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Titelseite

 

 

Am Anfang war Fluffy …

 

Danke Mackie –

für deine Begeisterung

für deine Hartnäckigkeit

für deinen Anteil an den Geschichten

und für den Spaß, den wir gemeinsam haben!

5. 6. 2011, Viertel vor vier

Ich werde mit verzerrtem Gesicht sterben.

Hässlich und entstellt.

So soll er mich nicht finden.

Er soll mich schön in Erinnerung behalten.

Meine Glieder sind so schwer. Ist es so weit?

Ich kann den Stift kaum halten.

Ich habe Angst. Mit jeder Minute mehr Angst.

Warum kommt er nicht?

Wenn er mich liebt, spürt er, dass ich ihn brauche.

Ein Happy End. In letzter Minute.

Man würde mir den Magen auspumpen.

Rik würde an meinem Bett sitzen.

Meine Hand halten.

Auf mich aufpassen.

Aber das wird nicht passieren.

Das Spiel ist aus.

Die Katze hat gewonnen.

Die Maus ist tot.

DIENSTAG, 5. JUNI 2012

1

»Verdammt!«

Sina knallt den letzten Basketball in die Ecke. Warum muss Céline sie ausgerechnet heute dazu verdonnern, die Halle aufzuräumen? Das war bestimmt Absicht! Als hätte Céline geahnt, dass sie Frederik abpassen will. Sie nimmt die letzten drei Stufen auf einmal und rennt durch den dunklen Kellerflur zur Umkleide.

Es ist still, kein Kichern, keine Stimmen, kein Klappern, nur das laute Klatschen ihrer Sohlen auf dem Linoleum. Sind die anderen schon fort? Sina bleibt stehen. Tatsächlich, die Umkleide ist dunkel und leer. Sie hält den Atem an, späht hinein und tastet nach dem Lichtschalter. Nicht mal das Licht haben sie angelassen! Sinas Wut flammt erneut auf. Sie wird gleich gehen. Ohne sich umzuziehen. Rein, Sachen holen, raus. Ben ist es egal, ob sie ihn in verschwitzten Kleidern abholt, und Frederik ist jetzt ohnehin schon weg. Und wenn nicht? Wenn er den Kuss von Samstag erklären will?

Endlich erhellt das Neonlicht die Umkleide. Sina läuft zu ihrem Platz, schaut unschlüssig auf ihre Kleider, dann zieht sie ihre Sporthose aus. Sie zerrt eine Socke über den Fuß, während ihre Gedanken um das Training kreisen. Ist Frederik ihr gegenüber heute besonders aufmerksam gewesen? Hat er etwas getan, um ihr ein Zeichen zu geben? Eines, das außer ihr niemand verstehen würde? Sie greift nach der anderen Socke. Samstag. Wie weich seine Lippen gewesen sind. Wie er den Arm um ihre Hüfte gelegt und den Kopf zu ihr heruntergebeugt hat. »Du bist unglaublich.« Fast hört Sina ihn flüstern und das warme Gefühl in ihrem Bauch lässt sie wohlig erschauern. »Ein Naturtalent. Du solltest Teamkapitän werden.«

»Hör auf zu träumen, Blödi. Beeil dich lieber, sonst ist er definitiv weg!« Sie schlüpft in ihre bunten Vans und stopft hastig die Sportsachen in ihre Schultasche. Will sie überhaupt Teamkapitän werden? Und Céline? Willst du dir den Kampf wirklich antun?

»Gut, du bist noch da.« Céline stürmt in die Umkleide, als hätte sie Sinas Gedanken gehört. »Du hast die Trikots nicht mitgenommen. Du bist dran.«

Sina kräuselt die Nase. Das hat sie über dem Aufräumen der Bälle total vergessen. »Ich hole sie morgen.«

»Nein.« Die Hände in die Hüften gestemmt, schüttelt Céline den Kopf. »Du lässt sie nicht die ganze Woche hier.«

»Morgen. Versprochen. Ich bin spät dran.«

»Nein, jetzt. Glaub nicht, dass du einen Sonderstatus hast, nur weil du aus Berlin kommst.«

»Kannst …«, beginnt Sina und verstummt, als sie Célines verkniffenen Gesichtsausdruck sieht. Frederiks Vorschlag, Teamkapitän zu werden, erscheint ihr plötzlich äußerst verlockend.

Seufzend schnappt sie sich ihre Jacke und die Schultasche und läuft durch den düsteren Gang zur Turnhalle zurück. Im Geräteraum hievt sie die riesige Tragetasche mit den verschwitzten Trikots vom Boden hoch und wirft sie sich über die Schulter. Zu schwer und zu groß, um mit dem Rad zu fahren. Sina verspürt den dringenden Wunsch, Céline sofort abzulösen. Dazu müsste sie allerdings Frederik zu fassen bekommen, und genau das hat Céline gerade zielsicher verhindert. Und wenn er auf dich gewartet hat? Sie stößt die Hallentür auf. Mit einem Ziehen im Magen schaut sie sich im Pausenhof um. Die Schule liegt verlassen vor ihr, die großen, quadratischen Kippfenster wie dunkle Augen im hellen Grau des Betons.

Er hat nicht auf sie gewartet. Natürlich nicht.

Einzig ihr Fahrrad steht in dem überdachten Ständer wie ein treuer Gaul. Ein alter, abgehalfterter, aber wenigstens treuer Gaul.

Wie soll sie jetzt herausfinden, ob Frederik sie am Samstagabend nicht einfach nur aus der Siegerlaune heraus geküsst hat?

Das Ziehen in ihrem Magen verstärkt sich.

Siegerlaune.

Warum sonst hat er sich seitdem nicht bei ihr gemeldet?

Sie tritt nach einem Kiesel. Klackernd springt er über den Asphalt und bleibt vor dem Eingang der Sporthalle liegen. Chance vertan. Jetzt würde sie Rik erst wieder am Samstag sehen.

Samstag. Noch drei Tage und vier Nächte bis zum entscheidenden Spiel der Saison. Eine Ewigkeit. Und keine Garantie, ihn dort unter vier Augen sprechen zu können.

Plötzlich hört sie Célines Lachen. Es klingt künstlich. Als lache sie besonders laut über etwas, das sie gar nicht komisch findet. Für wen sie sich wohl so ins Zeug legt? Sina beschleunigt ihren Schritt. Dann bleibt sie wie versteinert stehen.

Céline lehnt an der Betonmauer hinter dem Schulgebäude. Neben ihr steht Frederik. Er redet auf sie ein. Gestikuliert.

Frederik und Céline?

Das Ziehen in Sinas Magen ist jetzt unerträglich. Was hat sie sich bloß eingebildet? Dass Frederik sich in sie verliebt hat, weil sie die meisten Körbe wirft?

Und der Kuss?

Offenbar hatte er für Frederik eine andere Bedeutung als für sie.

Falsch.

Er hatte für Frederik überhaupt keine Bedeutung.

Mit glühenden Wangen betrachtet Sina die beiden. Wie gut sie zueinander passen. Frederiks durchtrainierter Körper. Selbstbewusst zur Schau gestellt in dem engen T-Shirt und der perfekt sitzenden Jeans. Célines Traumfigur. Ihr perfekter Busen, ihre makellose Haut. Beide groß, Frederik knapp eins neunzig, Céline etwa eins fünfundsiebzig. Sina sieht an sich selbst hinunter. Und sie? Lächerliche eins fünfundsechzig. Kinderfüße und Körbchengröße A.

Jetzt fährt sich Frederik mit der Hand durchs Haar. Wie leicht die Berührung seiner Finger war, als er nach dem Kuss die Bogen ihrer Augenbrauen nachgezeichnet hat. »Eisblau … Ich dachte, du bist arrogant, als ich dich das erste Mal gesehen habe. Ich dachte, ein Mädchen mit solchen Augen muss arrogant sein …« Ein Kribbeln läuft ihre Wirbelsäule hinab.

