Jack London

Wolfsblut


Impressum

Covergestaltung:       Alexandra Paul

Digitalisierung:       Gunter Pirntke


2013 andersseitig.de

ISBN: 9783955010676


andersseitig Verlag

Helgolandstraße 2

01097 Dresden


info@new-ebooks.de


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Inhalt

ERSTER TEIL

1. Die Fährte nach Fleisch

2. Die Wölfin

3. Der Hunger heult

ZWEITER TEIL

1. Der Stärkste siegt

2. Das Indianerlager

3. Das graue Wölflein

4. Die weiße Wand

5. Das Recht auf Fleisch

DRITTER TEIL

1. Die Herren des Feuers

2. In der Knechtschaft

3. Ausgestoßen . . .

5. Mit den Menschen verbündet

6. Hungersnot

VIERTER TEIL

1. Der Feind

2. Die große Fahrt

3. Der grausame Gott

4. Die Herrschaft des Hasses

6. Unzähmbar

7. Der neue Gebieter

FÜNFTER TEIL

1. Wolfsblut kommt mit

2. Im Süden

3. Die neue Welt

4. Wolfsblut bellt

5. Der schlafende Wolf

 

ERSTER TEIL

1. Die Fährte nach Fleisch

Finster drohend stand der Tannenwald zu beiden Seiten des eingefrorenen Wasserlaufs. Der Sturm hatte vor ein paar Tagen die weiße Schneedecke von den Bäumen weggewischt, sodass man nun den Eindruck hatte, sie suchten im düsteren Tageslicht beinahe Schutz. Tiefe Stille lag über dem Land, das eine Wildnis war, ohne Leben, ohne Bewegung, einsam und kalt und doch nicht traurig. Eher lag ein Lachen über ihm, das schrecklicher als alle Traurigkeit war, freudlos wie das Lächeln der Sphinx, kalt wie der Frost und fürchterlich wie die Not. Der unerforschliche Ratschluss des Ewigen lachte hier über die Sinnlosigkeit des Lebens und seiner Nöte. Es war die Wildnis: die unendliche, ungezähmte, grausam-kalte Wildnis des Nordens.

Und doch gab es Leben in diesem Lande, trotziges Leben: den eingefrorenen Wasserlauf entlang zog mühsam eine Reihe von wolfsähnlichen Hunden; ihr Atem gefror in der Luft, sowie er in dichten Dampfwolken aus dem Maul kam, und bildete fantastische Kristalle an ihrem Pelz. Sie waren mit ledernen Riemen an einen Schlitten gespannt, der keine Kufen hatte, sondern, aus dicker Birkenrinde verfertigt, mit seinem ganzen Gewicht auf dem Boden ruhte. Das vordere Ende war aufgebogen, um den weichen Schnee, der wie Wellenschaum emporstäubte, beiseite zu schieben. Auf dem Schlitten stand ein langer, schmaler, viereckiger Kasten, und noch manches andere, wie zum Beispiel Wolldecken, ein Beil, ein Kaffeetopf und eine Bratpfanne, war darauf festgeschnallt. Den weitaus größten Raum nahm jedoch der Kasten ein.

Vor den Hunden wanderte ein Mann auf breiten Schneeschuhen, hinter dem Schlitten ein zweiter. In dem Kasten auf dem Schlitten lag ein dritter, für den alle Mühe und Plage vorüber war, ein Mensch, den die Kälte besiegt hatte. Er rührte sich nicht mehr. Und nichts hasst die Wildnis des Nordens mehr als Bewegung.

Sie hasst das Leben, denn es ist Bewegung. Sie will alle Bewegung aufhören lassen. Sie lässt das Wasser gefrieren und hemmt seinen Lauf zum Meere. Sie treibt den Saft aus den Bäumen und tötet ihr Herz. Und sie verfolgt mit unendlicher Grausamkeit den Menschen und zwingt ihn zur Unterwerfung, ihn, der das ruheloseste aller Wesen ist, ihn, der sich immer gegen ihr Diktat, dass alle Bewegung aufhören müsse, auflehnt.

Unablässig und unerschrocken wanderten vor und hinter dem Schlitten die beiden Männer, die noch lebten. Ihr Körper war durch einen dicken Pelz und weich gegerbtes Leder geschützt. Ihre Wimpern, Wangen und Lippen waren mit den Eiskristallen ihres gefrorenen Atems bedeckt. Dadurch waren ihre Gesichtszüge unkenntlich, sodass sie eher gespenstischen Masken als Menschen glichen: oder Leichenträgern aus einer anderen Welt beim Leichenbegängnis eines Gespenstes.

