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Julia Gerlach
Der verpasste Frühling

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Das Projekt wurde von der Robert Bosch Stiftung im Rahmen des Programms »Grenzgänger« gefördert.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, Januar 2016 (entspricht der 1. Druckauflage von Januar 2016)
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Umschlagabbildung: Graffiti am Tahrir-Platz in Kairo 2012
(Claudia Wiens)
Karte: Christopher Volle, Freiburg
Satz: Stephanie Raubach, Ch. Links Verlag, Berlin

ISBN 978-3-86284-321-3

Inhalt

Titel

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Karte

Ägypten – Der Frühling am Nil

Es geht los!

1001 gläserne Decken: Der Frust der ägyptischen Jugend

Generation Mubarak

Das Wunder des 25. Januar 2011

Der taktische Rückzug der Polizei

Revolution!

EXKURS: Politik der USA

Das System Mubarak schlägt zurück

Die Macht der Propaganda

Staat im Staat: Das ägyptische Militär

Der Frühling ist da!

Die Weichen werden gestellt

Wo kommen nur plötzlich die vielen Salafisten her?

Die neue arabische Krankheit: Polarisierung

Die Rolle der Medien

Hängt ihn auf!

Warum es so schwer ist, eine Partei zu gründen

Wahlfrust

Ägyptens zweite Chance

Die Muslimbrüder: Was glauben sie eigentlich?

Mohammed Mursi und die Radikalen

Mursis Erfolg auf der internationalen Bühne

Der Tahrir-Platz wird wiederbelebt

»Yuskut Hukum al-Murschid!« Es stürze die Herrschaft des Führers!

Wer regiert eigentlich Ägypten?

Auf dem Weg zur zweiten Revolution

Bekommt Ägypten eine dritte Chance?

Wellen des Hasses

Ernüchterung

Der neue Pharao

Altes System oder neues System?

Ägypten und seine Geldgeber

Wie Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Katar die Polarisierung gefördert haben

Wo kommt der Terror her und wie lässt er sich bekämpfen?

Wie geht es weiter in Ägypten?

Der Arabische Frühling in der Region

Tunesien

Libyen

Jemen

Syrien

Was ist schiefgelaufen?

Anhang

Anmerkungen

Abbildungsnachweis

Weiterführende Literatur

Dank

Angaben zur Autorin

Einleitung

Die Brandung knallt an die Hafenmauer von Tripolis. Die ersten Herbststürme toben auf dem Mittelmeer. »Heute habe ich kaum Kundschaft«, sagt Hosni al-Orfali und fügt nach kurzem Zögern hinzu: »Gott sei Dank!« Mit zusammengekniffenen Augen und hochgezogenen Schultern schaut er auf den Hafen hinaus: »Hoffentlich sehen auch die Flüchtlinge ein, dass man bei diesem Wetter besser nicht rausfährt.« Der 23-jährige muskulöse Mann im Strickpulli betreibt ein Geschäft für Bootszubehör am Hafen der libyschen Hauptstadt. Er verkauft Schwimmwesten, GPS und alles, was man sonst so braucht, wenn man sich in einem kleinen Boot aufs Meer hinaus begibt, um am anderen Ufer ein neues Leben zu beginnen. »Ich kann die Menschen verstehen. Das sind doch arme Schlucker. Sie kommen aus Ländern, in denen Krieg herrscht und sie keine Zukunft haben. Sie träumen davon, dass es ihnen dort drüben besser geht«, er zeigt Richtung Horizont. Riesige Wellen brechen sich an der Hafeneinfahrt.

»Hundewetter!«, schimpft ein Mann um die 40, der mit hochgeklapptem Kragen ins Geschäft kommt. Abdullah heißt er, seinen Nachnamen will er nicht verraten. »Sogar heute schleichen da unten an der Mole so ein paar arme Gestalten herum«, berichtet er: »Mir wird ganz schlecht, wenn ich diese armen Wichte sehe. 90 Prozent von denen, die jetzt losfahren, werden sterben. Das habe ich im Gefühl«. Warum er sich so gut auskennt, will er lieber nicht sagen. »Ich bin Seemann, nein, nicht Schlepper, Seemann!«

Der kleine Laden von Hosni al-Orfali liegt in unmittelbarer Nähe des großen Platzes im Zentrum von Tripolis. Bis 2011 hieß er Grüner Platz. Hier hielt Staatschef Muammar al-Gaddafi seine Reden. Nach seinem Sturz wurde der Platz in Märtyrerplatz umbenannt. Tagelang feierten die Menschen ausgelassen ihre neugewonnene Freiheit. Wie lange scheint das her! Heute droht Libyen zu zerfallen, Milizen kämpfen gegeneinander und Libyen gilt aus europäischer Sicht als Problemfall: Hier hat der sogenannte Islamische Staat (IS) eine starke Basis, und – was Europa noch mehr Sorgen bereitet – das Land mit seinen unbewachten Grenzen hat sich zum Eldorado für Schlepper, zum Durchgangsland Nummer eins für Bootsflüchtlinge nach Europa entwickelt. Sie kommen aus vielen Ländern, doch die meisten sind Syrer oder stammen aus anderen arabischen Ländern. Auch in ihrer Heimat schlug das, was als hoffnungsvolle Revolution begonnen hat, in einen blutigen Kampf um.

Dies ist aber kein Buch über Flüchtlinge im eigentlichen Sinne. Es geht weder um Fluchtrouten noch darum, wie die Menschen sich in Europa integrieren können. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Entwicklung in der arabischen Welt in den vergangenen fünf Jahren. Wie kam es dazu, dass auf den Arabischen Frühling direkt ein eisiger Winter folgte? Warum sind inzwischen Millionen Menschen aus der Region so verzweifelt, dass sie alles hinter sich lassen und sich auf die Flucht begeben? Wie konnte Libyen so aus den Fugen geraten, dass es zum größten Transitland für Flüchtlinge geworden ist?

»Wir wussten von Anfang an, dass es schwierig werden würde, die Diktaturen in der arabischen Welt zu stürzen, aber dass es so schwierig werden und solche Auswirkungen haben würde, haben wir natürlich nicht gedacht«, sagt Amal Scharaf. Mit nervös flatternden Händen und gehetztem Blick sitzt sie auf der Kante ihres Stuhls und schaut sich immer wieder ängstlich um, mustert die Gäste an den Nachbartischen des Cafés. Amal Scharaf ist eine der bekanntesten Aktivistinnen des Aufstands gegen den ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak. Im Januar 2011 war die zierliche Frau mit den langen rötlichen Haaren ständig auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Die alleinerziehende Englischlehrerin brachte die Forderungen der Demonstranten auf den Punkt: ein gerechteres, freieres und demokratischeres Land, in dem alle in Würde leben können. Nicht mehr und auch nicht weniger. In kürzester Zeit gelang es, im Frühjahr 2011 Millionen Menschen auf die Straßen zu bringen und den Start in eine neue Gesellschaft zu wagen.

