforderungsvielfalt des Berufs nimmt zu, ebenfalls die Bedeutungsvielfalt von Situationen, Verhalten und Reaktionen: der Umgang mit Überforderungsgefühlen, überstrapazierter Helfermentalität, die Begrenzung durch Defizitdenken und ein Kontrollparadigma, das sich längst ad absurdum geführt hat. Lehrerinnen haben oft das Gefühl, Situationen nicht mehr im Griff zu haben und dennoch verantwortlich zu sein für alles, was geschieht. Komplementär dazu verhalten sich Schülerinnen nicht mehr rollengemäß, die vertrauten Interaktionsmuster scheinen nicht mehr zu passen. Neue Rollen wollen diskutiert, erprobt und integriert werden, alte Rollen stehen als Orientierungen auch weiterhin bereit.

Rollen müssen also bewußt eingenommen, verändert und ausgehandelt werden. Die individuelle Neuorientierung korrespondiert mit systemweiten Veränderungen. Es ist zu lernen, organische Entwicklungsprozesse an Schulen als kontinuierliche Verbesserungsprojekte durchzuführen.

Die innere Schulreform geschieht über unterschiedliche Zugänge, Herausforderungen von außen, Chancen, Pilotprojekte, wissenschaftlich begleitete Innovationen, Problem- und Krisenbewältigungen, Implementierungen neuer Konzepte, Evaluationen, Einrichten von Programmschwerpunkten in interkulturellen oder integrativen Arbeiten sind Beispiele für die diversen Möglichkeiten.

Jedes Thema, das an einer Schule diskutiert wird, gewinnt eine andere Dimension, wenn es als Veränderungs- und Gestaltungsvorhaben in der Form eines Projekts aufgenommen und behandelt wird. Dann wird die Einführung, praktische Begleitung und Auswertung bereits mitgedacht, und es können die Gesichtspunkte und Prinzipien des Change Managements berücksichtigt werden.

Im Bewußtsein der Lehrkräfte steht häufig die Ressourcenknappheit im Vordergrund. Es fehlt an Zeit, an Geld und Unterstützung. Andererseits warten Erfahrungen, Sichtweisen, Interessen, Fähigkeiten, Bereitschaften und Beiträge der Kolleginnen, Mitarbeiterinnen und Kunden im komplexen Dienstleistungssystem Schule auf Abruf und sinnvolle Beteiligung: schöpferisches Tun im situationslogischen Kontext. In diesem Sinne versuchen wir auch, die Wahrnehmung für Ressourcenreichtum und -vielfalt zu sensibilisieren.

Es geht nicht um Beschönigung, Glättung und Idealisierung. Die Verhältnisse sind oft widersprüchlich, schwierig und belastend. Aber der Umgang mit Ambivalenz, die Akzeptierung von Widersprüchen und das Verhalten in komplexen Situationen ist zu lernen, ohne Unterwerfungs- und Anpassungsattitüde.

Wir haben Beiträge aufgenommen, die sensibilisieren, aufmerksam machen, ermutigen und stärken. Durch Reflexion handlungsfähig werden, durch Aufmerksamkeitslenkung den Lösungsraum erweitern, aus der Larmoyanz, die viele der Lehrerschaft unterstellen, herauskommen. Die Beiträge sind geeignet, Bewußtsein zu schaffen und als Handwerkszeug nützlich zu sein.

In Teil 1 finden sich Texte zu Akteuren, Prozeßkomponenten und Gestaltungsformen von Schulentwicklung. Diese Texte enthalten eine Fülle von methodischen Vorschlägen und Fallbeispielen, die Ideen für die Gestaltung von Schulentwicklungsprozessen liefern sollen.

In Teil 2 werden die Entwicklungsaufgaben, die Ausgangspunkte für Schulentwicklung sein können, ausgeführt. Schulentwicklung besteht nicht nur aus Prozessen, sondern braucht inhaltliche Ziele und Orientierungspunkte. Die Beiträge dieses Teiles sollen Argumente für Diskussionen beim Einstieg in die Schulentwicklung, bei pädagogischen Tagen, bei der Planung von Entwicklungsschritten usw. bieten.

Alle Beiträge dienen dazu, ein Programm der Schulentwicklung zu entfalten, in dem die Betroffenen zu Akteuren werden und die Verantwortung für ihre Schulkultur, die darin realisierte Qualität von Schule und die damit verwobenen Werte und Leitgedanken übernehmen. Zu lernen ist der Umgang mit Zeit, die Gestaltung von Innovationen, die Entwicklung von Arbeitsplatzzufriedenheit und die Herstellung von Macht-Balance.

Damit gibt es eine Alternative zur Schule als bürokratischem System, und diese Alternative hat viele Gesichter. Eine solche Alternative lebt durch die Beteiligung und verkörpert die Beiträge und Kräfte aller. Eine solche Alternative kennt auch Entspannung, Pausen und Humor.

Lassen Sie sich ein auf das Handbuch, nehmen Sie es in die Hand, und lassen Sie sich leiten. Wir wünschen Tatkraft, Geschick, Mut zur Umsetzung und zur Weiterentwicklung der vorliegenden Konzepte.

Herbert Altrichter   Wilfried Schley   Michael Schratz

Teil 1

Akteure, Prozeßkomponenten und Gestaltungsformen

Wilfried Schley

Change Management: Schule als lernende Organisation

1. Wie lernen Organisationen?

Schulen sind in Bewegung gekommen. Schulen ändern sich, d.h. sie reformieren ihr Profil, ihr Programm, ihre Methoden, sie entwickeln neue Formen der Kooperation mit den Eltern, öffnen sich gegenüber den Gemeinden, den Stadtteilen und untereinander. Ganz gleich, ob es aufgrund von Druck oder Zug, von innen oder außen kommend, aus einem Bedarf oder Bedürfnis heraus geschieht (vgl. Schratz/Steiner-Löffler 1998), Schulen haben vielfältige Anlässe gefunden, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Die Aufgabe der Schulentwicklung ist mehr und mehr als eigene Entwicklungsaufgabe der Schulen erkannt und anerkannt.