Und doch waren sie Menschen: Abenteurer, die das Land des Schweigens durchwanderten und den Kampf gegen eine Welt aufnahmen, die fremd und ohne Leben war.

Sie sprachen beim Wandern kein Wort, um den Atem für die Arbeit ihrer Körper zu sparen. Ringsum herrschte lastende Stille, die sie bedrückte wie die Masse des Wassers den Taucher auf dem Grunde des Meeres. Sie machte sie klein und klar: Jede falsche Bewegung, jedes sinnlose Verlangen, jede übertriebene Wertschätzung des Irdischen fiel von ihnen ab. Sie waren nichts als kleine, bedeutungslose Atome im Weltenraum und bewegten sich, den Naturkräften preisgegeben, bald hierhin, bald dorthin. Stunde um Stunde verstrich. Das blasse Licht des kurzen, sonnigen Tages fing an zu erlöschen, und ein ferner, kaum hörbarer Laut stieg zum Himmel empor. Rasch glitt er hinauf, bis er zitternd auf dem höchsten Ton verweilte und dann wieder versank. Es hätte der Klageruf einer verlorenen Seele sein können, wenn nicht Gier und Wildheit in ihm die Traurigkeit übertönt hätten. Der Mann, der vorne ging, wandte sich zu seinem Gefährten um. Ihre Blicke trafen sich und sie verstanden einander vollkommen, ohne ein Wort zu sprechen. Wieder erklang dieser Laut, diesmal schrill das Schweigen zerreißend. Er kam aus der Schneewüste, die die beiden Männer hinter sich gelassen hatten. Und schon war ein dritter Schrei da, aus derselben Richtung.

»Sie verfolgen uns, Bill«, sagte der, der vorne ging. Seine heisere Stimme glich der eines Greises. Das Sprechen kostete ihn viel Mühe.

»Ja, es gibt nur wenig Fleisch«, erwiderte sein Gefährte, »seit Tagen habe ich keine Kaninchenspur mehr gesehen.«

Weiter sprachen sie nichts. Immer wieder erklang der Schrei der Verfolger hinter ihnen.

Als die Dunkelheit hereinbrach, lenkten sie die Hunde in ein Tannengebüsch am Rande des Wasserlaufs, um ein Lager zu errichten. Der Sarg stand neben dem Feuer: Er war Sitz und Tisch zugleich. Die wolfsähnlichen Hunde drängten sich beim Feuer zusammen, knurrten und bissen sich, wagten es aber nicht, ins Dunkel vorzudringen.

»Sie bleiben heute bei uns, Henry«, sagte Bill.

Henry, der für das Kaffeewasser ein Stück Eis in den Topf gab, nickte.

»Sie wissen ganz genau, wo sie am sichersten sind. Selber fressen ist besser, als gefressen zu werden. Sie sind gar nicht dumm.«

»Ist das so sicher?« Bill schüttelte den Kopf.

Der andere blickte ihn verwundert an. »Seit wann bist du von ihrer Klugheit nicht mehr überzeugt?«

Bill kaute an seinen Bohnen, »blast du vielleicht bemerkt, welchen Krawall sie bei der Fütterung gemacht haben?«

»Ja, es ist mir aufgefallen.«

»Wie viel Hunde haben wir?« — »Sechs.«

»Gut...« Bill hielt ein wenig inne, wie um dem Gesagten mehr Nachdruck zu verleihen. »Wir haben sechs Hunde. Ich hatte sechs Fische in der Hand, als ich sie fütterte. Und ich gab jedem Hund seinen Fisch. Und ich hatte doch zu wenig, Henry.«

»Du hast dich geirrt.«

»Wir haben sechs Hunde«, wiederholte Bill ruhig. »Ich hatte sechs Fische in der Hand. Einohr bekam aber keinen. Für ihn musste ich einen siebenten Fisch holen.«

»Wir haben aber nur sechs Hunde.« Henry blieb hartnäckig.

»Gewiss, aber ich möchte nicht beschwören, dass alle, die einen Fisch bekommen haben, Hunde waren«, fuhr Bill fort.

Henry unterbrach seine Mahlzeit, blickte über das Feuer hinweg und zählte die Hunde.

»Es sind nur sechs«, sagte er.

»Einer lief über den Schnee davon«, beharrte Bill kühl und bestimmt, »ich sah es mit eigenen Augen. Außerdem kann ich bis sieben zählen.«

Henry warf ihm heimlich einen mitleidigen Blick zu.

