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Markus Bäuchle

Irland

Markus Bäuchle

Irland

Ein Länderporträt

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In Erinnerung an Thomas, Gerd und Bodo.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

2. Auflage, Mai 2016

ISBN 978-3-86284-248-3

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Irland ist anders. Eine kleine Landeskunde

Der erste Eindruck

Das liebe Wetter: Thema Nummer eins

Exkurs: Das Wetter und die Gäste Irlands

Die Lage: Nur einen Ozean von Amerika entfernt

Der Nachbar im Osten: 800 Jahre gemeinsames Schicksal

Garinish Island oder: Der anglo-irische Konflikt im Kleinformat

Noch mehr Geschichte: Noch mehr Eroberungen und Invasionen

Die Sprache: Merkwürdiges Englisch und ein wenig Irisch

Die Politik: Ein Parlament von Lokalpolitikern

Die Kultur: Kleines Volk mit großer Prägekraft

Das Wesen der Iren: Viertelfinalsmentalität und Vierfünftelperfektionismus

Die Iren und die Welt: Sind wir nicht alle ein bisschen irisch?

Irland in den Jahren 1990 bis 2013: Ein Leben im Zeitraffer

Vom Armenhaus zum Wohlstandsland

Und dann war plötzlich alles vorbei: Der große Crash

Budget Days: Tage des Schreckens

Achterbahnfahrt in die Moderne

Die traditionelle Familie: Das Fundament bröckelt

Das neue Irland: Die multikulturelle Gesellschaft

Das neue Irland: Die Kehrseiten der Wohlstandsgesellschaft

Alkohol: Ein fester Bestandteil der irischen Kultur

Balance gesucht: Unterwegs zwischen Tradition und Moderne

Leben und Überleben in Irland

Stadt und Land: Von Dubs und Culchies

Dublin: Nabel der Welt mit Piercing

Die Inseln: Wo die wahren Helden wohnen

Arbeiten in Irland: Der positive Kulturschock

Moderner Lebensstil: Botox-Partys und Sexspielzeug

Leben und Sterben: Kein Land für Alte und Kranke?

Irlands Küche: Gesunde Ernährung und gute Laune

Einkaufen in Irland: Vom Mangel zum Markenkosmos

Verstehen und Missverstehen: Das Pint ist keine Halbe

Freizeit auf der Insel: Tresen- und Ballsport

Das Pub: Typisch irisch und ziemlich »out«

Ein ballverrücktes Volk

Irlands Landschaft: Naturerlebnis und Seelenraum

Exkurs: Moderner Luxus: Vom Reiz des irischen Landlebens

Deutsche und Irland: gutes Image und gutes Leben

Irland: Eine Frage der Erwartungen

Irland: Zwischen Mythos und Wirklichkeit

Exkurs: Meine zehn Gründe, in Irland zu leben

Moderne Mythen, Märchen und ein paar Wahrheiten

Die Sache mit den rothaarigen Iren

Der wahre Keltische Tiger: Der Esel

Die Tierliebe: Eine knappe Ressource

Ein Volk von umweltsensiblen Naturburschen?

Das Kleine Volk: Existiert es wirklich (nicht)?

Anhang

Anmerkungen

Literatur und Websites

Übersichtskarte

Basisdaten

Zum Autor

Vorwort

Meine persönliche Irland-Story beginnt im Jahr 1979. Ich hatte die Fiedeln der Horslips und die Gitarrenriffs von Rory Gallagher gehört, zudem Fotos von irischen Landschaften gesehen. Zurück aus dem Traumreiseziel New York, war nun Kontrastprogramm angesagt: Ich fühlte mich magisch angezogen von der kleinen grünen Insel am westlichen Rand Europas. Warum genau, blieb unklar, also sah ich nach. Geld war knapp in jenen Tagen, und so reiste ich per Anhalter durch Frankreich, England und Wales nach Irland. Kaum angekommen, nur eine Anhalter-Tour vom Fährhafen von Rosselaire landeinwärts, saß ich schon mittendrin, gemütlich beim Tee mit fremden Menschen, die seltsam freundlich und anteilnehmend sprachen. Um uns herum das weite Land. Elegante Schlichtheit. Schönheit. Eine Natur- und Kulturlandschaft, an der ich mich nicht sattsehen konnte.

Es war die Zeit, als auf den engen Sträßchen Irlands nur wenige Autos verkehrten, als die Menschen auf dem Land noch mit Esel und Karren unterwegs waren, als die Dörfer einen Shop, eine Kirche und eine Polizeistation hatten und die Cottages für 15 000 Mark die Besitzer wechselten. Hier war alles anders als zu Hause in Deutschland – und doch so vertraut. Es war wie Liebe auf den ersten Blick. Andersartigkeit, die nicht wehtat.

Der ersten Irland-Reise folgten viele weitere, der träumerische Wunsch, in dieser Idylle einmal zu leben, erfüllte sich als Ergebnis einer subtilen Langzeitprogrammierung 20 Jahre später. Das Internet war angekommen und baute Brücken. Im Jahr 2000 zogen wir um an die Südwestküste Irlands, die Westküste Europas. Die kleine Insel machte sich gerade auf, eine Dauerparty des neuen Wohlstands zu feiern, bald röhrte der Celtic Tiger laut und manchmal ordinär. Der Bauboom wütete, die irische Gesellschaft modernisierte sich im Zeitraffer und mit der Brechstange. Irland kam in der europäischen Gegenwart an und wandelte sich im Rekordtempo. Es war eine Zeit wie ein Déjà-vu.

Dann kam 2008 der große Knall: wirtschaftlicher Zusammenbruch, Stillstand, Rückwärtsbewegung. Vorbei die kurzen fetten Jahre. Arbeitslosigkeit, Not und Mangel kehren zurück, die Welle der Auswanderung rollt wieder. Gleichzeitig erhöht Europa den Anpassungsdruck. Eigenheiten fallen der Gleichmacherei des globalen Wirtschaftens und der Euro-Bürokratie zum Opfer. Wohin ist dieses Land wohl unterwegs? Bei allem Anpassungs- und Veränderungsdruck: Irland ist anders geblieben. Dies gilt bis heute. Auch anders, als wir es als Urlauber gesehen hatten. Die persönliche Lovestory mit Irland hält an. Es ist wohl eine reifere, erwachsenere Form der Beziehung geworden, doch durch alle Veränderungen hindurch hat sich die Zuneigung zu Land und Leuten erhalten. Hier lässt sich gut leben.

