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Henry David Thoreau

Lob der Wildnis

Aus dem Amerikanischen Englisch
von Esther Kinsky

Mit Illustrationen von
Bettina Krieg

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Inhalt

Wilde Früchte

Erdbeeren

Schwarze Heidelbeere

Die Europäische Preiselbeere

Wilde Äpfel

Wilde Früchte

Moralisten pflegen vom Menschen zu sagen: »An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen«, doch Botaniker sagen in der Regel von Pflanzen: »An ihren Blüten sollt ihr sie erkennen.« Das ist im Großen und Ganzen nicht schlecht, doch letztere sollten da eine Ausnahme machen, wo die Frucht bedeutender ist als die Blüte. Die Pflanzen sollten in dem Zustand verglichen werden, in dem ihre Bedeutung für den Menschen am größten ist. Ich sage: »Manchmal sind es die Früchte, an denen ihr sie erkennen sollt«, aber dann verwende ich das Wort ›Frucht‹ im herkömmlichen Sinne.

Vielleicht lohnt es die Mühe, sich einen Augenblick lang klarzumachen, was eine Frucht ist. Das Geheimnis des Lebens der Pflanzen ist mit dem unserer Leben verwandt, und der Physiologe sollte nicht voreilig ihr Wachstum mit mechanischen Gesetzen erklären oder so als erläutere er eine Maschine, die er selbst konstruiert hat. Wir dürfen uns nicht anmaßen, die Heimstatt gleich welchen Lebens mit unseren Fingern zu erkunden, egal ob es sich um Tier oder Pflanze handelt, denn dann werden wir nichts finden als Oberfläche, oder alle Früchte werden Äpfel vom Toten Meer sein, voll mit Staub und Asche. (Wissenschaft ist oft genug wie eine Larve, die zwar im Keim der Frucht verborgen gelegen hat und sie verdorben oder zerfressen haben mag, den Geschmack der Frucht aber nie kennengelernt hat.)

Der höchste Ausdruck oder die Frucht eines jeden geschaffenen Dings ist ein feiner Hauch, den nur der unbefangenste Verehrer zu erkennen imstande ist, der sogar zur Oberfläche einen andächtigen Abstand wahrt. Ursache und Wirkung sind gleichermaßen flüchtig und ungreifbar, und die Ursache muss in demselben Geist und mit derselben Ehrfurcht erforscht werden wie die Wirkung wahrgenommen wird. Nur derjenige Intellekt macht irgendeinen Fortschritt beim Begreifen des Wesens, der gleichzeitig diesen Hauch wahrnimmt. Der grobe und unwissende Finger tastet nur immer in der äußeren Schicht herum, denn auch hier sind Einfalls- und Ausfallswinkel gleich, und das Wesen liegt, bildlich gesprochen, in demselben Abstand jenseits der Oberfläche (oder Materie) wie ihn diesseits die Ehrfurcht dem Auge des Betrachters gebietet, und nur die Ehrfurcht kann den richtigen Winkel feststellen. Sollen wir uns anmaßen, den Winkel zu ändern, in dem der Schöpfer gesehen werden möchte?

Entsprechend lehne ich auch die Erklärung ab, die Carpenter dafür gibt, dass eine Kartoffelpflanze in einem Keller zum Licht hin wächst. Er sagt: »Der Grund dafür ist ganz offensichtlich der, dass sich der Stängel infolge des Flüssigkeitsverlusts auf der lichtzugewandten Seite zusammenzieht, während die andere Seite prall mit Flüssigkeit gefüllt bleibt. Daher krümmt sich der Stängel, sodass seine Spitze die Ebene des Lichteinfalls erreicht, und dann wächst er in diese Richtung weiter.« Auf ähnliche Weise könnte er versuchen zu erklären, warum ich dem Licht entgegenwachse, und er fände zweifellos eine ähnlich erfolgreiche Erklärung, indem er feststellte, dass ich nach den Gesetzen menschlicher Fortbewegung meine Beine in diese Richtung krümme.

