cover
Titelseite

 

 

Für die unbekannten Helden unserer Welt,

ganz besonders Martin aus Polen

und die beiden uns namentlich nicht bekannten Männer,

ohne deren Mut und selbstlosen Einsatz

mein Mann, meine Tochter und ich

den 20. September 2013 nicht überlebt hätten.

 

Wir werden euch nie vergessen.

Danke.

TAG NULL
MITTWOCH, 30. OKTOBER

 

Letzte Woche hatte ich noch ein Leben. Einen Job. Einen Freund.

Vor fünf Minuten hatte ich zumindest Hoffnung.

Jetzt habe ich nur noch Angst.

Einzig der Himmel hält zu mir, eine dichte Wolkendecke hat sich vor den Mond geschoben, taucht Lichtung und Weg in Finsternis.

Seine Schritte nähern sich. Ich lausche dem Knarzen seiner schweren Stiefel auf dem Waldweg, dem schwingenden Rhythmus seines Gangs.

Ich muss ihn nicht sehen, um ihn vor Augen zu haben. Zu groß, zu schlaksig, die schwarzen Locken wie ungekämmt vom Kopf abstehend.

Gleich erreicht er die Lichtung.

Warum hast du mich verraten?

Knacken.

Stille.

Ist er stehen geblieben? Oder schluckt das Moos seine Schritte?

»Ina?« Seine Stimme klingt brüchig. Er räuspert sich. »Ina?« Lauter diesmal. Ich drücke mich tiefer in die Äste des Gebüschs. Halte den Atem an. Er geht weiter, die Schritte jetzt fast lautlos, wäre da nicht das leise Klackern seiner kaputten Stiefelschnalle. »Ina, ich weiß, dass du hier bist.«

Ich möchte aus dem Gebüsch springen, ihn anbrüllen, auf ihn einschlagen. Mein Körper bebt.

Verräter!

»Ina?« Noch lauter. »Bitte! Sei vernünftig. Du machst alles noch schlimmer!«

Dann höre ich, wie er einen Reißverschluss aufzieht, und weiß sofort, was er als Nächstes tun wird. Blitzschnell taucht meine Hand in die Jackentasche und zieht mein Handy heraus. Ich schalte es ab. Gerade rechtzeitig, schon höre ich ihn wählen. In der Lautlosigkeit des Waldes schallt das gleichmäßige Tuten wie ein Warnsignal über die Lichtung. Prompt ertönt meine Mailbox. Ich unterdrücke einen erleichterten Seufzer. Er flucht.

Plötzlich hüpft ein Lichtkegel durch die Bäume. Er muss die Taschenlampenfunktion eingeschaltet haben. Der Lichtstrahl wandert von links nach rechts, verweilt immer wieder an einer Stelle, hüpft dann weiter.

»Ina!«

Seine Stimme klingt jetzt ärgerlich. »Verflucht, Mann, wir haben echt keine Zeit für diesen Mist hier! Hast du irgendeine Ahnung, wie tief du in der Scheiße steckst? Du musst mir vertrauen!«

Vertrauen?

Ich sehe Casey vor mir. Die hervorgetretenen Augen. Die blutleeren Lippen. Die blaurot geschwollene Zunge.

Vertrauen!

Da raschelt es im Gebüsch. Einmal. Zweimal. Vielleicht zwanzig Meter weg, ein Stück in den Wald hinein. Er schwenkt seine Taschenlampe in die Richtung, aus der das Geräusch kam. »Ina?« Er folgt dem Geräusch, entfernt sich von meinem Versteck. Ich muss weg. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er mich hier findet, das richtige Gebüsch ausleuchtet, bis die anderen dazustoßen. Tausend Ameisen krabbeln mein eingeschlafenes Bein hinauf, als ich vorsichtig meine Position wechsle. Ich presse die Lippen zusammen und richte mich auf.

Eine Geisterhand stoppt mich.

Ich bewege mich ruckartig nach vorn, begreife, dass die Wollkapuze meiner Jacke sich in den Ästen und Dornen verfangen hat. Vorsichtig schlüpfe ich aus den Ärmeln, dankbar, dass der Reißverschluss geöffnet ist. Sein gedämpftes Fluchen ist jetzt weit genug entfernt, um einen Sprint über die Lichtung zu wagen. Ich springe aus dem Gebüsch und renne los, renne über die Lichtung, in den schwarzen Wald.

Weg.

Nur weg von ihm.

Meiner Liebe.

Meiner letzten Hoffnung.

 TEIL 1 

Jeder von uns kennt
die ganze Wahrheit.
Bruchstückhaft.

aus: Lebensspuren, Ernst Ferstl

SIEBEN TAGE VORHER
MITTWOCH, 23. OKTOBER

1

INA

Zugegeben, eine Seitentasche an einer Geländemaschine ist etwa so cool wie ein Pickel auf der Nasenspitze, aber dafür enorm praktisch. Auf jeden Fall praktisch genug, um spöttische Blicke so geflissentlich zu ignorieren, wie ich es schon als Kind gelernt habe, wenn ich aus meinem Federmäppchen biologisch unbedenkliche Stifte hervorholte, während die anderen in ihren Pokemon- und Star-Wars-Mäppchen nach den neuesten Neofarben kramten. Ich habe mir als Achtjährige so oft und tränenreich ein Pokemon-Mäppchen gewünscht, bis meine Mutter fast nachgegeben und mein Vater einen Bioversandhandel gegründet hat, um die Bedürfnisse von Achtjährigen auf ideologisch unbedenkliche Weise in ganz Deutschland zu erfüllen. Klingt absurd, ist aber wahr: Meine Liebe zu einem kleinen gelben Fantasietier mit dem Aussehen eines fetten Kükens war der Startschuss von Stegvogels Bioversand. Immerhin feiern wir dieses Jahr zehnjähriges Bestehen, und genau wie Paps es vorausgesagt hat, haben sich die spöttischen Blicke von damals mit steigendem Erfolg mehr und mehr in neidvolle und anerkennende verwandelt. Und so wird das auch mit der Seitentasche sein. Eines Tages wird jemand neben mir stehen und mich darum beneiden. Ganz sicher. So wahr ich Ina Stegvogel heiße.