Céline lehnt mit dem Rücken zu ihr an der Mauer, doch Sina muss ihr Gesicht nicht sehen, um zu wissen, dass ihre braunen Puppenaugen sich an Frederiks Gesicht festgesaugt haben und sie ihren Mund leicht spitzt, um ihn voller wirken zu lassen.

Frederik und Céline. Wenigstens weiß sie jetzt, woran sie ist. Sie dreht sich um und geht zum Schulgebäude zurück. Der Nordausgang. Lieber einen fetten Umweg, als an den beiden Turteltauben vorbeizumüssen. Da hört sie Schritte hinter sich. Schnelle, leichte Schritte. Frederik? Krampfhaft richtet sie ihren Blick auf die Schulmauer. Bloß nicht umdrehen.

Eine Hand berührt sie an ihrer Schulter.

»Wo gehst du denn hin? Ich hab Céline gerade gefragt, ob sie dich eingesperrt hat.« Frederik legt seinen Arm um Sina, als sei es das Selbstverständlichste der Welt.

Sie erstarrt.

Das, genau das ist es, was sie sich erhofft hat. Sein Arm um ihre Hüfte. In ihren Tagträumen hat sie sich an ihn geschmiegt, doch jetzt steht sie steif neben ihm, unfähig, sich zu rühren oder ihm zu antworten. Die Tragetasche baumelt schwer und unförmig von ihrer Schulter und drückt in ihre Kniekehlen.

»Die nehm ich«, sagt Frederik. Ohne seinen Arm von ihr zu lösen, schwingt er sich die Tragetasche auf den Rücken.

»Da…danke.« Es ist unfassbar. Er hat auf sie gewartet. Er legt seinen Arm um sie. Vor Céline. Verstohlen blickt Sina sich nach ihr um und erschrickt. Ihre Augen sind zu Schlitzen verengt, die Lippen nur noch ein dünner Strich. Ihre Blicke treffen sich, prallen aufeinander und elektrisieren die Luft um sie herum. Frederik hingegen scheint Céline völlig vergessen zu haben.

Er neigt seinen Kopf zu Sina. »Ist alles in Ordnung?«

Sie nickt, noch immer unfähig zu sprechen. All die Worte, die sie sich für diesen Moment zurechtgelegt hat – wie ausradiert von dem Tumult in ihrem Bauch, wo statt zierlicher Schmetterlinge nun Elefanten Rumba tanzen.

»Ich wusste nicht, dass du auf mich wartest«, krächzt sie.

»Ich habe gehofft, dass wir beide noch etwas Zeit miteinander verbringen können«, flüstert er und sie spürt seinen Atem auf ihrer Wange. Warm und sanft streicht er über ihr Gesicht und wandert weiter, bis sein Mund den ihren gefunden hat. Sie hält die Luft an. Öffnet die Lippen und wartet, dass seine Zunge sich vortastet, behutsam erst, dann fordernd und gierig wie bei ihrem ersten Kuss. Sie schmiegt ihren Körper an seinen, als Célines wütender Blick vor ihrem inneren Auge aufblitzt. Sie zuckt zurück.

»Was ist denn?« Frederik blickt sie irritiert an.

»Nichts. Ich … ich muss nur meinen Bruder abholen.« Verdammt! Wenn heute bloß Mittwoch oder Donnerstag wäre! Wenn sie nur Zeit hätte, um mit Frederik irgendwohin zu gehen, egal wohin, Hauptsache weit weg von Céline.

»Dann hab ich also umsonst gewartet?« Sein Arm löst sich von ihrer Hüfte. »Schade, ich hätte deinen Rat gebraucht. Ich bin mir nicht sicher, was ich machen soll.«

»Worum geht’s denn?«

»’ne ziemlich krasse Sache.« Sein Lächeln verblasst und ein angespannter Zug erscheint um seinen Mund. »Lange Geschichte. Das würde ich dir lieber in Ruhe erzählen.«

»Ich könnte heute Abend.«

Seine Gesichtszüge hellen sich wieder auf und er legt seinen Arm erneut um sie. »Super. Gegen acht? Ich muss noch jemanden treffen, aber bis dahin bin ich zurück. Kommst du zu mir?«

»Gern.« Sie unterdrückt einen erleichterten Seufzer.

»Frieder-Wilhelmi-Bogen 23.«

Sina tut so, als höre sie diese Information zum ersten Mal. Nie würde sie ihm verraten, dass sie seine Adresse längst herausgefunden und fast täglich Besorgungen im Supermarkt gegenüber erledigt hat, in der Hoffnung, ihm zufällig über den Weg zu laufen.

»Na komm.« Frederik drückt sie sanft. »Dann bring ich dich wenigstens noch bis zum Bus.« Sie lassen das Schulgelände hinter sich und schlendern die Straße entlang zur Haltestelle. Die Körper eng aneinandergeschmiegt, umfasst Sina jetzt auch seine Hüfte und wünscht sich, der Bus möge nie kommen.

»Hast du dir inzwischen überlegt, ob du das Team übernehmen willst?«

»Und Céline?«

»Céline hat ein Problem mit ihrem Ego. Mag sie dich, hast du Glück. Wenn nicht, bist du weg vom Fenster. Aber so läuft das nicht. Ein Teamkapitän muss absolut neutral sein. Neutral und fair.«

»Hast du sie schon mal darauf angesprochen?«

»Ja. Und sie ist nicht besonders glücklich darüber.«

Sina nickt. Was für eine Überraschung …

»Aber ich muss ans Team denken.«

»Vielleicht –«

»Dein Bus! Schnell!« Frederik lässt sie los und beginnt zu rennen. Sie folgt ihm, dankbar, dass er noch immer die Trikots trägt. Der Bus überholt sie und Frederik setzt zum Sprint an. Die Tragetasche schlenkert wild hin und her, ein Trikot fällt heraus und landet vor ihren Füßen, so leuchtend rot wie das Stopplicht einer Ampel. Als wolle es sie aufhalten. Sie daran hindern, den Bus zu nehmen. Sie zwingen, noch ein paar letzte Minuten mit Frederik zu verbringen. Keuchend erreichen sie die Haltestelle. Sina hüpft neben die Trikottasche, die Frederik bereits im Bus abgestellt hat.

»Dann bis später.« Er drückt ihr einen flüchtigen Kuss auf den Mund. Die Türen schließen sich und er springt in letzter Sekunde auf den Gehweg.

2

Rik, der Gentleman.

Wie elegant du die Riesentasche in den Bus gewuchtet hast. Du bist wahrscheinlich nicht mal ins Schwitzen gekommen.

Wen willst du damit beeindrucken? Sina? Wozu die Mühe? Die himmelt dich doch sogar noch an, wenn du ihr eine zweite Riesentasche auf den Rücken schnallst. Du solltest dir deine Kraft lieber für uns aufheben. Aber das hast du ja nicht nötig, nicht wahr? Ich erkenne es an deinem Lächeln.

Siegesgewiss. Ekelhaft.

Du gehst direkt auf mich zu. Aber du siehst mich nicht. Du hast mich nie gesehen. Nicht richtig.

Vielleicht hast du mich deswegen nie ernst genommen. Selbst jetzt nimmst du mich nicht ernst. Du hältst dich für schlauer. Für unverwundbar. Du denkst, du kannst dich aus jeder Situation herauswinden. Wie damals. Aber das funktioniert diesmal nicht.

Du glaubst also, du bist uns auf der Spur? Du glaubst, du hast uns im Sack?