Der gelungene Aufstand gegen den tunesischen Langzeitpräsidenten Zine Abdine Ben Ali inspirierte Aktivisten in der ganzen Region, und nachdem im Februar 2011 der ägyptische Präsident Hosni Mubarak abgesetzt worden war, gab es kein Halten mehr. Auch in Libyen, Bahrain, Jemen und vielen anderen Ländern demonstrierten die Massen. In jenem Frühling sah es tatsächlich so aus, als wäre die Diktatur in der arabischen Welt ein Auslaufmodell. Heute aber ist Amal Scharaf eine der wenigen in Ägypten, die noch immer die Fahne der Revolution hochhalten. Die Hoffnung auf Würde, Freiheit, Wohlstand und vielleicht auch Demokratie hat sich für Amal Scharaf und ihre Mitstreiter nicht erfüllt. Viele haben das Land verlassen oder sind im Gefängnis, und Amal Scharaf rechnet ständig damit, dass auch sie verhaftet wird. Kein Wunder, dass sie so nervös um sich blickt. In Ägypten regiert ein Präsident, der gnadenloser und brutaler gegen die Opposition vorgeht, als Hosni Mubarak es je getan hat. Auch sonst hat sich kaum etwas zum Besseren verändert. Die Wirtschaftskrise verschärft sich ständig, und die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander. Die alten Eliten haben nach wie vor das Sagen. Das gilt auch für den Rest der Region, und zu den vielen alten Problemen kommen nun noch Bürgerkrieg und Terror hinzu. In den Medien wurde das Bild der fröhlichen Demonstranten vom Tahrir-Platz, die »Salmia, salmia!« (Friedlich, friedlich!) skandierten und so den Panzern der Regierung entgegentraten, abgelöst von den vermummten Kriegern des Islamischen Staates (IS) in der Region, die auf Massaker und Köpfungen setzen, um ihre Ziele zu erreichen. Rückblickend scheint es unglaublich, fast schon naiv, dass es hier einmal die Hoffnung auf Demokratie und Freiheit gegeben hat. Oder gibt es sie vielleicht immer noch?

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Die ägyptische Aktivistin Amal Scharaf und ihr Mitstreiter Amr Mahrus, 2015.

Um diese Frage beantworten zu können, gilt es zunächst herauszufinden, weshalb die Arabellion von 2011 gescheitert ist und in keinem Land – mit Ausnahme von Tunesien vielleicht – der Weg in Richtung Demokratie eingeschlagen wurde. Was ist schiefgelaufen? Wie konnte es geschehen, dass die Chance, die sich 2011 auftat, so gründlich vertan wurde? Lag es an der Unfähigkeit der Aktivisten der Revolution, sich zu organisieren oder auch nur gemeinsame Ziele für den Neuanfang zu entwickeln? Lag es an der Machtgier der Islamisten und deren Unfähigkeit, ihre Strukturen und Ideologie zu erneuern, um den Herausforderungen der neuen Zeit gerecht zu werden? War es der Einfluss von außen, die Politik der USA und Europas oder auch der einflussreichen Golfstaaten, der die Revolution auf Abwege brachte? Oder lag es daran, dass die alten Regime so stark und so gut verankert waren, dass sie Veränderungen zu verhindern wussten? Wer wäre besser geeignet, Antworten auf diese Frage zu finden, als die beteiligten Akteure selbst?

Sieben Jahre habe ich als Korrespondentin für verschiedene deutsche Medien aus der Region berichtet. In dieser Zeit konnte ich nicht nur erleben, wie es zum Arabischen Frühling kam, sondern habe auch viele Menschen kennengelernt, die mir ihre Sicht auf die Veränderungen schilderten. Ich habe viele von ihnen nicht nur einmal getroffen, sondern immer wieder um Interviews gebeten. Es sind Aktivisten der Revolution wie Amal Scharaf, die hier zu Wort kommen. Es sind aber auch Regierungsvertreter, Islamisten und ganz normale Bürger. Anhand der Erlebnisse ausgewählter wichtiger Gesprächspartner soll die Entwicklung der vergangenen fünf Jahre nachgezeichnet und auf diese Weise verständlich werden, warum die Akteure bestimmte Entscheidungen getroffen haben. Wieso wählten 2011 mehr als 70 Pro- ­zent der Ägypter eine islamistische Partei? Wieso befürworten dann mindestens ebenso viele, dass 2013 die Militärs an die Macht zurückkamen, und halten es für richtig, dass Tausende Islamisten brutal getötet oder inhaftiert werden? Wieso haben viele ihre Meinung derart geändert und würden – hätten sie eine neue Chance – heute anders entscheiden und auch anders handeln? Die Selbstreflexion der Akteure in Kombination mit dem analytischen Draufblick von Intellektuellen und Wissenschaftlern soll die Dynamik der Entwicklung klar zum Vorschein bringen.

Ähnliche Interviewserien habe ich auch in den anderen Ländern des Arabischen Frühlings geführt: Lina Ben Mhenni aus Tunis, Abu Ahmed Yakobi aus Libyen, Maher Esber aus Syrien und Sarah Ishaq aus dem Jemen wurden für dieses Buch ausgewählt.

Der Arabische Frühling und sein – zumindest vorläufiges – Scheitern lässt sich nur verstehen, wenn man die Entwicklung in der ganzen Region betrachtet. Ägypten spielt dabei eine wichtige Rolle, weil das politisch einflussreiche und bevölkerungsreichste arabische Land für die Nachbarstaaten Vorbild ist und die Ereignisse dort schon immer auch den Fortgang der Entwicklung in der ganzen Region beeinflusst haben. Aber gerade jetzt gibt es Einflussnahme auch aus anderer Richtung. Nicht zuletzt benutzt die ägyptische Regierung den Bürgerkrieg in Syrien und den blutigen Kampf in Libyen als Drohung. Nach dem Motto: Wenn ihr nicht aufhört, gegen die Regierung zu protestieren, dann seid ihr selbst schuld, wenn auch Ägypten ins Chaos stürzt!

Zugleich gilt Ägypten aber auch als abschreckendes Beispiel. So hat das Vorgehen des ägyptischen Militärs gegen die Muslimbrüder im Sommer 2013 die tunesischen Islamisten von der Al-Nahda-Partei dazu gebracht, ihre Positionen zu überdenken und Kompromisse mit anderen politischen Kräften zu suchen. »Wir hatten berechtigte Angst, dass es auch bei uns eine Konterrevolution geben könnte, und haben deswegen der Bildung einer neuen Regierung zugestimmt«, so der Al-Nahda-Gründer Raschid al-Ghannuschi.

Natürlich gibt es nicht »den« Arabischen Frühling und nicht »die« Arabellion. In jedem Land gibt es spezielle Gründe, die zum Ausbruch der Revolutionen führten, und der Aufstand nahm auch einen jeweils eigenen Verlauf. So wurden in manchen Ländern konfessionelle Konflikte ausgelöst, in anderen steht bis heute die Auseinandersetzung zwischen alten und neuen Kräften im Mittelpunkt.