»Hoffentlich ist diese Fahrt bald vorüber.«

»Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, dass dich unsere Fracht fertig macht. Du siehst Gespenster.«

»Ich habe es zuerst auch geglaubt«, gab Bill ernst zur Antwort. »Darum hab ich, wie ich ihn weglaufen sah, den Schnee untersucht und hab Spuren gefunden. Dann habe ich die Hunde gezählt und es waren sechs. Die Spur ist noch da. Willst du sie sehen?«

Henry erwiderte nichts, sondern kaute schweigend weiter. Als er den Rest der Mahlzeit mit einer Tasse Kaffee hinuntergespült hatte, wischte er sich mit dem Handrücken den Mund und sagte: »Du glaubst also, dass ...«

Ein lang gezogener, trauriger Ton kam aus der Dunkelheit und unterbrach seine Frage. Er hielt inne, um zu horchen. Dann schloss er seinen Satz, nach dem Geheul weisend: »... einer von denen?«

Bill nickte. »Jeder andere Glaube wäre mir lieber. Aber du hast ja selbst den Krawall gehört, den die Hunde gemacht haben.«

Plötzlich kam das Geheul von allen Seiten. Es verwandelte die Stille ringsum in den Lärm eines Tollhauses. Jeder einzelne Schrei erklang wie als Antwort auf den anderen. Die Hunde, von Angst gepackt, drängten so dicht an das Feuer heran, dass die Flammen ihren Pelz versengten.

Bill warf Holz in die Glut und entzündete seine Pfeife. »Du bist heute nicht gerade guter Laune«, sagte Henry.

Bill sog nachdenklich an seiner Pfeife, ehe er antwortete: »Der in der Kiste ist hundertmal besser dran als wir... Für uns wird es keine Kiste geben. Wir müssen froh sein, wenn so viel Steine auf unserem Kadaver liegen werden, dass die Hunde davon abgehalten werden.«

»Ja, wir haben keine Verwandten und kein Geld. Eine so lange Reise als Leiche können wir uns nicht leisten.«

»Eines verstehe ich nicht. Was hat so ein feiner Herr, der im eigenen Land alles hat, was er braucht, in diesem gottverlassenen Erdenwinkel zu suchen? Ich kann das wirklich nicht begreifen.«

»Ja, er wäre alt geworden, wenn er zu Hause geblieben wäre...«, sagte Henry zustimmend.

Bill wollte etwas sagen, besann sich aber eines anderen. Er deutete in das Dunkel hinein, das sie von allen Seiten wie eine Mauer umgab. Im dichten Dunkel waren weder Gestalten noch Formen zu erkennen, was man allein sah, war ein Augenpaar, das wie glühende Kohlen leuchtete. Henry deutete mit einer Kopfbewegung nach einem zweiten Augenpaar, nach einem dritten. Ein Kreis glühender Augen schien sich um das Lager geschlossen zu haben. Manchmal bewegten sich die glühenden Punkte, verschwanden und tauchten eine Sekunde später wieder auf.

Die Ruhelosigkeit der Hunde nahm zu. Plötzlich — in einem Anfall wilder Angst — rannten sie nach der Innenseite des Feuers und scharten sich dicht um die Männer. Einer kam dabei nahe dem Feuer zu Fall und versengte sich seinen Pelz. Er winselte vor Schmerz und Angst. Und der Kreis der glühenden Augen bewegte sich unruhig hin und her, zog sich ein wenig zurück und stand dann wieder an seinem alten Platz, als die Hunde wieder ruhiger waren.

»Es ist ein Jammer, dass wir keine Patronen mehr haben«, sagte Bill. Er hatte seine Pfeife ausgeraucht und half nun Henry, die wollenen Decken und Pelze auf die Tannenzweige zu legen, die sie vorher auf dem Schnee zurechtgemacht hatten. Henry gab durch ein Brummen seine Zustimmung bekannt und begann, seine Mokassins aufzuschnallen.

»Wie viele Patronen haben wir noch?«

»Drei. Dreihundert wären mir lieber. Dann würde ich es den verfluchten Bestien schon zeigen.«

Bill drohte mit der Faust nach den glühenden Augen hin und begann ebenfalls, seine Mokassins auszuziehen, die er ans Feuer stellte.

»Wenn diese verdammte Kälte einmal nachlassen würde«, fuhr er fort. »Vierzehn Tage lang haben wir nun schon Temperaturen unter fünfzig Grad. Ich wollte, ich hätte mich nie auf diese Fahrt eingelassen. Sie gefällt mir nicht, Henry. Ich fühle mich nicht wohl in meiner Haut. Wenn sie doch schon vorüber wäre! Wie wäre das schön, wenn wir in Fort McGurry am Feuer säßen und Karten spielten!«

Henry kroch ins Bett und brummte etwas vor sich hin. Gerade als er einschlafen wollte, weckte ihn der Gefährte noch einmal.

