Das philosophische Enfant terrible Harry G. Frankfurt ist zurück, und zwar mit einem Paukenschlag. Nach seinem Welterfolg Bullshit widmet er sich in bewährt streitbarer Manier einer hochaktuellen Debatte: ökonomische Ungleichheit. Während man sich allenthalben einig ist, dass die ungleiche Verteilung von Gütern und Reichtum das große Problem unserer Zeit sei, postuliert Frankfurt die radikale Gegenthese: Ungleichheit ist moralisch irrelevant. Mit schwindelerregenden Gedankenexperimenten wirft Frankfurt ein vollkommen neues Licht auf Begriffe wie Gerechtigkeit, Genügsamkeit und Zufriedenheit – und beantwortet nebenbei die heikle Frage, warum wir nicht alle gleich viel haben müssen.

Harry G. Frankfurt, geboren 1929, ist emeritierter Professor für Philosophie der Princeton University. Er ist Träger vieler Auszeichnungen und Mitglied der American Academy of Arts and Sciences. Seine Bücher sind in zahlreichen Ländern erschienen.

Zuletzt von ihm erschienen: Sich selbst ernst nehmen (stw 2168), Gründe der Liebe (stw 2111) sowie Bullshit (st 4490).

Harry G. Frankfurt

UNGLEICHHEIT

Warum wir nicht alle
gleich viel haben müssen

Aus dem amerikanischen Englisch
von Michael Adrian

Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel On Inequality bei Princeton University Press.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4661.

Deutsche Erstausgabe

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

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eISBN 978-3-518-74445-1

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Für Joan, die nicht einverstanden ist (glaube ich)

Vorbemerkung

Es hat in jüngster Zeit einige Diskussionen über die zunehmende ökonomische Ungleichheit in unserer Gesellschaft gegeben, die nicht zuletzt durch die Forschungsergebnisse des französischen Ökonomen Thomas Piketty neue Nahrung erhielten.1 Die Kluft zwischen den wirtschaftlichen Mitteln derjenigen, die mehr Geld besitzen, und derjenigen, die weniger besitzen, ist rapide gewachsen. Diese Entwicklung finden viele Menschen beklagenswert.

Es trifft zweifellos zu, dass sich Personen von größerem Wohlstand erheblicher – und oft anstößiger – Wettbewerbsvorteile gegenüber solchen mit geringerem Wohlstand erfreuen. Am deutlichsten wird dies natürlich mit Blick auf den Konsum. Auch hinsichtlich des gesellschaftlichen und politischen Einflusses ist dieses Ungleichgewicht nicht zu übersehen und fällt noch viel stärker ins Gewicht. Die Reicheren haben viel mehr in die Waagschale zu werfen als die Ärmeren, wenn es um die Ausgestaltung unserer gesellschaftlichen Sitten und Usancen sowie die Entscheidung darüber geht, wie unser politisches Leben beschaffen sein und welchem Kurs es folgen soll.

Wenn ökonomische Ungleichheit nicht wünschenswert ist, so liegt dies jedoch nicht daran, dass sie moralisch verwerflich wäre. Ökonomische Ungleichheit als solche ist moralisch nicht verwerflich. Wirklich unerwünscht ist sie insofern, als sie fast unausweichlich dazu neigt, unannehmbare Ungleichheiten anderer Art zu erzeugen. Diese unannehmbaren Ungleichheiten, die mitunter fast so weit gehen, dass sie die Ernsthaftigkeit unseres demokratischen Selbstverständnisses untergraben, müssen freilich im Rahmen einer angemessenen gesetzgeberischen, ordnungspolitischen, gerichtlichen und exekutiven Kontrolle eingeschränkt oder verhindert werden.

Es ist meines Erachtens von einiger Bedeutung, sich Klarheit über diese Dinge zu verschaffen. Zu begreifen, dass ökonomische Ungleichheit an und für sich moralisch unschuldig ist, verhilft zu der Einsicht, dass es irregeleitet ist, sich dem ökonomischen Egalitarismus als authentischem moralischem Ideal zu verschreiben. Auch fördert eine solche Klärung die Erkenntnis, warum es tatsächlich schädlich sein kann, ökonomische Gleichheit an sich für ein moralisch wichtiges Ziel zu halten.

Der erste Teil des vorliegenden Buchs ist einer Kritik des ökonomischen Egalitarismus gewidmet. Sein Befund lautet, dass ökonomische Gleichheit von einem moralischen Standpunkt aus nicht wichtig ist und dass unsere moralischen und politischen Konzepte womöglich besser darauf abzielen sollten, sicherzustellen, dass die Menschen über hinreichende Mittel verfügen. Im zweiten Teil werde ich einen Fall von dieser Diagnose ausnehmen, in dem ökonomische Gleichheit in der Tat von einer gewissen moralischen Bedeutung sein kann.

