Vorwort von Sarah Wiener

Ich bin Köchin und als solche liegt mir natürlich der Geschmack sehr am Herzen. Umso trauriger stimmt es mich, dass ich die Geschmäcker meiner Kindheit nur noch in meiner Erinnerung heraufbeschwören kann, nicht jedoch in Topf und Pfanne reproduzieren. Woran das liegt? Ganz einfach: am Ursprung. Geschmack und Qualität fangen nicht am Schneidebrett an, sondern bei den Samen, bei Tierrassen, Äpfeln, Birnen, Kartoffeln, Kirschen, Kohl, Paprika. Bei all den Obst- und Gemüsesorten, bei alten Rassen, die es heute nirgends mehr zu sehen und zu kaufen gibt. Die Intensität und Vielfalt des Geschmacks wurden seit meiner Kindheit zusehends aufgegeben zugunsten »perfekter« Optik, einheitlicher Reproduzierbarkeit und langer Haltbarkeit. Eine Tomate aus niederländischen oder spanischen Gewächshäusern, wie wir sie heute in den Regalen der Supermärkte fast ausschließlich finden, hat nichts mehr zu tun mit den unzähligen schmackhaften sonnengereiften Tomaten, wie sie früher in unseren Gärten wuchsen – die Vielfalt in Farben und Aussehen, die unterschiedliche Konsistenz und der höchste Genuss, ins Tomatenrot zu beißen. All das ist Vergangenheit! Heute sind Tomaten grün-rote Billardkugeln, die schnittfestes Wasser beinhalten. Was mich erschreckt: Sie können höchstwahrscheinlich aus den Samen der Supermarkt-Tomate keine schöne neue Tomatenpflanze ziehen, wie das normalerweise seit Anbeginn des Ackerbaus gemacht wird. Wir verlieren nach und nach unser Menschenerbe: die Vielfalt unserer Samen!

Wieso das so ist, erläutert Clemens Arvay in diesem Buch. Er erzählt spannend und verständlich von der historischen Entwicklung der Kulturpflanzen bis in die Gegenwart, in der Saatgutkonzerne mehr oder weniger bestimmen, was auf unseren Tellern landet. Ihre engste Verbündete beim Streben nach Profit auf Kosten der Arten- und Geschmacksvielfalt ist die Politik. Denn durch Gesetze lässt sich regeln, welches Saatgut auf unsere Äcker darf und welches nicht. Das schadet letztendlich kleinen Züchtern und Bauern, die seltene, alte oder regionale Sorten kultivieren. Doch Clemens Arvay belässt es nicht bei der Benennung der Probleme. Er führt konkrete Beispiele an, wie eine andere Landwirtschaft möglich ist. Und was jede und jeder Einzelne tun kann, um diese zu unterstützen.

Der brasilianische Theologe Hélder Camara drückte es einmal so aus: »Wenn einer allein träumt, ist es nur ein Traum. Wenn viele gemeinsam träumen, ist das der Anfang einer neuen Wirklichkeit.«

Ich hoffe, dass Sie (spätestens) nach der Lektüre von Clemens Arvays Buch auch zu uns Träumern gehören, die den Beginn einer neuen Wirklichkeit einläuten wollen. Wer weiß: Vielleicht finden wir gemeinsam die Geschmäcker unserer Kindheit wieder. Denn erst die intensiven Erfahrungen der Vergangenheit werden uns den Boden für eine lebenswerte Zukunft bereiten.

Sarah Wiener

Berlin, Februar 2014

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Sarah Wiener ist eine der bekanntesten Köchinnen Deutschlands und Autorin mehrerer Kochbücher.

1. Einleitung – Wer das Saatgut beherrscht, beherrscht die Menschheit

Saatgut ist die Grundlage der menschlichen Ernährung. Alle landwirtschaftlichen Betriebe in allen Produktionssparten sind auf Saatgut als wichtigsten Rohstoff angewiesen – ganz egal, ob in der Gemüseproduktion, in der Getreide-, Obst- oder Kräuterproduktion. Auch in der Tierhaltung stellt Saatgut den bedeutendsten Rohstoff dar, nämlich für den Anbau von Futtermitteln. Um eine Energieeinheit Fleisch zu produzieren, muss zehnmal so viel pflanzliche Futtermittelenergie verfüttert werden. Saatgut ist das ökologische und soziale Thema des angehenden 21. Jahrhunderts. Doch gerade weil es so essenziell für das menschliche Überleben ist, lässt sich mit Saatgut auch sehr viel Geld verdienen. Wer das Saatgut beherrscht, der beherrscht unsere Lebensmittel und der beherrscht die Menschheit.

Überall auf dem Globus wehren sich Kleinbauern dagegen, dass große Saatgutkonzerne die Macht über die landwirtschaftliche Produktion an sich reißen. Es ist wie »David gegen Goliath«, doch auf Davids Seite werden es immer mehr. Sowohl in Deutschland, Österreich und der Schweiz als auch in anderen Ländern der Erde formiert sich mehr und mehr Widerstand gegen die Machenschaften der Agroindustrie. Und das zu Recht.

In der Saatgutproblematik verschmelzen verschiedene gesellschaftliche Kernthemen. Bauern werden abhängig gemacht und Konsumenten hinters Licht geführt, indem ihnen immer nur die halbe Wahrheit gezeigt wird. Teures Hochleistungssaatgut wird in den Ländern des Südens kostensparend produziert und dann nach Europa verfrachtet, um hier große Geschäfte damit zu machen. Eine unvorstellbare Vielfalt an traditionellen Pflanzensorten – ein jahrtausendealtes kulturelles Menschheitserbe – ist bereits verschwunden oder steht kurz vor dem Aussterben, um der industriellen Designersaat zu weichen, die sich bei genauer Betrachtung als biologisch degeneriert erweist. Die Bauern, die dieses teure Saatgut kaufen, müssen jedes Jahr aufs Neue in die Taschen greifen. In diesem Buch erfahren Sie, weshalb man bei dieser Art des Industriesaatguts wissenschaftlich korrekt nicht mehr von Sorten sprechen kann.