Die zunehmend drängender werdenden Fragen der knappen materiellen Ressourcen bei steigenden inhaltlichen Anforderungen und Erwartungen beschreiben das konflikthafte Kräftefeld, in dem sich diese Aufgabe abspielt. Die Schulaufsicht driftet mit ihren Aufgaben in Richtung Schulberatung. Eine neue Profession der Schulberater und Moderatoren hat sich entwickelt, und auch die Lehrerbildung wird vom Thema der Schulentwicklung bestimmt.

Entgegen aller Immobilitätsthesen haben sich Schulen als erstaunlich lernfähig und wandlungsfähig erwiesen, haben neue Funktionen übernommen, Integrationsaufgaben bewältigt und die internen Strukturen weiterentwickelt.

Dennoch: Lust und Frust liegen dicht beieinander. Was den einen gut gelingt, scheitert bei den anderen, wo sich auf der einen Seite Freiwilligkeit erreichen läßt und sich Motivationen entwickeln konnten, versandet der Prozeß auf der anderen Seite oder kommt gar nicht erst in Gang.

Die sprunghaft gewachsene Zahl der Veröffentlichungen zum Change Management, zur Veränderung in Organisationen, zum organisatorischen Lernen in allen Lebens- und Arbeitsbereichen verweisen auf eine letztlich noch nicht bewältigte, aber für lösbar gehaltene Aufgabe. Trotz vieler gelungener Beispiele überwiegt allerdings immer noch der programmatische Charakter der neueren Publikationen (Morgan 1997, Senge 1996, Argyris 1996, Handy 1993, Glasl/Lievegoed 1996, Doppler/Lauterburg 1996, Reiß/v. Rosenstiel/Lanz 1997).

Das Schlüsselthema in allen Projekten, Prozeßreflexionen und Veröffentlichungen stellt die Frage dar: Wie gelingt der strukturelle, organisatorische und inhaltliche Wandel? Wie erreichen wir eine mentale, aktionale und emotionale Neuorientierung? Wie schaffen wir damit eine nachhaltige Reform? Wie können dabei die Betroffenen zu Beteiligten werden? Letztlich läuft die gesamte Fachdiskussion darauf hinaus,

•     rationale und emotionale Faktoren zu verbinden (Problemlösung und emotionale Intelligenz),

•     Strukturfragen zu lösen und Kulturentwicklung zu betreiben,

•     Leistungskompetenz zu stärken und Mitarbeiterbeteiligung zu ermöglichen.

Der Umgang mit Komplexität und systemeigenen Widersprüchen steht im Mittelpunkt. Dabei geht es nicht um Systemanalyse als Diagnose- und Erkenntnisprozeß, sondern um die zielgerichtete, systematische, prozeßorientierte Intervention als eigene soziale Handlungsform.

1.1 Bilder der Organisation

Während in der Zeit des Wiederaufbaus nach dem 2. Weltkrieg Familienmodelle der Organisation den Zeitgeist am treffendsten zum Ausdruck brachten und patriarchalische Kulturen die stärkste Bindung und Identifikation erreichten, wurden später andere Bilder zu Orientierungen.

Die technokratische Moderne versprach ein hohes Maß an Rationalität. Veränderungsprozesse brauchten nur in Ist-Soll-Differenzen operationalisiert zu werden und schon schien es möglich, entlang eines Zeitkontinuums die Veränderung und die Umsetzung durchzuführen. Damit sollte gleichzeitig auch die Abhängigkeit von „väterlichen“ Leitfiguren überwunden werden. Das Prinzip hieß Rationalität, ihre Methoden Projektarbeit, Problemlösung und Controlling.

Eine andere Variante der Gegenbewegung zum autokratischen Grundverständnis formulierte sich im Gedanken der Autonomie. Selbstbestimmt leben und arbeiten hob gleich zwei Negativbilder auf: Abhängigkeit und Entfremdung. Dem entsprechend wurden offene Formen bevorzugt, um einen Wandel herbeizuführen: Initiativen, Lernwerkstätten, Workshops. Die negative Seite dieser offenen Strukturen, die ja befreien sollten von Bevormundung und Fremdbestimmung, wurde in vielen sozialen und pädagogischen Institutionen deutlich: z.B. in Beratungsstellen ohne ein gemeinsames Konzept, aber mit vielen interessanten Einzelansätzen oder in Schulen mit einem bunten Nebeneinander offener, projektartiger, klassischer, erweiterter, integrierter, ganzheitlicher etc. Lernformen.

Konsens zu bilden fällt immer noch schwer. Einigung klingt vielen nach Einordnung und Funktionieren nach Vorgaben. Und hier taucht wieder ein Negativmodell auf: Arbeit nach dem Maschinenmodell der Organisation mit klaren Input-Output-Relationen. Niemand möchte gern ein Zahnrad im Getriebe sein und wie geölt funktionieren. Damit bleiben als Entscheidungsmechanismen demokratisch erscheinende Mehrheits-Minderheits-Abstimmun-gen oder offene unverbindliche Handlungsrahmen mit Individualver-antwortung.

Bereits Begriffe wie Organisation, Organisationsentwicklung, Change Management klingen vielen Pädagogen schrill im Ohr. Das gehört in Unternehmen, die Profit zu erwirtschaften haben, aber nicht in Schulen. Demgegenüber wird dann eine Theaterwerkstatt oder eine Künstlervereinigung als Analogie sehr geschätzt. Aber auch diese weisen ihre Mängel auf, ein Zuwenig an Struktur und Zuständigkeit, da haben manche Aspekte einer guten Bürokratie doch auch ihre Vorteile. Vor allem entfallen die bühnenreifen Selbstdarstellungen, ob sie nun gekonnt oder langweilig vorgetragen werden.