Bevor wir uns gemeinsam auf Lesereise begeben durch dieses kleine, faszinierende Land, das gerade so groß ist wie Bayern, drei kurze Vorbemerkungen: Dieses Buch ist eine Annäherung an ein Land im Übergang, an eine Gesellschaft, die sich ihrer selbst nicht sicher ist und bisweilen Schwierigkeiten hat, sich selbst zu verstehen. Wer einfach nur Daten und Fakten zu Irland sucht, ist bei der irischen Statistikbehörde CSO, beim CIA Factbook oder bei Wikipedia gut aufgehoben oder wirft einen Blick in den Fakten-Anhang am Ende des Buches. Zudem: Dieses Buch verallgemeinert. Über »die Iren« zu schreiben, hat im Zeitalter des ultimativen Individualismus für manchen einen despektierlichen Unterton – und doch ist die Prägekraft gemeinsamer kultureller und geografischer Lebensbedingungen sowie eines gemeinsamen Genpools augenscheinlich. So benenne ich die Gemeinsamkeiten und Eigenheiten, ohne die Individualität und Einzigartigkeit einzelner Menschen in Zweifel zu ziehen. Und ja, Wesensarten wie die perfektionierte Unpünktlichkeit werden in heiligem Respekt vor all den irischen Handwerkern beschrieben, die dann doch pünktlich und zuverlässig sind.

Schließlich: Dieses Buch wurde auf dem Land erlebt und geschrieben. Abseits der Metropolen, auf dem Dorf, an der Peripherie. Irland ist Peripherie; Dublin, die einzige Großstadt der Republik, ist nicht Irland – auch wenn zwei von fünf Iren (und wenn ich in einem solchen Zusammenhang von Iren schreibe, dann meine ich selbstverständlich die Irinnen mit) in der Hauptstadt oder in deren Einzugsbereich leben. »Mein Irland« findet, wer will, in der wenig bevölkerten, weiten irischen Landschaft an der Atlantikküste. Und natürlich ist mit Irland die Republik Irland gemeint, The South, wie es hier heißt, oder Eire, wie Irland offiziell genannt wird. Man kann auch sagen, es geht hier um die Insel namens Irland minus das noch immer zum Vereinigten Königreich gehörende Nordirland. Doch nun viel Spaß beim Lesen.

Einleitung

Irland ist … weite grüne Wiesen, Schafe, Whiskey, bunte Cottages, immer freundliche Menschen. Irland ist der Ort, wo rothaarige, freundliche Insulaner den ganzen Tag im Pub sitzen, irische Folkmusic hören und spielen und immer Zeit für ein Schwätzchen haben. Irland ist Irish Stew, Guinness, Ruinen, Feen und Leprechauns, Irland liegt irgendwo ganz links und ganz weit oben, dort im Norden, wo es immer regnet. Kein Land in Europa hat ein so kurioses Image wie Irland, ein Image, das genauso prägnant wie falsch ist, genauso verführerisch wie irreführend. Kein Volk in Europa hat sich einen solch schmeichelhaften Ruf erworben wie die Iren: die netten Menschen von der Insel, die sympathischen Verlierer, neuerdings die Musterpatienten. In Wirklichkeit ist Irland ein wenig so – und doch ganz anders. Images sind meistens falsch, unscharf, ungenau – und doch haben sie zumeist einen wahren Kern. Wir wollen in diesem Buch der Wirklichkeit hinter dem Image nachspüren.

Das moderne Irland ist ein widersprüchliches, ein schillerndes und sich selbst suchendes Land. Alte, gesetzte Kulturen wie die der Japaner oder der Bayern haben ihren Frieden mit den inneren Widersprüchen längst gemacht und harmonisieren diese in bestem Marketing-Sprech: Laptop und Lederhosen. Wo Vergangenheit auf Zukunft trifft. Von einem solch abgeklärten Selbstverständnis ist Irland weit entfernt. Nach einem 50 Jahre währenden nationalen Ritt auf der Achterbahn, nach 15 fetten Wohlstandsjahren und einem alptraumhaften Absturz seit 2008 in ungeahnte und doch vertraute Tiefen, nach schnellen Modernisierungsschüben im Zeitraffer und nach kollektiven Anpassungsversuchen an die Welt um die Insel herum präsentiert sich Irland heute als ein Land der Ungleichzeitigkeiten. Wir erleben das moderne Irland mit seinen Glitzerfassaden, seinem Wohlstand und seinem amerikanisierten Lebensstil, wir erleben im anderen Extrem das traditionelle, alte Irland in treuer Fixierung auf Kirche und Tradition, wir erleben dazwischen Menschen, die beides in sich tragen und nicht selten hin- und hergerissen sind zwischen den vielen Vorzügen und Nachteilen des einen wie des anderen Lebens.

So ist Irland im Jahr 2013 ein spannendes Land, das in seinen Widersprüchen schillert wie der Regenbogen; ein Land auf der Suche nach den Goldtöpfen an den Enden dieses Regenbogens, ein Land, das gerade schmerzhaft gelernt hat, dass diese Goldtöpfe sich in die Büchse der Pandora verwandeln, wenn man sie nur unvorsichtig genug öffnet. Nur 160 Jahre nach der Zeit der bittersten Armut, keine 100 Jahre nach den blutigen Kämpfen der Unabhängigkeit und der Identitätsfindung, nur 50 Jahre seit dem Anschluss an die Moderne befindet sich das Land auf einer Achterbahnfahrt zwischen Existenzminimum und fragilem Wohlstand.

Wer durch eine typische irische Stadt geht, nehmen wir Tralee, Hauptstadt der Grafschaft Kerry, sieht die Widersprüche auf einen Blick: hier vor der Stadt die Wohnpaläste der neuen Reichen und die Hotels für alle, die es sich leisten können, die Mega-Shopping-Mall, die an Wochenenden den gesamten regionalen Verkehr in sich aufsaugt, dort die alten, ärmlichen Straßen im Zentrum, die geduckten Häuser, die Zwei-Euro-Shops. Neue und alte Armut, Hyperkonsum und Wohlstand, Tradition und Moderne existieren hier Tür an Tür – und mittendrin das alte Football-Stadion, mächtig und doch morbide, wie aus einer anderen Zeit.

