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Werner J. Egli,

wurde 1943 in Luzern, Schweiz, geboren und lebt heute als freier Schriftsteller in Tucson, USA; in Freudenstadt (D) und in Egg bei Zürich. Seine erfolgreichen und in viele Sprachen übersetzten Jugendbücher wurden unter anderem mit dem Friedrich-Gerstäcker-Preis, mit dem Preis der Leseratten (ZDF) und mit dem Jugendbuchpreis der Ausländerbeauftragten des Senats Berlin ausgezeichnet. 2002 wurde er für den Hans-Christian-Andersen-Preis nominiert, die international höchste Auszeichnung für Jugendliteratur.

Unter www.egli-online.com ist der Autor auch im Internet zu finden.

 

Von Werner J. Egli bei ARAVAIPA:

Der letzte Kampf des Tigers

Black Shark

Aus den Augen, voll im Sinn

Andere:

Heul doch den Mond an
Martin und Lara
Tage im Leben eines Feiglings

WERNER J. EGLI

Aus den Augen,
voll im Sinn

Roman

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AutorenEdition Egli

 

ISBN 978-3-03864-203-9

Alle Urheberrechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung,
Verbreitung und öffentlichen Wiedergabe in jeder Form,
einschließlich einer Verwertung in elektronischen Medien,
der reprografischen Vervielfältigung, einer digitalen Verbreitung
und der Aufnahme in Datenbanken, ausdrücklich vorbehalten.

Lektorat: Horst Eibl (A)

Umschlaggestaltung: Agentur flin, unter Verwendung
einer Illustration von Bert Silberstein (A)

Copyright © 2015 by ARAVAIPA–Verlag,

Egg bei Zürich, Freudenstadt, Tucson

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ARAVAIPA im Internet: www.aravaipa.ch

Zu diesem Buch gibt es Unterrichtsmaterial
als Download auf www.aravaipa.ch

Damals war alles anders. Wenn ich heute unseren Kindern erzähle, wie verliebt wir ineinander waren, Philipp und ich, und wie es dazu kam, dass wir uns beinahe verloren, weil ich mich in Steve verliebte und er sich in Sally vergaffte, und wie das alles passiert sein konnte in einer Zeit ohne Internet und Smart Phone, denken sie wohl beide, dass wir voll bescheuert gewesen sein mussten.

Wir schrieben uns noch Briefe von Hand. Die Telefongebühren waren so hoch, dass wir einander kaum je anriefen. Selbst in den USA, wohin uns unsere Eltern sozusagen verbannt hatten, gab es noch Menschen, die keinen PC oder MAC hatten.

Damals war vielleicht nichts besser, aber echter, Liebe, Sex, Freundschaft und alles. Nichts auf Knopfdruck. Wir erlebten eine Realität, die heute der finsteren Vergangenheit angehört.

Unsere Geschichte ist deshalb uralt und trotzdem ganz neu. Gerade deswegen wollen Philipp und ich sie genau so erzählen, wie wir sie erfahren haben. Damit jeder sogleich merkt, dass unsere Welt noch vor nicht allzu langer Zeit eine ganz andere gewesen ist.

Fast sechzehn Jahre alt war ich.

Mit allen möglichen Tricks hatten sie schon versucht, Philipp und mich auseinander zu bringen. Lange hatte das nicht geklappt, obwohl sie es wirklich mit allen Mitteln versuchten. Zum Beispiel im vergangenen Urlaub, in Rimini. Da hatte der Trick einen Namen. Nando. Heute weiß ich gar nicht mehr, wer den entdeckt hatte. Wahrscheinlich meine Mutter. Die hat ein Auge für exotische Typen. Glutaugen und Schlabberlippen. Dunkle Haut und Härchen auf der Brust. Und mein Vater hatte natürlich mitgemacht. Keine Ahnung, was sie sich dabei dachten, als sie ihn für mich aufgabelten. Dass ich weich werden würde. Und dann? Mit geschmolzenem Herz aus dem Urlaub zurückkehren und womöglich nicht mehr als Jungfrau? Dass sie das in Kauf nahmen, will ich ihnen nicht nachsagen. Aber es hätte leicht ins Auge gehen können, weil Nando natürlich vom ersten Moment an nichts anderes mehr in seiner Birne hatte, als mit mir zu schlafen. Amore machen. So ein Schmachtfetzen. Wenn ich mal Amore machen würde – das stand für mich seit langem fest –, dann mit Philipp, und zwar in der Hochzeitsnacht. Der wichtigste Tag meines Lebens, so dachte ich damals, wird der Tag meiner Hochzeit sein. Dann sollte für mich das Leben erst anfangen. Was vorher war, betrachtete ich nur als eine Art Vorspiel. Mir war egal, ob das als altmodisch galt oder sogar als lächerlich, ich glaubte, eine Hochzeit ohne echte Hochzeitsnacht sei nur eine halbe Sache. Und ich war nie für halbe Sachen. Entweder alles, und zwar richtig, oder eben gar nichts.

Das sagte ich auch Nando, als er mich mit seinen Schlabberlippen hingebungsvoll küsste und anschließend von mir verlangte, ich solle ihm mein Herz schenken. Was er wollte, war natürlich was ganz anderes, sonst hätte er mit seiner linken Hand nicht versucht, von unten her an mein Herz heranzukommen, während er mir mit der rechten am Verschluss meines BHs herumfummelte. Ich knallte ihm eine. Nicht sofort, weil ich zuerst sichergehen wollte, dass ich es nicht bloß mit einem Anfänger zu tun hatte, der keine Ahnung von der Anatomie eines Mädchens hatte. Aber als ich merkte, dass er wirklich nur seinem Trieb folgte und keinen Respekt vor mir hatte, sagte ich: »Scusi, ich will nicht, dass du das tust.« Da er nicht aufhörte, knallte ich ihm eine. Einfach so. Das machte ihm einen Moment lang zu schaffen. War ihm wahrscheinlich noch nie passiert. Nicht bei einem Mädchen aus dem hohen Norden, das nur nach Rimini kam, um sein Herz zu verschenken. Hatte wohl zu viele deutsche und italienische Schnulzenschlager gehört, von Liebe und Meer und Sonnenschein und so. Hatte wahrscheinlich echt keine Ahnung von nichts, dieses südländische Wunderwerk der Natur.