Es lohnt sich, die in einem Kollegium einer Schule, einem Team des Beratungszentrums, einem Gremium der Schulaufsicht oder einer Einrichtung zur Lehrerbildung bestehenden Bilder der Organisation Schule einmal aufzunehmen und zum Gegenstand der Reflexion zu machen, um die darin enthaltenen Werte und Leitgedanken zu entschlüsseln. Organisationsbilder können Motivationen wecken und durchaus schon Teil des Diagnoseprozesses sein und eine Bereitschaft zur Entdeckung der „Wahrheit der Situation“ fördern.

Organisationen sind soziale Systeme, die – mit Sinn- und Existenzgrund versehen – relevante Aufgaben auf professionelle Weise wahrnehmen. Sie bilden dazu ineinandergreifende und aufeinander bezogene Subsysteme.

1.2 Was sind Systeme? Wie wirken sie?

Systeme sind Abstraktionen und Konkretionen zugleich:

•     sie bilden Ordnungen: Klassen, Jahrgänge, Zweige, Niveaus ...

•     sie strukturieren Aufgaben: Bildungspläne, Fächerinhalte ...

•     sie regeln Abläufe: Aufnahmeverfahren, Klassenarbeiten, Prüfungen ...

•     sie verbreiten Informationen: Unterricht, Lehr- Lernformen, ...

•     sie entwickeln eigene Kulturen: Schulklima, Schulkultur, Lernkultur ...

•     sie reduzieren Komplexität: Unterrichtseinheiten, Stunden ...

•     sie durchlaufen Phasen: Pionier-, Differenzierungs-, Integrations-, Transformationsphasen.

Systeme haben ihre eigene Dynamik, charakteristische Muster der Problembewältigung, sie entfalten sich, haben Blütezeiten, Übergänge und Krisen.

Systeme sind lebendige, funktionsfähige Einheiten, die in den Schulen aus kommunizierenden und kooperierenden Menschen bestehen, die damit gesetzte Aufgaben wahrnehmen, bestimmte Zwecke verfolgen und spezifischen Zielen dienen. Die Systemabstraktionen konkretisieren sich in Menschen: Lehrkräfte, Schüler, Eltern, Schulaufsicht, Dienstleister. Die Menschen sind es, die Schulen machen. Schule ist eine komplexe Organisation, die Struktur und Kultur, Formelles und Informelles, Geplantes und Spontanes, Vorgabe und Freiheit verbindet. Das macht sie vielseitig, entwicklungsoffen und gestaltbar.

1.3 Fallstudien I

Fall 1: Veränderung der Stundentafel

An einem humanistischem Gymnasium mit einer langen Tradition hat sich eine Diskussion über das Profil und die zukünftigen Schwerpunkte entwik-kelt. Eine Arbeitsgruppe zur Reform der Stundentafel hat sich nach langen Beratungen zu einem Vorschlag durchgerungen, im 8. Schuljahr eine weitere Wochenstunde im Fach Chemie anzubieten und das Kontingent den Stunden für Latein zu entnehmen.

Die Ausarbeitung war gut begründet, mit Hinweisen auf Elternerwartungen versehen und mit Standortfaktoren begründet. Die Stadt, in der sich die Schule befindet, lebt von der Chemie. Naturwissenschaften haben einen hohen Stellenwert.

Die Vorlage wurde gelobt, die Anstöße als interessant befunden. Doch letztlich fand sie keine Mehrheit. Nicht nur die Lateinlehrer – sie waren aus Gründen der Besitzstandswahrung dagegen –, sondern auch die anderen Sprachlehrer – sie solidarisierten sich – und weitere Fachvertreter – sie wehrten den Anfängen und folgten eigenen Befürchtungen – bildeten eine Ablehnungsgemeinschaft. Der Status quo wurde gewahrt und für mehrere Jahre einer Veränderung der Stundentafel der Boden entzogen.

Wie kam es zu diesem Scheitern?

Fall 2: Einführung einer landesweiten Reform

Die Grund- oder Primarschule soll die Eingangsbedingungen ins Bildungssystem sichern und zugleich für teilzeitberufstätige Mütter berechenbar sein. Das jedenfalls war das Rational, eine von allen Seiten grundsätzlich befürwortete Reform.

Die Einführung wurde in Schritten vorbereitet. Eine eigene Projektorganisation mit Projektleiter sollte die Umsetzung begleiten und steuern. Die inhaltliche Seite einer Veränderung des schulischen Angebots, der schulischen Zeitstruktur und die kollegiale Weiterbildung war bereits mitgedacht.

Nach kurzer Zeit brach über das Projekt eine umfassende Kritik herein, die den Zwangscharakter, die Art der Vorbereitung, die materiellen Vorgaben, die zusätzliche Arbeitsleistung und die mangelnde Beteiligung bereits bestehender Konzepte und Initiativen hervorhob.

Einige, in der Anfangsphase auf Veranstaltungen geführten Diskussionen und Auskünfte der Projektleitung sorgten für Verunsicherung und Irritation. Alles, was irgendwie falsch verstanden werden konnte, wurde auch falsch verstanden. Aus Weggefährten wurden Kontrahenten, aus motivierten Mitstreitern und Gestaltern wurden Nörgler und Verweigerer: So nicht!

Wieso konnte die Anfangsmotivation nicht erhalten werden? Was hat die Situation kippen lassen?

Fall 3: OE-Begeisterung an einer Fachschule, oder: Die Autonomie wird in die Schranken verwiesen

Eine über mehrere Jahre vom Scheitern bedrohte Fachschule für sozialpädagogische Berufe hatte Wind unter die Flügel bekommen. Die Anmeldungszahlen stiegen, es konnten in jedem Jahr zwei weitere Klassen eingerichtet werden. Ein neuer Leiter sorgte für eine systematische Zukunftsentwicklung, ein Schulentwicklungsprojekt unterstützte diese Neuorientierung, es kam Schwung auf.