Als Heilritual gegen die Identitätskrise beschwört man gerne die heilige Irishness, das einende irische Wesen, die »Irischkeit«. Es gipfelt in der Bekundung von Nationalstolz, was in unseren Ohren erst befremdlich klingt, wenn wir versuchsweise »irisch« durch »deutsch« ersetzen: »Proud to be Irish« – stolz, ein Ire zu sein. Wer also sind diese Iren, wie leben sie und wie lebt es sich in ihrem Land?

Wir nähern uns dem Inselland und seinen Menschen in sechs Schritten, zunächst ganz behutsam mit den ersten Eindrücken nach der Landung und mit einer etwas anderen Landeskunde. Kapitel zwei beschreibt die zwei Jahrzehnte bis heute, die Irland dramatisch verändert haben: die Ära des Keltischen Tigers und des wirtschaftlichen Absturzes, die Jahre auf der Achterbahn. Das dritte Kapitel widmet sich dem Leben auf dem Lande, in der Hauptstadt Dublin und auf den Inseln. Wir werfen einen Blick in die Arbeitswelt und auf den modernen Lebensstil, schauen im Krankenhaus vorbei und gehen einkaufen. Danach, im Kapitel vier, ist Freizeit angesagt: vom Tresen- zum Ballsport, vom Pferderennen zu den Meisterschaften im Wettpflügen; und natürlich gehen wir zum Abschalten hinaus in Irlands einzigartige Naturlandschaft. Über das Sonderverhältnis zwischen den Deutschen und Irland gibt das vorletzte Kapitel Auskunft, bevor wir zum Schluss ein paar gängige Vorurteile über Irland auseinandernehmen und uns auf die definitive Suche nach den Feen und Leprechauns machen. Wer sich brennend für die Frage interessiert, wo man die »Kleinen Leute« findet, muss hinten anfangen. Alle anderen Leserinnen und Leser blättern einfach um.

Irland ist anders. Eine kleine Landeskunde

Der erste Eindruck

Es dauert keine zwei Stunden von Deutschland in eine andere Welt. Wer mit dem Flugzeug über Irland einschwebt und den weitläufigen, mit Steinmauern parzellierten Felderteppich unter sich näherkommen sieht, versteht noch vor der Landung, warum Irland auch die »Grüne Insel« genannt wird. Grün herrscht als Farbe vor, Grün ist die Nationalfarbe, das grüne Kleeblatt das Nationalsymbol. Iren tragen im Alltag zwar selten grün, doch am Nationalfeiertag am 17. März oder zu besonderen Anlässen wie einer Fußball-WM oder einer Rugby-Meisterschaft lassen sie die grüne Kluft zusammen mit grün gefärbten Haaren und Wangen umso heller strahlen. Grün ist die Farbe der Landschaft, und auch wenn die Iren sich während des großen Baubooms in den frühen Jahren des neuen Jahrtausends alle Mühe gegeben haben, die Insel zu betonieren und mit Häusern zuzustellen: Es ist ihnen nicht gelungen. Sieht man einmal vom Ballungsraum Dublin und den großen Städten Cork, Limerick oder Galway ab, so bleibt Grün die dominierende Farbe.

Die atlantischen Regengebiete, die mit schöner Regelmäßigkeit das Wetter auf der drittgrößten Insel Europas bestimmen, halten die Vegetation in Schuss, und einer im Wachstum stagnierenden Bevölkerung, der das nötige Kleingeld zum Bauen ausgegangen ist, gelingt es seit geraumer Zeit nicht mehr, das vitale Grün zugunsten von Betongrau zurückzudrängen. 40 Shades of Green, 40 verschiedene Grüntöne sollen die Gesamtkomposition Irland ausmachen. Die hat der legendäre amerikanische Countrystar Johnny Cash einmal gezählt und seine Erkenntnisse zu einem gleichnamigen Song verarbeitet. Der Klassiker gilt noch heute als gewinnbringende Steilvorlage für Irlands Tourismuswerber: Die Grüne Insel lockt seitdem mit 40 verschiedenen Grünschattierungen.

Nun sitzen wir schon im Auto und betrachten diese immer grüne Landschaft von der linken Straßenseite aus. In Irland herrscht Linksverkehr. Es fällt auf, dass die meisten der vielen neuen Wohnhäuser auf betonierten Bodenplatten stehen und von Asphalt umgeben werden. Ob Beton und Bitumen ausdrücken wollen, dass man in der Zivilisation angekommen ist? Dass einem das stets wuchernde Grün nicht mehr gnadenlos auf die Pelle rücken kann, dass die regelmäßigen Ginsterfeuer einem nichts mehr anhaben können? Pflegeleichter Betonboden und die sichere Distanz zur Vegetation scheinen jedenfalls eine zivilisatorische Errungenschaft der letzten 20 Jahre zu sein, am besten wirkt sie, wenn noch drei oder vier Autos draufstehen. Vielleicht will man sich mit der Asphalt- und Betonplatte auch einfach nur die wilden Tiere vom Hals halten: etwa die meist in Schwärmen auftretenden irischen Minimücken, die sich allzu gerne im feuchten Gras verstecken.

Irlands Häuslebauer schätzen neben der Distanz zu Wiesen, Hecken und Weiden auch den Sicherheitsabstand zum Nachbarn. Die neuen Häuser liegen – wie auf einer Perlenkette aufgereiht immer an der Straße entlang – in beachtlicher Entfernung zueinander. Es heißt, diese verschwenderische Form der Landbesiedelung hätten die Neuzeit-Iren von ihren keltischen Vorfahren übernommen. Die lebten auch in einer eigenen Behausung mit viel Raum, in weiten Streusiedlungen und konnten sich eine verdichtete Bebauung namens Dorf oder Stadt nicht vorstellen. Iren streben ein Leben mit der Familie im eigenen Haus an, 70 Prozent der Bevölkerung hat eigene vier Wände.1 Zur Miete wohnt man nicht gern, und die Eigentumswohnung ist nur ein Kompromiss. Überall dort, wo in Irland dann doch Siedlungszentren mit verdichteter Bebauung entstanden sind, beispielsweise die Gründungen Dublin oder Cork, haben andere Invasoren ihre Handschrift hinterlassen: Die großen Städte sind Gründungen der Wikinger.