Sie erfahren aber noch viel mehr, zum Beispiel den Grund, weshalb Sie – vermutlich ohne es zu wissen – mitten in Deutschland, Österreich und der Schweiz längst Gemüse auf Ihren Tellern haben, dessen Saatgut mit Technologien erzeugt wurde, die der Gentechnik nahestehen und die von der EU klammheimlich zugelassen wurden, ohne dass eine Kennzeichnungspflicht erlassen wurde. Die meisten Verbraucher wissen nichts davon.

Moderne Pflanzenzucht ist reinste Biotechnologie. Sie findet unter Laborbedingungen statt, und es werden nicht selten Gifte eingesetzt, um bestimmte Effekte zu erreichen. Erfahren Sie in diesem Buch, weshalb Saatgutkonzerne pflanzliche Zellen oft sogar radioaktiv bestrahlen, weil sie ein bestimmtes profitables Zuchtergebnis erhalten möchten. Früher eine fast »liebevoll« durchgeführte bäuerliche Kunst, ist die Pflanzenzucht zu einer Domäne der Biotech-Industrie mit ihren Petrischalen, Zellkulturen, Reagenzgläsern sowie beinhart durchgesetzten Patenten geworden. Auch der Biomarkt stellt derzeit keine Ausnahme dar.

Die Verbraucherinnen und Verbraucher werden über die Entwicklungen auf dem Saatgutmarkt weitgehend in Unwissenheit gelassen. Ihre Rolle ist es lediglich, an der Kasse im Supermarkt brav zu bezahlen. Kaum eine Branche bevormundet die Endkunden so sehr wie die Agrarindustrie.

Ich fühlte den Drang zum Schreiben regelrecht in meinen Fingern kribbeln, als ich mich entschied, dieses Buch zu verfassen und mich dem Thema ›Saatgut‹ umfassend zuzuwenden. Es ist an der Zeit, für Aufklärung zu sorgen, denn die wenigsten sind sich darüber bewusst, was wir schon alles verloren haben und wie viel derzeit auf dem Spiel steht, wenn wir beim Saatgut keine drastische politische Kursänderung vornehmen.

Doch für diese Kursänderung stehen die Zeichen derzeit schlecht. Bereits das gegenwärtige Saatgutgesetz der EU hofiert die Interessen der Industrie. Zu allem Überfluss plant die EU eine »Saatgutnovelle«, nach deren Umsetzung die Sortenverarmung und die Unterdrückung der Bauern sowie kleinen Zuchtunternehmen auch noch gesetzlich festgeschrieben wäre. Dieser Wahnsinn, der uns als agrarpolitisches Spannungsfeld noch längere Zeit begleiten wird, ist ebenfalls Thema des vorliegenden Buches. Trotz wachsenden Widerstandes in der Politik und mittlerweile sogar unter Parlamentarierinnen und Parlamentariern der EU ist nicht zu erwarten, dass die Agrar- und Saatgutkonzerne ihre politische Lobbyarbeit zur weiteren Einschränkung der freien Saatgutwahl aufgeben werden.

Wie bei allen meinen Büchern werde ich aber nicht bei der Kritik stehen bleiben. In der zweiten Hälfte werde ich zu den positiven Ansätzen übergehen, die uns zur Verfügung stehen, um die Vielfalt der Sorten zu erhalten und den Bauern und Konsumenten wieder mehr Mitbestimmungsrecht einzuräumen. »Saatgutsouveränität« lautet das dazugehörige Stichwort. Obwohl die Bedingungen derzeit nicht rosig sind, gibt es auch Alternativen gegenüber der Abhängigkeit von der Saatgutindustrie.

Ich nehme Sie mit auf eine Reise durch die Welt des Saatguts. Ich bin mir sicher, es wird Ihnen dabei nicht langweilig werden.

Unsere Reise beginnt in der Vergangenheit, lange Zeit bevor der Menschheit die Buchstaben M, O, N, S, A, N, T und O jemals in dieser Reihenfolge untergekommen waren.1 Dann arbeiten wir uns über die Gegenwart mit all ihren alarmierenden Vorgängen auf dem Saatgutmarkt voran bis zu den Entwürfen einer möglichen Zukunft, in der alles anders sein könnte.

1 Anstatt der genannten Buchstabenkombination könnte man auch »S, Y, N, G, E, N, T, A« oder »P, I, O, N, E, E, R« oder »B, A, S, F« oder jede beliebige andere Kombination verwenden. Es ist damit keine wertende Aussage über irgendein Unternehmen verbunden, sondern es soll ausgedrückt werden, dass die folgende Reise in die Geschichte der Kulturpflanzen bis in eine Zeit zurückgeht, in der es noch keinen modernen Saatgutmarkt und somit unter den Menschen auch keinen Diskurs über denselben gab.

2. Die Vergangenheit – Pflanzen schreiben Geschichte

»Ich glaube, dass mit einem einzigen Strohhalm eine Revolution beginnen kann.«

Masanobu Fukuoka (1913–2008),
Mikrobiologe und Ökolandwirt in Japan
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Ein Menschheitserbe in meinem Garten

Mein Garten birgt Schätze von höchstem kulturellen Wert. Die Goldene Kugel ist nur eine Kostbarkeit unter vielen, die in meinem Garten zu finden sind. Ich hüte diese Kugel gut, denn in ihr sind 3000 Jahre Menschheitsgeschichte gespeichert. Es wäre ein Jammer, wenn mir die Goldene Kugel abhandenkommen würde. Sie war ursprünglich ein Kulturschatz der Maya in Mittelamerika. Später gelangte sie in die Hände der Azteken. Im 15. Jahrhundert, bald nachdem Christoph Kolumbus Amerika bereist hatte, wurde die Goldene Kugel nach Europa gebracht, bis sie im Laufe der Geschichte den Weg in meinen Garten fand, wo ich sie hege und pflege.