Ich hole die Einkäufe heraus und prüfe noch einmal, ob ich wirklich keine Zutat vergessen habe. Ein Überraschungsomelette für Aaron, dem definitiv bestaussehenden Naturwissenschaftsstudenten Ellands. Seit vier Monaten sind wir jetzt zusammen und ich glaube wirklich, ich habe meine große Liebe gefunden – wenn das kein Grund zum Feiern ist. Wobei es zurzeit permanent was zum Feiern gibt: fünf Monate seit der letzten Abiprüfung. Vier Monate seit Aarons erstem Kuss. Drei Monate seit Andreas und Sallys Abreise nach Australien. Zwei Monate, seit ich im Tierheim mein soziales Jahr angetreten habe, und knapp ein Monat, seit ich achtzehn und Besitzerin einer Yamaha XT 250 bin. Mal sehen, was dieser Monat bringt.

Ich balanciere die Einkäufe auf meinem Arm, den Eierkarton ganz oben, und krame mit einer Hand nach dem Haustürschlüssel, während mein Kinn mit jahrelang geübter Geschicklichkeit die Eier auf dem Turm aus Kartoffelsack, Milchkarton, Butter und Paprika stabilisiert.

Vorsichtig stapfe ich die ausgetretenen Holzstufen des Altbaus nach oben, vorbei an dem von irgendeinem Idioten an die Wand gesprühten Stinkefinger und den edlen Kassettentüren, deren abblätternde Farbe von vergangenen, besseren Zeiten erzählt. Vor Aarons Wohnungstür balanciere ich meinen Turm neu aus, blinzle nach dem Schlüsselloch und sperre auf.

Was war das? Statt der erwarteten Stille empfängt mich ein seltsames Geräusch. Erstickt. Wie ein Schluchzen, das jemand zu unterdrücken versucht. Ich erstarre. Aaron? Im Spiegel des schmalen Flurs bemerke ich etwas Dunkles im Wohnzimmer, sehe genauer hin, sehe Aaron, sehe Casey, ausgerechnet Casey. Ihr Kopf ist an seine Schulter geschmiegt, seine Hand streicht zärtlich über ihre glänzend schwarzen Haare.

Polternd verabschieden sich meine Einkäufe und landen auf dem Dielenboden. Der Eierkarton springt auf, wird unter dem Kartoffelsack begraben. Noch bevor ich ganz in der Hocke bin, um die Sachen wieder aufzusammeln, stürmt Aaron in den Flur.

»Mann, hast du mich erschreckt!« Mit zwei Schritten ist er bei mir, kniet sich neben mich auf den Boden. Er hebt den Kartoffelsack an und betrachtet die gelblich transparente Masse, die aus dem Pappkarton über das Holz in die Ritzen kriecht. »Na lecker.«

»Was … Warum bist du nicht in der Uni?« Ich suche in seinem Gesicht nach Spuren eines schlechten Gewissens, immerhin habe ich ihn gerade in einer Umarmung mit Casey erwischt. Casey Lorell, seiner superreichen und dazu auch noch superhübschen sechzehnjährigen Nachhilfeschülerin. Doch er lächelt mich nur an.

»Warum bist du nicht in der Arbeit?«

Da erscheint Casey im Türrahmen. Ihr sonst so blasses Gesicht ist gerötet, die Augen zeugen deutlich von eilig weggewischten Tränen. Und trotzdem ist sie noch so schön, dass sie locker als Schneewittchens Zwilling durchgehen könnte. Extralange schwarze Haare, Elfenbeinteint, himbeerrote volle Lippen.

»Hallo, Ina«, murmelt sie.

»Hi, Casey, alles in Ordnung?« Eine unsinnige Frage, schließlich scheint hier gar nichts in Ordnung zu sein. Ganz im Gegenteil. Ich setze erneut an, diesmal um zu fragen, was eigentlich vor sich geht, als ich Aarons lautlose Botschaft erkenne. Später, formt er mit seinen Lippen und in seinen Augen liegt dieser unwiderstehliche Vertrau-mir-Blick, mit dem er mich regelmäßig bedenkt, wenn ich an seinen verrückten Basteleien zweifle. Umständlich rapple ich mich hoch, in einer Hand den Milchkarton, in der anderen die Paprikas. Ich lege sie in der Küche ab. Dann verabschiede ich mich mit einer müden Ausrede für Casey und einem schalen Geschmack im Mund.

Wenn meine Mutter über Elland redet, sagt sie immer nur »das Kaff«. Daraufhin erläutert mein Vater ihr regelmäßig, was Elland, abgesehen von seinen knapp 50.000 Einwohnern, seinen drei Kinos, zwei Museen und einem Theater alles zu bieten hat. Was er dabei jedoch genauso regelmäßig vergisst, ist das Tierheim. Und das, obwohl die überwiegende Anzahl der Bewohner unseres Hauses von dort stammt. Mein Kater Jerry, Paps Wellensittiche, die Landschildkrötenfamilie und meine vier Zwerghasen.

Trotzdem stehe ich bei dem Thema ganz auf Paps Seite. Wozu brauche ich dreißig Kinos, zwanzig Museen und zehn Theater, wenn ich den größten Motocross-Parcours Deutschlands und das weltbeste Tierheim vor der Haustür habe? Zumindest das ehemals weltbeste Tierheim, nämlich bis vor drei Jahren, als es noch vom alten Mops geführt wurde, der logischerweise nicht wirklich so hieß, aber dessen faltiges Gesicht eine erstaunliche Ähnlichkeit mit einem Mops aufwies. Mit Mops am Tresen schien das durch die vielen schiefen Holzanbauten total verwinkelte Tierheim ein magischer Ort. Natürlich nicht wie bei Harry Potter, aber es war der Ort, an dem ich lernte, Tiere zu verstehen, ohne ihre Sprache zu sprechen, wo sich der Wunsch, Tierärztin zu werden, unlöschbar in mein Gehirn prägte und wo fehlendes Geld auf zauberhafte Weise mit Improvisationsgenie wettgemacht wurde. Inzwischen allerdings ist von dem Zauber nur noch die absonderlich verwinkelte Architektur geblieben.

Ich schrubbe den letzten Futternapf, bis in dem blitzenden Edelstahl mein verzerrtes Spiegelbild erscheint, und wumms!, hängt das die letzten Stunden so mühsam verdrängte Bild von Aaron und Casey wieder vor meinem inneren Auge fest, als hätte ein fieser Giftzwerg es dorthin getackert. Immer wieder sehe ich seine Finger über ihr glänzendes Schneewittchenhaar streichen. Seine phänomenal geschickten Finger, die aus Schrott geniale Erfindungen schaffen und immer etliche kleine Schnitte und Verletzungen tragen. Warum hat er mir nicht vor Casey gesagt, was los war? Schließlich bin ich seine Freundin. Es kann doch nicht sein, dass ich die Wohnung wie ein unerwünschter Eindringling verlassen muss, während sie mit ihm dortbleiben darf!