Die an uns vorbeiziehenden Häuser wirken trotz der verschiedenen Farben und Größen uniform und architektonisch ein wenig langweilig. Sie sind sich landauf, landab so ähnlich, als hätte sie alle derselbe fleißige Architekt entworfen. Tatsächlich hatte die Zunft der kreativen Architekten im jüngsten irischen Bauboom nicht viel ausrichten können. Wer in Irland ein Haus baut, geht traditionell zum News Shop, kauft sich eine Baufibel und wählt sein Haus aus einem guten Dutzend Standardgrundrissen aus. Dieselben Grundrisse hat jeder Ingenieur in seinem Computer gespeichert und kann den Wunsch des Kunden nach drei, vier oder mehr Schlafzimmern binnen Minuten in einen Bauplan umsetzen. Der französische Schriftsteller Michel Houellebecq, der mehrere Jahre in Irland lebte, beurteilte die zeitgenössische irische Bauweise lakonisch: »Die irische Architektur hatte […] keinerlei spezifischen Charakter: Es war eine Mischung aus kleinen roten Backsteinhäusern, wie man sie in den englischen Vorstädten finden konnte, und großen weißen Bungalows, die nach amerikanischer Art einen geteerten Vorplatz hatten und von Rasenflächen gesäumt waren.«2

Viele Häuser entlang der Straße, auch diese uniformen Ferienhaussiedlungen, die nun so manchen Ortsrand verschandeln, wirken seltsam unbelebt, verlassen, leer. Sie sind es. Auf den 70 000 Quadratkilometern namens Irland konkurrieren natürliches Grün und zivilisatorisches Grau ständig um Dominanz und Flächengewinn. Im Boom-Jahrzehnt vor dem großen Immobilien-Crash im Jahr 2007 bauten gewinnbeseelte Iren bis zu 70 000 neue Häuser im Jahr. Die Preise verdoppelten und verdreifachten sich in der Zeit, viele Bauspekulanten verdienten sich eine goldene Nase, doch die nur 4,6 Millionen Inselbewohner bauten massiv über ihren Bedarf hinaus. Die Immobilienblase platzte schließlich und stürzte eine ganze Volkswirtschaft in die Krise. Nun stehen 290 000 leere Häuser in der Landschaft, die niemand bewohnt und niemand braucht. Jedes siebte der knapp zwei Millionen Häuser in Irland stand im Jahr 2011 laut Census aus demselben Jahr leer.3 Der Ökonomieprofessor Morgan Kelly vom University College Dublin prognostizierte schon 2008, dass im folgenden Jahrzehnt mehr Häuser in Irland abgerissen als neu gebaut werden würden. Häuser, die der Mensch nicht bewohnt und nicht pflegt – zumal in der Version des im Boom schnell errichteten Holzständerbaus –, werden innerhalb von zehn bis 15 Jahren von der Witterung und der vitalen Vegetation zurückerobert und in den erbarmungswürdigen Zustand überführt, der nur noch den Abriss zulässt.

Doch zurück zur Landschaft: Dass sich in Irland ein Gefühl der Weite und des Raumes einstellt, obwohl dieses nach Ansicht von Globetrottern nur noch im Outback Australiens oder in der Tundra des Nordens erfahrbar sein soll, liegt an der niedrigen Bevölkerungsdichte und dem vergleichsweise noch immer überschaubaren Landverbrauch. In Irland leben auf einem Quadratkilometer durchschnittlich nur 65 Menschen, in Deutschland sind es 229, also dreieinhalb Mal so viele; und die Zahl der Häuser hat auch nach dem wilden Bauboom lediglich die Dichte von 29 Gebäuden pro Quadratkilometer erreicht.

Den Besucher aus »Europa«, wie der Insel-Europäer den europäischen Kontinent gerne distanzierend nennt, irritiert am irischen Haus noch eines: Auf »innere Werte« wird nicht viel Gewicht gelegt. Die Isolierung beschränkt sich auf das Allerwesentliche, die Leitungen für Strom, Wasser und Abwasser liegen zumeist gut sichtbar auf Putz an der Rückfassade. Das macht irische Häuser anfällig für eine Wetterlage, die im Wetterplan eigentlich gar nicht vorgesehen ist: den Winter. Fallen die Temperaturen im Dezember oder Januar einmal deutlich und längere Zeit unter null Grad, dann frieren die Leitungen ein, und es fehlt den Menschen schnell am Notwendigsten: an Trink-, Koch- und Waschwasser, an funktionierenden Toiletten, an Kerosin und Diesel für die Heizungen – und selbst an Lebensmitteln: Denn Irlands Autos sind für Fahrten auf Schnee und Eis nicht gut ausgerüstet, und deren Fahrer fühlen sich nicht dazu berufen. So sorgt schon der Hauch eines Wintereinbruchs, der im Allgäu leicht als Frühlingsschneegestöber durchgehen würde, für apokalyptische Verhältnisse auf den Straßen. An Straßenrändern abgestellte und in Straßengräben zum Stillstand gekommene Fahrzeuge säumen dann die Fahrbahnen und bleiben dort stehen, bis die Kraft der Sonne wieder geordnete Verhältnisse ermöglicht.