Obwohl mein Schatz gar nicht aus echtem Gold gemacht ist, ist er viel wertvoller als die teuersten und ältesten Kunstobjekte, die in Museen streng bewacht und geschützt werden. Die Azteken nannten den Schatz »Xitomatl« oder »Tomatl«. Auf Deutsch nennen wir ihn »Tomate«.

Die Goldene Kugel ist eine alte Tomatensorte mit leuchtenden goldgelben Früchten. Früher waren überhaupt alle Tomaten gelbschalig, worauf noch heute die italienische Bezeichnung »pomodoro« zurückgeht, was wörtlich als »Goldapfel« übersetzt werden kann.

Die Goldene Kugel ist Trägerin von Erinnerungen an gute und an schlechte Zeitalter, an Unwetter, die übers Land gezogen sind, an überstandene Schädlingsinvasionen oder Dürreperioden. Sie steht in einem Entwicklungsstrom der Tomatenspezies, verbunden mit Tausenden und Abertausenden von Tomatengenerationen, die uns – wenn wir sie gedanklich zurückverfolgen – tatsächlich bis zu den alten Maya nach Mittelamerika führen. Die Goldene Kugel ist ein Weltkulturschatz. Und sie gedeiht in meinem Garten – Jahr für Jahr.

Die Samen, die bis zum Herbst in ihren Früchten heranreifen, enthalten all die Information, um auch in den folgenden Generationen wieder prachtvolle und wohlschmeckende Goldene Kugeln hervorzubringen. So funktioniert das, seit es Bauern gibt.

Nicht nur mein eigener Garten ist eine Schatzkammer, und es gibt darin auch weit mehr Schätze als die Goldene Kugel. Kürbisse aus aller Damen und Herren Länder wachsen dort: der Ungarische Blaue mit seiner in Türkis gehaltenen Schale und dem leuchtend orangen Fruchtfleisch; der urwüchsige Lange von Neapel, ein wahrer Gigant unter den Kürbissen, mit feurig-orange geflammter Zeichnung auf dunkelgrüner Schale; der Muscade de Provence, nicht minder stark wachsend, mit riesigen, tief eingekerbten Früchten; die Trompete von Albenga, deren Früchte eher einem gewundenen Posthorn als einem Kürbis gleichen; und natürlich der allseits bekannte und beliebte Hokkaidokürbis, der prominenteste Vertreter der Spezies »Riesenkürbis«.

Meine Tomatenpflanzen tragen Namen wie Ochsenherz, Dattelwein, Schwarzer Prinz oder Grünes Zebra. Auch an den Paprikapflanzen reifen Früchte in allen Farben und Formen heran. Die Sorte Sweet Chocolate ist bräunlich gefärbt und besticht beim Verzehr durch eine besonders süße, schokoladenähnliche Note. Ein Elefant ist in meinem Garten ebenfalls anzutreffen. Es handelt sich um eine Pfefferoni, die ihren Namen aufgrund ihrer elefantenhautähnlichen Fruchtschale trägt: »Elephant«.

Andere Arten, die in meinem Garten gedeihen, sind in den meisten Küchen Mitteleuropas weitgehend unbekannt, wenngleich sie auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz problemlos wachsen oder früher sogar dort kultiviert wurden. Unter diesen Exoten befinden sich der Erdbeerspinat, die Andenbeere, die Tomatillo, die Stachelgurke und knallrote afrikanische Auberginen, die oft fälschlicherweise für Paprika gehalten werden. Mais mit pechschwarzen oder schneeweißen Kolben ist ebenso anzutreffen wie verschiedene Blattgemüse mit langer Tradition, die selbst dem tiefsten Winter trotzen. Grün im Schnee oder Red Giant – so heißen zwei der frostharten und wohlschmeckenden Spezialitäten, die jedes Jahr ihre grünen Blätter aus der Schneedecke in meinem Garten strecken und mich bis zum Frühjahr mit frischen Vitaminen versorgen.

Doch wie kam es dazu, dass in unseren Gärten – nicht nur in meinem – eine derart grandiose Vielfalt an Kulturpflanzen gedeihen kann? Es sind Pflanzen, die in der Natur nicht zu finden sind und die ohne die Leistungen menschlicher Kulturen nie existiert hätten. Und es sind Schätze, deren Existenz heute, nach Tausenden von Jahren, stark gefährdet ist.

Zunächst, liebe Leserin und lieber Leser, lade ich Sie auf eine Reise in die Vergangenheit ein, auf einen Streifzug durch eines der faszinierendsten Kapitel der Menschheitsgeschichte.

Die frühesten Bauern der Erde

Der trockene Teil kommt als Erstes, aber ich werde ihn auf wenige Zeilen reduzieren. Es geht um die Bestimmung eines Begriffes, den ich in diesem Buch immer wieder verwenden werde, nämlich »Kulturpflanze«: Das ist eine Pflanze, die ihre Existenz der menschlichen Landwirtschaft verdankt und demnach evolutionär an kulturnahe Standorte wie beispielsweise Gärten, Äcker oder Baumschulen angepasst ist. Kulturpflanzen sind aus wild wachsenden Urformen hervorgegangen, benötigen aber meist die menschliche Pflege und Obhut. Sie wurden in einem langwierigen Prozess von Menschen verschiedener Kulturen der Erde zur Produktion von Nahrungsmitteln, zur Gewinnung von Rohstoffen, als Heilmittel sowie aus ästhetischen Gründen domestiziert und dabei verändert. Jede Kulturpflanze ist also eine Nutzpflanze, während aber andererseits nicht jede Nutzpflanze eine Kulturpflanze ist. Zahlreiche Wildpflanzen zum Beispiel werden zwar von Menschen gesammelt und genutzt, sind also Nutzpflanzen. Sie sind aber keine Kulturpflanzen, da sie gänzlich ohne menschliches Zutun an ihren natürlichen Standorten vorkommen.