»Ninabambina, lass es geschehen«, stöhnte er mir in wundervoll gebrochenem Deutsch in das Ohr, an dem er eben noch herumgeknabbert hatte. »Du wirst es nicht bereuen, das verspreche ich dir. Ich bin voller Liebe für dich, kleine Nina.«

Ach, wie schön. Hatte mir Philipp noch nie gesagt. Ich bin voller Liebe für dich, kleine Nina. Konnte er auch nicht, weil ich nämlich fast fünf Zentimeter größer war als er. Außerdem war er kein Quatschkopf, schon gar nicht, wenn es um unsere Liebe ging.

Auf jeden Fall waren meine um mich besorgten Eltern ziemlich enttäuscht, als ich ihnen beim späten Frühstück auf der Hotelterrasse sagte, dass ich Nando den Laufpass gegeben hatte. Völlig perplex verzichtete mein Vater sogar darauf, seinen Vitaminsaft zu trinken, latschte zum Strand hinunter und ließ sich im warmen Sand eingraben, weil das gut gegen Gicht und andere altersbedingte Gelenkschmerzen sein soll. Mein Herz blutete ein wenig für ihn, und fast wollte ich ihm hinterherlaufen und mich bei ihm entschuldigen, aber dann fiel mir der weise Spruch ein, dass man selbst im Alter nie ausgelernt hat. Ich strich mir ein Brötchen, schmierte Granatapfelmarmelade darauf und genoss die Aussicht aufs Meer und auf die vielen Menschen, die alle hier waren, um sich gemeinsam von den Strapazen gemeinsamer Alltage zu erholen.

Meine Mutter seufzte. Ich kannte dieses Geseufze. Nach meiner Mutter war wahrscheinlich die berühmte Brücke in Venedig benannt worden.

»Was gibt’s da zu seufzen?«, fragte ich scheinheilig.

»Nando«, sagte sie nur. Aber wie sie es sagte. Voller Sehnsucht und Schmalz. Hoppla, dachte ich, da sieht man mal wieder, dass ein Mensch ohne Träume einsam und verloren ist. Ich meine, von wegen der Liebe. Mein Vater und meine Mutter waren immerhin schon seit einer Ewigkeit beisammen. Tagein und tagaus. Und meistens auch die ganzen Nächte hindurch im gleichen Zimmer und Bett. Da kommen einem solche Nandos manchmal bestimmt gerade recht. Damit das Träumen nicht aufhört.

»Er wollte mit mir bumsen«, sagte ich und biss genüsslich ein Stück vom Brot. Dick mit Butter drauf und klebrig süßer Marmelade.

»Nina! Das sagt man nicht! In deinem Alter …«

In meinem Alter. Fünfzehn war ich damals und vielleicht etwas altmodisch, weil ich derart totalissimo in Philipp verknallt war, dass mich meine besten Freundinnen bemitleideten und hintenherum über mich redeten, als wäre ich reif für die Klapsmühle. Das konnte ich ihnen nicht mal übel nehmen. Immerhin lebten wir in einer hochmodernen Welt am Ende eines Jahrhunderts. Wer sich da aufheben wollte für die Hochzeitsnacht mit dem einen und Einzigen, der konnte doch wohl nicht alle Tassen im Schrank haben, oder? Aber es gab in meinem Leben eben keinen, der mir wichtiger war als Philipp. Ich liebte ihn und er liebte mich. So einfach war das damals.

Und von wegen Enthaltsamkeit. Es gab eben keinen anderen, mit dem ich einmal schlafen wollte. Keinen, von dem ich mir Ohrknabbern gefallen lassen wollte. Keinen, mit dem ich besser reden konnte, der mir zuhörte, mich verstand, mich trösten konnte, mit mir lachen und weinen, ins Kino gehen, auf einer Parkbank sitzen und träumen, mit dem ich stundenlang schmusen konnte, richtig schmusen, an den ich mich anschmiegen und von dem ich mir manchmal die Brüste oder den Bauch küssen lassen wollte.

Das ist nicht »altmodisch«. Ich bin absolut davon überzeugt, dass Liebe heute noch genauso wie vorgestern eine ganz besondere Sache ist und nichts mit »Mode« zu tun hat, sondern mit Respekt und mit Achtung. Übrigens, mir ist egal, was einer denkt, wenn ich das sage, und ob das uncool ist oder langweilig oder sonst was. Auch heute noch. Und inzwischen, da ich dies schreibe, ist immerhin jede Menge geschehen. Ich wollte damals eben nicht mit Philipp schlafen. Und er nicht mit mir. Wir wollten das für die Hochzeitsnacht aufheben. Aus. Es war nämlich längst geplant, mit achtzehn zu heiraten und danach jede Nacht miteinander zu verbringen, schlafend und schmusend und bumsend, wann immer wir Lust dazu hatten. Und wahrscheinlich, so stellte ich es mir vor, hatten wir dann andauernd Lust, tausend Jahre lang und mehr.

Da ließ ich mir keinen in die Quere kommen. Einen wie Nando schon gar nicht. Der passte ohnehin besser in die Träume meiner Mutter als zu mir.

»Was hat er dir gesagt?«, fragte meine Mutter. Sie wollte alles genau wissen.

»Ninabambina, schenke mir dein Herz.«

»Ach …«

»Ja. Und dann langte er mir mit seiner Hand unter den Rock.«

»Das hat er getan?« Meine Mutter war entrüstet. Sie schüttelte den Kopf, suchte mit ihren Blicken nach dem Sandhügel, unter dem mein Vater lag, dachte vielleicht ein bisschen wehmütig an vergangene Zeiten und war doch froh, dass auf mich als Tochter immerhin Verlass war.

Sie legte ihre Hand auf meine Hand und drückte sie.