Trotz der Unterschiede zeigen sich allerdings auch viele Parallelen. So sind es – grob gesagt – drei Akteure, die das Geschehen bestimmen. In allen Ländern waren es vor allem nichtislamistische Aktivisten, Jugendliche der Mittelschicht, die den Anstoß gaben. Sie sind geprägt von dem in der ganzen Region verbreiteten Frust: Die Globalisierung und bessere Bildungsmöglichkeiten haben den Horizont der neuen Generation erweitert und zugleich ihre Erwartungen gesteigert. Die Regierungen sind mehrheitlich überfordert oder auch nicht gewillt, diesen jungen Menschen Zukunftsperspektiven zu eröffnen. In den meisten Ländern ist in den fünf bis zehn Jahren vor der Arabellion eine Protestbewegung gewachsen, die Massen mobilisieren konnte, allerdings fehlte ihr die Struktur, die Erfahrung und das Programm, um nach dem Sturz von Ben Ali, Mubarak und Co. die Regierung zu übernehmen. »Unsere Rolle war es, die Menschen auf die Straße zu bringen. Für das, was danach kam, fehlte es uns an allem«, so die Aktivistin Amal Scharaf. Ein Muster für die moderne, freie arabische Gesellschaft gibt es nicht. Und es fehlte an Unterstützung: Die Aktivisten der Revolution, wie diese Gruppe im Folgenden genannt wird, konnten weder die wichtigen politischen und wirtschaftlichen Kräfte ihrer eigenen Länder noch starke Unterstützer auf der internationalen Ebene für ihre Sache gewinnen.

Nachdem die Aktivisten den Anfang gemacht hatten, drängten sich bald islamistische Gruppen wie die Muslimbruderschaft oder al-Nahda in Tunesien und al-Islah im Jemen in die Führungspositionen. Diese starken Organisationen, die politische Arbeit seit Langem mit Wohltätigkeit im Namen des Islam verbinden, sind lose miteinander verbunden und berufen sich auf die Ideen von Hassan al-Banna, der 1928 die Muslimbruderschaft in Ägypten gegründet hat. Sie sind viel besser organisiert und durch Moscheen und Sozialeinrichtungen gut in der Bevölkerung verankert. Sie waren zwar zuvor vielerorts verboten und wurden von den Sicherheitsorganen verfolgt. In den meisten Ländern gab es jedoch eine Art inoffizielle Übereinkunft mit den Regierungen, so dass ihnen in gewissen Grenzen politische und vor allem soziale Arbeit erlaubt war. Insofern sind diese Gruppen vom alten Regime mit geprägt und in manchen Ländern sogar Teil des Systems. Das gibt ihnen Rückhalt und bringt vor allem Unterstützung aus konservativ-bürgerlichen Kreisen und auch von Teilen der Wirtschaft. Sie sind selbst konservativ-fromm und gelten als die politische Kraft der Mehrheit. Deswegen werden sie von den USA und auch von Europa als Ansprechpartner gesehen, wenn es um die politische Zukunft der Region geht. Im Gegenzug versprechen sie Stabilität und Rücksichtnahme auf die Interessen des Auslands. Finanziell werden sie von Katar und der Türkei unterstützt.

Die sehr frommen, korantreuen Gruppen der Salafisten sind Teil der islamistischen Bewegung, führen jedoch ihr Eigenleben. Deshalb werden sie hier getrennt genannt. Das liegt vor allem an ihrer bis 2011 sehr unpolitischen und damit diktatorenfreundlichen Haltung. Sie kümmerten sich vor allem um das religiöse und soziale Heil ihrer Anhänger und kamen den Regierenden nicht in die Quere. Später wurden sie zu Wechselkandidaten: Mal halten sie den islamistischen Parteien die Treue, mal laufen sie ins Lager der alt-neuen Regime über. Das hängt auch damit zusammen, dass sie vor allem aus Saudi-Arabien und Abu Dhabi großzügig finanziert werden.

Und dann sind da noch militante, ultraradikale islamistische Gruppen, wie der IS, Al-Qaida-Untergruppen und lokale militante Gruppen. Auch sie sind Akteure, die eine zunehmend wichtige Rolle spielen. Ihre Erfolgsgeschichte ist eng mit den Ereignissen der vergangenen fünf Jahre verknüpft.

In allen Ländern spielt auch das alte Regime weiterhin eine große Rolle; entweder direkt, wie in Syrien, oder als Kraft aus dem Hintergrund, wie etwa in Tunesien oder auch Libyen. Diese alten Regime, obwohl teilweise untereinander verfeindet, ähneln sich in vielerlei Hinsicht: Durch die Bank handelt es sich um autoritäre Regierungen, die aus dem Militär hervorgegangen sind und sich in der Tradition des Putsches der Freien Offiziere in Ägypten unter Gamal Abdel Nasser 1952 sehen. Jahrzehntelang haben sie den Menschen erfolgreich eingeredet, dass arabische Länder starke Führer brauchen und nur diese die Region zu Ansehen, Einfluss und Würde führen können. Solche Regierungen zu stürzen ist ungemein schwer, denn ihre Macht wurzelt in einem ausgebauten System, beruht auf Seilschaften von Anhängern und Institutionen. Diese alt-neuen Regime, wie sie in der Folge genannt werden, um zu verdeutlichen, dass es sich um Übergangsformen handelt, können auf die Unterstützung durch Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) zählen. Europa und die USA sind dabei, sich politisch diesen Regimen wieder anzunähern. Eine Ausnahme bildet Syrien: Hier finanzieren Saudi-Arabien und die VAE die Opposition und setzen auf den Sturz Assads, vor allem, weil dieser vom Iran gefördert wird.

Fünf Jahre nach Beginn der Arabellion – so die ernüchternde Bilanz – stehen diese alt-neuen Regime als zeitweilige Sieger da. Sie haben einen demokratischen Neuanfang verhindert oder zumindest entsprechende Fortschritte weitgehend zurückgedreht. Ihr größter Erfolg ist, die beiden anderen Gruppen – junge Aktivisten und Islamisten – gegeneinander auszuspielen. Statt sich auf den Neuanfang, den Aufbau und die Reform der Institutionen, auf Parteigründungen und Verfassungsfragen zu konzentrieren, verstrickten sich die politischen Kräfte bald nach Beginn des Aufstands in Grabenkämpfe und ideologische Diskussionen untereinander. Islamisten und Nicht-Islamisten hassten sich bald so, dass sie den Konflikt mit ihrem eigentlichen Gegner, dem alt-neuen Regime, aus den Augen verloren.