Als zoologische Entsprechung zur Kulturpflanze ist das Kulturtier, also das landwirtschaftliche Vieh, anzusehen.

Das war’s auch schon mit dem trockenen Teil. Was jetzt kommt, ist fesselnd, faszinierend, bedeutend.

Es begann mit ein paar Körnern

Wir schreiben das Jahr 8000 vor unserer Zeitrechnung3 und befinden uns im altorientalischen Mesopotamien, der Region zwischen Euphrat und Tigris in Westasien. Die letzte Kaltzeit war ausgeklungen. Jericho, die vermutlich älteste Stadt der Menschheit, war errichtet und fasste zum damaligen Zeitpunkt etwa 3000 Einwohner. Die Stadt sollte im Laufe der Geschichte noch mehrfach zerfallen und aufgebaut werden. Jäger- und Sammlergemeinschaften lebten in ihren Dörfern, die in hügeligen Waldlandschaften des fruchtbaren Halbmondes gelegen waren. Eine Gruppe von Frauen kehrte nach einem arbeitsreichen Tag zurück in ihr prähistorisches Dorf. Die Sammlerinnen waren müde. Auf ihren Schultern lasteten geflochtene Körbe, die mit Sämereien wild wachsender Gräser, den Urformen von Gerste und Weizen, bis zum Überlaufen gefüllt waren. Auch wilde Hülsenfrüchte standen auf dem Speiseplan. Den Samen dieser Pflanzen sollte bald eine besondere Bestimmung zukommen.

Einige der Körner rieselten aus den Körben herab und fielen auf die Böden im Dorf und in dessen Umgebung. Zertretenes Erdreich, alte Feuerstellen, Trampelpfade oder auch die Reste von verfallenen Lehmhäusern boten den Samen optimale Bedingungen zum Keimen. Nahrungspflanzen kamen in unmittelbarer Nähe der Dörfer auf. Dies blieb nicht unbemerkt, denn es war bequem und praktisch. Die Dorfbewohner begannen, die willkommenen Gewächse zu fördern und unerwünschte auszureißen. Die früheste Form des Ackerbaus war entstanden, und bald wurden gezielt Anbauflächen angelegt, auf denen die Samen der nahrhaften Wildpflanzen ausgebracht wurden. Der Prozess der Domestizierung von Pflanzen war zum ersten, aber nicht zum letzten Mal eingeläutet. Aus den ursprünglich wild wachsenden Pflanzen Mesopotamiens sollten im weiteren Verlauf der Geschichte völlig veränderte Formen des Getreides und der Hülsenfrüchte hervorgehen.

Das epochale Ereignis des Übergangs zum Ackerbau und zur Viehzucht ist es, mit dem moderne Historiker das beginnende Neolithikum – so nennt man die Jungsteinzeit – festlegen. Manche Geschichtswissenschaftler sprechen sogar von der »jungsteinzeitlichen Revolution«, wenn sie den Übergang zur Landwirtschaft meinen. Dieser Begriff führt allerdings in die Irre, denn global betrachtet handelte es sich nicht um eine Revolution, die die Menschen zu Bauern machte, sondern um einen allmählichen Prozess. Landwirtschaft wurde sogar zu mehreren Zeitpunkten der Geschichte und durch verschiedene Kulturen der Erde immer wieder neu »erfunden«.

Landwirtschaft beginnt – überall auf der Welt

Im fruchtbaren Halbmond Westasiens waren also die Pioniere des Bauerntums beheimatet. Bis zum Jahr 7000 vor unserer Zeitrechnung breitete sich das neu begründete Bauerntum auch in die nördlichen Ebenen Mesopotamiens aus. Über das Hochland im nördlichen Iran und später über das Kaspische Meer fand die Tradition des Ackerbaus gemeinsam mit der Viehzucht binnen der folgenden 1000 Jahre ihren Weg nach Zentral- und Südasien. In Indien begannen um 3000 vor unserer Zeitrechnung die ersten Bauern am Ganges mit dem Anbau von langkörnigem Reis und anderen dort heimischen Wildpflanzen.

Einen weiteren frühen Ausgangspunkt fand der Ackerbau in Ostasien. Chinesische Bauern begannen zwischen 8000 und 7000 vor unserer Zeitrechnung mit dem Anbau von Rispenhirse. Dies geschah vermutlich am Gelben Fluss, dem Huang He im Norden Chinas. Bis zum dritten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung setzte sich in China die Kultivierung von Rundkornreis durch. Der Reisanbau verbreitete sich über andere Teile Ostasiens, wie etwa nach Korea, Japan und Südostasien. Zeitgleich erreichten über den asiatischen Kontinent auch Gerste und Weizen aus Westasien die östlichen Teile des Kontinents.

In Europa hielt die neue Praxis des Anbaus von Nahrungsmitteln ab 7000 vor unserer Zeitrechnung Einzug. Kulturpflanzen wie Weizen, Gerste und verschiedene Hülsenfrüchte, darunter Erbsen, Linsen und Kichererbsen, wurden aus Asiens Westen importiert, während Europas Urbauern begannen, europäische Wildpflanzen zu domestizieren – wie zum Beispiel die Möhre in Südeuropa.