»Du sollst die Näpfe nicht wegschrubben.« Wie aus dem Nichts taucht Lennja hinter mir auf. Lennja Müller. Graue Eminenz des Tierheims. Offiziell ist sie eine der vier festen Pflegerinnen, aber inoffiziell hat sie hier das Sagen, obwohl sie mit ihren einundzwanzig Jahren die jüngste der Festangestellten ist. Natürlich habe ich sie mal wieder nicht gehört, und das liegt nicht an meinem Gehör, sondern daran, wie sie sich anschleicht. Wären da nicht der strohblonde Zopf, den sie meist wirr im Nacken trägt, und die eiswasserblauen Augen, hätte ich geschworen, dass sie in direkter Linie von den Sioux abstammt. Betont langsam drehe ich mich um, hebe den Napf ins Licht.

»Sie sind sauber, oder nicht?«

Eine Ladung Studentenfutter verschwindet in Lennjas Mund, während ihr kühler Blick von den Näpfen zum Arbeitsbereich gegenüber den Hundezwingern gleitet. »Klinisch geputzte Näpfe«, nuschelt sie mit vollem Mund, »und der Rest sieht aus wie Sau.«

Ich folge ihrem Blick. Zugegeben, ich habe noch nicht aufgeräumt. Drei Leinen liegen im Knäuel auf der schmalen Bank, obendrauf die Hundebürste, das offene Tierfutter steht in gefährlicher Schräglage neben der Futterkiste, auf dem Boden vermischen sich Haferflocken mit Hundehaaren. »Ist schon Feierabend?«

Lennja lacht höhnisch, wobei ihr ein verirrter Nussbrösel aus dem Mund fällt. »Wenn du in dem Tempo weitermachst, kannst du dir hier ein Bett aufstellen.«

Mach deinen Mist doch selbst! Ich brauch dein Genörgel nicht, blöde Zicke. Anstatt die Worte auszusprechen, lächle ich sie zuckersüß an, weil ich weiß, dass sie das viel mehr ärgert als eine patzige Antwort. Ein offener Streit mit Lennja kostet nur Zeit und die habe ich mit dem gedankenverlorenen Schrubben der Näpfe schon genug verschwendet. Ich verstaue die Näpfe scheppernd im Regal und säubere die Hundebürste. Die Haare lasse ich demonstrativ auf den Boden fallen, zu dem dort bereits versammelten Dreck. Kopfschüttelnd wendet Lennja sich ab, dann dreht sie sich noch einmal um.

»Und vergiss dein Pfefferspray nicht.«

»Ja-a.«

»Hör auf, mich zu Ja-a-en, gestern hast du es auch liegen lassen. Auf der Theke. Das kann jeder einfach mitnehmen«, fügt sie hinzu und schüttelt erneut den Kopf, als könne sie so viel Dummheit gar nicht fassen.

»Ich verstehe nicht, warum du deshalb so einen Stress machst.«

»Weil«, schießt sie zurück und schreitet auf mich zu, »das seit dem Überfall auf die Joggerinnen nun mal eine Regel ist, an die auch du dich zu halten hast. Die Tiere haben bereits genug durchgemacht, die brauchen eine zuverlässige Betreuung von jemandem, der ihre Routine aufrechterhält, und das heißt, die Regeln –«

»Jetzt mach mal ’nen Punkt!«, falle ich ihr ins Wort. »Ich hab fünf Jahre ehrenamtlich mitgeholfen, ich weiß genau, was die Tiere brauchen, und ich bin zuverlässig.«

»Darf ich dich darauf hinweisen, dass du deine Karriere als Mädchen für alles vor über drei Jahren beendet hast? Seitdem hat sich hier einiges geändert.«

Allerdings. Mops ist gestorben, Wendmeier hat den Laden umgekrempelt und Leute wie dich eingestellt. Fragt sich nur, ob das eine Änderung zum Besseren war. Wieder lächle ich nur. Lennja schiebt demonstrativ ihren groben Wollpulli zurück und sieht auf die Uhr. »Warum tigert Aladin so nervös in seinem Zwinger herum? Ich wette, du warst noch nicht mit ihm Gassi. Und mit den anderen auch nicht.«

Ich wische im Zickzack über mein Handy, checke die Uhrzeit. Wahnsinn! So spät! Schnell entwirre ich das Leinenknäuel, greife zwei Leinen und gehe auf den hintersten Zwinger zu. Sofort kommt Leben in die Bude. Die eben noch schlaff daliegenden Hunde springen wie auf Kommando japsend an den Käfigtüren hoch. Lennja steht mit verschränkten Armen da. Sie sagt nichts. Lächelt nur dieses Siehst-du-Lächeln, das ich ihr am liebsten aus dem Gesicht schrubben würde.

2

AARON

Eigentlich ’n Witz. Endlich verlieb ich mich nach dem Fiasko mit Lennja wieder und schon steh ich mir aufs Neue die Füße vor diesem schiefen Schuppen platt. Aber ich hätt Ina wohl kaum bitten können, die Stelle im Tierheim abzulehnen, ohne ihr zu sagen, dass Lennja besagte Ex ist, wegen der ich mein Stipendium verloren hab. Jedenfalls nicht, ohne ’nen Krieg anzuzetteln, bevor die beiden sich überhaupt kennengelernt haben. Nee, die Version mit der flüchtigen Bekanntschaft aus Hamburg war die beste Lösung, jedenfalls, solang Lennja dichthält und Ina nicht erzählt, dass wir uns besser kennen, als sie denkt.

Meine Finger gleiten über den fetten Kratzer in dem feuerroten Tank ihrer Yamaha. Im Keller müsst noch Lack sein. Zwei, maximal drei Schichten, dann sieht das wieder aus wie neu. Die Maschine ist zwar gebraucht, aber ich weiß, dass der Kratzer sie mehr ärgert, als sie sich am Sonntag hat anmerken lassen. Auch wenn ihre Reaktion nach dem versauten Absprung perfekt war, sie hat die Yamaha einfach noch nicht so im Griff wie ihr altes Moped.