Du solltest vorsichtiger sein. Aufpassen, mit wem du dich triffst. Mit wem du dich anlegst. Oder meinst du, wir werden mit dir nicht fertig? Lass dich überraschen.

Bis heute Abend, Rik.

3

Frederik Lofer.

Rik.

Der Mädchenschwarm der Stadt.

Ihr Freund.

Wer hätte das gedacht?

Sina grinst. Und dabei hatte sie ihren Vater für seine Entscheidung gehasst. Von Berlin nach Kranbach. Ausgerechnet Kranbach mit seinen gepflegten Vorgärten und penibel gekehrten Bürgersteigen, alles so sauber und adrett, als wäre man in der heilen Welt von Barbie und Ken gelandet. Keine Punks und keine Skins, keine Penner mit fragwürdigem Pappschildchen und magerem Hund. Dafür Blumenrabatten in Betoneinfassungen. Wohin man sieht: Geranien und Fuchsien, Primeln und Veilchen. Wie eine Blumenbetonpest, die ihre Beulen über ganz Kranbach verstreut hat. Kranbach – das sei vom Spaßfaktor her wie der Umstieg von einer Achterbahn in den Bummelzug, hatte Melle ihr damals prophezeit. Aber Melle konnte nicht ahnen, dass Sina auf Frederik stoßen würde. Noch nie ist sie so gern ins Training gegangen, noch nie hat sie so gut gespielt. Es ist, als peitsche Frederiks Anwesenheit ihre Leistungsfähigkeit in ungeahnte Sphären.

Der Mann vor ihr erhebt sich und Sina blickt auf. Noch eine Haltestelle. Ihre Gedanken wandern zurück zu Frederik. Weswegen er sie wohl um Rat fragen will? Ob es etwas mit der Schulmannschaft zu tun hat? Eine krasse Sache … Eine lange Geschichte …

Der Bus hält. Sina schreckt auf, reißt die Trikottasche vom Boden hoch und stürzt zur Tür. Schon nach wenigen Schritten erreicht sie den gegenüberliegenden Fußballplatz. Auf dem Spielfeld ist niemand zu sehen, mit etwas Glück wartet Ben schon auf sie.

Während sie das unscheinbare Vereinshäuschen betritt, wandern ihre Gedanken zu Frederik zurück. Wie seine Wohnung wohl aussieht? Auf dem Klingelschild steht ein zweiter Name. Kirk. Offenbar sein Mitbewohner. Wenn sie erst mal studiert, wird sie auch in eine Wohngemeinschaft ziehen. Am liebsten mit Melle. Ein Jahr noch. Dann ist sie endlich mit der Schule fertig und –

»Hallo, Sina.« Ben zupft sie am Ärmel und rümpft die Nase. »Was ist das denn für ein Stinkesack?«

»Trikots.« Sie mustert ihn. Sein Haaransatz ist verschwitzt, sein Gesicht knallrot. »Bist du wieder gerannt wie ein Bekloppter?«

»Ich bin der Schnellste. Wie du«, bestätigt er voller Stolz.

»Vielleicht, aber du hast Asthma und ich nicht.«

»Ja, Mama«, spottet er und sprintet zum Ausgang.

Sie folgt ihm kopfschüttelnd. Egal, was sie sagt, er würde sein Asthma nicht ernst nehmen. Wie ist sie vor sieben Jahren gewesen? Hätte sie als Zehnjährige auf eine ältere Schwester gehört? Nach ein paar Metern holt sie auf und läuft neben Ben durch das ruhige Wohnviertel.

»Und?«, fragt er schließlich. »Hat er sich mit dir verabredet?«

Sie bleibt stehen. »Wer soll sich mit mir verabredet haben?«

Ben grinst. »Wer wohl? Frederik natürlich!«

Sina spürt, wie ihr das Blut ins Gesicht schießt. »Was weißt du über Frederik?«

»Nichts.« Ben geht weiter. »Nur, was du zu Melle gesagt hast.«

»Du hast gelauscht!«

»Was kann ich dafür, wenn du auf dem Balkon telefonierst?«, verteidigt sich Ben.

»Mann, echt!« Sina schnaubt und holt auf. »Kein Wort zu Mama, kapiert?«

»Spinnst du?« Ben bleibt stehen und verschränkt seine Arme. »Das würde ich nie tun.«

»Ich weiß«, sagt sie leise und wuschelt durch seine Haare. »Wir beide würden das nie tun.«

Ben pflückt ihre Hand von seinem Kopf und drückt sie. »Nie?«

Wie fest der Druck seiner Finger ist. Zu fest für seine Kinderhand. Zu fest für diese einfache Frage.

»Nie!«, wiederholt Sina und legt feierlich die linke Hand auf ihr Herz.

Sie bräuchte Melle. Oder eine Freundin wie Melle. Als Alibi. Aber sie hat keine Freundin wie Melle. Sie hat gar keine Freundin. Und wenn Céline jetzt die anderen im Team gegen sie aufhetzt, hat sie nicht mal mehr die Aussicht auf eine. Was also soll sie ihrer Mutter erzählen? Dass sie um acht Uhr noch mal ins Training muss? Nein. Dann würde sie sich morgen früh bei der Schulleitung beschweren und erfahren, dass gar kein Training stattgefunden hat. Kino? Sie weiß nicht einmal, was gerade läuft. Keine gute Idee. Ihre Mutter würde ihre Lüge mit einer einzigen Frage entlarven. Die Wahrheit?

»Siiina!« Die Gabel ihrer Mutter scheppert auf dem Teller.

Sina schreckt hoch. Was ist passiert? Was hat sie getan?

»Was ist nur los mit dir?«

»Nichts. Warum?« Sina presst Gabel und Messer so fest auf den Teller, dass das leichte Zittern ihrer Hände verschwindet.

»Du sitzt die ganze Zeit nur da und schweigst. Als ob wir gar nicht existierten!« Ihre Mutter fährt Ben durchs Haar. »Möchtest du noch etwas?«

»Ja. Bitte!« Ben hält ihr seinen Teller hin.

»Und du?« Die Kelle schwebt über der Auflaufform wie ein Raubvogel, der nur darauf wartet, sich auf sein Opfer zu stürzen.

»Danke. Ich bin satt.«

Die Kelle saust nach unten und landet mit einem Platschen auf dem Käse. »Dir schmeckt es nicht.«

»Doch! Es schmeckt super. Ich hab einfach nicht so viel Hunger.« Verdammt! Warum hat sie sich nicht am Gespräch beteiligt? Wenn sie das Ruder jetzt nicht herumreißt, lässt ihre Mutter sie gar nicht mehr gehen.

»Ich finde es lecker, Mami«, sagt Ben mit vollem Mund.

»Weißt du vielleicht, welche Laus deiner Schwester heute über die Leber gelaufen ist?«

»Mir ist keine Laus über die Leber gelaufen«, sagt Sina hastig. »Ich muss nur bis morgen ein Referat vorbereiten und mir fehlt noch einiges an Stoff.« Schnell spießt sie das letzte Stück Lasagne auf und kaut ausführlich, erfreut über ihren plötzlichen Geistesblitz. »Deshalb muss ich nachher noch bei Tabea vorbeischauen.«

»Tabea? Heißt so nicht die Schwester von Bens Freund, von Adrian?«, fragt ihre Mutter verwundert. »Ich wusste nicht, dass du sie kennst.«

»Wir sitzen in Deutsch nebeneinander.« Sina kratzt mit der Gabel die letzten Krümel von ihrem Teller. Nicht hochsehen. Nicht stottern.

»Ist sie nett?«, will ihre Mutter wissen und Sina ergänzt still die Frage, die unausgesprochen in der Luft liegt: Kannst du dich mit ihr anfreunden?