Die Lernorganisation sollte innovativer werden, integrierte Praxisprojekte in Verbindung mit fächerübergreifender Projektstruktur bildete den Kern. Die Fachschule blühte auf und stellte ihre Ergebnisse der zuständigen Fachaufsicht dar, nahm das Interesse der Kollegen der parallelen Einrichtungen auf und suchte die Überzeugungsarbeit nach innen.

Als es ernst wurde und die ersten Projektteams gebildet wurden, kam der Prozeß ins Stocken. Auch die Unterstützung von außen blieb schwach. Das Angebot einer Schulreformkommission kanalisierte das Vorhaben und brachte es auf die Schiene klassischer Schulreformarbeit.

Die unentschlossenen, zögerlichen Kollegen waren erleichtert, die Skeptiker und Ablehner der Reform kamen wieder zu Wort, die Befürworter wurden kleinlaut und die Schulleitung sah sich in der Rolle, den Karren zu ziehen.

Wie kam es zu diesem Stimmungswandel? Was war übersehen worden?

Fall 4: Neuorientierung im Bereich schulpsychologischer Beratung und sonderpädagogischer Förderung

Eine Entscheidung der politischen Spitze eines Bundeslandes sorgt für Unruhe in vier Einrichtungen: Die schulpsychologischen und schulischen Erziehungshilfen, der Krankenhausunterricht und die Arbeit mit verhaltensgestörten Kindern und Jugendlichen sollen zusammengelegt und dezentralisiert werden.

Eine Projektgruppe arbeitet an verschiedenen Modellen:

•     Kooperationsmodelle (Verbundlösung)

•     Integrationsmodelle (Innovationslösung)

Die betroffenen Institutionen und die Mitarbeiterinnen stehen vor einer überraschenden, interessanten und verunsichernden Zukunft. Die Haltung ist ambivalent.

Mit dem Projekt werden viele Chancen verknüpft, mehr noch werden Ängste geweckt: Veränderungen in allen möglichen Dimensionen der Arbeit werden befürchtet, Verschlechterungen in den Arbeitsbedingungen, Verluste an Struktur und Autonomie, radikaler Wandel der Arbeitsprozesse mit völlig neuen Anforderungen.

Der Verlust ist greifbar und konkret, die Zukunft nicht zu fassen und abstrakt. Der Irritationspegel ist manchmal hoch, viele rechtliche Fragen sind ungeklärt. Und doch soll es eine Aufforderung und Einladung zur konstruktiven Mitarbeit am neuen Konzept geben. Ohne den Schwung und die Bereitschaft aller Betroffenen läßt sich der Prozeß nicht erfolgreich bewältigen.

1.4 Gründe des Scheiterns

Schulentwicklung gelingt nicht an einem „Pädagogischem Tag“. Einen solchen zu gestalten, erfolgreich zu machen, produktiv und intensiv, ist vielfach gelungen. Moderatorinnen berichten über Gipfelerlebnisse: Schulleitungen wären beeinduckt, hätten solche Diskussionen kaum für möglich gehalten und Kollegen wären einfach angetan und mitgerissen.

Schulen mangelt es nicht an guten Ideen und Konzepten, davon gibt es viele, und viele sind begeistert. Schulen haben, wie viele gesellschaftlichen Bereiche, ein Umsetzungs- oder Implementierungsproblem. Die Problematik beginnt mit der Verbindlichkeit und der Einbindung aller Kolleginnen, sie setzt sich fort in der Führungs- und Gestaltungsaufgabe der Schulleitung, dem Festhalten von Eltern an alten Bildern schulischen Lernens, der Bereitschaft der Schulaufsicht, Alternativen zu fördern und Experimente zuzulassen, den knapper werdenden materiellen Mitteln, der fehlenden methodischen Begleitung und Beratung, letztlich also dem Fehlen von Professionalität und Change Management.

Doppler/Lauterburg (1996, 106) schreiben dem Faktor unzureichend geplanter und mit fehlender Systematik durchgeführter Einführung von Neuerungen den bei weitem größten Anteil am Mißlingen zu. Die Autoren der Studie „Management of Change: Erfolgsfaktoren und Barrieren organisatorischer Veränderungsprozesse“ (ILOI 1997) kommen zu dem Schluß, daß mental-kulturelle Faktoren wie „allgemeine Veränderungsbereitschaft“ ‚ „bestehende Konfliktkultur“, „Eigenverantwortung der Mitarbeiter“ und „vorherrschende Vertrauenskultur“ einen hohen Anteil an den Gründen für das Scheitern oder Versanden von Veränderungsprojekten haben. Es geht um die weichen Faktoren des Change Managements und die Mühen der Verbindlichkeit, Umsetzung und fortlaufender Ergebnissicherung.

Bevor wir uns mit dem Organisationslernen beschäftigen, sollten wir uns die Hauptgründe für das Scheitern vor Augen führen:

Ungleichzeitigkeit der Erkenntnis

Die Mitglieder eines Systems sind zu unterschiedlichen Zeiten offen für Veränderungen. Analog zur Streßforschung, die zwei Typen von Verhaltensmuster gegenüber Belastungen und Streßreizen herausgearbeitet hat, lassen sich auch in Schulen Mitarbeiter vom Typus der „Sensitizer“ und „Suppressor“ finden. Die einen empfinden bereits einige Auseinandersetzungen und mißlungene Situationen als Ausdruck für eine Krise, während die anderen immer noch mit Abwiegeln und Verdrängen beschäftigt sind. Wenn die „Spätzünder“ gemerkt haben, daß es brenzlig wird, haben die „Frühmerker“ bereits resigniert oder Konsequenzen gezogen.

Fraktionsbildung

Schulkollegien bestehen aus Gruppen und Untergruppen, die in schulischen Entscheidungssituationen Fraktionen bilden:

•     Pädagogen vs. Fachlehrer

•     Veränderer vs. Bewahrer

•     Sachsystematiker vs. Prozeßorientierte

Jede Seite betont bestimmte Werte, sieht sich dadurch im Recht und nimmt die andere Seite eher entwertend wahr. Das Ergebnis ist häufig eine Pattoder eine Veto-Situation seitens der Minderheit.