Viertel nach fünf. Ich heft meinen Blick auf die verblichene Farbe der grünen Eisentür, als könnt ich mittels supermantechnischem Röntgenblick das Geschehen dahinter ausspionieren. Keine dreihundert Euro im Monat für ’n Vollzeitjob und dann Überstunden. Wenn man das hochrechnet, landet sie mit diesem Arbeitseinsatz als fertige Tierärztin bei ’ner Hundertstundenwoche. Ich geh um die Yamaha herum, check, ob der Sturz noch andere Macken hinterlassen hat, zupf die Seitentasche gerade. Grinse. Die Ledertasche anzubringen, sollt ein Scherz sein. Allein die Idee ist ’n Frevel unter Motocrosslern, bloß ist Ina völlig egal, was andere über sie denken. Beneidenswert, eigentlich.

Halb sechs. Entweder Lennja dreht jetzt komplett durch, was die Überstunden angeht, oder Ina ist wegen vorhin angepisst und kommt nicht raus, weil sie meine Maschine gehört hat. Wobei sie die Umarmung nicht gesehen haben kann, sonst hätt sie anders reagiert. Oder doch?

Ich schlucke. Was, wenn Ina eine Bemerkung über Casey und mich entschlüpft ist und Lennja jetzt ihren Schwur bricht und Ina erläutert, warum sie ohne mich besser dran ist? Verdammt. Wieder starr ich auf die grüne Tür, als Ina meinen Namen ruft.

Ich fahr herum. Seh zur anderen Straßenseite. Dort steht sie, umzingelt von zwei Hunden. Ihre kurzen braunen Locken vom Wind zerzaust, die Lederjacke offen, die Jeans übersät mit braunen Streifen, die dem Muster nach von matschigen Pfoten stammen. Sie winkt mir zu, erteilt den Hunden ’nen Befehl und sie überqueren gemeinsam die Straße.

»Hi.« Ich bin so nervös wie bei unserem ersten Date. Entsprechend langsam geh ich auf sie zu, studier ihr Gesicht, ihre braun-grün gesprenkelten Augen. Entdeck ich Verärgerung?

»Platz«, befiehlt sie und die Hunde legen sich ihr ohne Murren zu Füßen. Noch nie hab ich einen Menschen gekannt, der so auf Tiere wirkt wie Ina. Nicht mal Lennja kann da mithalten.

»Ganz schön spät.« Es klingt wie ein Vorwurf, obwohl’s keiner sein soll.

»Ich wusste nicht, dass du auf mich wartest.«

»Ich wollt dich überraschen.«

Sie grinst. »Kein guter Tag für Überraschungen, was?« Dann greift sie nach meiner Hand und meine Unsicherheit verflüchtigt sich wie Dampf im Dunstabzug. Lennja hat offenbar keine Geheimnisse ausgeplaudert.

»Erzählst du mir jetzt, was mit Schneewittchen los war?«

»Sie heißt Casey.«

»Schneewittchen passt besser. Also, was jetzt?«

»Lange Geschichte. Ich dacht, ich …«

»Die Kurzform?« Ina tätschelt den Kopf der Colliehündin und erntet einen herzerwärmenden Hundeblick.

»Lorells Labor ist abgebrannt und ein Wachmann ist dabei gestorben und –«

»Du meinst das Labor von Caseys Stiefvater? Das Labor, wegen dem sie die ganze Zeit mit dir Chemie büffeln muss?«

»Ebendas. Sie hat den toten Wachmann gefunden.«

Inas Hand schießt vom Kopf der Hündin zu ihrem Mund. »Autsch. Die Arme! War sie deshalb bei dir?«

»Nein, eigentlich wegen Chemie. Sie hat wirklich ’n Hirn wie ’n Sieb.« Vermutlich ist das keine besonders nette Aussage meiner einzigen Nachhilfeschülerin gegenüber, immerhin profitier ich von den vielen Sieblöchern in ihrem hübschen Kopf, aber dieses geballte Nichtwissen nach fünf Monaten intensiver Nachhilfe treibt mich langsam zur Verzweiflung. Ina schnalzt mit der Zunge. Sofort springen die Hunde auf. »Ich bring sie kurz rein, fünf Minuten. Wartest du?«

Keine zwei Minuten später schiebt sich die Eisentür wieder auf. Ich will ihr grad entgegengehen, als ich Lennjas strohblonde Haare erkenne. Wie immer sind sie zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden, als achte sie nicht auf ihr Äußeres. Ich weiß aber, dass sie sehr wohl darauf achtgibt und dieser Pferdeschwanz genauso zu ihrem Look gehört wie der grüne Parka mit den Riesentaschen.

Provokativ wend ich mich ab, tu so, als hätt ich sie nicht bemerkt.

»Das Lorelllabor ist abgebrannt.« Lennja bleibt neben mir stehen. Kein »Hallo«. Kein »Wie geht’s«. Im Grunde genommen die ehrlichere Variante, wenn man bedenkt, dass wir uns seit über ’nem Jahr aus dem Weg gehen.

»Mhm.« Was will sie von mir? Hat Ina ihr doch von Caseys Besuch erzählt? Und falls ja: Glaubt sie, ich wüsst mehr über den Brand, weil ich der Stieftochter des Besitzers Nachhilfe geb?

»Und?«, fragt Lennja, als wär ich Chefermittler in der Brandsache. Eindeutig: Ina hat ihr erzählt, dass ich Insiderinfos von Casey hab.

»War wohl jemand aus der Tierschutzszene.«

Eine steile Zornesfalte pflügt eine Furche in ihre Stirn. »Was Besseres fällt den Bullen wohl nicht ein. Aber das war keiner von uns. So dämlich stellen wir uns nicht an.«

»Na ja, immerhin hat Casey Janosch auf den Fotos wiedererkannt. Sonst würde die Polizei wohl kaum nach ihm suchen.« Ich lass absichtlich ’nen süffisanten Unterton mitschwingen.

Die Furche verwandelt sich in einen Krater, das helle Blau ihrer Augen wird noch heller, passend zu dem eisigen Blick, mit dem sie mir wohl sagen will, dass sie sich von mir nicht provozieren lässt.

Sie hat sich kein bisschen verändert. Immer Vollgas im Dienst der gerechten Sache, koste es, was es wolle. Nicht, dass ich Lennjas Engagement nicht respektieren würd, aber es gibt Grenzen. Zum Beispiel, wenn ein unschuldiger Wachmann bei ’nem Brand jämmerlich erstickt.

»Verwunderlich eigentlich, ich hätt gedacht, dass er längst ’n Alibi hat. So funktioniert das doch bei euch Brüdern und Schwestern der Unterdrückten.«

Sie verzieht das Gesicht zu ihrem gequälten Was-bist-du-nur-für-ein-Vollpfosten-Lächeln, bei dem ich mich noch immer sofort fünf Jahre jünger fühl als sie und nicht fast gleich alt.