Es gibt keine Reife, die nicht sozusagen etwas Letztgültiges an sich enthält und bloß das vollendete Mittel zu etwas ist, was wir als höheren Zweck zu erkennen meinen. Zur Reife kann etwas nur dann gelangen, wenn es einem transzendenten Ziel dient. Wenn die Reifung eines Blattes vollendet ist (sofern wir das erkennen), verlässt es den Baum, um nie wieder dorthin zurückzukehren. Das vollzieht sich unabhängig von anderen Früchten, die der Baum hervorbringen mag, und nur Intuition kann es fassen. Die Frucht eines Baumes liegt weder im Samen noch im Holz, noch ist sie der ausgewachsene Baum selbst, sondern sie besteht – wie ich es vorläufig bezeichnen würde – schlicht in dem höchsten Nutzen, zu dem er kommen kann. Wie Mrs Lincoln in ihrer Botanik schreibt: »Die Reife der Samen kennzeichnet das Lebensende einjähriger Pflanzen und den Stillstand der Vegetation in baumartigen und mehrjährigen Pflanzen.«

Als La Mountain und Haddock kürzlich mit ihrem Ballon in der Wildnis Kanadas zu Boden gingen, wären sie um ein Haar verhungert oder an Kälte, Nässe und Erschöpfung zugrunde gegangen. So weit haben wir uns von einem einfachen und unabhängigen Leben entfernt. Ich glaube, dass ein umsichtiger und unabhängiger, selbständiger Mensch eine vollständige Liste all dessen bei sich tragen sollte, was er in der Wildnis oder einem primitiven Land an Essbarem vorfinden kann. Zumindest sollte er – von Streichhölzern und warmer Kleidung ganz zu schweigen – einen kleinen Speisezettel in der Westentasche parat haben, um sich unverzüglich auf die Suche nach Nahrung machen zu können. Die beiden Flieger hätten zum Beispiel ein paar Frösche verspeisen können, wenn sie gewusst hätten, wo sie danach suchen sollten. Da redet man von Tarifen und Schutz der Heimarbeit, um für Notzeiten und Krieg gewappnet zu sein! Hier decken wir unseren Brotbedarf aus dem Westen, unseren Butterbedarf aus Vermont und unseren Bedarf bis hin zum Überfluss an Tee, Kaffe und Zucker aus Gegenden auf der anderen Seite der Erde. Doch der wirklich umsichtige Mensch trägt eine Liste der essbaren Dinge in nächster Nähe zumindest im Kopf immer bei sich, sogar dann, wenn er über den Markt in der Stadt geht. Er weiß, was das Land auf Dauer hergibt, und wird auf die schwersten Zeiten vorbereitet sein. Er lässt die Städte und ihre Polizei hinter sich, er durchschaut sie. Laufen diese nicht stets Gefahr, von der Wildnis der Schimmelpilze und des Hausschwamms eingeholt zu werden? Die Städte sind nur ein Lager, wo man heute im Überfluss versorgt ist, doch morgen schon an seinen alten Schuhen kauen kann. Einem Philosophen der reinen Ästhetik, der in seinen Gedanken höher schwebt als gewöhnliche Menschen, mag eine Gegend wie unsere, in die er gelegentlich hinabsteigt, als eine ähnliche Wildnis erscheinen, wie es die Gegend Kanadas für La Mountain und Haddock war. Mit Mühe wird er einen kleinen Frosch in seiner Winterstarre finden, um sich zu ernähren und dann entrüstet wieder der Sonne entgegen zu fliehen.

Ich habe beizeiten eine Inventarliste der hier vorhandenen gängigen Vorräte angelegt. Bigelow sagt: »Kein Botaniker wird selbst bei Gefahr, in der Wildnis zu verhungern, in Versuchung kommen, seinen Hunger an der Wurzel oder Frucht eines unbekannten Exemplars von Nachtschatten- oder, Ranunkelgewächsen oder doldenblütigen Wasserpflanzen zu stillen. Doch würde er nicht einen Augenblick zögern, wenn es um Süßgräser, Beeren der Pomacea-Familie und ähnliche einheimische Gattungen ginge, bei denen keine gesundheitsschädigende Wirkung zu befürchten ist.

Die meisten von uns haben zu der Gegend unserer Heimat noch ein Verhältnis wie der Seefahrer zu unentdeckten Inseln im Meer. An jedem beliebigen Nachmittag können wir eine neue Frucht entdecken, die uns mit ihrer Schönheit oder Süße überrascht. Immer wenn ich bei meinen Spaziergängen auf ein paar Beeren gestoßen bin, deren Namen ich noch nicht kannte, schien mir der Anteil des Unbekannten unbeschreiblich, vielleicht sogar unendlich groß.