Lösungsfixierung

Die Problemsituation ist noch nicht allgemein anerkannt und bewußt. Die allgemeine Unzufriedenheit drängt auf Lösung. Die scheint für einige bereits klar und wird proklamiert und fordernd argumentiert: „Man sollte wir müssen ...!“ Überzeugung ist gefragt, Zweifel sind nicht erlaubt. Alle kritischen Nachfragen werden eher ungeduldig beantwortet. Es gibt Überzeugte und Skeptiker. Wieder tritt eine Polarisierung ein.

Ohnmachtshaltung

Die Probleme im System Schule werden externen Ursachen zugeordnet und dementsprechend attribuiert. Versagen von Familien, von Politikern, Forderungen der Wirtschaft, Erwartungen der Öffentlichkeit werden verantwortlich gemacht für eine bestimmte Misere. „Und jetzt soll die Schule alles ausbaden und möglich machen ...“ Aus der Empörung und Opferrolle heraus wird keine Zukunft gestaltet.

Identifikationsmangel

Probleme, die extern verursacht sind, Lösungen, die bereits feststehen, Konzepte, die von „oben“ kommen, Verstöße aus einer Fraktion können nur schwer zu einem Urhebererlebnis führen, das gemeinsame Bemühungen auslöst und eine Verantwortung für das Gelingen entwickeln läßt. Es mangelt an Identifizierung.

Reaktanz

Veränderungen greifen in gewohnte Abläufe und Regelungen ein und sind allen deshalb unbequem, lästig und negativ zu werten. Bislang praktizierte Konzepte sind von Menschen entschieden und eingeführt worden, die diese als ihres betrachten und jede Diskussion über Veränderung auch als persönlichen Angriff werten. „War denn in der Vergangenheit alles schlecht?“ So lautet eine häufig aus der Reaktion heraus gestellte Frage.

Undialogisches Vorgehen

Weitergehende Veränderungen werden in Stäben geplant und in Erlasse und Verwaltungsanordnungen gebracht. Die Umsetzung selbst ist kein Thema. Für die Bildungsadministration ist diese Thematik nachrangig. Selbst bei offener Beteiligung durch Diskussionsforen, Anhörungen und Projektgruppen werden die Ergebnisse am Ende als fremdbestimmte Vorgaben erlebt.

Grenzverletzung

Viele gut gemeinte und engagierte Initiativen begeistern die daran beteiligten Aktivisten so sehr, daß sie vergessen, Zustimmung, Unterstützung mit Entwicklungsbeteiligung von Leitungskräften, Schulaufsichten und Genehmigungsbehörden einzuholen. Irgendwann im Veränderungsprozeß werden Grenzen verletzt, Zuständigkeiten mißachtet und Kränkungen bewirkt.

1.5 Konzepte des organisationalen Lernens

Die Identität einer Schule steht nicht ein für allemal fest. Sie muß sich wie jedes System immer wieder neu definieren und im Handeln legitimieren. Aus der Perspektive der Organisationsentwicklung sind deshalb die Krisen von besonderem Interesse, weil sie Übergänge markieren, bislang Selbstverständliches in Frage stellen und Haltungen schwächen, die bisher tragfähig waren.

Wir begreifen deshalb Entwicklung am ehesten als Zyklus, der eine Krisenbewältigung als Prozeß erfordert (s. Abb. 1).

Schwung, Identifikation und Motivation kommen aus der Bindung zwischen dem Alltag, der täglichen Praxis und den Visionen, Leitbildern und Zielen. Wenn diese bestehen, können auch Alltagsbelastungen bewältigt werden. Dann gelingt es, Hürden und Hindernisse zu überspringen, die Kommunikationsanforderungen werden gemeistert, Belastungen werden nicht zu Stolpersteinen und Regelungen und Vorgaben nicht als administrativer Sumpf erlebt.

Die Balance zwischen dem Wertehimmel und der Alltagswelt ist immer wieder eine Herausforderung, die Glaubwürdigkeit schafft oder schwächt, in Zeiten des Aufbruchs, der Veränderung und der Bestätigung ist der Schwung da. Der Alltag wird kaum als Belastung wahrgenommen. Die Uhr der Krisenbewältigung beginnt zu ticken, wenn die Balance gestört ist, d.h. wenn der Schwung nachläßt. In Schulen ist das klimatisch und atmosphärisch spürbar, obwohl es vielleicht nur wenigen dort bewußt ist. Gute Freunde erkennen auch eher, was mit einem los ist, als man es selbst bemerkt und ernst nimmt. Die erste Zeit im Krisenzyklus gehört der Verdrängung, dem Weitermachen wie bisher. Flucht in Aktivität, Beschwichtigung, Erklärungen und Rationalisieren verstellen den Zugang zur Erkenntnis, das sich die Situation entscheidend verändert hat.

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Abbildung 1: Entwicklungszyklus © Schley/IOS

In der zweiten Phase der Krisenbewältigung bricht die Problemsituation auf, jetzt gilt es, Schuldige zu suchen. Die Aggression hilft, die zugrundeliegende Enttäuschung zu erkennen und dem Ärger Luft zu machen. Zur Lösung trägt diese Phase vor allem emotional bei, sachlich wird kaum differenziert, Veränderungen werden personalisiert und individuell zugeschrieben.

Diese Form der Bewältigung ist aufreibend, kann nicht lange durchgehalten werden und auch das Anklagen und Rechthaben führt zu keinem Fortschritt. Resignation ist dann die Folge, sie führt das System in eine nächste Phase. Viele ziehen sich zurück, „machen ihren Job“, haben „innerlich gekündigt“, sind nicht mehr „mit dem Herzen“ dabei. Das System funktioniert und gegenüber der Zeit davor scheint es sogar eine Entspannung zu geben.