»Weißt du, ob sie was Handfestes gegen Janosch in der Hand haben?«

Ich zuck die Schultern. »Ist dir ’ne Zeugin nicht handfest genug? Mehr braucht’s doch nicht, bei seinem Ruf.«

»Janosch ist ein Held.«

Ich kann nicht anders, ich muss laut auflachen. »Held? Wenn er diesen Brand gelegt hat, ist er kein Held, sondern ein Mör–«

Ein Krachen unterbricht mich und ich dreh mich um. Ina steht vor der grünen Eisentür. Sie muss hinter ihr ins Schloss gefallen sein. Ina blickt fragend von Lennja zu mir.

»Ist was?«

Erst jetzt bemerk ich meine ablehnende Körperhaltung. Die Arme vor der Brust verschränkt, den Kopf im Nacken.

»Nichts.« Die Antwort kommt nicht nur zu schnell, sie klingt auch wie eine von Lennja und mir einstudierte Choruszeile. Abrupt wendet Lennja sich ab und geht ins Gebäude zurück, während Ina stirnrunzelnd näher kommt. Genau das hat’s jetzt gebraucht. Ich weiß, was dieser Ausdruck auf ihrem Gesicht bedeutet.

»Was wollte sie denn?«, fragt Ina und zeigt mit dem Kopf zur Tür, die sich gerade hinter Lennja schließt.

»Was wissen, was ich nicht weiß.« Ich leg meinen Arm um Inas Schulter und weich ihrem zweifelnden Blick aus. Hier und jetzt ist definitiv der falsche Ort, um Ina zu erklären, warum Lennja Janosch Czerski für ’nen Helden und ich ihn für ’nen Irren halt. Zumal Ina Janosch nicht mal kennt. Ich küsse sie. »Komm, lass uns zur alten Kiesgrube fahren, damit dein Kratzer sich nicht so allein fühlt.«

»Ich muss heim. Meine Ma killt mich, wenn ich heute nicht Katzenklo und Hasenstall auf Vordermann bringe.«

»Schade.« Ein Ausflug zur alten Kiesgrube wär gut gewesen. Dort gibt’s keine Fragen, nur Adrenalin, das durch die Blutbahn schießt. Aber ich kenn ihre Mutter, und so nett sie ist, wenn’s um unangenehme Gerüche in ihrem supermodernen Ökohaus geht, ist mit ihr nicht zu spaßen.

»Dauert nicht lang. Danach zu dir? So gegen halb sieben?«

»Wir haben um sieben ’nen Tisch im Tintoretto. Ich hol dich ab.«

Sie stülpt ihren Helm über die kurzen Locken, startet die Maschine und braust davon. Ich blick ihr nach. Bis ich sie nur noch hören und auch noch, als ich sie nicht mal mehr hören kann. Irgendwas beunruhigt mich, aber ich kann nicht sagen, was. Also schieb ich das unbestimmte Gefühl beiseite, schlender zu meiner Maschine und tret den Starter durch.

3

INA

»Ürks.« Ich wische die letzten Hasenköttel von der Schaufel und sprühe sie mit Desinfektionsmittel ein. »Jetzt reicht’s.«

Das Papiertuch mit dem Desinfektionsmittel-Hasenköttel-Gemisch landet im Müll unter der cremefarbenen Keramikspüle.

»Was reicht?« Meine Ma jongliert die Zutaten für ihr Thai-Gemüsecurry anmutig wie ein Zirkusartist durch die Wohnküche und breitet sie auf dem für unsere Familie überdimensionierten Holztisch aus.

»Putzen. Den ganzen Tag mach ich nichts anderes.«

»Gibst du mir bitte das Zitronengras?« Ohne sich umzudrehen, streckt Ma ihren Arm aus. Ich drücke ihr den kleinen Gewürzstock in die Hand.

»Ich mein das ernst. Ich muss die ganze Zeit putzen – die Hundezwinger sind so blank wie unser Esstisch. Das ist reine Schikane.«

»Übertreibst du nicht etwas? Gestern hast du mir noch von der neuen Colliehündin vorgeschwärmt, die bei den Übungen auf der Hundewiese so geschickt gewesen ist.«

»Ja, schon, aber –«

»Und außerdem ist das Tierheim ein öffentlicher Ort«, unterbricht Ma mich, »da ist Sauberkeit enorm wichtig.«

»Sauber ist ja okay, aber es muss doch nicht klinisch rein sein!«

»Jetzt aber.« Sie schüttelt belustigt den Kopf. »Ich kenne deine Definition von ›aufgeräumt‹, da kann ich mir schon vorstellen, dass es deiner Chefin nicht reicht, wenn du einmal kurz durchfegst …«

»Ist dir mal aufgefallen, dass du immer Partei für die anderen ergreifst?« Ganz ehrlich, das geht mir bei meiner Ma tierisch auf den Keks. Sie hat keine Ahnung, wie es in dem Tierheim inzwischen aussieht oder was ich dort mache, und trotzdem schlägt sie sich blind auf Lennjas Seite.

»Ich ergreife nicht immer Partei für die anderen«, verteidigt sie sich sofort. »Aber wenn du mir Dinge erzählst, die eindeutig emotional gefärbt sind, versuche ich, sie durch eine neutrale Brille zu sehen.«

»Ähem, ja, genau. Und die neutrale Brille gibt automatisch den anderen recht.«

Meine Ma legt das Messer beiseite und kommt zu mir. Sie nimmt mein Gesicht in die Hände und sieht mich prüfend an.

»Alles in Ordnung?«

»Ja, sicher«, knurre ich, viel ärgerlicher, als es die Situation erlaubt, und winde mich aus ihren Händen. Ich weiß nicht, was mir die Stimmung vermiest. Das Putzen nervt zwar, ist aber unter Garantie nicht der einzige Grund. Und die Bemerkung meiner Ma auch nicht. Schon eher das Gespräch zwischen Aaron und Lennja beziehungsweise die Tatsache, dass Aaron mir nichts darüber erzählen wollte. Auch wenn ich nur einen Bruchteil davon mitbekommen habe, die Körpersprache war eindeutig. Und ich glaube nicht, dass Aarons ablehnende Haltung nur auf meinen Lästereien über Lennja beruht. Sonst hätte er nicht diesen Kommentar über »Brüder und Schwestern der Unterdrückten« abgelassen. Oder die gehässige Bemerkung über Janosch, die Lennja so geärgert hat. Ob Janosch der gemeinsame Bekannte ist, über den er sie in Hamburg kennengelernt hat?