»Nina, ich bin so froh, dass du es nicht getan hast.«

»Und warum habt ihr ihn dann angeschleppt, Vater und du?«

»Weil es schien, als wäre er ein netter, anständiger Junge, und keiner von diesen primitiven Typen, die jedes ausländische Mädchen anbaggern und …«

»Mutter, wach auf!«

Sie seufzte. »Es stimmt, Nina, mir hätte er gefallen …«

»Dann geht doch mal solo in den Urlaub. Vater nach Bad Wörishofen und du nach Rimini.«

»Nach Bad Wörishofen?«

»Fangopackungen.«

Sie lachte, und wir lachten beide, bis wir fast von den Stühlen fielen, und von den anderen Tischen trafen uns Blicke wie Pfeile, weil die Leute sich hier erholen wollten und zwei lachende Weiber die Frühstücksruhe störten. Als wir ausgelacht hatten, spähte ich zum Strand hinaus. Beim Kopf meines Vaters kauerte ein Gelativerkäufer, er steckte ein kleines Plastikgestell in den Sand und hängte ein Mangoeis in einer Waffeltüte daran, sodass mein Vater, ohne seine eingegrabenen Hände zu gebrauchen, vom Eis schlotzen und auch an der Waffel knabbern konnte. Der Mann nahm die Lire aus dem umgedrehten Hut meines Vaters und watschelte auf seinen muskulösen Gelativerkäuferbeinchen durch den von Millionen Füßen durchgeackerten Sand davon. »Gelati«, rief er mit seiner heiseren Gelativerkäuferstimme. »Gelati!« Ich konnte ihn zwar von hier aus nicht hören, aber ich hörte ihn trotzdem.

Und während meine Mutter an Nando dachte, dachte ich an Philipp. Er war in jenem Sommer mit seinen Eltern auf den Malediven im Urlaub. Club Med oder so was. Wahrscheinlich brachte ihm einer der Animateure gerade bei, wie man Feuer schluckt, ohne sich die Mandeln zu verbrennen. Er hatte seine nämlich noch. Im Gegensatz zu mir. Mir hatte man sie schon mit sechs herausoperiert. Aber sein Vater war Arzt, und der behauptete, dass es für später schädlich sein konnte, die Mandeln herauszuoperieren.

Nach diesen Ferien war zum Glück alles wieder so wie vorher. Ich hatte Rimini überlebt und er die Malediven. Später, im Herbst, als draußen die Novemberstürme durch die Stadt brausten und die Kastanienbäume kahl fegten, erzählte er mir ausgerechnet an seinem Geburtstag alles, was er da auf den Malediven ohne mich erlebt hatte.

Sein Geburtstag brachte Philipp immer dazu, in den Rückspiegel zu sehen. Rein symbolisch gemeint, natürlich. Dabei dachte er von sich, dass er nicht über seine Gefühle reden konnte. Aber manchmal tat er es doch, allerdings nicht so duselig, wie das andere tun. Außerdem merkte ich sowieso immer, wenn ihn irgendetwas ganz besonders bewegte.

Überhaupt wusste ich so ziemlich alles über Philipp. Und er wusste alles über mich. Weil wir nämlich seit einer Ewigkeit zusammengehörten. Und das war das Einzige, was die anderen über uns wussten. Unsere Freunde. Und die Lehrerinnen und Lehrer. Unsere Eltern. Und alle anderen in unserer Stadt. Sie wussten, dass wir seit einer Ewigkeit zusammen waren, aber alle dachten, dass es, je länger es dauerte, nur noch eine Frage der Zeit sein würde, bis wir uns den Rücken zudrehten und getrennte Wege gingen.

So was kann ja unmöglich gut gehen, dachten alle. Sozusagen vom Kindergarten an befreundet. Immer beisammen. Unzertrennlich.

Da braucht man kein Einstein zu sein, um zu ahnen, dass das nicht gut gehen kann. Nicht auf die Dauer. Nicht bei all den Leuten, die uns in unser Leben hineinpfuschen wollten.

So kam es für mich nicht überraschend, als mir irgendwann nach den Sommerferien und noch vor Philipps Geburtstag eine Broschüre auffiel, die jemand wie unabsichtlich im Flur auf das Garderobenschränkchen gelegt hatte, haargenau dort, wo ich normalerweise den Fahrradschlüssel hinlegte.

Zuerst fiel mir nur das coole Cover auf: zwei cool aussehende Mädchen, die auf irgendeinem Flughafen mit einem cool aussehenden Jungen quatschen. Und dann die Überschrift in coolen Lettern: High School – Ein Schuljahr in den USA.

Wenn das kein Wink mit dem Zaunpfahl war. Ich spürte die Gefahr instinktiv. Der Köder lag da. Ich brauchte nur noch in die Falle zu tapsen. Aber so dumm war ich nicht. Ich ließ das Ding tagelang liegen, und erst als meine Eltern einmal außer Haus waren, nahm ich es in die Hand und blätterte darin herum. Echt cool, das Ding. Ich kriegte richtig Lust auf die USA. Ein Austauschjahr in New York. Rockefeller Center. Freiheitsstatue. Einkaufen bei Macy’s. Musicals wie Les Miserables. Und vor allem Greenwich Village, wo zukünftige Schriftsteller in kleinen Buden hausen und in den Kneipen herumhocken und Pfeife rauchen wie ihre großen Vorbilder, die einmal hier das Gleiche getan hatten, bevor sie mit ihren Büchern berühmt wurden oder sich zu Tode soffen.

Ich legte die Broschüre haargenau wieder so hin, wie sie gelegen hatte. Scheinbar unangetastet. Dann überlegte ich mir, ob ich Philipp anrufen und warnen sollte, aber ich entschied mich, vorerst mal gar nichts zu tun.

Anderthalb Wochen verstrichen. Die Broschüre lag nicht mehr dort. Einmal lag sie auf dem Küchentisch. Dann lag sie im Wohnzimmer auf dem Sofa. Dann wieder im Flur. Dann sogar im Badezimmer! Und schließlich war sie weg.

Ich machte mir natürlich so meine Gedanken. Zum Beispiel fragte ich mich, was passiert wäre, wenn ich mein letztes Schuljahr als Austauschschülerin in Amerika verbracht hätte. Nicht dass das tatsächlich infrage gekommen wäre. Ich hätte Philipp unmöglich verlassen können. Nicht für ein Jahr. Ein Jahr, das ist eine Ewigkeit.

Meine Mutter beobachtete mich manchmal, wenn ich frühmorgens am Küchentisch saß und nachdachte. Vermutlich versuchte sie, meine Gedanken zu erraten. Darum zwang ich mich, sobald ich merkte, dass sie mich beobachtete, an etwas anderes zu denken.

Manchmal kam sie mir zuvor.

»Wo ist übrigens Bad Wörishofen?«, fragte sie mich einmal, lange nach den Ferien in Rimini.

»Keine Ahnung«, sagte ich völlig perplex.

»Gibt’s das überhaupt?«

»Keine Ahnung.«

Hallo, ich bin Philipp. Nina und ich, wir haben ausgemacht, diese Geschichte gemeinsam zu erzählen. Aus der Sicht von uns beiden. Damit die Geschichte nicht schrägschief wird, wie sie das nennt, weil sie nur einer erzählt und der andere nichts dazu sagen kann.