So segle ich auf dem unerforschten Meer von Concord, und es gibt etliche grüne Täler, Auwiesen und bewaldete Hügel, die mir wie meine ganz persönlichen Gewürzinseln vorkommen. Die vielgerühmten Früchte wie Apfelsinen, Zitronen, Ananas und Bananen, die aus dem Süden oder Osten eingeführt und auf unseren Märkten verkauft werden, interessieren mich kaum – ganz im Gegensatz zu den wilden Beeren, deren Schönheit zwar weniger augenfällig ist, doch die Jahr für Jahr den Wanderungen durch wildes Gelände einen immer wieder neuen Reiz verleihen oder die ich beim Verzehr im Freien besondes köstlich finde. In unsere Ziergärtchen pflanzen wir importierte Büsche der Schönheit ihrer Beeren wegen, während mindestens ebenso schöne Beeren von uns unbemerkt auf Feld und Wiese der Umgebung wachsen.

Tropische Früchte sind für diejenigen, die in den Tropen leben. Das Beste und Süßeste an ihnen lässt sich nicht importieren. Als eingeführte Ware sind sie vor allem für die von Interesse, die nicht weiter wandern als über den Markt. Nicht die Apfelsine aus Kuba, sondern die Niedere Scheinbeere auf der Weide nebenan ist das größte Vergnügen für Augen und Gaumen der Kinder Neuenglands. Der absolute Wert einer Frucht nämlich bestimmt sich nicht durch ihre Fremdländischkeit, Größe oder Nahrhaftigkeit.

Leute wie wir halten nicht viel von Tafelobst. Das ist etwas für Würdenträger und für Genussmenschen. Der Phantasie bietet es nicht die Nahrung, die wilde Früchte liefern, sie würde verhungern, wenn sie auf diese Importe angewiesen wäre. Die Bittersüße der Eichel einer Weißeiche, die man bei einer rauen Novemberwanderung über fahlbraune Erde knabbern kann, bedeutet mir mehr als eine Scheibe importierter Ananas. Der Süden soll seine Ananas für sich behalten, wir wollen mit unserer Erdbeere zufrieden sein, die ja der Ananas sogar ähnelt, nur eben eine Beere ist, für die man »in die Beeren geht«, was ihren Geschmack viel reicher macht. Was sind all die nach England importierten Orangen im Vergleich mit den Hagebutten und Mehlbeeren in Englands Hecken? Auf erstere könnte es leicht verzichten, nicht aber auf die letzteren. Fragt Wordsworth oder einen anderen englischen Dichter, was ihm lieber ist.

Der Wert dieser wilden Früchte liegt nicht in ihrem Besitz oder Verzehr, sondern in ihrem Anblick und der Freude, die man an ihnen hat. Schon der Ursprung des Wortes ›Frucht‹ legt das nahe. Es stammt von dem lateinischen ›fructus‹, das, was ›genutzt‹ oder ›genossen‹ wird. Ansonsten müssten ja das Beerensammeln und das Feilbieten auf dem Markt zwei Namen für ein und dieselbe Erfahrung sein. Natürlich wird jede Tätigkeit erst interessant durch den Geist, in dem man sie verrichtet, ganz gleich ob man nun ein Zimmer ausfegt oder Rüben verzieht. Pfirsiche sind zweifellos hübsche und schmackhafte Früchte, doch ihre Ernte für den Verkauf auf dem Markt beschäftigt die Phantasie des Menschen nicht im entferntesten so sehr wie das Sammeln von Heidelbeeren für den eigenen Gebrauch.

Ein Mann rüstet mit großem Aufwand ein Frachtschiff aus und schickt es mit einer Besatzung von Schiffsleuten nach den westindischen Inseln. Ein halbes oder ein ganzes Jahr später kehrt das Schiff mit einer Ladung Ananas zurück. Wenn dabei nichts anderes herauskommt, als das, was der Spekulant gemeinhin anstrebt, wenn es sich um nichts weiter handelt als um ein sogenanntes erfolgreiches Unternehmen, dann interessiert mich diese Expedition weniger als die ersten Ausflüge eines Kindes in die Heidelbeeren, wobei es in eine neue Welt eingeführt wird, eine neue Erfahrung macht, auch wenn es nur eine Handvoll Beeren in seinem Körbchen heimbringt. Gewiss – die Zeitungen und die Politiker stellen das anders dar, sie berichten von anderen Werten und nennen andere Preise – doch an der Tatsache ändert das nichts. Deshalb halte ich die Frucht der letzteren Unternehmung für edler als die der ersteren. Die Unternehmung insgesamt ist fruchtbarer. Im Vergleich dazu ist das, worauf die Zeitungsredakteure und Politiker solchen Wert legen, bloß Unfug.