1 Ökonomische Gleichheit als moralisches Ideal

Erster Mann: »Wie geht es Ihren Kindern?«

Zweiter Mann: »Im Vergleich womit?«

I

1

In einer Rede zur Lage der Nation erklärte Präsident Barack Obama unlängst, die Einkommensungleichheit sei »die entscheidende Herausforderung unserer Zeit«. Mir scheint unsere fundamentalste Herausforderung jedoch nicht in dem Umstand zu bestehen, dass die Einkommen der Amerikaner extrem ungleich sind, sondern vielmehr darin, dass so viele unserer Mitbürger arm sind.

Die Einkommensungleichheit könnte ja schließlich beseitigt werden, indem man dafür sorgt, dass alle Einkommen gleichermaßen unter der Armutsgrenze liegen. Für diese Methode, Einkommensgleichheit zu erzielen – indem man alle gleich arm macht –, spricht natürlich sehr wenig. Folglich kann die Abschaffung einer ungleichen Einkommensverteilung als solcher nicht unser grundlegendstes Ziel sein.

2

Neben der weiten Verbreitung von Armut besteht ein weiterer Teil unserer gegenwärtigen ökonomischen Verwerfungen darin, dass viele Menschen zu wenig haben, während eine beträchtliche Anzahl zu viel hat. Die Reichen verfügen unbestreitbar über sehr viel mehr, als sie für ein aktives, produktives und angenehmes Leben benötigen. Indem sie aus dem wirtschaftlichen Wohlstand unserer Nation viel mehr für sich herausholen, als sie brauchen, um gut leben zu können, machen sich diejenigen, die im Überfluss schwimmen, einer Art ökonomischen Fressgier schuldig. Sie ähnelt der Gefräßigkeit derer, die beim Essen erheblich mehr hinunterschlingen, als für ihre Sättigung oder für ein befriedigendes Maß an gastronomischem Genuss erforderlich ist.

Abgesehen von den schädlichen psychischen und moralischen Folgen für das Leben der Fresssäcke selbst bietet die wirtschaftliche Unersättlichkeit einen lächerlichen und abstoßenden Anblick. In Zusammenschau mit einer nicht unwesentlichen Gesellschaftsschicht von Leuten, die erhebliche ökonomische Entbehrungen erleiden und folglich mehr oder weniger ohnmächtig sind, ist der allgemeine Eindruck, den unsere Wirtschaftsordnung erweckt, so hässlich wie moralisch anstößig.2

3

Wer sich allerdings auf die Ungleichheit konzentriert, die nicht an sich verwerflich ist, verkennt die Herausforderung, vor der wir stehen. Unser grundsätzliches Augenmerk sollte darauf liegen, sowohl die Armut als auch den exzessiven Reichtum abzubauen. Dies mag sehr wohl mit einer Verringerung der Ungleichheit einhergehen. Doch kann die Verringerung der Ungleichheit selbst nicht unser zentrales Bestreben sein. Ökonomische Gleichheit ist kein moralisch überzeugendes Ideal. Das primäre Ziel unserer Bemühungen muss es sein, eine Gesellschaft zu reparieren, in der viele viel zu wenig besitzen, während andere mehr als genug und damit ein Übermaß an Komfort und Einfluss haben.

Die Bessergestellten genießen einen gravierenden Vorteil gegenüber den weniger Wohlhabenden – einen Vorteil, den sie womöglich ausnutzen, indem sie unangemessenen Einfluss auf Wahl- oder Regulierungsprozesse zu nehmen versuchen. Die potentiell antidemokratischen Auswirkungen dieses Vorteils müssen entsprechend durch eine Gesetzgebung und durch Maßnahmen abgefangen werden, die diese Prozesse vor Verzerrungen und Missbrauch schützen.

4

Ökonomischer Egalitarismus, wie ich ihn verstehe, ist die Lehre, dass jeder über dieselbe Höhe an Einkommen und Vermögen (kurz gesagt, »Geld«) verfügen soll.3 Kaum jemand würde bestreiten, dass es Situationen gibt, in denen man sinnvollerweise von diesem Standard abweicht: dort etwa, wo die Möglichkeit einer besonderen Entlohnung geboten werden muss, um Beschäftigte mit dringend benötigten, aber seltenen Fertigkeiten einzustellen. Obwohl sie gewisse Ungleichheiten als zulässig akzeptieren würden, glauben viele Menschen dennoch, dass ökonomische Gleichheit an sich einen erheblichen moralischen Wert hat. Sie drängen deshalb darauf, dass der Annäherung an dieses egalitaristische Ideal ein deutlicher Vorrang eingeräumt werden sollte.4

Das ist meiner Meinung nach ein Fehler. Ökonomische Gleichheit ist als solche von keiner besonderen moralischen Bedeutung; aus demselben Grund ist ökonomische Ungleichheit nicht an sich moralisch anstößig. Aus moralischer Perspektive ist es nicht wichtig, dass jeder dasselbe hat. Was moralisch zählt, ist, dass jeder genug hat. Wenn jedermann genügend Geld hätte, würde es niemanden besonders interessieren, ob manche Leute mehr Geld hätten als andere.

Ich werde diese Alternative zum Egalitarismus als »Suffizienzprinzip« (doctrine of sufficiency) bezeichnen – sprich als den Grundsatz, dass in Sachen Geld moralisch nur von Bedeutung ist, dass jeder genug davon hat.5

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