»Sie ist ganz okay, aber die zwei Tussen, mit denen sie abhängt, sind ziemlich daneben.« Sie führt die Gabel mit den Hackfleischresten zum Mund.

»Und jetzt macht ihr ein gemeinsames Referat? In welchem Fach?«

Wieder spürt Sina den prüfenden Blick ihrer Mutter. Ihre Hände werden feucht. Sie wischt sie an ihrer Jeans ab. Konzentrier dich! Bleib locker!

»Deutsch. Über die Dichter der Sturm-und-Drang-Zeit. Total ätzend.« Sturm und Drang. Das ist gut. Ihre Mutter hasst Literatur.

»Da würde mir auch der Appetit vergehen. Ich weiß gar nicht, warum die euch mit diesem Unsinn quälen müssen.« Ihre Mutter nimmt Bens leeren Teller, stellt ihn auf ihren und erhebt sich. »Aber du spielst noch eine Runde Karten mit uns, nicht? Ich habe es Ben versprochen.«

Ben wetzt mit seinem Hintern erwartungsvoll über den Stuhl, während Sina zur großen Uhr über der Küchentür linst. Der Sprung im Glas erschwert es, die Zeit zu erkennen, wenn der Zeiger sich der vollen Stunde nähert. Viertel vor sechs, genug Zeit für ein Spiel und die wichtigsten Hausaufgaben, um bis acht bei Frederik zu sein. Besonders schick machen kann sie sich ohnehin nicht, ohne den Argwohn ihrer Mutter zu wecken.

»Klar.« Sie knufft Ben spielerisch in den Arm. »Wehe, du mogelst. Und hör endlich auf, den Stuhl zu polieren.«

Ihren Teller und die Auflaufform in der Hand, geht sie zur Spüle. Während ihre Mutter die Maschine einräumt, fährt Sina mit einem Lappen über die dunkle Granitplatte der neuen Einbauküche und den von sechs Schwingstühlen umgebenen Glastisch. Sie vermisst die gemütliche Eckbank der Berliner Küche, die bunten, verschlissenen Kissen, auf denen Ben und sie so viele Nachmittage herumgelümmelt und gebastelt und Hörspiele angehört haben. Nur ihre Mutter fühlt sich in der neuen Küche wohler. Keine Schnörkel. Kein Nippes auf den Fensterbrettern. Kein pflegeintensives Holz, das noch nach Jahren von einer Krankheit zeugt, deren Spuren man nicht einfach mit einem Putzlappen wegwischen kann.

»Fertig!« Ben wirft seine letzte Karte auf den Tisch. »Gewonnen! Wie-hie-der gewo-hon-nen!« Sein Gesicht strahlt mit den weißen Lackfronten der Küchenschränke um die Wette.

»Scheint heute dein Glückstag zu sein!« Sina grinst und schiebt ihre Karten zugedeckt in den Stapel. Wie einfach es ist, ein Spiel zu manipulieren, wenn man nicht gewinnen will. Sie sammelt die restlichen Karten ein, mischt und teilt aus. Frederik. Sie verkneift sich einen Glücksseufzer.

»Letzte Runde. Ich muss noch Hausaufgaben machen, bevor ich zu Tabea gehe.«

»Schade. Es ist gerade so nett.« Ihre Mutter nimmt die Karten auf und prüft sie.

»Wir können doch morgen weiterspielen.« Sina vertieft sich in ihr Blatt. Es ist grottenschlecht. Bens konzentrierter Gesichtsausdruck dagegen verrät, dass er gute Karten hat. Seine Zunge klebt an der Oberlippe, als sei sie auf dem Weg zur Nase dort hängen geblieben, seine Augen wandern unaufhörlich von links nach rechts und wieder zurück. Sina lächelt. Niemand sonst ist so leicht zu durchschauen.

»Du mogelst!« Ihre Mutter knallt die Karten auf die Glasplatte. »Du hast dir eine Karte weniger gegeben. Es ist immer das Gleiche mit dir! Wenn du zu etwas keine Lust hast, musst du es den anderen auch verderben!«

Sina zählt in Windeseile ihre Karten nach. Ihre Mutter hat recht.

»Entschuldige. Das war keine Absicht.« Sie greift zum Stoß, um eine weitere Karte zu ziehen, doch ihre Mutter ist schneller. Sie umklammert die Karten und zieht sie zu sich.

»Natürlich war das Absicht! Mogeln, lügen, betrügen! Wie dein Vater! Du bist genauso verlogen wie er.«

Sina sieht zu Ben. Das Grinsen erstarrt in seinem Gesicht, die Augen sind vor Schreck weit geöffnet. Aus den Augenwinkeln registriert sie die Hand ihrer Mutter. Sie duckt sich, spürt, wie die Karten sie am Kopf streifen, flüchtig und hart wie der Zweig eines Baums, dem sie nicht ausweichen kann, hört, wie die Karten hinter ihr an die Wand prallen und zu Boden rieseln.

»Ihr steckt doch alle unter einer Decke!« Da ist sie. Die schrille Stimme. »Du und Ben und euer Vater. Als ob ich nicht wüsste, dass er sich mit dieser Schnepfe herumtreibt. Vier Tage die Woche unterwegs! Na, was bekommt ihr für euer Schweigen? Was hat er dir versprochen, Ben? Kennst du seine Neue schon? Du kannst es wahrscheinlich gar nicht erwarten, dass er sich scheiden lässt und du endlich von mir wegkannst.«

Die Hand ihrer Mutter umschließt das Glas, das vor ihr steht. Ben sitzt wie erstarrt. Sina hechtet nach links, reißt ihn vom Stuhl. Das Glas schießt an der Stelle vorbei, wo eben noch sein Kopf gewesen ist, und zerbirst auf den Fliesen. Sie hört den Wutschrei ihrer Mutter, hört, wie der Wasserkrug über den Tisch gezogen wird, und zerrt Ben aus der Küche. Mit Schwung schlägt sie die Tür hinter sich zu, als wäre sie ein Schutzschild, und hört keine Sekunde später das Krachen des Kruges, der daran zerschellt. Ben an der Hand, rennt sie zu ihrem Zimmer und schließt hinter sich ab.

Sie setzt sich mit ihm in die hinterste Ecke ihres Betts und hält ihn in ihrem Arm, bis das Zittern seines Körpers nachlässt.

4

Sie brauchen keine Worte mehr, um einander zu trösten. Schweigend kauern sie auf Sinas Bett und lauschen dem Toben ihrer Mutter, dem Klirren des Geschirrs, dem Schlagen der Schranktüren. Sina wirft einen Softball an die Wand und beobachtet die Flugbahn, auf der der Ball zu ihr zurückfliegt wie ein Bumerang. Dann wählt sie die schmale Lücke zwischen Kleiderschrank und Bücherregal als neues Ziel aus. Trifft der Ball den Schrank, übertönt das Krachen der dünnen Sperrholzplatte den Lärm aus der Küche. Sina hofft, dass keiner der Nachbarn auf die Idee kommt, die Polizei zu rufen.

Was in Berlin in der Anonymität der Großstadt untergegangen ist, würde hier Wellen schlagen. Sie wären Aussätzige in dieser geschleckten Neubausiedlung, in der selbst die Radständer aus Edelstahl sind. Wie damals in Neunburg. Man würde Ben und sie wieder mit mitleidigen Blicken bedenken. Sie meiden. Oder über sie tuscheln und Rückschlüsse ziehen, wo es keine zu ziehen gibt.

Bipolare Störung. Manisch-depressive Mutter.

Es haftet an Sina wie ein Tattoo, das sie zwar verbergen, aber nicht entfernen kann.

Die Frau ist verrückt, sagen die einen, die ganze Familie ist verrückt. Die Frau ist krank, sagen die anderen.