»Warum haben ihn die Hunde nicht weggebissen? Du weißt schon, wen ich meine... den, der den Fisch bekam. Das ist beruhigend.«

»Mach dir nicht so viel Gedanken«, erwiderte Henry schläfrig. »Du warst doch früher nie so. Schlaf dich ordentlich aus, morgen wirst du wieder frisch und munter sein. Sicher hast du dir den Magen verdorben.« Die beiden Männer schliefen unter derselben Decke. Sie atmeten schwer. Das Feuer brannte niedriger und der Kreis glühender Augen wurde enger. Die Hunde drängten sich voll Angst aneinander und stießen jedes Mal, wenn ein Augenpaar näher kam, ein drohendes Knurren aus. Einmal wurde der Lärm so arg, dass Bill aufwachte. Er stand vorsichtig auf, um seinen Kameraden im Schlaf nicht zu stören, und warf Holz ins Feuer.

Als es aufloderte, zogen sich die Augen sofort zurück. Der Mann blickte nach den Hunden, rieb sich die Augen und — blickte noch einmal hin. Dann kroch er wieder unter die Decken.

»Henry«, sagte er leise, »du, Henry...«

Der brummte halb im Schlaf: »Was ist denn los?«

»Nichts weiter. Aber es sind jetzt wieder sieben. Ich habe sie gerade gezählt.« Henrys Antwort war ein Brummen, das bald in ein Schnarchen überging.

Henry erwachte als Erster und weckte seinen Kameraden. Obwohl es schon sechs Uhr war, mussten sie noch drei Stunden auf den Tag warten. Die beiden Männer krochen in der Dunkelheit herum. Henry kochte das Frühstück, Bill rollte die Decken zusammen und machte den Schlitten abfahrbereit.

»Wie viele Hunde hatten wir?«, fragte Bill plötzlich.

»Sechs.«

»Stimmt nicht.« Bill triumphierte.

»Wieder sieben?«, fragte Henry.

»Nein, fünf. Einer ist fort.«

»Verflucht!«, rief Henry wütend, ließ das Frühstück sein und kam, die Hunde zu zählen. »Tatsächlich. Fett ist fort.«

»Wie der Blitz war er weg. Kaum war er weg, war auch schon nichts mehr von ihm zu sehen.«

»Sie haben ihn bestimmt lebendig gefressen. Ich wette, dass er noch bellte, als sie ihn verschlangen, diese verfluchten Bestien.«

»Er war kein sehr kluges Tier.«

»Aber, dass er so dumm war und Selbstmord beging...«

Henry sah bei diesen Worten prüfend die anderen Hunde an, als wolle er ihren Charakter studieren.

»Ein anderer hätte es nicht getan.«

»Die könnte man nicht einmal mit einem Stock vom. Feuer wegjagen. Fett war eben ein blödes Vieh.«

So klang hier im Nordland die Grabrede auf einen toten Hund. Sie klang nicht anders als manche andere auf einen Hund oder — auf einen Mann.

 

2. Die Wölfin

Das Frühstück war verzehrt, die geringen Habseligkeiten auf dem Schlitten verpackt. Als die beiden Männer das Feuer verließen und in der Dunkelheit untertauchten, erhob sich sofort wieder das traurige, fürchterliche Geheul, die Kälte und Dunkelheit durchdringend. Die Gespräche der Männer verstummten. Um neun ward es Tag. Mittags erglänzte der Himmel im Süden in einem rosigen Licht, das schnell verblasste. Das graue Tageslicht, das verblieb, dauerte bis drei. Dann schwand es auch und wieder breitete die Polarnacht ihr dunkles Leichentuch über die tote, trübselige Nacht.

Sofort als die Dunkelheit hereingebrochen war, hatte sich auch das Geheul genähert. Einmal war es so nahe, dass die ermatteten Hunde vor Angst zu zittern begannen und vor Erregung durcheinander gerieten. Das verursachte einen kurzen Aufenthalt, das Gespann musste in Ordnung gebracht werden.

»Wenn sie nur irgendein anderes Wild aufspüren würden, dann ließen sie uns endlich in Ruhe«, sagte Bill.

»Ja, es macht schrecklich nervös«, pflichtete Henry bei.

Das war alles, was sie miteinander sprachen — bis zum Nachtlager.