Die Kohlgewächse, der Hafer sowie der Mohn gehen auf wild wachsende Vorfahren in Osteuropa zurück. Neben einigen Gewürzkräutern stammen Weinrebe, Mandel, Feige und natürlich die Olive aus dem östlichen Mittelmeergebiet, teils aus Europa, teils aus Asien. Ab 5000 vor unserer Zeitrechnung drang die Landwirtschaft bis nach Mitteleuropa vor, wo die neuen Bauern mit ihren steinernen Äxten und durch Brandrodung dicht bewaldete Regionen nutzbar machten und dabei mit kalten Wintern zurechtkommen mussten. Es war um das Jahr 4000, als auch die westlichen Teile Europas den Ackerbau und die Viehzucht übernommen hatten. Bald waren die Traditionen des Jagens und Sammelns weitgehend durch die neuen Errungenschaften abgelöst. Die Europäer waren zu Bauern geworden. Sie waren sesshaft geworden.

Auch »Ötzi«, der bekannte Mann aus der Jungsteinzeit, der 1991 als Gletschermumie von einem Ehepaar aus Nürnberg in den Ötztaler Alpen im italienisch-österreichischen Grenzgebiet gefunden wurde, dürfte sich zu Lebzeiten bereits von Getreide ernährt haben. Er lebte zwischen 3350 und 3100 vor unserer Zeitrechnung, so nehmen Archäologen an. Die Zähne der weltberühmten Mumie zeigten Abriebspuren, die auf Getreideverzehr hinwiesen. Diese Spuren kamen von Sandrückständen, die zur damaligen Zeit beim Mahlen der Körner in einfachen Steinmühlen in das Mehl gelangten. Frühe Formen von Weizen und Gerste, die zu den ältesten Kulturpflanzen der Menschheit zählen, hatten ihren Weg aus Mesopotamien bis nach Europa also schon gefunden, als Ötzi lebte und sich ernährte.

Afrikas Bauern blicken ebenfalls auf eine lange Tradition zurück. In Nordafrika nahm die Landwirtschaft etwa 5000 vor unserer Zeitrechnung ihre Anfänge und breitete sich in den darauffolgenden 4000 Jahren bis in den Süden des Kontinents aus. Aus Nordafrika stammen beispielsweise die Melone und die Baumwolle, aus Ostafrika der Kaffee und verschiedene Arten der Hirse. In den westafrikanischen Regenwäldern war eine Urform der Yamswurzel beheimatet, die vielen Menschen in Europa bis heute kulinarisch unbekannt ist. Die weltbekannte Ölpalme lässt sich ebenfalls bis in die Regenwälder Westafrikas zurückverfolgen.

Ähnlich wie die »Alte Welt« Asiens, Afrikas und Europas ihre Pioniere der Landwirtschaft in Mesopotamien hatte, leisteten in der »Neuen Welt« die Menschen in Mittelamerika bedeutende Vorarbeit zur Entstehung wichtiger Kulturpflanzen. Bereits zwischen 8000 und 7000 Jahre vor unserer Zeitrechnung startete man dort – so nehmen wir heute an – erste bäuerliche Experimente. Der Übergang zum Ackerbau erfolgte in Amerika, und das ist bemerkenswert, etwa zur selben Zeit wie in Mesopotamien. Zahlreiche noch heute bedeutende Kulturpflanzen hatten ihre Wildformen in Mittelamerika und wurden dort von frühen Bauern domestiziert. Dazu gehört nicht nur die Tomate und somit die Goldene Kugel, die ich als Schatz in meinem Garten hege, sondern auch der Mais, der etwa 4500 vor unserer Zeitrechnung aus einem wild wachsenden Gras hervorging. 3000 Jahre später war der Mais zu einem der wichtigsten mittelamerikanischen Grundnahrungsmittel geworden. Die Paprika, die Bohne, die Tomate, den Kakao sowie den Kürbis und andere Nahrungspflanzen verdankt die Menschheit ebenfalls den Urbauern Mittelamerikas. Die Kartoffel stammt aus dem Westen Südamerikas.

Genetische Hotspots – die Wawilow-Zentren

Der russische Botaniker Nikolai Iwanowitsch Wawilow begründete gemeinsam mit seinem Forscherteam in den 1920er-Jahren die Theorie der geografischen Genzentren der Kulturpflanzen. Er fand heraus, dass sich die meisten heute üblichen, von Menschen angebauten Nahrungspflanzen auf weltweit elf genetische Hotspots zurückführen lassen, aus denen sie beziehungsweise ihre wild wachsenden Vorfahren stammen. Diese Ausgangspunkte der Kulturpflanzengeschichte wurden später als »Wawilow-Zentren« bezeichnet. Die Wawilow-Zentren sind:

Den prähistorischen Bauern dieser Regionen verdanken wir den Großteil unserer Kulturpflanzen.

Doch die große Story hatte damals, vor Tausenden von Jahren, erst begonnen und war noch lange nicht vorüber.

Generationenprojekt »Kulturpflanzenvielfalt«

Seit ihrer Erfindung wird die Tradition des Ackerbaus von Generation zu Generation weitergegeben, gepflegt und weiterentwickelt. Man hob stets die Samen von jenen Pflanzen auf, die für den jeweiligen Stamm, die jeweilige Kultur, am besten geeignet waren. Jede Generation wählte die Ackerpflanzen aus, die den Gegebenheiten der örtlichen Böden entsprachen oder geschmacklich sowie kulinarisch den kulturellen Gewohnheiten zugutekamen. Natürlich führte auch der Zufall ein wenig Regie. Die Entwicklung unserer Kulturpflanzen ist wie ein Generationenprojekt, das in der Steinzeit begonnen wurde und bis in die moderne Zeit reicht.