»… und deshalb kann ich verstehen, warum diese Lennja so großen Wert darauf legt. Du weißt doch selbst, wie sensationsgeil die sind – finden sie was Negatives, dann wird es ausgeschlachtet, das Positive hingegen ist uninteressant.«

»Was?« Ich habe keine Ahnung, worüber meine Ma spricht. »Wer ist sensationsgeil?«

Das Wiegemesser pflügt durch den frischen Koriander.

»Na, die Medien! Was meinst du, wie die auf euch einhämmern, wenn jemand mit einem Foto aufwartet, das unhygienische Zustände dokumentiert? Da muss doch nur ein Besucher ein Eckchen finden, in dem du nicht sauber gemacht hast.«

Erwischt. Zum Glück hat sie den verdreckten Boden vorhin nicht gesehen. Was würde wohl mehr Beachtung finden? Die polierten Näpfe oder der dreckige Boden?

»In zehn Minuten ist das Essen fertig, sagst du deinem Vater Bescheid und deckst den Tisch?«

»Nicht für mich.«

»Wie? Du isst nicht mit?« Ma hält im Wiegen inne. »Für wen zermalme ich dann dieses Zeugs?«

»Für Paps und dich?«

»Seit du mit Aaron zusammen bist, sehen wir dich kaum noch.«

»Oh, Ma, bitte …« Nicht diese Leier. Warum ziehst du nicht gleich bei Aaron ein, ihr hockt viel zu eng aufeinander, mach dich nicht so abhängig von einem Menschen, bla, bla, bla. Ich wette, ihnen wäre lieber, ich würde Sally und Andrea bei ihrem Jahr Work ’n’ Travel in Australien begleiten, als eine weitere Nacht in Aarons Wohnung zu verbringen.

»Ich bin achtzehn.«

»Seit vier Wochen!«

»Achtzehn ist achtzehn.«

»Trotzdem wäre es schön, wenn …«

»Morgen esse ich hier, versprochen.«

»Aber an meinen Drucker denkst du noch, bevor du gehst.«

Mist. Der Drucker. Den habe ich völlig vergessen. Also Blitzdusche. »Klar, war doch versprochen.«

Aus dem Arbeitszimmer meines Vaters tönt der Nachrichtensprecher in gewohnter Lautstärke. »… wird im Zusammenhang mit dem Brand im Labor der Firma Lorell der gebürtige Serbe Janosch Czerski gesucht. Das Labor wurde wegen seiner umstrittenen Tierversuche im Auftrag großer Kosmetikkonzerne bereits mehrmals öffentlich von Czerski kritisiert und zum Verzicht von Tierversuchen aufgefordert. Czerski ist etwa einen Meter fünfundachtzig groß, circa achtzig Kilo schwer, dreiundzwanzig Jahre alt, hat kurze braune Haare, braune Augen und einen Ziegenbart. Sachdienliche Hinweise …«

Dann stimmt es also. Janosch Czerski. Die Legende unter den Kämpfern für Tierrechte – ein Mörder? Irgendwie kann ich mir das nicht vorstellen.

Mein Vater dreht das Radio leise. »Na, wen haben wir denn hier? Das wird doch nicht meine … ähm, Tochter sein?«

»Hallo, Paps«, sage ich.

Was soll ich darauf schon antworten? Immerhin hat er sich das »einzige« vor »Tochter« verkniffen, das er seit Aarons Auftauchen so gern betont. Total albern, wenn man bedenkt, wie peinlich er fast achtzehn Jahre darauf geachtet hat, dass ich mir keine Einzelkindallüren aneigne. Selbst die ersten Tierheimbesuche waren Ausläufer von Paps Panik, eine Egomanin heranzuziehen: Wenn ich zur Stärkung meines Charakters keine Verantwortung über jüngere Geschwister übernehmen konnte, dann wenigstens für bedürftige Tiere. Umständlich schiebt er sich aus seinem ergonomisch perfekten Drehstuhl und schnalzt mir einen Kuss auf die Nasenspitze.

»Hat Aaron keine Zeit oder was ist der Anlass für die unerwartete Ehre?«

Na super, die Einleitung für die nächste Predigt, dass ich nicht so viel Zeit mit Aaron verbringen soll, und diese wird mit Sicherheit deutlich länger als die von Ma vorhin. Jetzt hilft nur noch die Flucht nach vorn.

»Zehn Minuten. Essen.« Bis Paps zum Essen auftaucht, bin ich unter der Dusche und damit aus der Schusslinie, während Ma ihn aufklären muss, warum nur für zwei gedeckt ist.

Nach der Blitzdusche fühle ich mich nicht nur sauber, sondern auch irgendwie befreit, als hätte ich meinen Ärger über Aaron und Lennja gemeinsam mit dem Shampoo in den Abfluss gespült. Das ist auch gut so, denn sich nachher beim Spanier verbiestert anzuschweigen, wäre ja total bekloppt. Da kann ich gleich zu Hause bleiben. Will ich aber nicht, vor allem, weil es unser Lieblingsrestaurant ist, mehr noch, dort haben wir uns kennengelernt. Unglaublich, dass das erst vier Monate her ist. Wenn ich mit Aaron zusammen bin, fühlt es sich an, als würde ich ihn seit Jahren kennen. Dabei weiß ich kaum etwas über sein früheres Leben in Hamburg. Nur, dass sein Vater seit ein paar Jahren schwer krank ist und seine Mutter ihren Job aufgegeben hat, um ihn zu pflegen, und Aaron ihnen immer mal wieder Geld schickt. So wie letzte Woche, obwohl er dann selbst kaum noch was hat und ein Besuch beim Spanier eigentlich nicht mehr drin ist.

Ich wickle mich aus dem Handtuch und stemme die allzeit klemmende Schublade der antiken Kommode meiner Urgroßmutter auf, entnehme ihr einen grün gepunkteten BH samt passendem Slip und ziehe sie an. Dann öffne ich meinen Wandschrank.

»Waaah?«

Ich weiche zurück. Eine dunkle Gestalt schnellt heraus und presst die Hand auf meinen Mund.

»Pssst! Ich bin’s. Janosch. Erinnerst du dich?«

Ich nicke, unfähig, auch nur einen Gedanken zu fassen. Er bringt seinen Mund direkt an mein Ohr: »Ich brauch deine Hilfe. Kann ich loslassen, ohne dass du schreist?«

Ich nicke wieder, während mein Puls jetzt mit meinen Gedanken um die Wette rast. Janosch? Was will er von mir? Wie ist er in meinen Wandschrank gekommen? Er zieht seine Hand weg, nur ein bisschen, als traue er meinem Nicken nicht.