Erst in der vierten Phase gelingt der Aufbruch und die Neuorientierung. Jetzt richtet sich die Perspektive nicht länger auf die Vergangenheit, es wird eine konstruktive Integration gesucht. Das ist die Zeit der Projektinitiativen, der Pilotvorhaben und offenen Diskussionen. Jetzt kehrt auch der Schwung zurück.

Systeme durchlaufen in ihrer Entwicklung diesen Zyklus einige Male. Sie gewinnen dabei an Reife und Substanz. Problematisch ist die Situation in Schulen oder anderen Bildungs- und Beratungseinrichtungen, wenn sich der Zustand stabilisiert und nur noch zwischen Aggression und Resignation pendelt. Solche Problemsituationen sind aus eigenen Kräften heraus nicht lösbar, hier wird externe Beratung und Prozeßbegleitung nötig.

Systeme erleben die Phasen auch nicht gleichzeitig, im gemeinsamen Takt der Erfahrung. Sie können sich sogar diametral widersprechen.

So kam es bei der 10. Jahresfeier eines aufwendig gestalteten und mit großen Erwartungen gestarteten Berufsbildungszentrums zu einem offenen Konflikt, als der Schulleiter zu einer traditionellen Feieransprache ausholte und mit Vorwürfen an die Kritiker unter den Kolleginnen endete, während die Vorbereitungsgruppe die Veranstaltung zu einer kritischen Bilanz nutzen und die Erfahrung gemeinsam diskutieren wollten. „ Weitermachen wie bisher“ und „Schuldige suchen“ auf der einen Seite, „Sich neu orientieren“ auf der anderen Seite. Die Neuorientierung gleicht hier nur einem Verrat. Die moderierte Veranstaltung begann mit einem Knalleffekt, ein Drahtseilakt für die Moderation, einen Eklat zu verhindern und die Situation dennoch nicht zu beschönigen und mit Engelszungen zu beschwichtigen.

Das neue Paradigma wird als „lernende Organisation“ gekennzeichnet. Senge (1996) und Argyris (1996) haben die theoretische und praktische Ausarbeitung des Konzepts geleistet. Bei allen Diskussionen darüber, ob Systeme oder Organisationen überhaupt lernen könnten und nicht vielmehr die Menschen in ihnen, hat sich doch der Gedanke durchgesetzt, daß Organisationen lern- und entwicklungsfähig seien. Dieser Lernprozeß ist allerdings an Akteure gebunden, die in der Lage sind, Lern- und Erfahrungsprozesse zu entschlüsseln, die in Veränderungen auftreten.

Lernen in Organisationen ist als dynamischer Prozeß des Umgangs mit Komplexität, Intransparenz, Eigendynamik und Antinomie zu kennzeichnen. Das Lernen folgt einer eigenen Partitur (s. Abb. 2). Die Planung kann noch geradlinig und zielgerichtet vorgenommen werden, die Aktionsphase sieht dagegen turbulent aus: Höhen und Tiefen zeigen die Schwingungsbreite der Organisation, ihre Resonanzfähigkeit und Dynamik. In der Reflexion wird dieser Prozeß nicht weitergeführt, sondern bewußt gemacht. Aus der Reflexion heraus werden Erkenntnisse gewonnen, die zum Transfer führen und die nächste Planung auf einer höheren Ebene der Erkenntnis ablaufen lassen.

Dieser Prozeß bildet eine Einheit, die als Muster betrachtet werden kann und sich vielfach wiederholt.

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Abbildung 2: Partitur des Lernens © Schley/ISO

Glasl und Lievegoed (1996) weisen auf die Organisationsdynamik hin und kennzeichnen den Organisationsgrad nach dem Grad seiner Entwicklung (vgl. Abb. 3).

Wenn wir an die Anfänge von Institutionen zurückgehen, stoßen wir auf Zeichen der Pionierphase: Eine hohe Arbeitsmotivation, maximales Engagement, persönlicher Einsatz und strukturelles Chaos, fehlende Abläufe und Ordnungen. Diese Zeit wird allerdings beinahe regelhaft als befriedigende Zeit erlebt. Es gibt euphorische Darstellungen des Umgang mit Unbequemlichkeiten und Unorganisiertheiten.

Allerdings hält diese Einschätzung nicht allzu lange. Mit zunehmender Erfahrung nehmen „Stormingerlebnisse“ zu. Doppelspurigkeit in den Aufgaben, unökonomische Arbeiten, unklare Verantwortlichkeit und zu große Komplexität kennzeichnen das Erleben. Die Differenzierungsphase beginnt und überwindet das „Alle-machen-alles“-Prinzip. In Organisationsrekonstruktionen wird dieser Prozeß noch im nachhinein als schmerzhaft geschildert, als Abschied von einer „paradiesischen Zeit“, obwohl, eingesehen hätte es eigentlich jeder, nur emotional bliebe man noch gern im Urzustand ganzheitlich ungeteilter Erfahrung und Offenheit.

Diese Erkenntnis trifft nicht nur auf Organisationen als Ganzes zu. Sie gilt auch für Reformprojekte, Pionierphasen, Alternativmodelle und Initiativen.

Die Differenzierungsphase hat ihre Tücke in sich selbst, in ihrer Arbeitsteilung und Segmentierung. Der Organisationsaufwand steigt, dem „Norming“ kommt eine hohe Bedeutung zu. Der Zusammenhalt wird durch eine klare Aufbau- und Ablauforganisation gewährleistet. Die Administration nimmt zu. Die Krise im Übergang zur Integrationsphase ist eine der Entfremdung, Formalisierung, Verregelung, Einengung und Unbeweglichkeit.