Wir sind weiter unterwegs. Ein Blick auf das Nummernschild des vorausfahrenden Autos lässt erkennen: Irland hat seine eigene Systematik der Kraftfahrzeug-Registrierung: 06-C-869. Die hinteren drei (bis fünf) Ziffern sind die individuelle Registriernummer, der Buchstabe in der Mitte bezeichnet das County, in der das Auto zuerst zugelassen wurde: Das »C« steht für die Grafschaft Cork, »D« steht für Dublin, »KY« für Kerry oder »DL« für Donegal – und die beiden ersten Ziffern nennen das Jahr der Erstzulassung. Diese beiden Ziffern sind Irlands inoffizieller Neid-und-Status-Code: Zum Millennium, der Jahreswende 1999/2000, war auf der Insel eine wahre Status-Orgie ausgebrochen: Hunderttausende Iren wollten mit einem schönen, neuen und natürlich möglichst großen Auto und dem Kennzeichen »00« anzeigen, dass sie finanziell vorne liegen und auf der Statusleiter ganz nach oben gehören. In den ersten vier Jahren des neuen Jahrtausends wurden deshalb gefühlte zwei Drittel des Wagenbestands erneuert. Wer auf einer alten 94er oder 99er-Limousine sitzen blieb, galt im großen Prahlen der Keltentigerära schnell als erfolgloser Außenseiter.

Dann kam der Absturz, die Rezession, der wirtschaftliche Niedergang. Mit ihm nahm auch die Zahl der Auto-Neuzulassungen drastisch ab, und die Autos werden seitdem wieder deutlich kleiner. 90 Prozent der in den vergangenen zwei Jahren neu zugelassenen Fahrzeuge werden in den beiden schadstoffärmsten und steuerlich günstigsten Klassen geführt. 2012 wurden in der Republik noch 76 250 neue Autos zugelassen, ein Jahr zuvor waren es 86 900, das waren – gepusht durch eine Abwrackprämie im ersten Halbjahr – immerhin 1,6 Prozent mehr als im Jahr 2010. Doch im Spitzenjahr 2007, dem letzten Jahr des irischen Booms, war die Zahl der Neuzulassungen laut Irish Times mehr als doppelt so hoch und lag bei 186 500. Die Zulassungszahlen zeigen, welche tiefen Spuren die Rezession in den Taschen der Insulaner hinterlassen hat.

Und dann schlug auch noch das Schicksalsjahr 2013. Zwar hatte das Land den angekündigten Weltuntergang im Dezember 2012 trotz großer Bedenken abergläubischer Einwohner problemlos überstanden, doch dann drohte die unglückselige Zahl 13 die Automobilwirtschaft auf der Insel endgültig in den Abgrund zu ziehen. Laut Befragungen war es für jeden zwölften Iren nicht vorstellbar, ein Autokennzeichen mit der Jahreszahl 13 zu chauffieren. Diese Befindlichkeit kam der Automobil-Lobby gerade recht. Denn die Neigung der Autobesitzer, einen beträchtlichen Teil der Neuwagen bereits in den ersten drei Monaten des neuen Jahres zu kaufen, um frühzeitig anzuzeigen, dass man vorne mit dabei ist, stellt die Autohändler seit Jahren vor große Probleme: Sie kämpfen mit vier Monaten Hochbetrieb und acht Monaten Flaute. Die Abschaffung der Unglückszahl 13 auf den Kfz-Kennzeichen und die Einführung der Ziffern 131 und 132 – verbunden mit zwei Zulassungshalbjahren – sollten deshalb Glück und Glanz von Fahrern und Händlern gleichzeitig mehren. Was leicht verschroben wirkt, ist schlichtweg eine typische irische Lösung für ein typisch irisches Problem.

Wir fahren durch Straßendörfer. Hier begrenzen die längs zur Ortsdurchfahrt stehenden, direkt aneinander gebauten, geduckten alten Häuser die enge Straße auf beiden Seiten. Die Ortsdurchfahrten stammen aus einer Zeit, als das Auto noch nicht erfunden war. Sie halten dem Verkehrsaufkommen heute nur mühsam stand. Die Hausbänder links und rechts präsentieren sich in bunten, wechselnden Farben. Gäste aus dem Ausland halten den farbenfrohen Anblick der Dörfer gerne für »typisch irisch«. Das mag mittlerweile stimmen, doch noch vor 30 oder 40 Jahren waren die Häuser in Irland entweder grau verputzt oder mit weißer Kalkfarbe gestrichen. Die blassen Farben der Armut wichen erst mit zunehmendem Wohlstand den bunten Fassaden, die der stolze und pflichtbewusste Hausbesitzer nun alle ein, zwei Jahre neu bepinselt.

Ein Vorzug der irischen Dörfer und Städtchen: Viele von ihnen halten für Bewohner wie Besucher und Durchreisende noch eine alte Institution bereit: die öffentliche, kostenlos zu benutzende Toilette. Sie ist gewöhnlich an ihrer Schmucklosigkeit zu erkennen, und oft wäre Latrine das bessere Wort für das stille öffentliche Örtchen. Doch wer wollte in der Not über Stilfragen diskutieren? Nur eines muss bedacht sein: »M« steht in Irland nicht für »Männer« und »F« auch nicht für »Frauen«. Auf Irisch heißen die Männer Fir und die Frauen Mna. Wie gesagt, Irland ist anders. Immer dran denken, auch wenn die Zeit einmal drängt.

Autofahren in Irland ist übrigens ziemlich einfach. Die meisten Kreuzungen sind gar keine, weil der Verkehr kreuzungsfrei durch große und kleine Kreisel fließt und man sich nur eines merken muss: Der Kreisel hat immer Vorfahrt, wer in den Kreisel einfährt, wartet auf seine Gelegenheit und gibt seine Absicht beim Ausfahren durch Blinken zu erkennen. Dass das Blinken genauso wie andere Regeln reine Theorie ist und weiter niemanden interessiert (außer neuerdings ein paar übereifrige Verkehrspolizisten), ist ein anderes Thema, genauso wie die Sache mit dem Führerschein. Noch immer fahren in Irland zigtausend Verkehrsteilnehmer ohne gültigen Führerschein – manche völlig legal, andere weniger. Wenn jemand mit dem roten L-Schild (für Learner) unterwegs ist, heißt das zumeist, dass der Fahrer rein theoretisch über den Straßenverkehr Bescheid weiß beziehungsweise immerhin die Theorieprüfung gemacht hat. Der Fahrschüler darf in diesem Fall in Begleitung eines Führerscheinbesitzers selber am Steuer sitzen. Die Sache mit dem Beifahrer wird allerdings im Alltag allzu leicht vergessen, genauso wie die mit dem »L« an der Heckscheibe. Doch bis vor Kurzem schreckte jede irische Regierung davor zurück, dem Wahlvolk ohne Führerschein das Leben in der Praxis schwer zu machen.