»Ina?« Die Stimme meiner Mutter. »Alles in Ordnung?«

Ich haste zur Tür, schnappe mir dabei mein Handtuch, das ich rasch um mich wickle, und öffne sie einen Spalt. »Alles gut!«

»Danke«, sagt Janosch leise hinter mir und drückt die Tür sorgfältig zu.

»Was machst du hier? Du wirst von der Polizei gesucht!«, zische ich, während mein Puls noch immer im Schweinsgalopp das Blut durch meinen Körper pumpt.

»Deswegen bin ich hier. Die sind wegen was hinter mir her, was ich nicht getan habe.«

»Wegen des Lorellbrands.«

»Korrekt. Jemand will mir das anhängen.«

»Kannst du das nicht klarstellen?«

Janosch lacht auf, hart und kurz, dann schüttelt er energisch den Kopf. »Die Bullen sind so scharf darauf, mich endlich dranzukriegen, dass die sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen werden.«

»Unsinn«, belehre ich ihn. »So einfach funktioniert das nicht. Wenn du damit nichts zu tun hast, können die keine Beweise gegen dich haben, und wenn sie keine Beweise gegen dich haben, können sie dir auch nichts tun.«

Wieder schüttelt Janosch den Kopf. Doch diesmal wirkt die Bewegung nicht energisch. Eher desillusioniert. »Du hast keine Ahnung, devojka.«

»De-was?«

»Devojka – Mädchen. Das ist serbisch. Auf jeden Fall finden die immer was, wenn sie was finden wollen, und dann können sie mich wegsperren, bis ich angeschimmelt bin.«

»Und was hast du jetzt vor?«

»Meinen Arsch retten.« Seine Augenbrauen treffen sich im Sturzflug über der Nase. »Und wenn ich richtig liege, ist derjenige, der mir das anhängen will, auch der, der den Brand gelegt hat.«

»Wenn du einen Verdacht hast, warum gehst du damit nicht zur Polizei?«

»Weil ich keine Beweise habe.«

Er packt mich an der Schulter. Seine kalten Finger berühren meine nackte Haut und ich werde mir überdeutlich bewusst, dass ich unter dem Handtuch nur Unterwäsche anhabe.

»Diesmal musst du mir helfen.« Sein Griff wird fester, als wollte er seine Worte unterstreichen. »Im Gegensatz zu mir kannst du dich umhören, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Häng dich an die Lorelltochter. Ich will wissen, was sie am Brandort vorgefunden hat.«

»Und wie?«

Jetzt lächelt Janosch zum ersten Mal. Er lässt mich los. »Das überlass ich dir. Ich weiß doch, wie beharrlich du sein kannst, wenn du was willst.«

Ich spüre die Röte in meine Wangen schießen. Der Punkt geht an Janosch.

»Wie kommst du darauf, dass Casey mit mir spricht?«

Sein Lächeln wird breiter. »Siehst du, du kennst sogar ihren Vornamen. Ich wusste, du bist die Richtige für den Job.«

»Sehr witzig. Casey Lorell ist die Nachhilfeschülerin meines Freundes.«

Seine Augen leuchten auf. »Eine Fügung Gottes!«

»Pst!« Ich lege den Zeigefinger an meinen Mund. »Oder willst du meinem Vater erklären, was du hier machst und wie du reingekommen bist?« Gute Frage. »Wie bist du überhaupt hier reingekommen?«

Er zeigt zum Fenster.

»War gekippt. Wusstest du, dass Einbrecher im Durchschnitt weniger als drei Minuten brauchen, um ein gekipptes Fenster zu öffnen?«

»Ich wusste nicht, dass du inzwischen deinen Beruf –«

Es läutet. Aaron! Und jetzt?

»Mein Freund kommt, du musst weg!« Ich schiele zum Fenster. Gleich neben dem Zaun kratzt unser Nachbar Laub zu gleichmäßigen Haufen zusammen. Keine Chance, er würde Janosch sehen und Alarm schlagen.

Also Wandschrank. Nein, ich bin nicht angezogen. Ich werde ihn wieder öffnen müssen.

»Kein Wort zu ihm. Schwör’s.« Janoschs Finger umschließen erneut meine Schulter, als die Stimme meiner Mutter nach oben schallt:

»Ina! Aaron ist da!«

»Schwör’s! Kein Wort. Zu niemandem.«

Habe ich eine Wahl? Wie kann ich Janosch diese Bitte abschlagen? Selbst wenn ich mich auf nichts anderes einlasse, ihn verraten kommt nicht infrage. Nicht nach dem, was er damals für mich getan hat.

Aarons Schritte kommen die Treppe hoch.

»Schwör’s!«

Ich hebe die Hand und strecke Daumen, Zeige- und Mittelfinger in die Höhe. Er nickt zufrieden und spurtet zum Wandschrank. Ich halte ihn zurück.

»Da runter!«, flüstere ich und zeige aufs Bett. Er tippt sich an die Stirn und krabbelt unter das alte Bauernbett, gerade noch rechtzeitig, bevor Aaron das Zimmer betritt.

Das war knapp. Typisch Janosch. Einfach total durchgeknallt, der Kerl. Ich stelle mich vor den Schrank und reguliere meinen viel zu schnellen Herzschlag, während ich so tue, als sei ich in die Auswahl der passenden Hose vertieft. Aaron tritt hinter mich, zieht mir das Handtuch vom Körper, legt die Arme um meinen Bauch und lehnt sein Gesicht an meinen Kopf.

»Na, kannste dich nicht zwischen Jeans und Jeans entscheiden?«

Sein sanfter Bariton rauscht betörend durch meine Ohren und seine warmen Hände lassen meine nackte Haut prickeln, bis seine Gürtelschnalle kalt in meinen Rücken pikst und mich in die Realität zurückkatapultiert. Janosch. Unter. Dem. Bett.

Sacht löse ich seine Arme. »Ich dachte, ich nehm zur Abwechslung mal Jeans«, gehe ich auf seinen Scherz ein und ziehe eine Röhrenjeans mit einem wilden Muster vom Bügel. Er betrachtet sie erstaunt.