Nicht zu unterschätzen ist dabei die Macht von Verschwörungstheorien: Extrem viele Menschen in der Region sind inzwischen davon überzeugt, dass es sich bei den Ereignissen der vergangenen fünf Jahre um eine große, fremdgesteuerte Intrige handelt. Washington habe die Arabellion angezettelt, um die Region ins Chaos zu stürzen und unter seine Kontrolle zu bringen. Auch das plötzliche Erstarken radikaler Terrorgruppen gehöre zu diesem Konzept. Derartige Vorstellungen sind so stark verbreitet, dass es in Ägypten inzwischen schwierig ist, Menschen zu finden, die nicht daran glauben. Welchen Einfluss haben die USA tatsächlich auf die Ereignisse in der Region? Welche Interessen verfolgen die europäischen Staaten?

Natürlich stellt sich – gerade im Hinblick auf die Situation in Syrien, Libyen und auch in Tunesien – die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Arabischen Frühling und dem Erstarken des Terrorismus in der Region. Viele sehen die Revolutionen als Ursache. Die Aufstände hätten die Radikalen entfesselt. Stimmt das? Wie lässt sich der Terror bekämpfen? Diese Frage stellt sich umso dringender, weil ein neuer Anlauf in Richtung Demokratie in der Region erst möglich sein wird, wenn der Terror besiegt ist. Oder hängt womöglich beides zusammen?

In Europa wird 2015 viel darüber diskutiert, wie verhindert werden kann, dass immer mehr Menschen ihre Länder verlassen und nach Europa fliehen. Um die richtige Antwort auf diese Frage zu finden, gilt es, die Entwicklung der vergangenen Jahre genau zu betrachten: Wie konnte es dazu kommen, dass aus dem arabischen Traum ein Albtraum wurde? Wie könnte langfristig eine andere Entwicklung aussehen?

Auf dem Umschlag des Buches ist ein Graffiti zu sehen, das auf den Punkt bringt, wie die meisten Aktivisten der Revolution die Entwicklung der vergangenen Jahre sehen: Es macht keinen Unterschied, ob Hosni Mubarak oder Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi regiert. Sie sind zwei Seiten des gleichen Gesichts, und auch mit einem Präsidenten namens Amr Mussa oder Ahmed Schafik, die als Schatten neben dem Konterfei zu sehen sind, würde Ägypten bleiben, was es ist: ein Land voller junger Menschen, die auf Freiheit und Zukunftschancen warten. Das Graffiti, das der Aktivist Omar Fathy alias Omar Picasso an die Mauer am Tahrir-Platz gemalt hat, war ein Bild, das sich ständig veränderte, da es regelmäßig von der Stadtverwaltung überstrichen wurde. Immer und immer wieder hat er es neu gemalt und dabei zugleich aktualisiert.

Ich traf ihn eines Morgens, kurz vor der Präsidentschaftswahl 2012. Da stand er auf der Leiter, vor sich eine frisch getünchte Wand: »Vergangene Nacht hat die Stadtverwaltung wieder einmal alle Graffitis übermalt. Sie wollen unsere kritischen Kommentare nicht mehr sehen. Aber, weißt du was? Es wird ihnen nichts nützen. Ich gebe nicht auf!« – so der Mittezwanzigjährige. Stunden später schon war das vielgesichtige Sinnbild des alt-neuen Regimes wieder da. Inzwischen ist das Graffiti verschwunden. Es wird aber auch nicht mehr gebraucht: Heute braucht niemand mehr ein Wandbild, das davor warnt, dass das alte Regime an die Macht zurückdrängt: Mit Abdelfattach al-Sisi haben die Ägypter mit überwältigender Mehrheit 2014 genau diese Kräfte wieder gewählt. Was ist da nur schiefgelaufen?

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Nordafrika und arabische Halbinsel

Ägypten – Der Frühling am Nil

Es geht los!

Die Demonstrationen im Januar 2011, bei denen plötzlich Hunderttausende durch die Straßen Kairos und anderer großer Städte in Ägypten zogen und »Aisch, Hurria, Adala Igtimaia!« (Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit!) skandierten, überraschten viele; in Ägypten und im Ausland. Doch der Protest ist keineswegs aus dem Nichts entstanden. Die Revolution ist Ergebnis einer Entwicklung, die sich bereits Jahre zuvor angebahnt hat. Schlüssel zum Erfolg war, dass sich die Opposition zusammentat. Präsident Hosni Mubarak hatte es stets verstanden, seine Gegner in zwei Lager zu teilen, die sich gegenseitig mehr hassten als ihn und ihm daher nicht gefährlich wurden.

Ein Blick zurück: Ab 2005 kommt es in Ägypten vermehrt zu Protesten. Neben der bereits bestehenden islamistischen Opposition, die in der Muslimbruderschaft gut organisiert ist und die vor allem in armen Dörfern und den Armenvierteln der Städte durch Moscheen und Prediger eine gewachsene Basis hat, entsteht eine neue nichtislamistische Protestbewegung. Einige ihrer Führer stammen aus der alten linken Studentenbewegung, die meisten aber sind jung und undogmatisch: nicht gerade islamistisch, aber auch nicht ultrasäkular oder linksradikal. Ihr Protest richtet sich gegen die Korruption der Regierung und die zunehmende Einmischung machtgieriger Geschäftsleute aus der Clique rund um die Präsidentensöhne Gamal und Alaa Mubarak in die Politik. »Kifaya!« (Es reicht!) lauten der Schlachtruf und auch der Name dieser neuen Bewegung. 2008 kommt es vermehrt zu Arbeiterstreiks. Unter dem Einfluss von Gamal Mubarak und Co. hatte es eine Reihe von Privatisierungen gegeben. Dabei waren Staatsunternehmen an Investoren verkauft worden, von denen bereits im Vorfeld bekannt war, dass sie nicht den Fortbestand des Unternehmens, sondern dessen Zerschlagung im Sinn hatten. Zigtausende wurden arbeitslos.

Im März 2008 macht ein Aufruf auf Facebook die Runde: Einige junge Aktivisten rufen zum Generalstreik auf. Der 6. April solle der Tag des Aufstands werden, und in der Industriestadt Mahalla ginge es los. Gegen Mittag versammeln sich dort Tausende. Wie so oft ist zwar auch hier die Polizei mit ihren zivil gekleideten Hilfstruppen in der Überzahl, dennoch gelingt es den Demonstranten, das Bild des Präsidenten von einer Säule zu reißen. Mubaraks Konterfei wird mit Füßen getreten und schließlich angezündet. Das Foto dieses Ereignisses macht im Internet schnell die Runde und wird zum Symbol einer neuen Zeit: Der Sturz Mubaraks rückt in den Bereich des Vorstellbaren und die Bewegung des 6. April, zu deren Gründern Amal Scharaf, Amr Ali sowie Ahmed Maher und Mohammed Adel gehören, wird zu einer treibenden Kraft der Mobilisierung gegen die Regierung. Esraa Abdel Fattach, die ebenfalls an der Formulierung des Streikaufrufs beteiligt war, wird kurz darauf verhaftet, und ihr Hilferuf aus dem Gefängnis erschüttert das Land: Schließlich ist Esraa Abdel Fattach »Bint al-Nas« (Tochter von Leuten), das heißt, sie stammt aus einer guten Mittelstandsfamilie. Zudem trägt sie Kopftuch: allerdings eines, das ihren Haaransatz freilässt und sie klar als Nicht-Islamistin zu erkennen gibt. Dass eine wie sie verhaftet wird, empfinden viele ägyptische Bürger als unerhört und zugleich auch für sie selbst bedrohlich. Polizeigewalt und Willkür der Justiz werden so zu den neuen großen Themen.