Nina hat den Anfang gemacht. Sie hat mir vorgelesen, was sie geschrieben hat. Jetzt bin ich dran.

Also, wenn es damals nach mir gegangen wäre, hätten sie sich die Malediven an den Hut oder sonst wohin stecken können. Ich wäre in jenem Sommer, als Nina mit ihren Eltern in Rimini war, und ich mit meinen Eltern auf den Malediven, viel lieber gemeinsam mit ihr in Island auf dem Mountainbike unterwegs gewesen. Hauptsache zusammen mit Nina. So waren wir eben. Anders als die anderen. Und das verband uns. Die Seelenverwandtschaft, oder wie man das nennt. Vieles, was ich mochte, mochte ich nur, weil ich wusste, dass Nina es auch mochte. Und wenn ich irgendwo war, dann dachte ich meistens, Mann, wenn sie nur auch da wäre und sehen könnte, was ich sehe. Ihr ging das genauso. Das wusste ich. Überhaupt wussten wir viel voneinander. Sozusagen fast alles. Auch das, was uns verschieden machte. Zum Beispiel ihr intellektueller Tick mit der Literatur. Sie liest Bücher nicht, sie verschlingt Bücher. Für sie sind Bücher ein Lebenselixier oder so was. Ich hingegen, ich konnte mit Büchern nicht viel anfangen. Bevor ich mal vor Langeweile umkam, las ich schon mal in einem Buch, aber dann musste es draußen schon so lange geregnet haben, dass der Waldboden knietief aufgeweicht war und ich mit meinem Mountainbike im Morast stecken geblieben wäre. Oder im Fernsehen kam kein Basketball oder Eishockey oder so was. Ich bin nämlich ein American Sports Freak. Vor allem Basketball, aber auch Football und Eishockey. Nur mit Baseball kann ich nicht viel anfangen. NBA. Michael Jordan. Malone, the Mailman. Bad Boy Barclay. Die sind von der alten Garde. Von den Jungen mochte ich Kobe am liebsten und Damon Stoudemire.

Nina hatte mit Sport nicht viel am Hut. Manchmal sah sie sich mit mir die NBA an. Um mir einen Gefallen zu tun. Und einmal spielte sie sogar One on One gegen mich auf dem Schulhof. Sie gewann beinahe. Nina hat jede Menge Talent. Außerdem ist sie etwa zwei Zentimeter größer als ich. Sie behauptete immer, es wären fünf, aber es sind nur zwei. Ehrlich.

Die Tour in Island auf dem Fahrrad, das war unser Traum. Wir wussten zwar, dass unsere Eltern uns nicht lassen würden, aber es machte uns Spaß, zusammen Pläne zu schmieden.

Anstatt die Landstraßen Islands abzustrampeln, wurde ich also in jenem Sommer dazu verdammt, mit Vater und Mutter und mit meinem Bruder Theo drei Wochen in diesem wundervollen Urlaubsparadies zu verbringen, wo alles bis ins Detail organisiert war, damit es uns nie langweilig werden konnte. Action am laufenden Band. Selbst auf die Gefahr hin, dass jetzt einer ausflippt, sage ich es trotzdem: Es gibt manchmal nichts Schöneres als Langeweile. Einfach dahocken und darüber nachdenken, was man tun könnte und es dann doch nicht tut, weil man merkt, wie gut es einem tut nichts zu tun. Gar nichts, meine ich. Auch nicht glotzen oder so was. Und auch kein Buch lesen. Begreifen tut das heutzutage fast niemand mehr, weil eben immer was laufen muss, und wenn nichts läuft, nennt man das Meditation oder so was, damit eben doch wieder was läuft.

Meine Großmutter sagt dazu Faulenzen, aber Faulenzen ist auch schon wieder etwas, was man tut, sozusagen eine Beschäftigung, und deshalb denke ich, dass Nichtstun etwas ganz anderes ist und mit nichts vergleichbar.

Zugegeben, mir fiel das früher manchmal auch schwer, nichts zu tun. Nur wenn wir zusammen waren, Nina und ich, dann war es das Leichteste auf der Welt. Dann brauchte nichts zu passieren. Absolut nichts. Und das genossen wir beide.

Wenn ich jedoch allein war, dann verwandelte sich bei mir Nichtstun meistens in ätzende Langeweile. Und das hasste ich. Wenn ich mir vorkam wie einer, den die Welt weggeworfen hat. Das hielt ich nicht lange aus. Entweder glotzte ich dann, oder ich ging in den Keller und putzte mein Bike, manchmal fuhr ich aus der Stadt raus und durch die Wälder wie ein Bescheuerter, über Stock und Stein, Regen oder Sonne, und wenn ich wieder zurückkam, bedankte ich mich bei meinem Schutzengel, dass er mitgehalten hatte.

»Dein Sohn bricht sich noch mal das Genick«, sagte mein Vater oft zu meiner Mutter. Ich konnte den Spruch schon nicht mehr hören. Als ob meine Mutter mich allein gezeugt hätte.

Einerseits konnte ich es also genießen, nichts zu tun, andererseits fiel es mir schwer, nichts zu tun. Da soll sich mal einer einen Reim drauf machen.

Übrigens, Nina meint noch immer, ich sei voller Widersprüche. Das mag sein. Aber das ist sie auch. Früher machte ich mir darüber keine Gedanken. Sie war einfach so, wie sie war. Einerseits mochte sie kein Basketball, und andererseits spielte sie manchmal mit mir, als ob es um einen Pokal gegangen wäre. Und einerseits las sie gern Bücher, andererseits war sie mal beinahe ausgerastet, als ich ihr einen Liebesroman schenkte, der in der Taiga spielte.

Für mich stand jedenfalls fest, dass ich lieber nichts getan hätte, als bei organisiertem Schwachsinn, wie auf den Malediven, mitzumachen.

Klar, bei einem solchen Erlebnisurlaub, für den mein Vater ja nicht zu knapp gelöhnt hatte, musste eben immer was los sein. Weil das Erlebnispaket im Preis mit enthalten war und wir ja schließlich im Voraus bezahlt hatten.

Auf dem Prospekt, da mochte das für lustige Erlebnisrentner alles ziemlich cool aussehen, aber wie das dann für einen wie mich in Wirklichkeit war, das war eine ganz andere Sache.