Henry warf kleine Eisstücke in den Topf mit den Bohnen, als ihn ein lauter Schlag und ein Ausruf Bills zusammenfahren ließen. Er richtete sich auf und sah gerade noch eine graue Gestalt, die über den Schnee lief und im Dunkel verschwand. Dann erblickte er Bill, der mitten unter den Hunden stand, halb triumphierend, halb niedergeschlagen, und in der einen Hand einen Knüppel, in der anderen das Schwanzende eines gedörrten Lachses hielt.

»Die Hälfte hat das Mistvieh erwischt«, sagte er, »aber es hat einen ordentlichen Schlag abbekommen. Hast du die Bestie schreien gehört?«

»Wie sah sie denn aus?«, fragte Henry.

»Ich konnte sie nicht sehen. Aber sie hatte ohne Zweifel vier Beine, ein Maul und Haare. Ich glaube, dass sie wie ein Hund aussah.«

»Wahrscheinlich ein zahmer Wolf.«

»Aber schon sehr zahm, wenn das Tier zur Fütterung kommt und sich einen Fisch holt...«

Als das Abendessen vorüber war und die beiden Männer wieder auf der Kiste saßen und ihre Pfeifen hervorholten, zog sich der Kreis glühender Augen wieder dichter zusammen.

»Wenn ihnen doch nur ein Rudel Elche in den Weg käme«, seufzte Bill und entzündete seine Pfeife.

Henry brummte eine unverständliche Antwort. Sie saßen eine Viertelstunde schweigend da, Henry starrte ins Feuer, Bill auf den glühenden Augenkreis in der Dunkelheit dicht hinter dem I 'euer.

»Es wäre schön, wenn wir von hier ohne Unterbrechung direkt bis McGurry fahren könnten«, begann Bill von neuem.

Henry wurde es zu bunt. »So gib doch endlich Ruhe und hör mit deinem Gejammer auf! Du hast dir den Magen verdorben, ich hab es schon einmal gesagt. Nimm eine ordentliche Dosis Natron, das wird dir helfen und einen angenehmeren Gesellschafter aus dir machen.«

Am Morgen wurde Henry durch fürchterliches Fluchen Bills geweckt. Er setzte sich auf und sah seinen Kameraden mit wutverzerrtem Gesicht neben dem Feuer mitten unter den Hunden stehen.

»Was ist denn geschehen?«, fragte Henry.

»Frosch ist weg!«

»Glaub ich nicht!«

»Er ist weg!«

Henry sprang aus den Decken. Er zählte die Hunde und musste feststellen, dass wieder einer verschwunden war. Nun begann auch er, laut zu fluchen.

»Frosch war der stärkste von allen«, sagte Bill.

»Und er war auch nicht dumm«, erklärte Henry und hielt damit innerhalb von zwei Tagen die zweite Grabrede.

Die Stimmung beim Frühstück war nicht gerade die beste. Schließlich spannten sie die vier restlichen Hunde vor den Schlitten. Auch dieser Tag war eine Wiederholung des vergangenen...

Stumm wanderten sie durch das schweigsame Land, dessen Stille nur durch das Geheul der Bestien, die ihnen unsichtbar folgten, unterbrochen wurde.

Wieder kam das Geheul zugleich mit dem Einbruch der Dunkelheit näher, wieder wurden die Hunde aufgeregt und verwickelten sich in ihrer Angst in die Stränge. »Ich habe mir etwas ausgedacht, was die Hunde festnageln wird«, sagte Bill am Abend voll Befriedigung. Henry ließ den Kochtopf stehen, um zu sehen, was sein Kamerad beabsichtigte. Bill war dabei, die Hunde nach Indianerart mit Stöcken festzubinden. Er befestigte um den Hals eines jeden einen ledernen Riemen, den er so dicht anlegte, dass ihn der Hund mit den Zähnen nicht fassen konnte. Diesen Riemen band er an einen fünf Fuß langen Stock, das andere Ende des Stockes machte er mit einem zweiten Lederriemen an einem Pfahl im Boden fest. So konnten die Hunde infolge des Stockes weder den einen noch den anderen Lederriemen erreichen, um ihn durchzunagen.

Henry nickte zufrieden. »Das beste Mittel, um Einohr festzubinden. Der beißt das Leder sonst glatt mit den Zähnen durch, schöner als mit einem Messer. — Morgen werden alle da sein.«

»Darauf wette ich«, erwiderte Bill. »Wenn morgen einer fehlt, verzichte ich auf meinen Kaffee.«

»Die wissen ganz genau, dass wir weder Pulver noch Blei haben«, sagte Henry beim Schlafengehen. Er deutete auf den Kreis glühender Augen. »Mit einem einzigen Schuss könnten wir uns Respekt verschaffen. Sie werden Nacht für Nacht frecher. Schau einmal eine Zeit lang nicht ins Feuer, sondern scharf darauf hin.« Sie beschäftigten sich nunmehr damit, die Bewegungen der undeutlichen Gestalten zu beobachten. Wenn sie die Augen eine Zeit lang auf eines der im Dunkel leuchtenden Augenpaare hefteten, nahm die Gestalt des Tieres allmählich erkennbare Formen an. Ja, man konnte sogar die Bewegungen erkennen. Plötzlich entstand ein Lärm unter den Hunden. Einohr heulte und winselte und versuchte, von seinem Stock loszukommen, den er wütend mit den Zähnen bearbeitete.