Den Angaben auf dem wachsenden Heer von Straßenschildern darf man übrigens einigermaßen Glauben schenken – jedenfalls mehr als noch vor zehn Jahren. Die alten gusseisernen schwarzweißen Wegweiser mit Meilenangaben wirkten oft willkürlich gesetzt, zeigten bevorzugt in die falsche Richtung und widersprachen sich regelmäßig und mehrfach innerhalb von nur ein, zwei Meilen Fahrt. Eine übereifrige Administration und die auf Vereinheitlichung drängende Europäische Union haben das Land neuerdings aber mit einem flächendeckenden modernen Schilderwald überzogen, der die Verkehrsteilnehmer mit Kilometer- und Stundenkilometer-Angaben diszipliniert und auch vor dem kleinsten Feldweg nicht haltmacht. Irlands Straßenverwalter machten sich eine Schilderästhetik zu eigen, die ihre Wurzeln in Großbritannien, in den USA, in der EU und in Australien hat.

Die schlauen Planer haben zudem vier Straßentypen ausgemacht und die Beschilderung systematisch und stur durchgezogen: das 120 km/h-Tempolimit für Autobahnen, 100 km/h für Nationalstraßen, 50 km/h für Ortsstraßen und 80 km/h für regionale und lokale Straßen. Ungläubige Touristen fotografieren nun immer wieder gerne die abstrusen Resultate der Schilderreform: Beliebte Motive sind die Tempo-80-Schilder an den vielen Feldwegen und den engen Sträßchen, auf denen man auch mit viel Übung kaum auf die Hälfte der Maximalgeschwindigkeit kommt, ohne sich als Hasardeur und Straßenrowdy zu outen.

Die Iren selber nehmen die vielen neuen Schilder gelassen hin, gewissermaßen als unverbindliche Vorschläge, und ärgern sich allenfalls, dass sie am großen Schilderdeal selber nicht verdient haben. Die Regierung im fernen Dublin hat mittlerweile immerhin eingesehen, dass das neue System deutliche Schwächen hat. Nun wartet man auf die Reform der Reform.

Und woran merken wir sonst noch, dass wir endlich in Irland sind? An den rothaarigen, sommersprossigen Menschen vielleicht? Dies allenfalls mit etwas Glück, denn so häufig wie im Vorurteil kommen die »typischen« Iren im wirklichen Leben nicht vor. Wenn wir jedoch bei acht Grad Celsius und Nieselregen auf der Straße Männern in T-Shirts und Mädchen in ärmellosen Hemdchen und kurzen Röcken begegnen, in der Hand eine Flasche Lucozade oder eine Tüte Tayto-Kartoffelchips, dann können wir ziemlich sicher sein, dass wir angekommen sind in diesem wundersamen kleinen Land.

Das liebe Wetter: Thema Nummer eins

Auch das Wetter sollte uns einen deutlichen Hinweis auf unseren Aufenthaltsort geben. Selbst wenn es einmal wenig spektakulär ist: Die Menschen reden darüber. Ständig. Pausenlos. In jedem Gespräch, vor jedem Smalltalk, bei jeder Begrüßung: Erst wird das Wetter erörtert. »Wie geht’s dir, was für ein wundervoller Morgen.« – »Mir geht’s nicht übel, welch ein prächtiger Morgen.« Die eher rhetorische Gruß-Frage »Wie geht es?« (»How are you?«) wird meist kurz beantwortet mit »Good« oder »Not too bad« und dann mit einem Kommentar zum Wetter gekontert: »Nice morning.« Der Konter wird erwidert mit einer Bestätigung des Wetterkommentars, etwa mit »Glorious morning«. Danach wird dann das Wetter im Detail diskutiert, und so geht das eine ganze Weile hin und her, bis man endlich zur Sache kommt – oder auseinandergeht.

Jeder Ire ist sein eigener Meteorologe mit einer eigenen Prognose für die nächste Stunde, den laufenden Tag oder das ganze Jahr – und der Wetterbericht des staatlichen Wetteramtes Met Éireann gehört obligatorisch zum täglichen Medienmenü. Besucher, die das Gesprächsritual noch nicht beherrschen, grübeln gelegentlich über die Frage nach, warum die Iren eigentlich so gerne, so oft, so leidenschaftlich und vor allem ständig über das Wetter reden. Wir haben die Frage einmal auf die Metaebene gehoben und einfach die Nachbarn gefragt: Warum tut ihr das? Das kam dabei heraus: Weil das Wetter so selten den eigenen Erwartungen entspricht. Weil Wetter ein so herrlich unverfängliches Thema ist, über das man sich sogar streiten kann, ohne miteinander in Streit zu geraten. Weil man es nicht beeinflussen kann und deshalb auch niemandem die Verantwortung oder gar die Schuld geben muss – außer vielleicht den Amateuren vom Wetteramt, die gestern mit ihrer Prognose mal wieder komplett danebenlagen. Oder weil man dann nicht über die neuesten Untaten des Pfarrers reden muss und weil es kein besseres Thema für eine formale und unverdächtige Unterhaltung gibt. Oder weil sich der nächste Pub-Besuch mit einem Hinweis auf das Wetter bestens rechtfertigen lässt: Denn im Pub ist das Wetter immer dasselbe, dort regnet es eher selten – sieht man einmal von gelegentlichen Bierduschen ab.

Andrew O’Shea, Besitzer eines Modeladens in West Cork, gibt eine weitere plausible Antwort: »Wir Iren reden unaufhörlich vom Wetter, weil es einen so großen Einfluss auf unser Leben hatte und bis heute hat.« Das ist der entscheidende Hinweis: In der Agrargesellschaft, die Irland bis vor Kurzem noch war, waren die Menschen vom Wetter stark abhängig, und sie sind es bis heute, weil das Wetter in Irland so vielfältig ist, dass man sprichwörtlich alle vier Jahreszeiten an einem Tag erleben kann.