Du musst nett zu deiner Mutter sein, sagt die Krankenschwester. Wenn du sie ärgerst, wird sie noch kränker.

Du bist auch gefährdet, sagt ihre Großmutter, die Krankheit wandert von Mutter zu Tochter.

Du musst auf Ben aufpassen, sagt ihr Vater. Ich verlasse mich auf dich.

Sina drückt Ben fester an sich. Wie soll sie nächstes Jahr ausziehen? Dann ist er elf. Zu klein, um sich selbst zu schützen. Sie blickt auf die Uhr. Zehn nach sieben. Wenn sie pünktlich bei Frederik sein will, muss sie in einer halben Stunde los. Bens Kopf lehnt an ihrer Schulter. Sie kann ihn nicht allein lassen. Selbst wenn ihre Mutter sich in einer halben Stunde beruhigt hätte. Selbst wenn sie ihren Vater anrufen und ihn bitten würde, zu kommen. Er würde es nicht rechtzeitig schaffen.

Wenn er nur wieder jeden Abend zu Hause wäre. Wie früher. Dann wäre alles viel leichter. Er hätte ihre Mutter beruhigt und mit Ben noch eine Runde Quartett gespielt. Sina hätte weggehen können und alles wäre gut gewesen.

»Ich weiß, dass du nicht mogeln wolltest«, sagt Ben in die Stille.

»Ich hätte besser aufpassen müssen.«

»Warum nimmt sie ihre Medizin nicht?« Ben richtet sich in ihrem Arm auf. »Papa sagt, wenn sie die Tabletten nimmt, ist alles gut. Ich wünschte, Papa wäre hier.«

»Sie denkt, die Tabletten bringen sie um«, erklärt Sina. »Sie hat mir aufgezählt, was da alles drin ist. Aber frag mich jetzt nicht, was genau, ich hab das meiste nicht verstanden.«

»Ich versteh auch nie was, wenn Mama Schemisch redet.«

»Über Chemie redet. Aber sie ist wirklich gut darin. Nur will sie keiner einstellen mit dieser Krankheit, weil sie Angst haben, dass sie wieder ein Labor kaputt macht.« Sina steht auf.

»Gehst du jetzt?«, fragt Ben und seine Stimme ist so dünn wie das Rinnsal eines ausgetrockneten Bachbetts.

Sie schüttelt den Kopf. »Ich schreib nur eine SMS.«

»Danke«, sagt Ben. »Du wolltest Frederik treffen, stimmt’s?«

Sina nickt.

»Ich weiß von Adrian, dass Tabea das Referat über den Sturm schon mit Laureen gemacht hat – die findet er nämlich total toll.«

»Adrian?« Sina lacht laut auf. »Etwas jung, oder?«

»Deswegen kann er trotzdem verknallt sein«, antwortet Ben und verzieht beleidigt das Gesicht.

»Klar. Aber sie würde ihn nicht mal dann anschauen, wenn er so alt wäre wie sie. Nach dem Abi zieht Laureen nach New York und angelt sich dort einen aus der High Society. Behauptet sie zumindest.«

»Hei was?«

»Einen aus der besseren Gesellschaft. Die aus den Klatschzeitschriften.«

»Warum?«

»Weil ihr Papa adelig und stinkreich und Bürgermeister ist. Laureen hält sich deswegen für was Besonderes.«

»Ich mag sie auch nicht«, sagt Ben.

»Gut.« Sina zückt ihr Handy.

Lieber rik, werde aufgehalten, weiß nicht, ob ich es noch schaffe. Tut mir echt leid. Möchte dich gern sehen, können wir verschieben? LG, Sina

Mit zitternden Fingern sendet sie die Nachricht. Sie wirft Ben ihren alten Gameboy zu, setzt sich an ihren Schreibtisch und schaltet den Computer an. Eine Minute später surrt ihr Handy. Ihr Magen macht einen Bungeesprung.

Kein Problem, bin ab acht da, komm, wann du willst. Freu mich. Rik

Sina blickt zu Ben und zurück auf ihr Handy. Vielleicht kann sie später ja doch noch weg.

Bens gleichmäßiges Schnarchen bohrt sich wie eine Made in Sinas Kopf und frisst Löcher in ihre Konzentration. Sie blättert vor, überfliegt den eingerahmten Text und schließt das Geschichtsbuch. Das muss reichen. Falls die Berg sie morgen ausfragt. Was durchaus wahrscheinlich ist. Noch vier Wochen bis Notenschluss. Sie geht zum Bett, löst den Gameboy aus Bens Händen und deckt ihren Bruder zu. Dann setzt sie sich an den Computer und ruft Facebook auf. Im Chatfenster entdeckt sie Melle.

Sina: Hi, Melle!

Melle: Kommst du am WE? Meine Eltern sind weg – Party Party Party!!

Sina: Kann nicht. Haben am Samstag ein Spiel.

Sina zerreißt einen Schmierzettel und knüllt die Papierschnipsel zu Kugeln. Sie nimmt die erste und zielt auf den Miniaturkorb an ihrem Abfalleimer. Treffer.

Melle: Ach komm, du kannst das Spiel doch sausen lassen.

Sina: Geht nicht. Ist DAS Spiel der Saison.

Sie schnappt sich das zweite Papierknäuel und wirft. Treffer.

Melle: Du gehst nur wegen Rik zu dem Spiel, stimmt’s? Gib’s auf, du bist nur Spielfleisch. Eine Wurfmaschine. Sonst hätte er längst angerufen.

Sina zielt und verfehlt. Von wegen Wurfmaschine. Sie müsste den Korb blind und einseitig gelähmt treffen.

Sina: Nix Spielfleisch. Er hat mich wieder geküsst :-))))

Melle: ???? Wiewowannwas?

Sina: Nach dem Training. Wir wollten uns heute treffen.

Melle: Wollten?

Sina: Mama hat mal wieder einen Anfall.

Sie schließt die Augen und schnipst die nächste Kugel über den Tisch. Sie hört, wie das Papier den Korb trifft, und öffnet die Augen. Na also.

Melle: Schlimm?

Sina: Laut. Aber jetzt ist wieder alles ruhig. Glaube, sie pennt.

Melle: Und Rik? Wann triffst du ihn?

Sina: Weiß nicht. Was meinst du, soll ich noch zu ihm? Ist ja erst halb acht.

Melle: Vergiss es. Dort denkst du sowieso nur an Ben. Kann Rik nicht zu dir kommen? Wenn deine Mutter mal pennt, spannt sie doch eh nichts.

Sina: Hmmm. Weiß nicht. Ich check mal, wie tief sie schläft.

Melle: Viel Glück!

Sina geht auf Zehenspitzen zur Tür und lauscht. Stille. Sie dreht den Schlüssel im Schloss und drückt lautlos die Klinke nach unten, horcht auf Atemgeräusche, das Knacken eines Gelenks, leise Sohlen. Nichts. Angespannt verlässt sie ihr Zimmer und schleicht durch den hell erleuchteten Gang in die Küche. Es sieht aus wie nach einem Bombenangriff. Der Boden ist mit Porzellanscherben übersät, dazwischen Wasserlachen. Die Blumen, die ihr Vater am Freitag mitgebracht hat, liegen über dem Chaos verstreut wie Petersilie auf einer Suppe.

Sina seufzt. Was für eine Sauerei. Dann schaut sie ins Wohnzimmer und läuft schließlich den Flur entlang, an der Eingangstür vorbei, an der Gästetoilette, dem Bad, ihrem Zimmer und Bens. Mit zusammengepressten Lippen macht sie die letzte Tür einen Spaltbreit auf und lauscht. Das Schlafzimmer ist dunkel, die Rollläden sind heruntergelassen. Im Schein des Flurlichts schleicht sie zum Bett.