Zum Beispiel an jenem Morgen. Als ich noch nicht mal richtig wach war und mir einer von diesen sonnengebräunten, durchtrainierten und blitzäugigen Animateuren beibringen wollte, wie man Feuer schluckt.

»Pass auf deine Mandeln auf«, sagte mein Vater nur dazu. Der ist nämlich Hals-, Nasen- und Ohrenspezialist und stolz auf die gesunden Mandeln beider Söhne.

»Ich will gar kein Feuer schlucken«, murrte ich. Ein Raunen der Enttäuschung ging durch die Reihen der All-inclusive-Urlauber, die nie genug von allem kriegen konnten. Zum Kotzen war das, wenn man sich drei Wochen lang ansehen musste, wie dämlich die sich alle benahmen, mit ihren sonnenverbrannten Fettwampen unterm tief hängenden Seil durchwatschelten oder zu zweit auf dem eingeölten Panzer einer Riesenmeeresschildkröte tanzten und Lebensfreude versprühten, dass es nur so knallte. Echt beknackt.

Zum Glück sprang Theo für mich in die Bresche. Der ist ohnehin einer, der alles mitmacht, nur damit er alles mitgemacht hat und ja nichts verpasst im Leben. Also lernte er, wie man Feuer schluckt. Problemlos. Talentiert, wie er eben ist. Versengte sich nicht mal die Augenbrauen. Am Ende stolzierte er auf der Bühne herum, hielt sich die Fackel vor den Mund und pustete Flammen von sich wie ein echter Fakir. Ehrlich. Tausend Leute klatschten ihm Beifall, und als wir wieder daheim waren und ihn die anderen in der Schule fragten, was denn los gewesen sei, konnte er wenigstens ohne anzugeben sagen: »Jede Menge, Mann! Zum Beispiel habe ich gelernt, wie man Feuer schluckt.« Und schon dachte jeder, der Theo ist ein megacooler Typ.

Nachmittags wurden wir manchmal mit dem Boot auf den Ozean hinausgefahren und fischten nach Tunfischen. Einmal warf mir Theo in seinem Übereifer beim Herumhantieren mit der Rute den Angelhaken ins Auge. Er bohrte sich keine drei Millimeter vom linken Augenwinkel ein und zerrte mir beinahe das Auge aus dem Sockel. Danach lief ich mit einer Augenklappe rum. Piratenlook. Alle waren hell begeistert. Nannten mich Kapitän Einauge. Theo entschuldigte sich, aber mein Vater machte ihn trotzdem zur Schnecke.

»Deine Unvorsichtigkeit hätte deinen Bruder das Auge kosten können!«

Übrigens waren wir nicht allein auf den Malediven, sondern mit Freunden. Vaters Studienfreund Roman Keller, der Facharzt für Magen und Darm ist und von meinem Vater ab und zu scherzhaft »Arschlochdoktor« genannt wird. Cooler Typ. Hatte seine Freundin mitgebracht und seine Tochter. Er war zwar noch verheiratet, aber irgendwann im Herbst sollte die Scheidung über die Bühne gehen, was dann allerdings doch nicht geschah.

Seine Tochter heißt Franziska. Die ist zwei Jahre älter als ich, und sie mochte mich nie. War mir egal. Ich mochte sie nämlich auch nicht, obwohl sie ziemlich gut aussah und immer durchsichtige Blusen trug, ohne BH darunter, sodass man alles sehen konnte, obwohl es da nicht unbedingt viel zu sehen gab. Aber es genügte, um alle die alten Säcke aufzugeilen, die mit ihr andauernd Volleyball oder irgendwas spielen wollten, und Theo schlich sich manchmal zu einer einsamen Stelle am Strand, wo Franziska, die damals noch von allen Franzi genannt wurde, auf einem Fels herumlag, splitternackt, und sich in der Sonne rekelte, als wären die Sonnenstrahlen wie in einem TV-Werbespot voller revitalisierender Zauberkraft und ohne die gefürchteten UV-Strahlen. Ehrlich.

Natürlich hatte mein Vater diesen Urlaub arrangiert, damit ich von Nina loskäme. Doch so, wie er und meine Mutter und die gesamte Verwandtschaft sich das wohl vorstellten, klappte es nicht.

»Wie gefällt dir Franzi?«, fragte er mich schon am zweiten Tag, als wir zusammen am Pool lagen und Franzi in ihrem klitzekleinen Bikini dem azurfarbenen Wasser entstieg wie eine wunderschöne Wassernixe. »Sieht sie nicht fabelhaft aus, mein Sohn? Und ihre grazilen Bewegungen. Diese wunderbare Haltung. Man sieht ihr an, dass sie eine Sportlerin ist, nicht wahr?«

Zum Glück war meine Mutter bei der Massage, sonst hätte sie ihm wahrscheinlich eine gescheuert, weil sie es nämlich hasste, wenn er sich in irgendwelche Pipimädchen vergaffte. Dabei war das alles niemals ernst zu nehmen, unser Vater war allein für uns da. Sagte er uns jedenfalls immer wieder, wenn er mal spät nach Hause kam. »Was meint ihr, für wen ich schufte? Allein für euch!«

Hallo, hallo! Ich wollte nicht auf die Malediven. Und ich mochte Kaviar nicht und auch keinen Baron Rothschild Chateauneuf-du-Pape, oder wie das Zeugs heißt, das bei uns im Weinkeller manchmal jahrelang unangetastet in den Regalen liegt. Unangetastet? Hin und wieder, wenn er in einer ganz besonderen, feierlichen Stimmung ist und mit sich und dem Leben zufrieden, geht Vater hinunter, holt eine Flasche aus dem Regal, betrachtet sie liebevoll und streichelt sie zärtlich, bevor er sie wieder behutsam ins Regal legt. Reine Selbstbefriedigung ist das. Der alte Sigmund Freud hätte seine Freude an diesem Weinkeller gehabt, hätte er gewusst, was mein Vater eben nicht weiß. Der hat nämlich bis heute keine Ahnung, was meine Mutter manchmal tut, wenn der Frust überhandnimmt. Dann geht sie in den Keller und schüttelt seine Weine durch. Hab ich selbst schon gesehen. Ich dachte, das gibt’s doch nicht, aber meine Mutter ist keine, die sich nicht zu helfen weiß. Da sie ihm verbal schon allein lautstärkemäßig nie gewachsen wäre, hat sie sich etwas anderes einfallen lassen, um mit ihm fertig zu werden. Eiskalt.