Anfang 2009, während des Krieges in Gaza, formiert sich eine breite Protestbewegung. Da Anti-Israel-Proteste die einzigen Demonstrationen sind, die von der Regierung geduldet werden, versammeln sich hier alle, die politisch aktiv sein wollen. Als Israel mit dem Beschuss des Gazastreifens beginnt, bekommt die Protestbewegung Zulauf. Die Demonstrationen sind auch in anderer Hinsicht ein Einschnitt: Erstmals protestieren im größerem Stil Nicht-Islamisten und Muslimbrüder gemeinsam. Darin sehen viele einen wichtigen Schritt in Vorbereitung auf die Revolution 2011.

Richtig in Fahrt kommt die Opposition, als im Februar 2010 Mohammed al-Baradei nach Ägypten zurückkehrt. Bekannt für seine Arbeit als Generaldirektor der Internationalen Atomenergieorganisation, ausgezeichnet mit dem Friedensnobelpreis, ist er für viele Ägypter ein Symbol für den Erfolg ihres Landes auf der internationalen Bühne. Er wird zur Integrationsfigur der neuen nichtislamistischen Protestbewegung. Zudem trifft er sich mit den Vertretern der Muslimbruderschaft und sorgt für ein engeres Zusammengehen der beiden Lager.

Mohammed al-Baradei kommt besonders gut bei der sogenannten Generation Mubarak an, jenen also, die damals unter 30 Jahre sind und in ihrem Leben noch keinen anderen Präsidenten als Hosni Mubarak gesehen haben. In dessen Regierungszeit hat sich die Gesellschaft stark gewandelt, die Mittelschicht ist gewachsen, und zudem hat die wirtschaftliche und politische Öffnung Ägyptens sowie die Umorientierung des Bildungssystems hin zu Privatschulen für alle, die sich dies irgendwie leisten können, eine große Anzahl von Jugendlichen hervorgebracht, die gut ausgebildet auf ihre Chance im Leben warten.

1001 gläserne Decken:
Der Frust der ägyptischen Jugend

Die ägyptische Gesellschaft ist in Schichten gegliedert, und sie ist besonders undurchlässig. Man spricht von den großen Zehn. Gemeint sind einige sehr einflussreiche Familien, die in Wirtschaft und Politik den Ton angeben. Zum Teil handelt es sich um die Nachfahren der ehemaligen Großgrundbesitzer, die auch nach der teilweisen Enteignung durch Präsident Gamal Abdel Nasser ihre Macht erhalten konnten. Andere sind durch geschickte Geschäfte und die Nähe zum Regime wirtschaftlich und politisch zu Einfluss gekommen. Die großen Zehn bilden eine Schicht für sich, die für den Rest der Ägypter unerreichbar ist. Die ägyptische Gesellschaft wird oft als Pyramide beschrieben: Je weiter man nach unten geht, desto breiter werden die Etagen. Das bedeutet aber nicht, dass sie nach oben durchlässiger werden. Die Übergänge werden streng bewacht. Ein gutes Beispiel für eine solche Schicht sind die »Deutschen«, das sind die Familien, die seit Generationen ihre Kinder auf die Deutsche Evangelische Oberschule (DEO) schicken. Da sie zum Teil aus Berlin finanziert wird, ist sie im Vergleich zu anderen internationalen Schulen preisgünstig, und sie hat den Ruf, dass den Kindern hier eine solide deutsche und ägyptische Bildung vermittelt wird. Dass man DEO-Absolventen in vielen einflussreichen Positionen in der ägyptischen Gesellschaft findet, liegt aber vor allem an dem effektiven Netzwerk der »Deutschen«. Das erklärt auch, weshalb die Plätze an der Schule so umkämpft sind. Monatelang werden Vierjährige auf die Aufnahmeprüfung in den DEO-Kindergarten vorbereitet, der das Eintrittstor zur Schule darstellt. Sie üben dann in deutschsprachigen Krabbelstuben, beispielsweise Igel aus Papier auszuschneiden. Ganze Familien zittern mit, ob die Kleinen es schaffen, denn der soziale Status der Familie ist daran geknüpft. Die DEO ist zugleich eine Börse, über die Jobs und Ehepartner vermittelt werden. Beides wird in Ägypten eher über Beziehungen vergeben, als durch persönliche Leistungen erreicht.

»Wasta« (Beziehungen) ist das Schlüsselwort, nicht nur in dieser Szene, sondern auch in den unzähligen anderen sozialen Lagern, aus denen sich die Gesellschaft zusammensetzt. Dies geht sogar so weit, dass viele Absolventen von Universitäten nicht entsprechend ihrer Qualifikation, sondern je nach Beziehungsnetzwerk ihrer Familien Anstellungen bekommen. So landen Pharmazeuten in PR-Abteilungen und Archäologen in IT-Unternehmen. Viele andere arbeiten weit unter ihrer Qualifikation, weil ihnen die nötigen Beziehungen fehlen. Ingenieure servieren Tee, Sozialwissenschaftler arbeiten als Bügler, und wer gar nicht mehr weiterweiß, versucht, Ägypten in Richtung Europa zu verlassen, auf welchem Weg auch immer.

»Es ist eine unglaubliche gesellschaftliche Verschwendung«, so der Sozioökonom Galal Amin, Professor an der Amerikanischen Universität in Kairo. Nicht nur das: Die 1001 gläsernen Decken, die junge Menschen daran hindern, sozial aufzusteigen oder auch nur passende Jobs zu finden, führen zu extremem Frust. Schließlich gibt es viele arme ägyptische Familien, die noch an das Versprechen von Präsident Gamal Abdel Nasser glauben, dass Bildung der Schlüssel zu einem besseren Leben sei. Kleine Angestellte fahren nach Dienstschluss Taxi und arbeiten zusätzlich noch als Nachtwächter, damit ihre Kinder lernen und studieren können. Entsprechend enttäuschend ist es, wenn ihre Kinder nach dem Universitätsabschluss keinen Job finden. Pyramidenförmig aufgeschichtet war die Gesellschaft in Ägypten schon immer, der Unterschied ist, dass die Jugend heute mitbekommt, wie viel besser es Gleichaltrigen aus der Oberschicht geht; sie wissen auch, dass die Welt anderswo deutlich gerechter ist.

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Der ägyptische Professor für Wirtschaftswissenschaften Galal Amin in seinem Büro an der Amerikanischen Universität in Kairo, 2015.