»Verdammt! Mama!« Sina starrt ins reglose Gesicht ihrer Mutter. Sofort schießen ihr Bilder durch den Kopf. Bilder, die sie nicht sehen will. Die sie nie wieder sehen will. Sie drängt sie zurück. Zwingt sich, ruhig zu atmen. Angelt nach den Schlaftabletten auf dem Nachttischkästchen und hastet in den Flur. Ihre Augen suchen nach der Markierung. Sie zählt die Tabletten nach und atmet auf.

In der Küche vermerkt sie die Anzahl der restlichen Tabletten auf der Packung. Dann nimmt sie ihr Handy und tippt eine Nachricht.

Ich noch mal. Muss leider auf ben aufpassen. Kannst du zu mir kommen? Sorry wg hin u her. Freu mich auf dich. Sina

Vorsichtig bahnt sie sich einen Weg durch die Scherben, holt Putzeimer und Handschuhe aus der Speisekammer und räumt das zerbrochene Porzellan und die Blumen in den Eimer.

Ihr Handy surrt. Hastig nestelt sie es aus der Hosentasche. Rik.

Gern. Bin noch unterwegs zu treffen wg. dieser sache, komm dann direkt zu dir. Muss was tun. Bin gespannt, was du mir rätst. Rik

Sina stößt einen leisen Jauchzer aus und wischt den Boden so beschwingt, als tanze sie mit dem Schrubber einen Walzer.

Als die Küche wieder glänzt, lümmelt sie sich im Wohnzimmer mit einem Buch aufs Sofa. Rik müsste bald kommen. Sie liest ein paar Seiten. Doch sie ist unkonzentriert, driftet ab in Tagträume. Wann kommt er endlich? Ruhelos geht sie in ihr Zimmer und sucht ihre Bürste. Kämmt die Haare und fasst sie zu einem Pferdeschwanz zusammen. Öffnet ihn wieder. Wählt einen Lippenstift. Pastell zu Blond. Sie trägt den Lippenstift auf und betrachtet sich zufrieden im Spiegel. Auch wenn die Nase etwas größer sein könnte, mit ihren klaren blauen Augen hat sie Glück gehabt. Das sagen alle. Sie tauscht das türkis-weiß gestreifte Top gegen das grüne, in dem ihr Busen ein wenig größer aussieht. Zwar nicht so groß wie Célines, aber besser als ein A-Körbchen.

Céline. Wie sie sie angesehen hat. Sina schaudert. Wenn Frederik sie jetzt auch noch zum Teamkapitän macht, wird Céline die Mannschaft gegen sie aufhetzen. Unter Garantie.

Wo bleibt er nur?

Teamkapitän … Das ist es bestimmt, worüber Frederik mit ihr reden will. Eine krasse Sache … Was sich Céline wohl geleistet hat, dass er sie abserviert? Sport muss fair sein, sagt er immer, kein Wunder also, dass ihm Célines Egotrip gegen den Strich geht. Aber er könnte jemand anders fragen. Gabriele zum Beispiel. Ja, eine gute Idee. Das wird sie ihm vorschlagen. Wenn er endlich kommt.

Zurück im Wohnzimmer schaltet sie den Fernseher ein. Zappt durch die Programme. Schaltet ihn aus. Nimmt ihr Handy. Starrt auf das Display. Beschwört es. Ruf an! Er müsste längst da sein. Schließlich wählt sie seine Nummer. Erreicht nur die Mailbox.

»Hallo, Rik, wo bleibst du? Wir hatten doch ausgemacht, dass du nach dem Treffen zu mir kommst, oder? Falls nicht, ruf kurz an, ja? Ach, noch was, wegen der Sache, über die wir vorhin geredet haben. Vielleicht weiß ich eine Lösung und auch, an wen du dich wenden könntest. Können wir ja gleich in Ruhe besprechen. Also dann, tschüss.«

Sie legt das Handy beiseite, nimmt ihr Buch und liest. Liest Buchstaben, Worte, Sätze. Sätze ohne Zusammenhang, ohne Sinn. Heftet die Augen auf eine Seite, die immer gleiche Seite. Wandert mit ihren Gedanken zu Frederik. Zu seinem Arm um ihre Hüfte. Zu seinem Kuss. Sie schließt die Augen. Holt das Gefühl seiner Lippen auf ihrer Haut zurück. So sanft und warm und weich.

5

Es war einfacher als gedacht.

Langsam und mit gesenktem Blick gehe ich über die Straße. Uns darf nichts entgehen. Keine noch so winzige Kleinigkeit, die uns verraten könnte. Mit den Augen taste ich jeden Millimeter des regennassen Asphalts ab. Im Dämmerlicht des Waldes glänzt er tiefschwarz wie frischer Teer. Ist dort noch ein Splitter? Das helle Licht der Taschenlampe gleitet über den Boden. Über Rik. Über das, was von seinem Fahrrad übrig ist. Nein, ich habe nichts übersehen. Riks Vorderrad hat nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit einem Rad, die Finger seiner Hand sind gekrümmt, als wolle er noch immer bremsen. Die Hose ist zerrissen, mit Blut vermischter Split hat sich in die Seite des Oberschenkels gefressen, das Knie ist seltsam verdreht. Es sieht schmerzhaft aus, doch Riks Gesicht zeigt keine Regung. Es wirkt fast entspannt. Gespenstisch entspannt. Nur ein Rinnsal Blut läuft aus seinem rechten Ohr.

Plötzlich ergreift mich Panik. Warum regt er sich nicht? Müsste er nicht stöhnen? Ist er … tot? Ich gehe näher heran. Beuge mich zitternd zu ihm hinunter. Er atmet. Ich wende mich ab. Ich will nicht, dass der Anblick seines geschundenen Körpers sich in mein Gedächtnis einbrennt, mich noch verfolgt, wenn er längst wieder auf dem Spielfeld punktet. Für den Bruchteil einer Sekunde überkommt mich Mitleid, aber dann flammt die Wut wieder auf. Warum sollte ich Mitleid haben?

Du hattest damals auch keines.

Was hast du erwartet? Dass du uns zur Verantwortung ziehen kannst, wie du das so großspurig nennst? Und was ist mit deiner eigenen Rolle in der Geschichte? Du trägst genauso Schuld an ihrem Tod.

Laureen winkt. Ich stehe auf. Was will sie? Ich laufe zu ihr. Sie zeigt auf Bessy, die Riks Smartphone in der Hand hält.

»Holt ihr doch einen Krankenwagen? Ich glaube, ihn hat’s ziemlich erwischt. Ich weiß nicht, ob er von allein wieder auf die Beine kommt.«

»Spinnst du?« Laureen schaut mich entgeistert an. »Willst du mit einem anonymen Anruf die Aufmerksamkeit der Bullen wecken?«

Bessy tippt auf dem Handy herum. »Du glaubst nicht, was ich eben gefunden habe … Zum Glück musste ich noch die SMS löschen, die ich Rik geschickt habe, um mich mit ihm zu verabreden, sonst wär uns das durch die Lappen gegangen. Hier, check mal.«

Sie reicht mir Riks Smartphone und ich spiele die letzte Nachricht auf der Mailbox ab. Sinas Stimme ertönt. »… dass du nach dem Treffen zu mir kommst … wegen der Sache, über die wir vorhin geredet haben. Vielleicht weiß ich eine Lösung und auch, an wen du dich wenden könntest …«

»Dieser Idiot!«, keift Bessy in die Stille.

»Er hat ihr von unserem Treffen erzählt.« Laureen schüttelt den Kopf so heftig, dass ihr Zopf wie eine Rute hin- und herpeitscht. »Sina! Wie kommt er denn auf die?«

»Sie ist in der Schulmannschaft«, sagt Bessy.