Aber ich kann mich nun wirklich nicht über meine Eltern beklagen. Mein Vater macht noch heute mit seiner gut gehenden Praxis Kohle ohne Ende, und meine Mutter gehörte nie zu denen, die sich darauf etwas einbilden und herumprotzen müssen. Im Winter trug sie nicht mal in St. Moritz einen Pelz, und ihr Schmuck ist zwar sauteuer, aber total dezent. Mein Vater ist der, der manchmal klotzt. Damit jeder gleich sehen kann, dass er es zu was gebracht hat. Mercedes und alles. Rolex am Arm. Anzüge aus Paris. Schuhe aus Mailand. Nur wenn er Kiwis auf dem Tisch hat, meckert er, weil Kiwis um die halbe Welt transportiert werden müssen, bevor sie auf unserem Tisch landen. Da sei ihm ein knackiger Apfel viel lieber, schon wegen all der verschiedenen Vitamine.

Als wir klein waren, ich und Theo, guckte unser Vater immer genau hin, wenn wir in einen Apfel bissen. Wenn Blutspuren zurückblieben, erklärte er uns, dass wir wegen Vitaminmangel Zahnfleischbluten hatten. Ich war immer froh, dass aus Vater nicht ein Arzt wie Roman Keller geworden war.

Der guckt Leuten von hinten rein. Dort, wo die Sonne nie hin scheint. Manchmal witzelten sie darüber, mein Vater und er. Aber Keller macht auch Kohle ohne Ende. Die Leute kommen von überall her, um sich von ihm von hinten reingucken zu lassen, weil er eine der absoluten Magen-Darm-Kapazitäten ist.

Wir gehörten also schon immer zum wohlhabenden Teil der Bevölkerung, und Nina war manchmal eifersüchtig auf Franzi, weil Franzi sozusagen von ihren Eltern alles reingeschoben kriegte. Die wollen dich nur verkuppeln, sagte sie dann. Und Recht hatte sie. Seit Franzi und ich klein waren, ging das so.

Ich glaube, unsere Eltern fingen schon damit an, als sie selbst noch jung waren, sozusagen frisch gebackene Familien. Alle vier schon seit der Studienzeit befreundet. Dann verloren sie sich vorübergehend aus den Augen, gingen ihre eigenen Wege, fanden sich wieder, heirateten fast zur selben Zeit, kriegten Franzi und dann mich und karrten uns in den Kinderwagen herum, Franzi im dreirädrigen Sportwagen, weil sie schon älter war, und mich im so genannten Erstwagen.

Die ganze Verwandtschaft beider Jungfamilien muss damals mitgemacht haben. »Die beiden sind wie füreinander geschaffen!« Von klein auf hörten wir das, und zwar beim Schwimmen im Mittelmeer und wenn wir im Engadin Spaziergänge machten oder irgendwelche Freunde und Verwandte besuchten. Dämliches Gewäsch. Blöde grinsende Gesichter von irgendwelchen Tanten und Onkels, die keine Ahnung von nichts hatten. Besonders meine Großmutter. Die sagte immer, ich sei der Prinz und Franzi die Prinzessin, und sie meinte es vollkommen ernst. Lästige Verkuppler allesamt.

Ich war für Nina geschaffen und nicht für Franzi Keller. Egal ob sie uns zwangen, Händchen zu halten, als wir klein waren und an Sonntagen über blumenbedeckte Wiesen wanderten und durch Märchenwälder. Egal ob sie uns zwangen, auf Teneriffa oder sonst wo, uns vor laufender Videokamera und vor klickenden Fotoapparaten Küsschen zu geben. Wir hatten beide keinen Bock, uns ineinander zu verlieben, nicht mal, als wir drei und fünf waren, und später schon gar nicht mehr.

Nina war meine Liebe. Für immer.

Meine Verwandten, also der gesamte erweiterte Familienkreis, waren mit dieser Tatsache ziemlich überfordert. Nur meine Mutter nicht. Die sagte manchmal, lasst sie doch oder so was, aber es ließ uns niemand. Meine Großmutter, die trotz ihrer sonnengebräunten Pergamenthaut noch ziemlich rüstig war und auf Teneriffa wohnte, hatte mir einmal klipp und klar gesagt, dass sie das niemals tolerieren würde, dieses merkwürdige Verhältnis zwischen Nina und mir.

»Merkwürdig?«, stöhnte ich. »Was findest du denn daran so merkwürdig?«

»Du weißt schon, was ich meine, Philipp. Du bist völlig fixiert auf diese Nina. Denk nur mal daran, was dir dadurch verloren geht. Deine ganze Jugend. Alle normalen Erfahrungen, die ein Junge sammeln muss, bevor er eine feste Beziehung eingeht. Stell dir mal vor, du lernst nie ein anderes Mädchen kennen und heiratest diese Nina. Eine Katastrophe wäre das, mein Lieber!«

Eine Katastrophe ist für mich ein Erdbeben in Honduras. Aber das störte sie weniger, weil sie meinte, die armen Leute dort hätten ohnehin nichts zu verlieren. Und solange ihr geliebtes Teneriffa nicht bebte, war sowieso alles bestens. Für sie wäre All inclusive auf den Malediven wahrscheinlich echt geil gewesen.

Übrigens, in der Club-Anlage sangen die Leute abends O sole mio. Und zum Abendessen gab es meistens Parmaschinken und Netzmelone. Das brachte mich wenigstens Nina ein bisschen näher. Sie hatte keinen Bock gehabt, mit ihren Eltern nach Rimini zu fahren. Schon wegen dem Autostau vor dem Gotthard-Tunnel. Da staut sich jedes Jahr im Sommer die ganze Blechlawine, weil hunderttausend Eltern aus dem nördlichen Europa mit ihren Kindern gleichzeitig nach Italien fahren. Würde man die Kinder fragen, wo sie ihre Ferien verbringen wollten, gäbe es keine Staus. Lieber vier Wochen Scheißregen als Stau, würden sie sagen. Ich weiß nicht, wie viele Kinder im Stau umkommen, aber Nina erbrach sich auf der Fahrt in den Süden jedes Mal in eine Kotztüte. Weil ihr Vater andauernd herumfluchte und das Auto nur noch ruckartig fuhr und die Luft hinten drin zum Kotzen war und die ganze Atmosphäre für Kinder überhaupt nicht artgerecht. Täte man dasselbe mit Katzen und Hunden, würde das sämtliche Tierschutzvereine auf die Barrikaden treiben, und jeden Sommer gäbe es auf allen Autobahnen in Richtung Süden Sitzblockaden mit tausenden von Aktivisten, die gegen die Quälerei demonstrieren, und die Bullen würden Wasserwerfer einsetzen müssen, um den Verkehr aufrechtzuerhalten.