Das Darwin-Prinzip im Gemüsegarten

In diesem Prozess spielt das Prinzip der Selektion, also der Auslese, eine wichtige Rolle. Diese stellt eine Voraussetzung für die Anpassung von Lebewesen – also auch von Pflanzen – dar. In der natürlichen Evolution kommt der Auslese ebenfalls eine wichtige Bedeutung zu. Die natürliche Auslese sorgt dafür, dass die Individuen einer Art, die am besten an ihren Lebensraum angepasst sind, auch die höchsten Chancen haben, zu überleben und sich mit Erfolg fortzupflanzen.

Nachdem der britische Naturforscher Charles Darwin in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Erster den Mechanismen der fortwährenden Anpassung von Lebewesen auf die Spur gekommen war, stellten sich frühe Evolutionsbiologen die natürliche Auslese als einen erbarmungslosen Konkurrenzkampf vor, der insbesondere zwischen blutrünstigen Raubtieren ausgetragen wird und in dem es um Beute geht. Heute wissen wir aber, dass in der Natur zahlreiche weitere Varianten der Auslese wirken. Gerade bei Pflanzen stehen der Wettbewerb um Ressourcen und Nährstoffe sowie die Anpassung an die Umwelt, in der die jeweilige Art zurechtkommen muss, im Mittelpunkt. An ein und demselben Standort kann also ein Kampf um Mineralstoffe, Wasser, Licht oder Wärme ausbrechen. Es überleben die Organismen, die an die örtlichen Lebensbedingungen am besten angepasst sind oder den lokalen Schädlingen am erfolgreichsten trotzen können. Sie geben in weiterer Folge ihren Nachkommen die Erfolg versprechenden Eigenschaften mit. Weniger gut angepasste Individuen verschwinden wieder von der Bildfläche. (Dass der Prozess der Evolution sehr wohl auch das Prinzip »Kooperation« beinhaltet, sei am Rande angemerkt, spielt aber bei unseren Betrachtungen der Anpassungsfähigkeit von Pflanzen an ihre Standorte eine untergeordnete Rolle.)

Die Blattformen beispielsweise sind natürlichen Selektionskriterien unterworfen. Solche Formen, die sich im jeweiligen Klima besonders gut machen, werden mit hoher Wahrscheinlichkeit weitergegeben. Zahlreiche Bäume und Sträucher unter feuchten tropischen Bedingungen verfügen daher über spitz zulaufende Blätter mit einer lang gestreckten sogenannten Träufelspitze. Diese hilft dabei, das Wasser rasch von der Blattoberfläche abzuleiten, sodass dort kein dauerhaft feuchtes Milieu entsteht, in dem Pilze und Krankheitserreger gut gedeihen würden. Auch Pflanzen, die in Mitteleuropa vorkommen, wie etwa der Efeu, haben sich durch Blätter mit Träufelspitzen angepasst. Unter dem Druck der natürlichen Selektion sind all die vielen unterschiedlichen Formen und Typen pflanzlichen Lebens entstanden.

Dasselbe gilt für das pflanzliche Leben in den Gärten und auf den Feldern. Auch die Evolution der Kulturpflanzen wurde durch Auslese vorangetrieben. Seit Tausenden von Jahren selektieren die Menschen mindestens ebenso hart wie die Natur. Entscheidend für das Fortbestehen und die Entwicklung einer Pflanzenart im Garten oder auf dem Acker waren seit jeher Anforderungen wie Geschmack, Inhaltsstoffe, Ertrag, Resistenzen gegenüber Schädlingen, Robustheit und Keimfähigkeit der Samen. Pflanzen, die in diesen Kriterien brillierten, wurden gefördert. Das bedeutet, ihre Samen wurden aus den Früchten entnommen und in der nächsten Saison ausgesät.

Über viele Generationen, Jahrhunderte und Jahrtausende, veränderten sich die Kulturpflanzen durch die menschliche Auslese sehr stark. Ihre Früchte und Samen wurden größer und schwerer, das Fruchtfleisch wurde zarter, geschmack- und gehaltvoller oder veränderte seine Farbe und Konsistenz. Dasselbe geschah mit genießbaren Wurzeln. Die ursprüngliche Möhre etwa war holzig im Biss, weiß gefärbt und viel dünner als heutige Möhren. Auch schmeckte sie noch nicht süß. Die Blätter vieler Gemüsearten veränderten sich, indem sie dicker, größer oder leichter verdaulich wurden.

Ohne den Menschen nicht überlebensfähig – Kulturpflanze Mais

Besonders beeindruckend sind die Veränderungen, die der Mais in den letzten Jahrtausenden durchmachte. Vor mehr als 7000 Jahren vermutlich aus der rispigen Teosinte, einem Wildgras aus dem heutigen Mexiko, hervorgegangen, durchlebte die weltbekannte Getreidepflanze unter menschlicher Obhut eine erstaunliche Metamorphose. Die wild wachsende Teosinte bildet Hunderte von kleinen Ährchen, die in zwei Reihen nur fünf bis zwölf Körner tragen. Nachdem prähistorische Ackerbauern mit der Selektion der Pflanze begonnen hatten und vor allem Exemplare mit größeren Ähren und höheren Erträgen förderten, dürfte in weiterer Folge eine spontane Mutation eingetreten sein. Die Ähren vergrößerten sich immens und entwickelten sich zu stattlichen Kolben mit dickfleischigen Körnern, die goldgelb, weiß, rot oder dunkelviolett bis fast schwarz gefärbt sein können.