Ich nicke. »Ich hab sie zusammen gesehen. Heute Nachmittag. Ich sag’s euch: Zwischen den beiden läuft was.«

Was hast du ihr erzählt, Rik? Wolltest du dich wichtigmachen? Sina beeindrucken? Rik Superheld gegen die böse Stimme aus dem Nichts?

Plötzlich knackt es. Ich fahre herum. Wieder ein Knacken. Lauter diesmal. Es kommt aus dem Wald. Ich schaue angestrengt durch die dicht stehenden Baumstämme, versuche, die Quelle des Geräuschs ausfindig zu machen. Ein Tier? Ein Spaziergänger? Hat jemand gesehen, was wir getan haben? Werden wir beobachtet?

Meine Nackenhaare stellen sich auf. Zeit abzuhauen.

»Wir müssen herausfinden, was er ihr erzählt hat. Und zwar pronto.« Laureen wirft ihren Zopf über die Schulter auf den Rücken.

»Und wie?«, frage ich.

Bessy wischt mit einem Tuch über Riks Smartphone. Einmal, zweimal, dreht es, poliert die Rückseite, bis garantiert keine Fingerabdrücke mehr da sind. Dann läuft sie zu Rik und schmettert es neben ihm auf die Straße. Gemächlich schlendert sie zu uns zurück. »Wie wohl?«

Ich blicke von Bessy zu Laureen. Manchmal machen sie mir Angst. Ich kenne das Glitzern in ihren Augen. »Oh nein!«

»Oh doch!«, antworten sie im Chor.

»Nur weil Adrian mit ihrem Bruder befreundet ist?«

Laureen nickt. »Erfasst. Du bist Sinas neue beste Freundin. Sie weiß es nur noch nicht.«

MITTWOCH, 6. JUNI 2012

6

»Hallo, Sina.«

Wie aus dem Nichts steht Tabea plötzlich neben ihr.

»Hallo!« Sina nickt ihr zu und sucht die letzten Münzen in ihrem Geldbeutel zusammen.

»Cooles Top.«

Sina schaut an sich hinunter. Hat Tabea das gerade tatsächlich zu ihr gesagt?

»Danke.« Sie wirft die erste Münze in den Schlitz. Soll sie Tabea auch ein Kompliment machen? Oder wirkt das zu aufgesetzt? Los, sag was. Etwas, aus dem sich eine Unterhaltung entwickeln kann. Die letzte Münze rattert durch den Automaten und sie zieht eine Packung Schokokekse heraus. Dann tritt sie zur Seite, um Tabea an den Automaten zu lassen. »Willst du nichts?«

Tabea schüttelt den Kopf, lächelt. »Ich wollte dich was fragen.«

»Mich?« Sina hört das Kieksen ihrer Stimme. Versau’s jetzt nicht! Endlich die Gelegenheit, mit Tabea ins Gespräch zu kommen. Tabea ist cool. Manchmal ist sie wie Melle. Lässt sich nicht einschüchtern. Sagt, was sie denkt. Auch wenn sie deswegen Ärger bekommt. Sprich sie auf Adrian an. Sag irgendwas Nettes über ihren Bruder.

»Würdest du das Deutschreferat mit mir machen?«

»Deutsch? Ich dachte, das hast du schon mit Laureen erledigt?« Sina reißt die Kekspackung auf, zu heftig und zu weit. Geschickt rettet sie den obersten Keks vor einem Sturz auf den Boden und bietet ihn Tabea an.

»Wir haben angefangen, aber Laureen ist das Thema zu langweilig.« Sie nimmt nickend den Keks entgegen. »Du bist doch fit mit den Sturm-und-Drang-Dichtern, oder nicht?«

Sina folgt Tabea auf den Pausenhof. Ist sie das? Nicht wirklich. Aber es ist ihre Chance, Tabea besser kennenzulernen. Mit etwas Glück ihre erste Freundschaft in Kranbach zu schließen. »Versprich dir nicht zu viel.«

»Super! Du wirst sehen, wir sind ein ideales Team. Wie unsere Brüder. Wenn du willst, kannst du mich ja mal besuchen kommen.«

So oft schon hat sie sich das gewünscht, wenn sie Ben zu Adrian gebracht hat. Wenn da nicht Laureen und Bessy wären, undurchdringbar wie eine Abschirmglocke. »Gern. Wann denn?«

»Morgen? Gegen eins?« Tabea schaut sie abwartend an. »Dann könnten wir auch gleich das mit dem Referat erledigen.«

»Gut. Um vier muss ich allerdings zum Basketball. Ich bin in der Schulmannschaft.«

»Bei Frederik?«

»Ja.« Sinas Magen kribbelt. Frederik. Wieso ist er gestern nicht mehr gekommen? Was, wenn er geläutet und sie ihn nicht gehört hat? Oder hat sein Treffen länger gedauert und er hat sich nicht mehr getraut, sie anzurufen? Aber warum antwortet er dann nicht auf ihre SMS? Soll sie ihm noch eine schreiben? Das Handy in ihrer Jeanstasche wiegt eine Tonne. Sie hat es verbockt, bevor es überhaupt angefangen hat. »Kennst du ihn?«

»Klar. Letztes Jahr war ich auch in der Schulmannschaft.«

»Echt? Warum hast du aufgehört?«

»Ach, du weißt schon, dauernd diese Spiele am Wochenende …«

»Ja, das nervt.«

»Und dann Céline.« Tabea streckt die Zunge heraus und macht eine Geste, als müsste sie sich übergeben. »Als Rik sie zur Teamchefin gemacht hat, war’s das für mich. Wenn die sich auf dich einschießt, kannst du einpacken. So eine Zicke, echt grausam.«

»Mich hat sie gerade voll im Visier.«

»Ich kann dir nur raten, nimm dich vor ihr in Acht.«

»Wie denn?«

»Erste Regel: Halte dich von Rik fern. Wenn du zu nett zu ihm bist, ist das so, als würdest du einem Rottweiler ins Revier pissen.«

»Super«, stöhnt Sina. »Dann hab ich wohl voll ins Schwarze getroffen.«

»Hast du dich in ihn verknallt?«

Sina beißt von ihrem Keks ab und kaut betont gründlich.

»Keine Antwort ist auch eine Antwort«, grinst Tabea und legt verschwörerisch den Finger an den Mund. »Keine Angst, dein Geheimnis ist bei mir sicher, ich war auch mal in ihn verschossen … Kleine Warnung: Du bist Frischfleisch, und das weckt seinen Jagdinstinkt. Und am Ende landest du dann in der Ecke mit den gebrochenen Herzen, direkt in Célines Abschusslinie.«

Als Laureen und Bessy am anderen Ende der Halle auftauchen, winkt Tabea ihnen zu. Sina beobachtet, wie sie sich langsam nähern. Laureen und Bessy. Die Pradazicken. Sie würden überall auffallen, allein wegen ihrer Größe von gut einem Meter achtzig und den platinblonden Haaren. Bessy im grauen Minirock, der ihre langen, schlanken Beine betont, und Laureen in Designerjeans und Ballerinas im gleichen Beige wie ihr Top.

»Habt ihr schon gehört?«, fragt Laureen und wirft lässig ihre Haare über die Schulter. »Frederik ist verunglückt.«

Sina krümmt sich, als habe Laureen ihr die Worte mitsamt einem Tritt in den Magen serviert.

Verunglückt. Rik.

»Bist du okay?« Bessy tritt einen Schritt auf sie zu.