Generation Mubarak

Mit der Rückkehr von Mohammed al-Baradei nach Ägypten findet die frustrierte Generation Mubarak einen Fürsprecher: »Wir sind mit der Gewissheit aufgewachsen, dass es keinen anderen Präsidenten außer Mubarak oder vielleicht noch Mubarak Junior geben könnte. Wieso sollten wir uns da für Politik interessieren? Wir waren bis dahin eine sehr unpolitische Generation. Al-Baradei sagte uns, dass Veränderung möglich ist, sogar bei uns«, erklärt Mahmud al-Hetta. Der IT-Fachmann beteiligt sich an vielen Protesten und stellt die Facebook-Seite »Mohammed al-Baradei for President 2011« ins Internet. Unter al-Baradeis Einfluss schließen sich mehrere Oppositionskräfte, unter ihnen auch die Kifaya-Bewegung, zur Gibha lil Taghier (Liga für Veränderung) zusammen. Sie sind gegen Polizeigewalt und Korruption. Vor allem aber bekämpfen sie die Bestrebungen, Gamal Mubarak zum Nachfolger seines Vaters zu küren. Sie sind gegen ihn, weil sie gegen die »Tauris« (Vererbung) einer Regierung sind und weil Gamal Mubarak nur seine Günstlinge bedient, was sogar in der alteingesessenen Wirtschaftselite viele Kritiker auf den Plan ruft.

Im Sommer 2010 geschieht noch etwas: In Alexandria wird der Blogger Khaled Said von der Polizei festgenommen und zu Tode geprügelt. Das Bild seines zerschundenen Körpers wird im Internet gepostet und gepostet und gepostet: Khaled Said ist überall. Oft steht daneben ein Foto von ihm vor seiner Verhaftung: Ein ganz normaler Anfangzwanzigjähriger mit freundlichem Blick und leicht verstrubbelten Haaren. Ein Junge von nebenan. »Kullina Khaled Said« (Wir sind alle Khaled Said) lautet der Titel einer Facebook-Seite, die im Handumdrehen Hunderttausende von Followern hat. »Wenn einer wie Khaled Said von der Polizei verhaftet, gefoltert und ermordet wird, dann ist keiner von uns mehr sicher«, sagt im Sommer 2010 ein befreundeter Journalist zu mir und bringt damit die Panik vieler junger Ägypter auf den Punkt.

Bis dahin hatten die Menschen das Gefühl, Entscheidungsfreiheit zu haben: Entweder sie engagieren sich politisch und gehen das Risiko ein, verfolgt zu werden, oder sie halten sich zurück und leben in Sicherheit. Der Tod von Khaled Said zerstört diese Gewissheit, und die Facebook-Kampagne schürt diese Angst weiter, indem sie über ständig neue Fälle von Polizeigewalt berichtet. Sie wird zur wichtigsten Plattform, über die im Januar 2011 zur Revolution mobilisiert wird.

Zuvor wird jedoch in Ägypten ein neues Parlament gewählt. Korruption und Wahlfälschung hat es auch früher gegeben, aber die Wahl 2010 übertrifft alles. Es beginnt mit der Aufstellung der Kandidaten. Die regierende Hisb al-Watani (Nationaldemokratische Partei, NDP) von Hosni Mubarak lässt ihre Mitglieder zusätzlich noch als Unabhängige kandidieren. Die Wähler haben also die Wahl zwischen NDP und NDP.

Anders als 2005 bekommt die Muslimbruderschaft diesmal keine Chance. Damals hatten sie immerhin 87 der 454 Parlamentssitze gewonnen. Die 1928 von Hassan al-Banna gegründete Organisation, die sich zugleich als soziale Bewegung und als politische Kraft versteht, ist mit geschätzten fünf Millionen Anhängern Ägyptens stärkste Oppositionskraft. Offiziell ist sie zwar verboten, aber die Regierung gewährt ihr einen gewissen Spielraum. So dürfen Muslimbrüder als Unabhängige zu den Wahlen antreten und über Moscheen, Schulen und Krankenhäuser für sich werben. Im Parlament können sie wenig konkrete Vorhaben durchbringen, prägen aber das politische Klima mit. Die Regierung bemüht sich derweil um ein »islamischeres« Image, um den Muslimbrüdern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Demonstrative Frömmigkeit ist im Lager der regierungstreuen Mubarak-Anhänger in dieser Zeit angesagt.

Populismus und der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg des Präsidentensohns Gamal Mubarak zeichnen die Parlamentswahl 2010 aus. Wahlkampf und der erste Wahlgang sind geprägt von Gewalt und Repression gegen die Kandidaten der Opposition. »Ich bin gerade wieder herausgekommen. Vier Tage war ich im Gefängnis. Gott sei Dank«, erzählt Ahmed Akil. Der Endzwanzigjährige in Lederjacke und Jeans ist Apotheker und seit seiner Kindheit in der Muslimbruderschaft aktiv. Jetzt im Wahlkampf hilft er Amr Zaki, Bauingenieur und Kandidat der Bruderschaft im Bezirk Hadiak al-Kubba. Mit ihm bin ich verabredet, doch er lässt noch auf sich warten. Ahmed Akil serviert derweil Tee im modern eingerichteten Büro. Er erzählt erst vom Wahlkampf und dann von sich. Es ist das erste von vielen Gesprächen mit ihm. Ahmed Akil ist einer meiner Gesprächspartner, die ich in den letzten Jahren immer wieder getroffen habe und deren Geschichten sich durch dieses Buch ziehen.

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Der Ägypter Ahmed Akil, Wahlkampfhelfer von Amr Zaki in Kairo im November 2010.

Ahmed Akil hält es für sehr unwahrscheinlich, dass sein Kandidat gewählt wird. Der Wahlkampf sei aber dennoch wichtig: »Das ist unsere einzige Chance, den Menschen öffentlich unsere politischen Positionen zu erklären«, sagt er. Die Jugend der Muslimbruderschaft versucht, in dieser Zeit die Führung davon zu überzeugen, dass es Zeit wird, der Regierung mit großen Demonstrationen einzuheizen. Ahmed Akil hat viele Freunde unter den Aktivisten der Bewegung des 6. April und den Al-Baradei-Anhängern, ihr Mut ist ansteckend. Von den Diskussionen unter jungen Muslimbrüdern erzählt er allerdings noch nicht bei unserem ersten Treffen, sondern erst später. Schließlich ist Kritik innerhalb der Bruderschaft tabu und darf erst recht nicht nach außen getragen werden.