Neben der Auslese stellt die Mutation – also die spontane Veränderung der Erbanlage, wie wir sie beim Mais eindringlich feststellen können – den zweiten wichtigen Mechanismus der Anpassung der Arten dar, ob nun in der Natur oder unter menschlichen Einflüssen. Welche Mutation zu einem Überlebensvorteil führt und welche nicht, entscheidet sich letztlich durch die Kriterien der Auslese. Im Falle des Mais führten die Zunahme der Kolbengröße und die Verdickung der Körner deswegen zu einem Überlebensvorteil, weil der Mais längst Kulturstandorte besiedelt hatte, auf denen andere Regeln herrschten als in freier Wildbahn. Hier gaben die Bauern den Ton an. Sie entschieden, von welchen Pflanzen sie Samen entnahmen, um diese in die nächste Saison zu bringen. Für den gesteigerten Ertrag, den besseren Geschmack und die höhere Anpassung an den Garten nahmen die Bauern in Kauf, die Pflanzen durch Pflege und Fürsorge unterstützen zu müssen. Für die Pflanzen selbst änderten sich dadurch die Kriterien für die erfolgreiche Anpassung maßgeblich. Es ging nicht mehr darum, in der Wildnis konkurrenzstärker gegenüber anderen Gewächsen zu sein, sondern darum, den Bauern zu gefallen, um von diesen gefördert zu werden. Man könnte also von einer Win-win-Situation oder, wenn man so möchte, von einer Art Symbiose zwischen Menschen und Kulturpflanzen sprechen. Wenn eine Nahrungspflanze im Garten oder auf dem Acker Eigenschaften entwickelt, die sie für Menschen interessant machen, werden ihnen sogar die Konkurrenzpflanzen – sogenannte Unkräuter oder Beikräuter – vom Leib gehalten. Mit zunehmender Anpassung an Kulturstandorte verloren die Kulturpflanzen daher ihre Fähigkeit, in freier Wildbahn zu überleben. Auch der Mais hätte keine Chance, gegen natürliche Arten zu bestehen. Er ist sogar, um überhaupt keimen zu können, darauf angewiesen, dass Menschen seine Samen ernten, aufbereiten und Jahr für Jahr anbauen. Mit seinen Kolben könnte er sich ohne diese Unterstützung nicht mehr fortpflanzen, da die Körner zu fest daran haften und sich von alleine nicht ausstreuen können. Außerdem sind sie zu groß und zu verletzlich, um in einem natürlichen Ökosystem so lange intakt zu bleiben, bis sie keimen können.

Zucht und Vererbung – von den Assyrern bis Mendel

Im Laufe der Geschichte kontrollierten die Menschen die Veränderungen und Entwicklungen an ihren Kulturpflanzen nicht nur durch die Auslese, sondern auch durch gezielte Kreuzung. Dadurch wurde die Zucht von Pflanzen möglich.

Der Begriff »Zucht« wird umgangssprachlich oft mit »Anbau« gleichgesetzt und verwechselt. Das ist ein Irrtum. Bei der Zucht entstehen – eben durch Kreuzung – neue Formen von Pflanzen, die dann von Bauern und Gärtnern angebaut werden. Züchterinnen und Züchter sind diejenigen, die verschiedene Sorten kreieren und aus vorhandenen Pflanzen neue genetische Typen »erschaffen«. Alte Zeugnisse deuten darauf hin, dass die Tradition der Pflanzenzucht bereits in der frühen Bronzezeit ihre Anfänge nahm. Überlieferte künstlerische Darstellungen zeigen Priester des assyrischen Königs Hammurabi bei der Bestäubung von Dattelpalmen mit der Hand. Assyrien war eine antike Region im nördlichen Mesopotamien und die Darstellungen wurden auf etwa 2000 vor unserer Zeitrechnung datiert. Die Pflanzenzucht durch Kreuzung dürfte also zum ersten Mal in derselben Weltregion erprobt worden sein, in der auch der Ackerbau seine frühesten Anfänge nahm – eben in Westasien. Und auch sie ist Jahrtausende alt.

Zum damaligen Zeitpunkt wusste man natürlich noch nichts über die sexuellen Vorgänge bei Pflanzen. Die Identifikation der weiblichen und der männlichen Blütenorgane gelang erst viel später, im 17. Jahrhundert, durch den deutschen Botaniker Rudolph Jacob Camerarius.

Danach verstrichen beinahe 200 Jahre, bis Befruchtungsvorgänge bei Pflanzen erstmals unter dem Mikroskop beobachtet wurden. Diese wissenschaftliche Pionierleistung ist dem in Warschau geborenen Botaniker Eduard Strasburger zuzuschreiben.

Ebenfalls im 19. Jahrhundert lebte Gregor Mendel, der zum ersten Mal die Gesetze der Vererbung festhielt und als Vorreiter der wissenschaftlichen Genetik gilt. Die von ihm beobachteten Gesetzmäßigkeiten gingen als Mendel’sche Regeln in die Biologie ein.

Obwohl man also die Befruchtungsvorgänge bei Pflanzen sowie die pflanzliche Vererbung erst spät zu verstehen begann, blickt die Pflanzenzucht auf eine Tradition von Jahrtausenden zurück. Seit Menschen wissen, dass man Pflanzen gezielt kreuzen kann, um neue Formen zu erhalten, besteht die Möglichkeit, den Evolutionsprozess der Kulturpflanzen weitaus stärker zu beeinflussen, als dies durch bloße Auslese jemals möglich gewesen wäre.

Arten und Sorten

Es entstanden im Laufe der Geschichte etwa 5000 kultivierte Pflanzenarten. Kulturpflanzen im engeren Sinne, also Acker- und Gartenpflanzen, die vor allem der menschlichen Ernährung dienen, sind es 700. Heute werden weltweit mit nur mehr 20 Arten etwa 90 Prozent des Bedarfs an pflanzlichen Nahrungsmitteln gedeckt.