Die Entscheidungen über das Wetter des Tages fallen nicht immer, aber sehr oft draußen über dem Atlantik. Was die konkurrierenden Wettersysteme dort unter sich ausmachen, wird als Hoch oder Tief direkt auf den ersten Vorposten am westlichen Rand der europäischen Landmasse geschickt – und der heißt Irland. Hier kommen die Regengebiete genauso ungebremst und ungebändigt an wie die wilden Winterstürme oder das Bilderbuchwetter mit Sonne und Kumuluswolken. An Irlands Atlantikküste im Westen der Insel gibt es deshalb privilegierte Orte, die 2000 Millimeter Regen und mehr pro Jahr abbekommen. Das sind immerhin zwei Meter in der Höhe, die mühelos ein Freibad füllen würden. Fast kontinental geht es dagegen schon auf der anderen, der Europa zugewandten Ostseite der Insel zu: Dort fallen in einem durchschnittlichen Jahr 750 bis 1000 Millimeter Regen – Werte, die man auch aus Flensburg oder München kennt. Die amtlich bestallten Wetterfrösche von Met Éireann, die in einer Büropyramide in Dublins Stadtteil Glasnevin arbeiten, stehen auf dem Land immer im Verdacht, das Wetter nur für Dublin zu »machen«, und so wundert es niemanden, dass sie aus ihren jahrzehntelangen Aufzeichnungen diese Mittelwerte errechnet haben: An der Ost- und Südostküste der Insel gibt es pro Jahr etwa 150 Regentage, im Westen sind es bis zu 225 – und ein Regentag ist ein Regentag, wenn mehr als ein Millimeter Wasser vom Himmel fällt. Wer seine Chancen, nass zu werden, optimieren will, sollte sich vor allem in den Monaten Dezember und Januar im Freien aufhalten, wer mehr auf trockenes Wetter wartet, sollte statistisch abgesichert auf den Juni setzen. Aber reden wir bloß nicht vom vergangenen Juni …

Das Drama mit dem irischen Wetter ist nun: Dort, wo es eher wenig regnet, sitzen die Leute überwiegend in den Häusern und in den Büros, zum Beispiel im Großraum Dublin; und dort, wo es mehr regnet, finden die Freunde der Natur die herrlichsten Berge und die schönsten Landschaften. Das Outdoorleben am Atlantik hat deshalb seinen Preis: Wer aus dem Haus geht, wird sich von betörendem Sonnenschein nicht den Kopf verdrehen lassen, er wird trotzdem alle Fenster gut verschließen und seinen ständigen Begleiter, den Irennerz oder die wasserdichte Funktionsjacke aus Hightechfasern, auch und gerade jetzt mit sich führen. Denn wie gesagt: Das Wetter ist vielfältig und die Unterbrechung des schönen Wetters durch vier, fünf Schauer keine Seltenheit.

Es stimmt tatsächlich: Es regnet öfter in Irland als auf dem Kontinent. Die vielen Schauer tragen einen Gutteil dazu bei. Die irische Wetterbehörde legt dennoch Wert auf die wissenschaftlich untermauerte Feststellung, dass »öfter« nicht gleichzeitig »mehr« bedeutet. Typischerweise fallen an einem regnerischen irischen Tag ein oder zwei Millimeter pro Stunde, es nieselt, die Luft fühlt sich feucht an wie eine Schönheitsmaske, und der Ire spricht von einem Soft Day, einem sanften Regentag. Eher selten regnet es »Katzen und Hunde«, wie die Menschen auf der großen Nachbarinsel sagen, und das, was die deutsche Wetterfee Claudia K. neuerdings als »Starkregen« ankündigt, ist die ganz große Ausnahme und ereignet sich rein statistisch nur alle fünf Jahre.4

Allerdings wollen die Propheten des Klimawandels wissen, dass der irische Soft Day ein vom Aussterben bedrohtes Wetterphänomen sei. Die Meteorologen vom britischen Wetterdienst haben in ihren Zukunftsmodellen einen Hang zur Dramatisierung errechnet: Das sanfte Wetter soll tendenziell einem härteren und wilderen weichen. Also doch »Starkregen« über Irland? Warten wir es ab. Die Prognosen der Wissenschaftler zielen mindestens genauso oft daneben wie die der Wettermacher in der Pyramide in Glasnevin. Erinnern Sie sich zum Beispiel noch an die Mär vom Versiegen des Golfstroms? Diese warme Meeresströmung, die im großen Stil aus dem westlichen Südatlantik warmes Wetter in den östlichen Nordatlantik pumpt, ist für das milde, ausgeglichene Klima in Irland zuständig. Dem Golfstrom sei Dank, dass auf der Insel Winter vorherrschen, die den Namen nicht verdient haben, mit ein paar harmlosen Frostnächten und wenig bis ganz wenig Schnee. Wintersport zumindest kann sich in Irland nicht entfalten.

Seit dem Jahr 1999 bastelten seriöse Wissenschaftler jedoch an der Drohkulisse einer erkaltenden Wärmepumpe und eines versiegenden Golfstroms. Als die zwei aufeinanderfolgenden Winter der Jahre 2009 und 2010 dann auch noch extrem kalt ausfielen – solche Ausreißer gibt es alle 50 bis 60 Jahre – schien das Schicksal Irlands besiegelt: Patrick und Mary sahen sich am Rande einer neuen Eiszeit. Sie sinnierten schon über die Anschaffung von Schneeketten und investierten in Frostschutzmittel. Dann, im September 2012, kam die Entwarnung: Die Jäger des Golfstroms hatten sich verrechnet. Dem Golfstrom geht es gut, er pumpt so warm und so robust wie eh und je. Auf der Expertentagung »Klimafaktor Ozean« in Hamburg verkündeten die versammelten Klimaforscher im Chor: Der Golfstrom pumpt, und das ist gut so.5 Wir sangen mit: Lang niesele der sanfte Regen.

Am Tag, als mir der weitgereiste Mark aus Macroom die wahre Lebensart des entschlossenen Iren erklärte, regnete es übrigens nur einmal: von morgens bis abends. Wir bestiegen zusammen den Hungry Hill, einen der schönsten Aussichtsberge Irlands, im Zentrum der Beara-Halbinsel. Wir stapften, wir schlitterten und wir krabbelten, stellenweise auf allen vieren, durch Matsch und Pfützen. Von Aussicht keine Spur. Doch wir folgten Marks Lebensmotto für einen gelingenden irischen Alltag. »Mache deine Pläne bevor du morgens die Gardinen öffnest und führe sie dann aus – egal, was du da draußen siehst.« Yes, we did it!