Nach vielen Gläsern Tee kommt schließlich der Kandidat Amr Zaki. Das Interview mit ihm verläuft wie viele solcher Gespräche: Er berichtet, wie sehr die Bruderschaft unterdrückt wird und wie die Regierung Menschenrechte und demokratische Prinzipien missachtet. Was genau eigentlich Ziel und Programm der Muslimbruderschaft ist, diese Frage beantwortet er nicht. Das ist typisch. Nachträglich müssen sich viele Journalisten und Wissenschaftler fragen lassen, warum sie die Muslimbruderschaft vor 2011 falsch eingeschätzt haben. Hätten wir nicht sehen müssen, wie machthungrig und kompromisslos die Brüder sind und dass sie Gewalt als politisches Mittel durchaus bereit sind einzusetzen? »Wir haben natürlich gewusst, welche Wurzeln die Bruderschaft hat, dass es seit ihrer Gründung 1928 auch immer einen Strang in ihrem Diskurs gegeben hat, der sehr an den europäischen Faschismus erinnert. Wir haben aber wohl angenommen, dass er keine Rolle mehr spielte. Ich habe meinen Gesprächspartnern geglaubt, dass sie es ernst meinen mit der Demokratie!«, so Eissam Fawzi, der seit Jahrzehnten zum politischen Islam in Ägypten forscht. Ich selbst habe mir später noch einmal die Interviews aus dieser Zeit angehört und muss zugeben: Zwar habe ich die Frage nach Gewalt und Demokratie immer gestellt. Ich habe mich dann aber mit ausweichenden Antworten zufriedengegeben. Allzu oft antworteten die Interviewten mit einer Gegenfrage. Das ist typisch für die Rhetorik der Muslimbrüder. »Sie wollen wissen, wie unsere Haltung zu Frauenrechten ist? Schauen Sie doch einmal, wie aktiv unsere Schwestern sind. Wo wir gerade dabei sind: Wie viele Frauen sitzen denn eigentlich in deutschen Firmen im Aufsichtsrat?«, so Amr Zaki.

Die Zweifel kamen jedoch erst später: Im Wahlkampf 2010 gewinnt Amr Zaki meine Sympathie, und auch viele nichtislamistische Oppositionelle, die eigentlich mit der Muslimbruderschaft nichts zu tun haben wollen, zollen ihnen Respekt. Nicht wegen ihrer politischen Haltung, sondern weil sie das Beste aus ihrer aussichtslosen Lage machen. »Wir müssen die Grenzen der Freiheit ausreizen. Langsam mehr Freiraum dem Regime abtrotzen«, sagt Amr Zaki.

Der Wahltag selbst wird dann sehr blutig. Mehr als jemals zuvor kommt die sogenannte Baltagia zum Einsatz. Das sind Schlägertrupps, die von privaten Geschäftsleuten, Politikern oder auch vom Innenministerium unterhalten und eingesetzt werden, um den politischen Gegner einzuschüchtern und die eigenen Interessen durchzusetzen. Ich erinnere mich deutlich an den Gesichtsausdruck der stämmigen Frau, die mir in der Schlange vor einem Wahllokal gegenübertritt. Dumpf, verschlossen, bereit zuzuschlagen. Amr Zaki wird nicht gewählt, natürlich nicht. Im ersten Wahlgang gewinnt die Opposition keinen einzigen Parlamentssitz. Der zweite Wahlgang wird von der Muslimbruderschaft ebenso wie von den meisten anderen Oppositionsparteien boykottiert. Die Parlamentswahl nimmt vielen Ägyptern den Rest des Vertrauens zum System. Im Nachhinein wird sie von vielen als der Tropfen gesehen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Amr Zaki treffe ich erst zwei Monate später wieder. Am 25. Januar 2011 gegen 14 Uhr.

Das Wunder des 25. Januar 2011

An diesem Tag bin ich gegen Mittag zum Tahrir-Platz gefahren, um zu schauen, was aus den angekündigten Protesten wird. Als ich an den großen Platz in der Innenstadt komme, wimmelt es dort von Polizisten, von Demonstranten ist nichts zu sehen. Ich will gerade wieder gehen, da sind aus der Ferne Sprechchöre zu hören. Hunderte, Tausende kommen da anmarschiert. Und das Erstaunlichste ist: Die Polizei lässt sie passieren. Kurz bevor der Protestzug den Zugang zum Tahrir-Platz erreicht, riegelt die Polizei die Straße ab. Wasserwerfer, Schlagstöcke einsatzbereit. Doch die Demonstranten laufen einfach weiter, und da passiert das Unglaubliche: Die Polizei öffnet ihre Reihe und lässt sie passieren. Kurz darauf erreichen Demonstrationszüge auch aus anderen Himmelsrichtungen den Tahrir-Platz. »Es war ein unglaubliches Gefühl, in der Menschenmenge auf den Platz zu strömen. Wir haben ja niemals damit gerechnet, dass wir es schaffen würden«, erinnert sich die Aktivistin Amal Scharaf. Am Rande dieser Demonstration treffe ich auf Amr Zaki. Zwei Monate nur liegen zwischen den Begegnungen, doch was für ein Unterschied! Statt Anzug und Krawatte trägt Amr Zaki nun kariertes Hemd und Jeans. Er ist bereits im Revolutionsmodus. Eigentlich sollte er gar nicht hier sein, denn die Führung der Muslimbruderschaft hat ihren Mitgliedern davon abgeraten, sich an den Demonstrationen zu beteiligen. Doch Amr Zaki ist trotzdem gekommen. Die Linien sind zu diesem Zeitpunkt nicht so eindeutig, wie sie im Nachhinein erscheinen. Wer wann wo mitdemonstriert hat, wird später zu einer heiß umstrittenen politischen Frage.

Zwischen den beiden Begegnungen liegen zwei Monate, in denen sich die politische Entwicklung extrem beschleunigt hat. Die Parlamentswahlen gelten als Wendepunkt. Viele Ägypter wenden sich von der Regierung ab. Auch weil es ihr immer noch nicht gelingt, Klarheit in die Nachfolgefrage zu bringen. Beim Parteikongress Ende Dezember kündigt Mubarak an, dass er 2011 bei den Präsidentschaftswahlen wieder antreten will.

In Tunesien erreichen die Demonstrationen gegen Zine Abdine Ben Ali zeitgleich ein solches Ausmaß, dass sie auch in Ägypten wahrgenommen werden. Von den Anfängen des Aufstands in Tunesien haben in Ägypten nur wenige mitbekommen, zu sehr ist man am Nil mit sich selbst beschäftigt. Als jedoch zwei Wochen nach der Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohammed Buazizi der TV-Sender al-Dschasira kaum mehr ein anderes Thema kennt, werden die Ägypter neugierig.

Das Jahr 2011 beginnt dann mit einem fürchterlichen Knall. In der Kirche der zwei Heiligen in Alexandria sterben 24 Menschen, als nach der Neujahrsmesse eine Autobombe gezündet wird. Aus Solidarität mit den Opfern kommt es in Alexandria, Kairo und auch einigen Provinzstädten zu Mahnwachen und Menschenketten.

Gewalt gegen Christen ist in Ägypten nichts Neues. Doch der Anschlag von Alexandria ist gewaltiger und brutaler als alle bisherigen. Der Zorn richtet sich gegen die Täter, die man im Lager der Islamisten vermutet, und auch gegen die Regierung: Warum hat die Polizei den Anschlag nicht verhindert? Warum überhaupt werden in Ägypten Kirchen so schlecht geschützt?