Von den meisten Kulturpflanzenarten sind unzählige Sorten bekannt. In vielen Fällen – zum Beispiel bei der Tomate, der Paprika oder Aubergine – sind es sogar Tausende Sorten. Der Unterschied zwischen einer Art und einer Sorte ist rasch erklärt: Die Art oder Spezies ist die wichtigste Grundeinheit, mit deren Hilfe Biologinnen und Biologen Lebewesen einteilen. Innerhalb einer Art stimmen die Individuen in den wesentlichen Merkmalen miteinander überein und können sich untereinander kreuzen. Alle Auberginen gehören beispielsweise der Art Solanum melongena an – eben der Art der Aubergine. Es existieren aber zahlreiche Typen, die sich voneinander eindeutig unterscheiden, obwohl sie alle Auberginen sind. Man spricht von verschiedenen Sorten. Die Abbildung 1 zeigt eine Auswahl selten gewordener Auberginensorten, die wir praktisch nirgends mehr im Handel angeboten bekommen, wenngleich sie geschmacklich und gesundheitlich wertvoll sind.

Vormarsch der Designerpflanzen

Über unsere Kulturpflanzen schrieb der Universitätsprofessor Bernd Lötsch, ehemaliger Generaldirektor des Naturhistorischen Museums in Wien, im Vorwort zu einem meiner Bücher Folgendes:

Sind alte Sorten Kulturleistungen – ihre Erhaltung demnach Denkmalschutz? Oder sieht man sie als genetischen Naturschatz mit Überlebensrecht und Funktion für das kommende Zeitalter der Ökologie? Eben beides – mit einem entscheidenden Unterschied zum Denkmal, den ich auf Reisen zu begreifen lernte: Man denke an das barocke Architekturwunder des Dresdner Zwingers, Herzstück eines UNESCO-Weltkulturerbes. Könnte Kurfürst Friedrich August I. heute nochmals durchspazieren, käme er nie auf die Idee, dass dieses von ihm bei Matthäus Daniel Pöppelmann 1711–1728 beauftragte Gesamtkunstwerk 1945 in Schutt und Asche lag und aus Steinbrocken nach alten Plänen Stück für Stück rekonstruiert wurde.

Nicht minder ergriffen stand ich mit der 3-D-Kamera vor dem weltberühmten Goldenen Pavillon Kinkaku-ji aus dem Jahr 1395 in Kyoto, um zu erfahren, dass er, seither mehrmals ein Raub der Flammen, erst 1955 wiedererstanden war. Mit Geld, Geschick, Wissen und politischem Willen kann der Mensch Menschenwerk nachschaffen.

Ebendies ist mit erloschenen Arten nie mehr möglich. Darum sind Biologen oft noch unduldsamer als Denkmalpfleger; fühlen sich vor rauchend verglühenden Regenwäldern wie Kunsthistoriker, wenn der Louvre brennt, und angesichts aussterbender Arten und Sorten wie Hüter einer kostbaren Bibliothek, wenn Marodeure4 Tausende Bände daraus vernichten, bevor sie auch nur gelesen werden konnten. Denn der Wert von Arten liegt in ihrer Fähigkeit zur Vermehrung. Ihre Eigenschaften – sichtbare wie verdeckt schlummernde – sind Produkt einer langen Evolution im Wechselspiel von Variation und Auslese, in der Wildnis wie in der Hand des Züchters […]. 5

Die Evolution der Kulturpflanzen ist also sowohl eine Naturleistung als auch eine Kulturleistung – das halte ich als Resümee des bisher Geschriebenen fest. Sie spielte sich an der Schnittstelle zwischen Natur- und Kulturgeschichte ab. Diese Evolution unter Menschenhand ist nach wie vor im Gange. Doch die Bedingungen ändern sich.

Wo es hingeht, bestimmt die Industrie

Schon in der Vergangenheit schrieben sich die Einstellung, das Verhalten, die Ziele sowie das Wirken der Menschen in das Erbgut unserer Kulturpflanzen. Unwetterperioden, kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen, sich wandelnde klimatische Bedingungen und sich ändernde Ansprüche durch die Bauern – all diese Faktoren haben sich in den Entwicklungsstrom unserer Nahrungspflanzen eingesponnen und ihr Aussehen, ihre Wuchseigenschaften, ihren Geschmack und ihre Inhaltsstoffe beeinflusst.

Seit einigen Jahrzehnten prägt nun die Handschrift wirtschaftlicher Interessengruppen zunehmend die weitere Entwicklung unserer Kulturpflanzen. Die Lage spitzt sich zu. Es sind längst nicht mehr die Bauern oder die Bedürfnisse der Menschen, die die Kriterien für die Auslese von »nützlichen« gegenüber »unnützen« Pflanzen prägen, sondern die Ansprüche der Industrie, des Großhandels, der Supermärkte und der zentralen Lagerhallenbetreiber.

Nach Tausenden von Jahren hat für unsere Kulturpflanzen eine neue Ära begonnen, deren Eintritt die meisten dieser Pflanzen gar nicht überlebt haben. Ein naturhistorischer und gleichzeitig kultureller Schatz ist im Begriff, dem knallharten und erbarmungslosen Profitstreben der Agrar- und Lebensmittelmultis geopfert zu werden.

Designerpflanzen mit besonderen Ertragseigenschaften kamen erstmals in den frühen 1920er-Jahren in den USA auf den Markt. Es war Mais. Die Ära der Hybridtechnologie in der Pflanzenzucht hatte begonnen und sollte bald zu einer rasanten Vorherrschaft der Agrarkonzerne führen.

Da der Begriff »Hybridtechnologie« in den folgenden Kapiteln noch eine außerordentliche Rolle spielen wird, erläutere ich gleich am Beginn des folgenden Abschnittes, was man darunter versteht.

2 Quelle: Fukuoka, Masanobu: Der große Weg hat kein Tor – Nahrung, Anbau, Leben, S. 29, Darmstadt, 2013

3 Ungefähre Zeitangabe

4 Marodeure: Plünderer, Räuber, Zerstörer am Rande von Gefechten

5 Lötsch, Bernd in: Arvay, Clemens G.: Fruchtgemüse  Alte Sorten und außergewöhnliche Arten neu entdeckt, S. 7 f., Graz/Stuttgart, 2011