»Bill, um Gottes willen, schau«, flüsterte Henry. Von der Seite her schlich verstohlen ein Tier herbei, das im Schein des Feuers deutlich erkennbar war und einem Hund auffallend ähnelte. Seine Bewegungen waren ein Gemisch von Argwohn und Kühnheit, es beobachtete argwöhnisch die Männer, ließ aber dabei auch den Hund nicht aus den Augen. Einohr winselte jämmerlich und versuchte mit allen Mitteln, sich dem Eindringling zu nähern.

»Einohr fürchtet sich nicht!«, flüsterte Bill.

»Es ist eine Wölfin«, erwiderte Henry leise, »sie ist der Köder für das Rudel. Nun weiß ich, warum die beiden Hunde fort sind. Sie lockt die Hunde an und die Wölfe fressen sie.«

Leise knisterte das Feuer. Mit lautem Geprassel fiel ein Stück Holz auf den Boden. Durch das Geräusch erschreckt, sprang das fremde Tier ins Dunkel zurück.

»Ich glaube —«, begann Bill.

»Was?«

»Dass das die Bestie war, die ich erwischt habe.«

»Sicher sogar ...«

»Weißt du, was mir auffällt..., dass das Tier mit dem Lagerfeuer vertraut ist.«

»Es weiß ganz sicher mehr davon, als ein Wolf anständigerweise wissen sollte«, gab Henry zu. »Ein Wolf, der so viel weiß, dass er mit den Hunden zur Fütterung kommt, hat schon seine Erfahrungen gehabt.«

»Der alte Villan besaß einen Hund, der davonlief und zu den Wölfen ging. Ich erschoss ihn und der Alte weinte wie ein Kind. Er sagte, er hätte ihn drei Jahre lang nicht mehr gesehen. Er war die ganze Zeit bei den Wölfen gewesen.«

»Ich bin der Meinung, dieser Wolf ist ein Hund, der den Menschen schon aus der Hand gefressen hat.«

»Und wenn es nach mir ginge, hätte er die längste Zeit gelebt. Wir dürfen keinen Hund mehr verlieren.«

»Wir haben nur noch drei Patronen«, mahnte Henry. »Ich warte auf einen ganz sicheren Schuss.«

Am Morgen fachte Henry das Feuer an und kochte das Frühstück. Bill schnarchte noch.

»Ich hab es nicht übers Herz gebracht, dich zu wecken. Du hast so gut geschlafen«, sagte Henry, als er ihn schließlich zum Frühstück rief.

Schlaftrunken begann Bill zu essen. Er bemerkte, dass seine Kaffeetasse leer war und streckte die Hand nach dem Topf aus. Aber er konnte ihn nicht erreichen.

»Gib mir meinen Kaffee«, wandte er sich daher an seinen Kameraden. Er hielt ihm bei diesen Worten seine leere Tasse hin.

»Du bekommst keinen«, sagte Henry.

»Haben wir keinen mehr?«

»Doch, doch.«

»Dann bitte ich dich höflichst, mir den Grund zu sagen.« Bill wurde ärgerlich.

»Treiber ist fort.«

Apathisch, in das Schicksal ergeben, drehte sich Bill langsam um und zählte die Hunde.

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»Wie war das möglich?«, fragte er ruhig.

Henry zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Wahrscheinlich hat ihn Einohr losgemacht. Selber hat er es nicht vermocht.«

Verfluchter Kerl! Konnte sich selbst nicht losbeißen, aus Bosheit hat er Treiber losgebissen.«

»Na, ich glaube, dass er sich umsonst geplagt hat. Treiber dürfte um diese Zeit schon verdaut sein und im Bauch von zwanzig Wölfen durch das Land laufen«, war Henrys Grabrede auf diesen letzten verlorenen Hund. »Aber — trink einen Schluck Kaffee.«

»Ausgeschlossen.«

»Sei doch nicht verrückt.'«, sagte Henry und schob ihm den Topf hin.