Zorn und Empörung mischen sich mit Verwunderung und plötzlich aufkommendem Übermut, als am 14. Januar 2011 Zine Abdine Bin Ali gestürzt wird. Wenn die Tunesier das können, warum nicht auch die Ägypter? Kurz darauf tauchen im Internet Aufrufe auf: Die Facebook-Seiten »Wir sind alle Khaled Said« und »Revolution am 25. Januar« werden zu den am meisten angeklickten Seiten Ägyptens.

Von der Führung der Muslimbruderschaft ist in diesen Tagen wenig zu hören. Während Ahmed Akil und viele andere junge Muslimbrüder mit Aktivisten anderer Richtungen Pläne schmieden, warten die Führer ab. Sie haben offenbar Angst vor Verfolgung. Über die Jahrzehnte ist die Bruderschaft zu einem Einverständnis mit der Regierung gekommen: Die Bruderschaft mobilisiert nicht zu Massenprotesten. Dafür beschränkt die Regierung die Repression auf ein paar Tage Haft hier und ein paar Schlägertruppen da. Die Bruderschaft ist zu einem Teil des Establishments geworden, hat also etwas zu verlieren, und zudem trauen sie den Revolutionären nicht. Sie sind ihnen zu unberechenbar.

»Wir hatten in den Monaten zuvor viele Übungsdemonstrationen gemacht«, erzählte Mohammed Adel, einer der Gründer der Bewegung des 6. April: »Wir gingen in arme Stadtteile, mobilisierten die Menschen zu einem bestimmten Thema, zum Beispiel zu Brotpreisen. Wir rollten vorbereitete Transparente aus, und schnell schlossen sich viele Menschen an. Bevor die Polizei eintreffen konnte, waren wir schon wieder fertig.« Mit einer ähnlichen Strategie gehen die Aktivisten dann am 25. Januar vor. Es formieren sich viele kleine Protestzüge, die dann auf größeren Straßen zusammengeführt werden. Aus fünf verschiedenen Richtungen erreichen die Demonstranten den Tahrir-Platz, und am Abend kommt dort zum ersten Mal Tahrir-Stimmung auf: Es wird Musik gespielt, die ersten Zelte werden aufgestellt. Erst gegen Mitternacht räumt die Polizei den Platz.

Am 28. Januar geht es weiter: Schon am Morgen zeichnet sich ab, dass dies kein normaler Tag werden wird. Internet und Handy-Netz funktionieren nicht. In Kairo und Alexandria sind Panzer aufgefahren. Die Regierung legt das Land lahm, doch das kann die Proteste nicht verhindern, im Gegenteil. »Bis dahin hatte ich die Revolution nur auf Facebook und Twitter verfolgt. Als das nun nicht mehr ging, blieb mir nichts anderes übrig, als auf die Straße zu gehen und nachzuschauen«, so Dalia Mussa, eine junge Lehrerin.

An diesem Tag entsteht ein Foto, das für viele zu einem Sinnbild des Aufstands wird. Auf einer Nilbrücke fährt ein gepanzertes Polizeifahrzeug in die Menschenmenge, doch statt wegzurennen stellt sich ein Demonstrant mit ausgebreiteten Armen in den Weg: »Die Mauer der Angst ist zerbrochen.« Das ist ein Satz, den man in diesen Tagen oft hört. Gegen Nachmittag zeigt al-Dschasira ein Bild, das sich ebenso ins Gedächtnis einbrennen wird: Die Parteizentrale der Nationaldemokratischen Partei geht in Flammen auf. Das Symbol der korrupten Regierung.

Der taktische Rückzug der Polizei

Ungefähr zeitgleich erlässt das Innenministerium einen Befehl, der die weiteren Ereignisse entscheidend beeinflusst. Gegen 18 Uhr zieht sich die Polizei von den Straßen zurück. Zugleich heißt es, die Gefängnisse seien geöffnet worden und die Kriminellen nun auf freiem Fuß. Es ist der Moment, so scheint es zumindest, in dem die Sicherheitskräfte des alten Regimes kapitulieren. Im Nachhinein stellt es sich allerdings als der Moment heraus, in dem das alte Regime den Grundstein für sein späteres Comeback legt.

Bis 2011 gab es kaum Kriminalität am Nil; umso schwerer trifft die Menschen nun, dass die Regierung sie einfach im Stich lässt. »Ich oder Chaos«, hatte Präsident Mubarak stets gedroht, und jetzt macht er ernst. Zunächst sind viele empört, fühlten sich von der Polizei verraten. Bereits wenige Monate später sind jedoch viele von der Angst vor Kriminalität und Chaos so zermürbt, dass sie den Polizisten viel nachsehen; wenn sie nur bereit sind, auf ihre Posten zurückzukehren. Bei der Öffnung der Gefängnisse kommen neben Tausenden von Kriminellen auch führende Muslimbrüder frei. Einer von ihnen, Essam al-Erian, erzählt später in einem Telefoninterview, wie plötzlich seine Zellentür im Gefängnis von Wadi Natrun aufgesperrt wurde: »Da standen einige Angehörige der kriminellen Gefangenen, sie machten alle Türen auf. Sie haben uns gar nicht erkannt«, erzählte er. Schon kurz darauf sitzt er in einem Minibus Richtung Kairo. Unter den Entkommenen ist auch Mohammed Mursi, der 18 Monate später zum Präsidenten gewählt wird.

Schon bald darauf läuft die neu-alte Propagandamaschine an. Mubarak-nahe TV-Moderatoren beschreiben den Gefängnisausbruch als Teil einer internationalen Verschwörung. Palästinensische Hamas- und libanesische Hisbollah-Kämpfer seien nach Ägypten eingedrungen. Sie hätten die Muslimbrüder aus dem Gefängnis befreit, um so den Weg zu einer schnellen Machtübernahme durch die Islamisten zu ebnen. Diese Darstellung der Ereignisse klingt zunächst absurd, doch sie wird so oft wiederholt, dass die Menschen sie schließlich glauben. Ende 2013 wird der Gefängnisausbruch von Mohammed Mursi und Co. dann Gegenstand eines Strafprozesses, und im Mai 2015 verurteilt der Richter ihn und weitere 105 Angeklagte wegen Landesverrates und der Verschwörung gegen Ägypten zum Tode. Der Richterspruch dient dazu, die Polizei zu entlasten: Angesichts des Coups durch ausländische bewaffnete Terrororganisationen sei den Beamten keine Wahl geblieben. Sie mussten sich zurückziehen.

Kurz nach dem Rückzug der Polizei fahren auf dem Tahrir-Platz und auch in den anderen ägyptischen Städten Panzer auf. Die Armee wird mit großem Jubel von den Demonstranten begrüßt. »Wir haben ja alle Brüder, Väter und Onkel in der Armee. Unvorstellbar also, dass sie auf uns schießen würden, und wir hatten auch Informationen, dass sie im Grunde auf unserer Seite waren«, so Walid Raschid, einer der Organisatoren des Aufstands. Im Gegensatz zur Polizei, die als brutal und korrupt gilt, hat die Armee einen guten Ruf.