Jahrelang kotzte Nina in die Tüte, und wenn sie endlich unten in Rimini ankam oder sonst wo, war sie nur noch ein leichenblasser Schatten ihrer selbst, und einmal musste man sie ins Spital bringen und intravenös ernähren, weil sie so lange erbrochen hatte, bis nichts mehr in ihr drin war, und dann auch noch im Hotel irgendwelche Scheißmeeresfrüchte gegessen und eine Salmonellenvergiftung bekommen hatte.

Mittlerweile stand sie so eine Fahrt ohne zu erbrechen durch. Auf jeden Fall musste sie auf der letzten Urlaubsfahrt nicht ein einziges Mal. Aber Meeresfrüchte aß sie nie wieder. Nicht einmal Tintenfisch oder so was. Und ich aß das auch nicht mehr. Aus reiner Solidarität. Wenn schon Salmonellen, dann von Putenschnitzel in Currysauce.

Nach dem Urlaub damals schien für uns jedenfalls wieder alles in Ordnung. Bis dann im Herbst meine Großmutter zu Besuch kam, sonnengebräunt und aufgemotzt, mit einigen Goldketten um den Hals, damit die Falten nicht auf Anhieb zu entdecken waren. Sie blieb zwei Wochen. Wie ein zerzauster Krauskragengeier sah sie aus. Ich versuchte, ihr auszuweichen, schaffte es jedoch nicht immer.

Nina kam in dieser Zeit nie zu uns nach Hause. Sie kriegte beim Anblick meiner Großmutter Schüttelfrost. Ehrlich.

Was in diesen zwei Wochen genau geschah, weiß ich nicht. Ich merkte nur, dass irgendetwas nicht mehr stimmte. Verwandte, von denen wir sonst nie hörten, riefen bei uns an und redeten stundenlang mit Großmutter. Kam ich unverhofft nach Hause, wurden Gespräche zwischen meinen Eltern und Großmutter jäh unterbrochen. Und wenn ich in meinem Zimmer war, hörte ich sie flüstern.

Ich knöpfte mir Theo vor. »Was weißt du?«, fragte ich ihn.

»Nichts! Ich schwöre es!«

»Und wenn ich dich morgen mit meinem Bike in die Schule fahren lasse?«

Er tat cool wie James Bond. »Amerika«, sagte er nur.

»Amerika?« Ich schüttelte ihn durch. »Was weißt du noch?«

Er riss sich los, trat mir gegen das Schienbein und rannte brüllend davon.

Einige Tage später reiste Großmutter wieder ab. Wir brachten sie zum Flughafen. Mir gefiel das Grinsen in ihrem Gesicht nicht, als sie sich verabschiedete. Grinste als wäre ich Aas.

»Philipp, schade, dass ich Nina nicht gesehen habe.«

»Nächstes Mal vielleicht«, sagte ich, und sie gab mir einen Kuss, obwohl sie wusste, dass ich es hasste, in der Öffentlichkeit von ihr geküsst zu werden.

Dieser Kuss war so was wie ein Judaskuss, aber das wusste ich damals noch nicht. Ehrlich, damals hatte ich keine Ahnung, was meine Eltern und die übrigen Verwandten ausgeheckt hatten, um mich vor dem Verderben zu schützen. So war das eben in unserer Großfamilie. Da wurden traditionell Entscheidungen manchmal gemeinsam getroffen, wie in den guten alten Zeiten, als es noch Familienräte gab und so. Ich kannte keine Familie, die das am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts noch tat. Außer meiner.

Im Frühling, als Nina und ich an nichts Böses dachten, schob sich plötzlich eine verhängnisvolle, dunkle Wolke über den Horizont. Symbolisch gesprochen natürlich.

Nina bemerkte sie zuerst. Sie war ziemlich durcheinander, als sie mir in der Schule eine Broschüre zeigte, die sie zum ersten Mal im Herbst zu Gesicht bekommen hatte, bevor sie dann wieder verschwunden war.

»Ich habe nicht mehr an sie gedacht und gestern Abend lag sie plötzlich auf meinem Bett. Ich stellte meine Eltern zur Rede. Weißt du, was sie gesagt haben?«

»Dass dir ein Austauschjahr in Amerika gut tun würde.«

»Stimmt.«

»Und?«

»Was und?«

»Willst du nach Amerika?«

Sie sah mich an, als wartete in Amerika der elektrische Stuhl auf sie. »Würdest du denn wollen?«

»Was?«

»Nach Amerika.«

Ich hob die Schultern. »Erik und Sebastian gehen. Und Teresa.«

»Dann würdest du also wollen?«

Ich lachte auf. »Schau mich nicht so vorwurfsvoll an. Man hat nicht mir den Vorschlag gemacht, sondern dir.«

Sie wandte sich ab. Das tat sie immer, wenn sie sich ungestört irgendetwas Wichtiges überlegen wollte.

»Und wenn ich Ja sagen würde?« Sie drehte sich wieder mir zu.

»Was dann?«

»Was wäre mit uns?«

»Was soll schon sein?«

»Du weißt genau, was ich meine.«

»Es kostet ziemlich viel Geld, so ein Austauschjahr. Können sich deine Eltern denn …«

»Anscheinend schon. Aber du weichst mir aus, Philipp.«

»Da ich weiß, dass du nicht gehen wirst, denke ich gar nicht über das nach, was mit uns sein würde«, lachte ich.

»Und was ist, wenn man dich fragt?«

»Ob ich für ein Jahr nach Amerika will?«

»Ja.«

»Nun, das wäre wohl gar nicht so schlecht.«

»Im Ernst?«

Ich umarmte sie schnell, und wir küssten uns, aber sie ließ sich nicht beruhigen.

»Im Ernst?«, wiederholte sie ihre Frage, nachdem ich sie losgelassen hatte.