»Bevor ich trinke, lass ich mich hängen. Ich hab gesagt, dass ich keinen trinke, wenn ein Hund fehlt, und nun trinke ich auch keinen.«

»Guter Kaffee...«

Aber Bill hatte seinen Dickschädel und aß sein Frühstück trocken. Den Kaffee ersetzte er durch Flüche und Scheltereien.

»Heut am Abend bind ich sie anders an, weit voneinander«, sagte Bill, als sie sich auf den Weg machten. Sie waren kaum hundert Meter gegangen, als Henry etwas aufhob. Es war so dunkel, dass er nicht sehen konnte, woran er da mit dem Schneeschuh gestoßen war, aber es war nicht schwer zu erraten. Es war — was von Treiber übrig geblieben war — der Stock.

»Sie haben ihn mit Flaut und Haar gefressen«, sagte Bill. »Der Stock ist vollkommen kahl, sogar die Lederriemen fehlen. Sie müssen schrecklichen Hunger haben. Sie bekommen uns auch noch«.

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Henry lachte trotzig, »Ich habe zwar so eine Verfolgung noch nicht mitgemacht, aber doch auch schon Ärgeres erlebt. Da muss schon etwas anderes daherkommen, um mir und dir den Garaus zu machen!«

»Ich bin nicht so sicher«, murmelte Bill, den böse Vorahnungen erfüllten.

»In McGurry reden wir weiter.«

»Ich glaube nicht, dass —«, begann Bill wieder.

»Dein Magen ist es«, unterbrach ihn Henry, »du brauchst nichts als Chinin, und das wirst du in McGurry bekommen.«

Bill brummte irgendetwas vor sich hin, sagte dann aber nichts mehr. Der Tag verging — so wie die vorhergegangenen. Um neun Uhr wurde es hell, um zwölf erhellte sich der Himmel im Süden und um drei kam der graue Nachmittag. Drei Stunden später war wieder die Nacht da.

Gerade als sich die Sonne vergeblich bemühte, Licht zu spenden, nahm Bill seine Büchse vom Schlitten und sagte zu seinem Kameraden: »Geh ruhig weiter, ich komme nach.«

»Bleib lieber beim Schlitten, du hast noch drei Patronen. Wer weiß, wozu wir sie noch brauchen.«

»Wer jammert nun?«

Henry gab keine Antwort mehr und ging allein weiter. Von Zeit zu Zeit sah er ängstlich in die graue Einöde, in der Bill verschwunden war. Eine Stunde später sah er ihn wieder. Er hatte die Biegungen, die der Schlitten machen musste, abgeschnitten.

»Sie laufen weit verstreut«, meldete er, »sie verfolgen uns und sind zugleich auf Raub aus. Sie wissen genau, dass wir ihnen sicher sind. Sie wissen aber auch, dass sie warten müssen. Einstweilen sehen sie sich nach anderer Beute um.«

»Du sagst, dass wir ihnen sicher sind. Sie werden sich täuschen.«

Bill überhörte diese Worte. »Ich habe sie gesehen. Sie sind schrecklich mager. Außer den drei Hunden haben sie in den letzten Wochen bestimmt nichts gefressen. Ja, schrecklich mager sind sie. Die Rippen stehen weit heraus, der Bauch liegt direkt unter dem Rückgrat. Sie werden vor Hunger bestimmt noch toll werden.«

Wenige Augenblicke später ließ der hinter dem Schlitten gehende Henry ein warnendes Pfeifen hören. Bill wandte sich um und hielt die Hunde an. Hinter ihnen kam gerade um die letzte Wegbiegung eine Gestalt in einem dicken Pelz. Sie hielt sich auf der Bahn, die sie gerade zurückgelegt hatten, die Nase dicht am Boden. Als die Männer stehen blieben, blieb sie auch stehen, sah sie an und sog die Witterung ein.

»Die Wölfin«, sagte Bill.

Die Hunde legten sich ermattet in den Schnee, die Männer waren in den Anblick des Tieres versunken, das sie seit Tagen verfolgte und drei Hunde gekostet hatte.