Exkurs: Das Wetter und die Gäste Irlands

Das Wetter ist nicht nur das Lieblingsthema der Iren. Auch die Besucher Irlands lassen sich leicht anstecken und verpassen keine Gelegenheit, um den Wettergott zu beschwören – allen voraus die Besucher aus Deutschland. Die imprägnierten Insulaner haben zahlreiche Euphemismen in die Welt gesetzt, die jeden Gast eigentlich aufhorchen lassen müssen: Sie lassen Champagner regnen, sie stehen tropfnass im »flüssigen Sonnenschein« (liquid sunshine), sie erleben »vier Jahreszeiten an einem Tag«, sie erkennen einen »lovely morning«, wenn es dem Urlaubsdeutschen vor lauter Wetterfrust schon die klammen Schuhe auszieht.

Die Deutschen und das irische Wetter, auch das ist eine lange Geschichte, die Geschichte einer Hassliebe.

Zigmillionen Deutsche wollen eigentlich gerne einmal ins romantische Irland reisen. Am Ende schaffen Jahr für Jahr gerade 450 000 deutsche Reiselustige den Sprung über die zwei Meereskanäle. Zu sehr drohen schlechtes Wetter, Dauerregen, miese Laune – da geht man lieber auf Nummer sicher, bucht das Ticket mit Schönwettergarantie nach Mallorca und auf die Kanaren, an die schöne blaue Adria, die Strände von Alexis, Julio, Mehmet oder Giovanni. Warum auch nicht. Gott hält seine nasse Hand schützend über die Grüne Insel. Die deutschen Irlandreisenden, die es schließlich doch wagen und es auch schaffen, im Land des vermeintlich ewigen Regens anzukommen, lassen sich in diese sechs Wettertypen aufteilen – wobei der Irland-Besucher in seiner Wetterfühligkeit zur Hybridisierung neigt:

1. Der Wetter-Nörgler

Mit skeptischem Blick auf das Smartphone stellt er mindestens dreimal am Tag familienöffentlich fest, dass es in Deutschland gerade wieder drei Grad wärmer und zehn Millimeter trockener ist. Der Feststellung folgt eine kritische, meist mit negativen Untertönen durchsetzte Würdigung des lokalen Kleinklimas. Der Nörgler neigt zur Selbstkritik: Eigentlich hat er es aufgrund akribischer Vorstudien ja gewusst, dass das Wetter in Kerry kühler ist als das auf Gran Canaria.

2. Der Wetter-Leidende (WL)

Eigentlich die Wetter-Leidende, denn WLs sind oft weiblich. Sie neigen zum kalten Fuß; wenn ihr unruhiger Blick nicht gerade den Himmel nach Regenwolken scannt, sucht sie die Räume im Automodus nach Heizkörpern und Thermostaten ab. Wetter-Leidende werden oft in drei Schichten Fleece gehüllt angetroffen und verlangen auffallend oft nach Wärmflasche und Dauerheizung. Im Kuschelbettchen unter warmen Decken ist Irland einfach am schönsten. Auch über einem Gläschen Hot Whiskey lässt sich das Leid besser ertragen.

3. Der Wetter-Kolumbus

Ein ganz schräger Vogel. Er will nach Indien und landet in Amerika. Er will sich im Süden im heißen Sand wälzen und friert sich in Lahinch die Klöten ab, wie er das selber ausdrückt. Er ist der dumme August der Reise-Community. Denn eigentlich hätte er wissen können, dass der Ire auf dem Breitengrad von Hamburg keine Kokospalmen erntet.

4. Der Wetter-Engel

Der Wetter-Engel (m/w) ist ein häufig anzutreffendes Geschöpf. Er hat seine großen Momente im herrlichen Sonnenschein, im Dauerschönwetter und in der ein- bis zweiwöchigen Regenpause. In seinem Narzissmus schreibt sich der Wetter-Engel den Umstand schönen Wetters oder absolut trockener Tage und Wochen immer selber zu. »Wenn Engel reisen …«, spricht die Wetter-Engelin vielsagend und lässt ihr Gegenüber angesichts dieser mächtigen metaphysischen Machtdemonstration staunend zurück. Wer wollte einem wettergottgleichen Wesen schon widersprechen.

5. Der Wetter-Fatalist

Der Wetter-Fatalist nimmt das Wetter, wie es ist. Er lebt nach dem Wahlspruch: Ändere, was du ändern kannst, und nimm den Rest gelassen an. Den Wetter-Fatalisten gibt es in der Version des Vorbereiteten, der sich alle Varianten vom Sonnenbrand bis zu leichten Erfrierungen vorstellen kann und mit entsprechender Kleidung vorsorgt. Die Version des sorglosen Wetter-Fatalisten verfügt in der Regel über eine robuste physische Konstitution. Der Regen perlt an seiner Teflonhaut ab, die UV-Strahlung reflektiert er unbeeindruckt in den Äther zurück. Der Wetter-Fatalist ist der wahre Meister der Klimabeherrschung. Er lebt nach der Wahrheit: Das Wetter in Irland ist fabelhaft. Es schützt dieses Land vor allerlei – auch vor Massentourismus, Sangria-Eimern und Teutonengrill.

6. Der Wetter-Tolerante

Dem Wetter-Fatalisten nicht unähnlich, befindet sich der Wetter-Tolerante noch auf dem Weg. Er ist sozusagen der Oberstufenschüler in der großen Wetterschule. Betont bemüht, scheut er keine Anstrengung, um sich dem Wetter gewachsen zu zeigen. Ob’s stürmt oder schneit, der Wetter-Tolerante ist allzeit bereit, den Schritt vor die Tür zu wagen. Koste es, was es wolle. Der Wetter-Tolerante hat vor Reiseantritt meistens eine niedrige vierstellige Summe in Funktionskleidung investiert, denn er lebt nach dem Wahlspruch: »Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur schlechte …« Genau. Kleidung.

Die Lage: Nur einen Ozean von Amerika entfernt