Der Wert einer Erfahrung misst sich selbstverständlich nicht in dem Geld, das wir daraus gewinnen, sondern in dem Maße, in dem sie zu unserer Entwicklung beiträgt. Wenn der Umgang mit Apfelsinen und Ananas für einen Jungen in Neuengland mehr zu seiner Entwicklung beigetragen hat als das Sammeln von Heidelbeeren oder Verziehen von Rüben, dann sind erstere natürlich und berechtigterweise wichtiger für ihn, sonst nicht. Nein, es sind nicht diese von Spekulanten importierten von weither geholten Früchte, die uns in erster Linie angehen, sondern vielmehr diejenigen, die man selbst an langen Nachmittagen auf Streifzügen über ferne Hügel und Moore im Henkelkorb gesammelt hat, die Erstlinge der Jahreszeit, eine erste Köstlichkeit für die Freunde zu Hause.

Gemeinhin gilt: Je geringer der Gewinn, den man hat, desto reicher und glücklicher ist man. Der Sohn des reichen Mannes bekommt Kokosnüsse, der des armen Manns Ferkelnüsse, doch das Schlimmste dabei ist, dass der Sohn des Reichen nie selbst die Kokosnüsse sammelt und deshalb nie die Milch der Kokosnuss bekommt, während der Sohn des Armen sehr wohl die Milch der Ferkelnuss genießt. Was der Handel an sich reißt, ist stets der gröbste Teil einer Frucht – nichts als Schale und Rinde, denn die Hände des Handels sind grob. Das ist es, was die Schiffsbäuche füllt, was exportiert und importiert wird, mit Steuern belegt und schließlich in den Läden verkauft wird.

Es ist schlicht eine Tatsache, dass sich die edleren Früchte oder Teile einer Frucht nicht zu einem Handelsgegenstand machen lassen. Der höchste Nutzen und Genuss, den man ihnen abgewinnen kann, ist nicht käuflich. Das Vergnügen, das der genießt, der die Frucht wirklich selbst pflückt, kann man nicht im Handel erwerben. Und ebenso wenig kann man einen guten Appetit kaufen. Kurz – man kann einen Diener oder einen Sklaven kaufen, aber keinen Freund.

Die Masse der Menschen lässt sich leicht etwas aufzwingen. Die meisten haben ihre ausgetretenen Pfade, auf denen sie sich immer bewegen und werden unweigerlich in jede ihnen bereitete Falle gehen und in jede Grube fallen, die man ihnen gegraben hat. Jedes Geschäftsunternehmen, das erwachsene Kinder ernsthaft betreiben, wird als achtbar betrachtet, ja sogar als etwas Großes angesehen und kann sich der Anerkennung durch Staats- und Kirchenleute sicher sein. Was aber gelten, nur unter dem Gesichtspunkt der Schönheit betrachtet, beispielsweise die blauen Wacholderbeeren auf der Weide für Kirche oder Staat? Ein Kuhhirte, und mit ihm wohl jeder, der wirklich auf dem Land lebt, mag sie zu schätzen wissen, aber sie genießen nicht den Schutz einer Gemeinschaft; jeder kann davon raffen, soviel er will; nur als Handelsware gilt ihnen die Aufmerksamkeit der zivilisierten Welt. Geht zur englischen Regierung, die selbstredend der Vertreter des Volkes ist, und fragt: »Welchen Nutzen haben Wacholderbeeren?«, und sie wird antworten: »Sie geben Gin seinen Geschmack.« Ich habe gelesen, dass zu diesem Zweck jährlich mehrere hundert Tonnen Wacholderbeeren vom Kontinent nach England importiert werden, doch auch diese Menge ist dem Verfasser des Berichts zufolge »bei Weitem nicht genug, um dem enormen Konsum dieses feurigen Getränks gerecht zu werden, die fehlende Menge wird mit Terpentin gedeckt.« Das ist kein Nutzen der Wacholderbeeren, es ist ein Missbrauch der Frucht, und eine aufgeklärte Regierung – sollte es jemals eine solche geben – wird mit so etwas nichts zu tun haben wollen. Der Kuhhirte versteht mehr davon als die Regierung. Wir wollen lieber die Dinge bei ihrem rechten Namen nennen.