Sehr vorsichtig ging das Tier weiter, bis auf hundert Schritte Entfernung. Dann hielt es neben einer Tanne still und beobachtete die beiden Männer. Nase und Augen waren in ständiger Bewegung. Der Blick war der eines Hundes, aber seine Gier war die des Hungers, grausam, unbarmherzig und kalt. Für einen Wolf war das Tier entschieden zu groß. Auch die Farbe war sonderbar. Grau und Rot vermischten sich miteinander. »Es hat eine Schulterhöhe von gut zwei und einem halben Fuß«, bemerkte Henry. »Ich wette, es ist nicht weniger als fünf Fuß lang.«

»Und was für eine eigentümliche Farbe für einen Wolf!«, gab Bill zurück. »Ich habe noch nie einen roten Wolf gesehen und dieser sieht ganz zimmetfarben aus.«

Nun war das Tier allerdings nicht zimtfarben, denn die vorherrschende Farbe des Felles war die des echten Wolfes, nämlich grau. Dennoch lag darüber ein rötlicher Schimmer, der aber auch eine Augentäuschung sein konnte, denn bald sah das Fell grau, entschieden grau aus, bald zeigte es jene seltsame rötliche Färbung. »Sieht wie ein Schlittenhund aus. Gleich wird er mit dem Schwanz wedeln. He, du Hund, deinen Namen weiß ich nicht, komm einmal zu uns! Komm heran und zeige dich!«

»Er fürchtet sich nicht im Geringsten.« Henry lachte. Tatsächlich verriet das Tier keinerlei Furcht. Es sah die Männer gierig an. Sie waren Fleisch, und es hätte sie gerne gefressen, wenn es sich näher gewagt hätte.

»Henry«, sagte Bill plötzlich, »wenn ich auch nur noch drei Patronen habe, das ist ein sicherer Schuss. Das Biest hat uns drei Hunde gestohlen. Was glaubst du?«

Henry nickte zustimmend. Bill hob vorsichtig die Flinte. Aber das Tier machte einen raschen Satz zur Seite und verschwand wie ein Blitz.

»Oh, ich Dummkopf«, fluchte Bill, »Gott soll mich verdammen. Natürlich kennt ein Wolf, der zur Fütterung kommt, eine Flinte. Diese verdammte Bestie, die an allem schuld ist! Ohne sie hätten wir noch sechs Hunde. Die kann man nicht offen schieben, dazu ist sie viel zu schlau. Aber ich werd ihr schon auflauern, und dann muss sie dran glauben, so wahr ich Bill heiße.«

»Geh nur nicht zu weit weg!«, warnte Henry. »Wenn sie über dich herfallen, helfen dir deine drei Patronen genauso viel wie drei Hilferufe in der Hölle. Sie haben entsetzlichen Hunger. Wenn sie dich einmal eingekreist haben, ist es aus mit dir.«

An diesem Abend schlugen sie ihr Lager früher auf. Drei Hunde konnten den Schlitten nicht mehr so schnell und so lange ziehen wie sechs, und sie zeigten deutlich, dass sie müde waten. Auch die Männer legten sich sofort nieder. Bill band diesmal die Hunde so weit voneinander an, dass sie sich gegenseitig nicht losbeißen konnten.

Aber — die Wölfe waren frecher geworden. Immer wieder fuhren die Männer auf, wenn die Hunde vor Angst wild wurden. Denn die Bestien kamen diesmal ganz nahe heran. Dann musste einer von ihnen ein Scheit ins Feuer werfen. Das war das einzig sichere Rezept, sie in ungefährlicher Entfernung zu halten.

»Matrosen haben mir einmal von Haifischen erzählt«, begann Bill, »die ein Schiff verfolgten. Diese Bestien sind Haifische auf dem Lande. Sie sind hartnäckig. Sie verfolgen uns nicht zum Spaß. Und sie werden uns bekommen, darauf kannst du dich verlassen, mein Freund.«

»Wer so redet, ist schon halb verloren.« Henry ärgerte sich über die Worte Bills. »Wer sich besiegt gibt, wird auch besiegt. Und du, du bist schon halb gefressen, wenn du so daherredest.«

»Sie haben klügere Leute als dich und mich erwischt.«

»Jetzt aber Schluss mit diesem Quatsch! Das hält man auf die Dauer nicht aus.'«

Der sonst so empfindsame Bill wurde nicht einmal böse. Das war ein schlechtes Zeichen. Es war wirklich arg um ihn bestellt.

3. Der Hunger heult

Der Tag begann nicht schlecht. In der Nacht war kein Hund verschwunden, und die Männer machten sich in besserer Laune auf den Weg in Schweigen, Dunkelheit und Kälte. Bill war weniger trübselig gestimmt und trieb mit den Hunden, die an einer schlechten Stelle des Weges den Schlitten umgeworfen hatten, seine Scherze, obwohl das entstandene Durcheinander mehr als groß war.

Der Schlitten hatte sich zwischen einem Baumstamm und einem großen Felsblock eingeklemmt, sodass die Männer gezwungen waren, die Hunde auszuspannen, um ihn wieder aufzustellen. Die Gelegenheit benützte Einohr, sich beiseite zu schleichen.