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Abbildung 3: Phasen und Stufen der Organisationsentwicklung © Schley/IOS

In Integrationsphasen werden Projekte gegründet, Regelkommunikationen entwickelt, Teams gebildet, Leitbilder ausgearbeitet und Szenarien entworfen. Die Komplexität zu erhalten und zu erfassen, das Ganze zu sehen und dabei handlungsfähig zu bleiben gelingt in kleinen Einheiten: „Small is beautiful“. In dieser Phase steigt das „Wir-Erleben“, der einzelne fühlt sich eingebunden. Das zeigt auch die Performing-Qualität der Teamarbeit, die deutlich hinzukommt, vor allem auch in Form von Leitungs-, Projekt- und Klassenteams.

Im „Performing“ kommt es zum Erlebnis, daß alle Ressourcen ausgeschöpft werden: Konzeptionelle, soziale, kreative, problemlösende und energetische. Hier gelingt der Übergang der Transformationsphase, in der die Organisation sich öffnet für neue Modelle der Lernorganisation und Kooperation. Zusammenarbeit mit Kooperationspartnern im sozialen Umfeld, virtuelle situative Teambildungen und schnelle Anpassung an neue Anforderungen durch Innovationen, die fast beiläufig berichtet werden, kennzeichnen das Bild.

Die Beratung, Leitung und Evaluation einer Schule oder einer anderen Einrichtung im Bereich Beratung und Bildung gleicht dem Ausloten des Systems, als sei es einem „Eisberg“ vergleichbar. Nur ein geringer Teil ist wirklich sichtbar (s. Abb. 4).

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Abbildung 4: Eisberg © Schley/IOS

Der Versuch, die Organisation Schule über psychologische Prozesse zu verändern, in dem Konflikte, Probleme, Ängste, Rivalitäten und Rückzüge in Supervisionen und Workshops explizit thematisiert und bearbeitet wurden, hat sich als nur begrenzt funktional und zielführend erwiesen. Für den einzelnen brachte es Entlastung und Verständnis, für die Organisation als Ganzes keine Veränderung.

Der Eisberg ist zu verstehen als eine Symbolik, eine Metapher, die auf Indikatoren verweist, die das System Schule implizit kennzeichnen. Als Leitsatz der Systemberatung und moderativen Schulentwicklung hat sich das Attribut „situationslogisch“ hervorragend bewährt. Es verweist darauf, daß Aufgaben, Ziele und Konzepte immer kontextgebunden zu verstehen sind und aus der Logik der jeweiligen Situation ihren Sinn beziehen.

Auch die Phasen und Prozesse der Organisationsentwicklung tragen zur situationslogischen Bewußtheit bei. Situationen können wahrgenommen und gestaltet werden, Situationen können offener, direktiver und dialogischer angegangen werden. Sie überwinden dann auch psychologische Barrieren und lösen erstarrte, rigide und lähmende bzw. streßauslösende, angespannte Kampf- und Verteidigungspositionen.

Situationen können beschrieben, gezeichnet, in die Zukunft projiziert und erinnert werden. Eine unserer wesentlichen psycho-sozialen Ressourcen besteht gerade darin, im szenischen Gedächtnis verankerte Situationen wieder flüssig zu machen und in der Imagination zukünftige Situationen szenisch vorstellbar werden zu lassen.

Kooperation ist handelnde Sinngebung in einem intermediären Raum. Ich muß mich mit meinem Kooperationspartner im gleichen Kontext bewegen, damit die Kommunikation gelingt. Führt der eine ein Streitgespräch und der andere eine Klärung über Ziele, wird es zu keiner Einigung kommen, jeder wird versuchen, den anderen davon zu überzeugen, die Dinge doch mit den eigenen Augen zu sehen.

Ein Überprüfen des gedanklichen Rahmens, ein Benennen des jeweiligen Kontextes, eine Klärung der Voraussetzungen und Vertrauen in die Tragfähigkeit der Gespräche gehören zu den Basisvoraussetzungen einer situationslogischen Entwicklungsarbeit. Dann können auch Situationsmerkmale wie Rivalität, Kampf, Angst, Druck Versagen, Gesichtsverlust und Dominanz benannt werden, und es kann herausgearbeitet werden, was sie für das Vorgehen bedeuten.

2. Umgang mit Veränderungen

Veränderungen sind Auseinandersetzungen mit dem Bestehenden, in Stärken und Schwächen Einschätzbaren, mit Zukünftigem, in Chancen und Risiken vorstellbaren Situationen.

Veränderungen sind darin nicht grundsätzlich positiv, und die Kritiker, Skeptiker, Vorsichtigen und Gedämpften sind nicht automatisch schwarz zu malen oder im Widerstand befindlich zu diagnostizieren. Bewertungen und Abstempelungen helfen nicht. Es muß ein Verständnis der Veränderungsprozesse geweckt werden, um den Beteiligten, die an der Neuorientierung Interesse haben, ob in Form des aktiven Beteilungsinteresses oder des wahrnehmenden Beobachtungsinteresses, eine Position einzuräumen und Beteiligung zu ermöglichen.

Das Konzept des Widerstands kommt aus der psychotherapeutischen Diskussion. Es wird dort verwendet, um die Abwehr des Individuums zu kennzeichnen, das seine verzerrten Wahrnehmungen und neurotischen Behauptungen nicht ablegen möchte und, im Wiederholungszwang gefangen, „mehr vom selben“ praktiziert. Die Übertragung des Widerstandskonzepts auf Organisationen ist problematisch, sie macht es den Entscheidern, Initiatoren, Beratern und Moderatoren zu leicht. Schlecht geplante und kommunizierte Konzepte können auf diese Weise leicht als Widerstands- und Problemfälle behandelt werden. Eine Rückkopplung zum eigenen Handeln findet dagegen nicht statt. So immunisiert sich das eigene Handlungskonzept gegenüber Reflexionen. Organisationslernen findet nicht statt.

Bei der Suche nach Ursachen für das Scheitern wird meist schnell klar: Wir haben uns nicht sorgfältig vorbereitet, möglicherweise wurde das Ziel unklar formuliert oder nicht von allen mitgetragen, einzelne oder Gruppen haben sich zu sehr auf andere verlassen, oder es fehlte schlicht das nötige Wissen, um weiterzukommen.