»Was willst du hören?«

»Ob du gehen würdest?«

»Mit dir schon.«

»Und ohne mich?«

»Glaub ich nicht.«

»Glaubst du nicht?«

»Nein.«

»Nein, glaubst du nicht, oder nein, du würdest nicht gehen?«

»Beides.«

»Ehrlich?«

»Ehrlich. Aber es sind ja deine Eltern, die dich offenbar nach Amerika schicken wollen.«

»Könnte dir auch passieren. Stell dir vor, deine Eltern beschließen, dir ein Austauschjahr in den USA zu ermöglichen.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Deiner Großmutter ist das zuzutrauen. Wenn sie könnte, würde sie einen Keil zwischen uns treiben, egal auf welche Art. Und deine Eltern stehen auf ihrer Seite.«

»Ich glaube nicht, dass das geschieht, Nina.«

»Angenommen, es geschieht trotzdem …«

»Dann wären wir beide in Amerika«, sagte ich und lachte.

Damit war die Sache für uns erledigt. Dachten wir. Nicht einmal im Traum hätte ich gedacht, dass sich auch meine Eltern seit geraumer Zeit mit dem Gedanken beschäftigten, mich für ein Jahr in eine Schule in den USA zu schicken. Tatsache war, dass mein Vater sogar zuerst auf diese glorreiche Idee gekommen war. Er hatte Ninas Vater überhaupt erst darauf gebracht.

Unsere Familien waren es, die gemeinsam über uns entschieden hatten. Unsere Liebe war zum Scheitern verurteilt worden. Nach langen Debatten und Telefonaten unter dem Diktat meiner Großmutter. Während ich mit der Schule zu einer Wintersportwoche in Österreich war, hatte sich fast meine gesamte Familie – sogar entfernteste Blutsverwandte wie zum Beispiel Traugott und Gertrude aus Bochum – versammelt, und zwar im großen Saal des Goldenen Stern. Rund zwei Dutzend kluge und weniger kluge Köpfe waren das. Der eigentliche Anlass war der sechzigste Geburtstag der Mutter meines Vaters, Großmutter Adele aus Mecklenburg-Vorpommern. Eine nette Person, die ich früher wegen der Mauer nur selten gesehen hatte. Jetzt lebte sie bei uns. Machte den Haushalt. Kochte Rosenkohl wie keine sonst. Mein Vater verdrehte jedes Mal beinahe wollüstig die Augen, weil er Rosenkohl nur essen konnte, wenn seine Mutter für ihn kochte. Meine Mutter hingegen, die aß keinen Rosenkohl, weil sie sich sonst den Magen verdarb und unheimlich laut furzen musste, was Dr. Roman Keller wiederum als völlig normal diagnostizierte, ohne auch nur ein einziges Mal bei ihr exploratorisch hinten reingespäht zu haben.

Also, zur Sache: Beim sechzigsten Geburtstag meiner Großmutter Adele, bei dem ich durch Abwesenheit glänzte, war man offenbar wieder einmal ganz beiläufig auf mich und Nina zu sprechen gekommen, und dass es nicht normal sein könne, wenn zwei junge Menschen so unzertrennlich aufeinander fixiert waren.

Da müsse vorbeugend etwas geschehen, meinte man. Das laufe sonst auf ein Unglück hinaus, auf eine Verzögerung in der Entwicklung, wenn nicht gar auf einen psychischen Schaden.

Theo erzählte mir später, dass sie alle durcheinander geredet hätten, bis Großmutter mütterlicherseits schließlich das Wort ergriff und meinen Vater aufforderte, endlich Nägel mit Köpfen zu machen.

Nägel mit Köpfen. Ehrlich. So redet sie.

»Was sind denn deiner Meinung nach Nägel mit Köpfen?«, fragte mein Vater. »Etwa den Jungen auf ein Internat zu schicken? Oder noch weiter weg? Für ein Austauschjahr nach Amerika?«

»Zum Beispiel«, sagte Großmutter.

Das war’s. Keine Ahnung, wie er darauf gekommen war.

Auf jeden Fall rief mein Vater am nächsten Tag Ninas Vater an und erzählte ihm, dass er daran dachte, mich für ein Jahr nach Amerika zu schicken. High School in den USA.

Bei Ninas Vater muss es sofort geklickt haben. Austausch. USA. Doch wenn ich ginge, würde Nina Terror machen. Also sollte auch Nina gehen.

Ninas Vater begann, Infos einzuholen, und während meine Eltern mir die Broschüre vorenthielten, begegnete sie Nina bei sich zu Hause immer wieder.

Was danach geschah, lässt sich auch leicht rekonstruieren. Ninas Eltern und meine Eltern trafen sich einige Male. Man überlegte sich dies und jenes und kam schließlich zu dem Ergebnis, dass ein Amerikajahr für uns beide wirklich das Beste wäre.

Amerika. Das gelobte Land. J.D. Salinger in einer Kneipe von Greenwich Village. Kobe Bryant bei den Los Angeles Lakers. The American Way of Life, von dem jedermann träumte.

Im Frühling teilten uns unsere Eltern schließlich mit, dass beschlossen worden sei, mit uns über einen neuen Lebensabschnitt zu reden, der uns beide betraf.

Ich war wie vom Donner gerührt, ließ mir aber nichts anmerken.

»Worum geht es?«, fragte ich.

»Um ein Schuljahr in Amerika.«

»Wozu?«

»Darüber werden wir bei einem gemeinsamen Treffen reden müssen«, sagte mein Vater.

»Und wer ist auf diese glorreiche Idee gekommen? Großmutter?«

»Selbstverständlich nicht«, log er mich an.

»Das ist doch wirklich eine tolle Chance«, sagte meine Mutter.

»Genau! Ihr versucht mit allen Mitteln, uns zu trennen!«

»Darum geht es doch gar nicht, Philipp. Soviel ich weiß, ist Nina nicht abgeneigt, ein Jahr in den USA zu verbringen.«

»Wer sagt das?«

»Ihre Eltern.«

»Genau.« Ich bleckte meine Zähne, drehte mich um und ging auf mein Zimmer. Von dort rief ich Nina an.

»Weißt du es schon?«

Sie wusste sofort, was ich damit meinte.

»Philipp, wenn wir gehen, gehen wir zusammen.«

»Dann hast du dich entschieden?«

»Nein. Ich gehe nur, wenn du auch gehst.«

»Wohin würdest du gehen?«

»Keine Ahnung«, antwortete sie unsicher. »Nach New York vielleicht. Und du?«

»Wahrscheinlich nach Los Angeles.«

Sie lachte. »Da zeigt sich wieder mal, dass wir überhaupt nicht zusammenpassen.«