»Natürlich ist sie nicht okay!« Tabea legt ihren Arm um Sina. »Rik ist ihr Trainer. Was ist denn passiert?«

»Er hatte einen Radunfall. Gestern Abend. Er liegt im Koma.«

Sina will widersprechen. Es kann nicht sein. Laureen muss sich täuschen. Doch sie findet keine Worte, keine Stimme, schüttelt nur den Kopf. Wie konnte das passieren? Warum er? Warum jetzt? Im Koma!

Sie drückt Tabea die Kekse in die Hand und rennt los. Über den Pausenhof, aus dem Schulgebäude. Rennt und rennt, bis sich das vierstöckige Gebäude des Krankenhauses in ihr Blickfeld schiebt.

7

Das Weiß der Wände unterstreicht den sterilen Geruch, der Sina in die Nase zwickt. Sofort verbeißen sich die verhassten Bilder wie Parasiten in ihrem Kopf. So real, als erlebe sie das Unsagbare aufs Neue. Jedes Mal aufs Neue. Der leblose Körper. Die Angst. Die schreckliche Angst. Sie schüttelt die Erinnerung ab wie eine lästige Fliege und geht zielstrebig zur Anmeldung. Die Schwester hebt ihren Kopf.

»Bitte?«

»Ich möchte zu Frederik Lofer. Er wurde gestern Nacht eingeliefert.«

Die Schwester tippt etwas in ihren Computer.

»Und Sie sind?«

»Sina Beckhaus. Ich bin seine Freundin.«

»Zweiter Stock, Intensivstation, Zimmer zweihundertachtzehn.«

»Danke!« Sina eilt zum gegenüberliegenden Aufzug. Im zweiten Stock steigt sie aus und läutet an der Intensivstation. Ein Pfleger öffnet.

»Ja?«

»Guten Tag. Ich möchte zu Frederik Lofer.«

Der Pfleger winkt sie in einen lindgrün gestrichenen Flur. »Sie wissen, dass er im Koma liegt?«

»Wird er wieder aufwachen?«

Als wolle er Frederiks Schicksal in Gottes Hand legen, richtet der Pfleger seine Handflächen nach oben und zuckt mit den Schultern.

In Sinas Hals formt sich ein Kloß.

»Das wird schon«, sagt der Pfleger tröstend und öffnet eine Tür. »Der Unfall hätte auch anders ausgehen können. Reden Sie mit ihm. Das hilft manchmal.«

Sina antwortet nicht. Wie gebannt starrt sie auf Frederik. Sein Kopf ist bandagiert, sodass nur sein Gesicht zu sehen ist. An seinem rechten Arm hängt ein Tropf, der linke ist in eine Schlinge gewickelt und das linke Bein bis zum Oberschenkel eingegipst.

Der Pfleger wechselt den Tropf und verlässt den Raum.

Sina zieht einen Stuhl ans Bett. Mit dem Ärmel wischt sie sich eine Träne weg. Warum Rik? Warum ist sie gestern nicht zu ihm, so, wie es abgemacht war? Vielleicht wäre der Unfall dann nicht passiert. Ben hätte ihre Abwesenheit nicht einmal bemerkt. Wieso hat sie sich nicht für Rik entschieden?

Ihr Blick gleitet über seinen Körper, die Schläuche, den Überwachungsmonitor.

Sie wird es wiedergutmachen. Sie wird bei ihm wachen und auf ihn aufpassen. Und wenn es ihm hilft, wird sie ihm Geschichten erzählen, bis sie keine Stimme mehr hat. Sie kneift die Augen so fest zusammen, dass die Tränen versiegen. Dann beginnt sie zu reden. Nasal und stockend. Über Ben und ihre Mutter. Über Berlin und Melle. Über das Partywochenende, das sie abgesagt hat, weil sie lieber hier ist. Hier bei ihm.

Ab und zu lauscht sie, horcht, ob sein Atem sich verändert, ob es Anzeichen gibt, dass er erwacht oder versteht, was sie zu ihm sagt. Doch sein Atem bleibt so gleich wie das monotone Brummen des Monitors hinter ihr und sein Körper so starr und stumm, als wäre er eine lebende Mumie.

»Verdammt!« Sina schießt in die Höhe. Bens Logopädietermin! Siedend heiß fällt ihr ein, dass die Logopädin die Therapie abbrechen wird, wenn ihre Mutter ihn wieder vergisst.

»Bis gleich«, sagt sie entschuldigend, »ich muss nur kurz telefonieren.«

In der Eingangshalle wählt sie die Festnetznummer von zu Hause.

»Beckhaus.«

»Hallo, Mama.«

»Oh. Sina. Es tut mir leid, ich weiß nicht –«

»Schon gut«, unterbricht Sina sie. Was kann ihre Mutter ihr schon sagen, was sie nicht bereits hundertmal gehört hat? »Ich wollte dich nur an die Logopädin erinnern.«

»Dreizehn Uhr dreißig. Ich weiß. Wann kommst du nach Hause?«

»Bald.« Sina legt auf und schaltet das Handy hastig ab, als sie ihren Namen hört.

»Sina!« Tabea läuft auf sie zu, hinter ihr Laureen und Bessy.

»Wie geht es ihm? Ich hab mir gleich gedacht, dass du hier bist. Ich hab deine Sachen mitgebracht.« Tabea zeigt mit dem Kopf auf Laureen. »Laureen hat mich hergefahren.«

»Danke.« Sina nimmt Tabea ihre Schultasche ab. »Der Pfleger sagt, Rik hat Glück gehabt.«

»Glück gehabt?«, fragt Laureen, ohne den Blick von ihrem Smartphone zu heben. »Ich will nicht wissen, was der unter Pech versteht.«

»Er hätte tot sein können«, fährt Sina Laureen an. »Keine Scherze, klar?«

»Ganz schön empfindlich.« Laureen lässt das Smartphone sinken und zieht die Brauen nach oben. »Er ist nur dein Trainer. Übrigens habt ihr eine Kurzarbeit in Mathe geschrieben, während du hier einen auf Mutter Teresa machst. Du kassierst null Punkte, wenn du nicht noch ganz schnell einen netten Zettel von deiner Mutter anschleppst.«

Sina stöhnt auf. Ausgerechnet Mathe. Das einzige Fach, in dem ihre Mutter auf jede Note achtet. Sie würde die Kurzarbeit einsehen wollen, acht Punkte waren das äußerste Denkbare.

»Lass sie in Ruhe, Laureen«, mischt Tabea sich ein.

»Bist in ihn verknallt, was?«, feixt Bessy.

»Es reicht, Bessy!«, sagt Tabea scharf.

Sina sieht, wie Bessy zu einer Antwort ansetzt, spürt die Spannung, die sich in einem gewaltigen Gefecht zu entladen droht.

»Er ist mein Freund.«

Die Spannung verpufft wie ein zertretener Bovist. Sina blickt von Laureen zu Bessy. Wie konnte sie nur Frederik ihnen gegenüber als ihren Freund bezeichnen? Was, wenn sie jetzt nach Details fragten? Details, die es nicht gibt, die es vielleicht nie geben wird.

»Nein!« Laureens Kinnlade klappt herunter.

»Dein Freund?« Bessy mustert sie ungläubig. »Seit wann?«

»Samstag. Er war auf dem Weg zu mir, als er den Unfall hatte.«

Laureen schlägt sich die Hand vor den Mund. »Oh, entschuldige, das konnte ich nicht ahnen. Ich dachte, Rik wäre … Egal. Hat der Arzt eine Prognose gegeben?«

»Die dürfen mir gar keine Auskunft geben, ich bin nicht mit Rik verwandt.«

»Weißt du, wie der Unfall passiert ist?«, bohrt Tabea nach.

»Nein. Ich weiß gar nichts.«

»Und Céline? Ist das vorbei? Weiß sie von Rik und dir?« Bessy sieht mich fragend an.

»Céline? Vorbei? War sie