Schulentwicklung ist immer ein Prozeß über längere Zeit. Zeit und Energie sind wichtige Faktoren, die bereits bei der Konzipierung berücksichtigt werden sollten. Pausen, um den Blick immer wieder auf das Ganze, das erreicht werden soll, richten zu können, sind ebenso wichtig wie das Einteilen von Ressourcen und Energien, die das Projekt am Leben halten.

Neben der Planung von Schulentwicklung in kleinen Etappen nutzen viele Schulen Pilotkonzepte. Die Umsetzung richtet sich dabei auf einen begrenzten, überschaubaren Bereich des Systems, z.B. die Neugestaltung des Eingangsbereichs an einem Gymnasium oder neue Konzepte für Abschlußklassen. Pilotprojekte sind dort sinnvoll, wo es Vorreiter gibt, die bereits positive Erfahrungen mit anderen Pilotvorhaben gemacht haben und die mit Kraft, Energie und Risikobereitschaft an die Umsetzung der Teilziele herangehen. Erfahrungen werden dann weitergegeben und machen anderen Projektgruppen Mut, ebenfalls in den Entwicklungsprozeß einzusteigen.

Zur Vorbereitung gehört nicht nur das Einplanen von Zeit und Ressourcen. Eine weitere Ursache für das Scheitern kann darin bestehen, daß Steuerungsfunktionen nicht geklärt sind. Schulentwicklung braucht Selbststeuerungsfähigkeiten in Verbindung mit interner und externer Steuerung. Sind die Schulleiterinnen am Prozeß beteiligt, wird es ihnen schwer fallen zu sagen: „Das war ja ganz nett, aber jetzt kehren wir wieder zur Tagesordnung zurück. Wer übernimmt nächstes Jahr Mathematik in der Klasse 5a?“ Eine Arbeitsteilung, in der Schulleiterinnen für das Alltagsgeschäft und die operativen Umsetzungen und externe Beraterinnen für die euphorischen Phasen des Aufbruchs und der strategischen und normativen Neuorientierung zuständig sind, sorgt auf Dauer für Konflikte und Widerstände. Es entsteht ein Kräftefeld, das auf den ersten Blick Erstarrung zu sein scheint. Wenn das Kräftefeld im Rahmen eines Mobilisierungsszenarios analysiert wird, gibt es jedoch wichtige Hinweise, wie die Kräfte für die Erreichung des Ziels eingesetzt werden können.

2.1 Veränderungsszenario

Das Veränderungsszenario ist Teil einer weiterentwickelten Kräftefelddiagnose nach Fritz Riemann (1962) mit den beiden Grunddimensionen Dauer-Wechsel und Distanz-Nähe (vgl. Schley 1996). Die theoretische Grundaussage lautet: Jede Veränderung lebt von der Dialektik aus Verfahrensorientierung/Systematik (= Dauer) und Innovationsorientierung (= Wechsel) sowie aus Ergebnisorientierung (= Distanz) und Personenorientierung (= Nähe).

Im Streben nach Dauer zeigt sich das Bedürfnis nach Verläßlichkeit und Zuverlässigkeit. Menschen brauchen Klarheit, Orientierung, Vertrauen. Kein Kind würde wachsen, wenn es sich nicht in verläßlichen Verhältnissen befände. Es würde sich kein Urvertrauen bilden, wenn nicht regelmäßig jemand da wäre, wenn es nicht regelmäßig etwas zu essen geben würde etc. Wir wissen alle, was mit Kindern passiert, wenn diese Verläßlichkeit fehlt: die Folge sind schwerste seelische Schäden. Organisationen haben ebenfalls biographische Prägungen. Auch hier ist Ruhe, Stetigkeit und Festigkeit eine gute Wachstums- und Entwicklungsbasis.

Das zweite Bedürfnis ist das Bedürfnis nach Nähe. Alle Menschen haben ein Bedürfnis nach Kontakt, nach Bestätigung, nach Streicheleinheiten, Austausch, Hilfe, Rückhalt und nach Verständnis. Ohne Nähe gibt es kein Wachstum. Das gilt wiederum auch für Organisationen: Kommunikation, Austausch, Absprache, Unterstützung und Bestätigung sind wertvolle Grundmotivationen.

Aber Kinder zeigen schon relativ früh und deutlich, daß es mit Nähe allein nicht getan ist. Sie sagen irgendwann: „Ich kann alleine und ich will alleine.“ Dann kommt das Wort „nein“, das das Bedürfnis nach Distanz im Gegensatz zur Nähe zeigt. Distanz in diesem Sinne heißt: Eigenständigkeit, Eigenverantwortlichkeit, Unabhängigkeit. Diese Qualität ist ebenfalls relevant für Schulen und Institutionen. Profilierung, Ergebnisorientierung und Qualität sind wesentliche Grundstrebungen, die für Schulentwicklung bedeutsam sind.

Zusätzlich brauchen wir immer wieder auch Stimulanz, Anreize, Impulse, Bewegung. Sie machen die Qualität des Wechsels aus. Für Unternehmen und Institutionen, Schulen und Beratungseinrichtungen ist das die Innovationsorientierung, die laufende Veränderung und Reform.

Die Entwicklung des Systems ist wesentlich davon abhängig, daß die vier Kräfte im Gleichgewicht sind. Übertragen auf den Schulentwicklungsprozeß ist es deshalb bereits im Vorfeld wichtig zu überprüfen, ob alle Felder ausreichend besetzt sind. Es braucht einen ergebnis- und innovationsorientierten Machtsponsor, der die Macht hat, bestimmte Ressourcen zu sichern, Orientierung zu ermöglichen, den Prozeß zu unterstützen und voranzutreiben. Ist der Machtsponsor nicht frühzeitig in den Prozeß eingebunden, wird er sagen: „Ich schaue mir mal an, was da passiert und lege mich überhaupt nicht fest“.

Eine weitere Kraft bilden die Champions.