»Neu?«

»Nagelneu.«

»Und das?« Er bückt sich und schleift einen abgenutzten Rucksack aus Jute oder Sisal hervor. Ich erkenne das auffällige knallbunte Muster im Native-American-Style sofort. Janosch! Du Idiot! Schnell grapsche ich nach dem Rucksack, während sich mein Gesicht anfühlt, als verfärbe es sich ins Rot eines kochenden Hummers. »Der ist von Andrea.«

»Andrea? Die ist doch in Australien?«

»Eben«, antworte ich und möchte mir, noch während das Wort meinem Mund entschlüpft, auf die Zunge beißen. Eben was? Prompt sieht er mich fragend an.

Ich schinde etwas Zeit, indem ich den Rucksack umständlich im Schrank verstaue.

»Warum hast du dann ihren Rucksack?«, bohrt Aaron nach.

»Weil da die Dinge drin sind, die sie … nicht ein Jahr lang in ihrem Zimmer lassen wollte.« Seit wann bin ich so eine gewandte Lügnerin? Meine Augen wandern verschwörerisch in die Höhe. »Du weißt schon, die Dinge, die ihre Mutter beim Frühjahrsputz nicht unbedingt in die Hände kriegen sollte.«

»Ui! Du meinst …« Er grinst anzüglich. »Haste mal reingeschaut?«

Ich knalle die Schranktür mit empörtem Nachdruck zu. »Hallo? Andrea ist meine Freundin. Ich schnüffel doch nicht in ihren Sachen rum!«

Sein Kopf wandert Richtung Schranktür.

»Und du auch nicht.«

Ich öffne die Schrankseite mit den Regalbrettern. Wie selbstverständlich ich Aaron gerade angelogen habe. Ohne zu zögern. Dabei war ich bisher so stolz darauf, wie ehrlich wir zueinander sind. Wahllos greife ich nach einem Top, erwische das schwarze mit eingenähter Spitze, das ich mit Andrea zusammen gekauft, aber noch nie getragen habe.

Ein anerkennender Pfiff kommentiert das für mich ungewöhnlich sexy Kleidungsstück. »Jetzt gibst du aber an.« Er nimmt mir Top und Hose aus der Hand und befördert sie mit einem lässigen Schwenk auf meinen Schreibtischstuhl. Dann streichen seine Lippen über mein Ohr.

»Wir haben noch ’n bisschen Zeit«, wispert er, und bevor ich protestieren kann, reißt er mich vom Boden hoch, überbrückt die zwei Schritte zum Bett und wirft mich auf die bunte Tagesdecke. Das Bett ächzt. In meinem Kopf entsteht das Bild einer Sprungfeder, die comicgleich neben Janoschs Kopf durch die Matratze stößt. Ohne zu wollen, muss ich kichern, was Aaron eindeutig als falsches Signal auffasst. Er schmeißt sich neben mich auf die Tagesdecke. Wieder ächzt das Bett. Es ist alt und ich habe keine Ahnung, wie es gebaut ist, hoffe nur, dass es sich nicht zu weit nach unten durchbiegt und Janosch einquetscht. Aarons Finger wandern über meinen Bauch, während ich über die Konstruktion des Bettes nachdenke, krabbeln hoch zu meinem BH.

Stopp.

Janosch. Unter. Dem. Bett.

»Schlechte Idee.« Ich nehme seine Hand und lege sie auf meinen Bauch zurück.

»Wirklich?« Sofort stehlen sich die Finger wieder nach oben, während seine Lippen über meinen Hals streicheln.

»Definitiv.«

Die Finger verharren auf der Stelle. »Ernsthaft?«

»Ernsthaft.«

Seine Hand rutscht von meinem Bauch und er rollt sich auf den Rücken. »Ist was?«

Super. Was soll ich ihm sagen? Äh, wir haben einen Besucher unterm Bett, dem ich geschworen habe, dir nichts von seiner Anwesenheit zu verraten?

»Bist du sauer wegen heute Nachmittag? Da war wirklich nichts. Casey hat mir von dem Brand erzählt. Das mit dem toten Wachmann belastet sie. Und als du gekommen bist … da hätt jeder gestört.«

Ich lege meine Finger auf seinen Mund. »Ich bin nicht sauer. Aber meine Mutter will, dass ich ihren Drucker anschließe, und wenn ich das nicht in den nächsten fünf Minuten erledige, wird sie unangemeldet hier im Zimmer stehen.«

»Das sagst du jetzt?« Er blickt hektisch zur Tür und schwingt sich mit dem gleichen Elan aus dem Bett, mit dem er eben noch hineingesprungen ist. Kaum richte ich mich auf, schnellt mir schon seine Hand entgegen. Mit einem Ruck zieht er mich hoch. »Hopp, hopp, kein Bock auf miese Stimmung. Deine Eltern haben mich eh gefressen.«

Leider kann ich ihm nicht widersprechen, ohne ihn erneut anzulügen, also schlüpfe ich kommentarlos in meine Jeans. Natürlich wäre meine Mutter nicht in mein Zimmer geplatzt, aber so gut kennt Aaron sie zum Glück noch nicht. Nur, gelöst ist mein Problem damit nicht: Was soll ich mit Janosch machen? Ihn unter dem Bett liegen lassen? Halt, ich könnte …

»Und wenn du meiner Ma den Drucker einrichtest?«, frage ich Aaron in einem letzten Versuch, ein paar Minuten mit Janosch allein herauszuschinden. »Einmalige Chance, Punkte zu sammeln!«

Mein Kopf verschwindet in der Pseudospitze des schwarzen Tops. Als ich wieder auftauche, hat Aaron seinen Mund zu einem breiten Grinsen verzogen.

»Pass auf, in fünf Minuten wird deine Mutter dich ermahnen, besonders nett zu mir zu sein …«

»Jaja. Laber, laber.« Ich schiebe ihn zur Tür hinaus und schließe sie sorgfältig hinter mir. Dann husche ich auf Zehenspitzen zum Bett, und erst als ich direkt davorstehe, fällt mir auf, wie dämlich das ist. Es gibt nichts zu huschen, schließlich weiß jeder im Haus, dass ich im Zimmer bin.

»Janosch.« Ich spreche so leise, dass ich mich selbst kaum höre.

Ein kurzes Schaben am Boden, dann taucht sein Kopf auf. Er blinzelt zu mir hoch.

»Nettes Outfit. Wusste gar nicht, dass du auf Spitze stehst.«

Ich verdrehe die Augen. »Quatsch nicht. Komm raus!« Schon fetze ich zum Fenster. Checken, ob die Luft rein ist. Wir haben Glück, keine Spur von dem Nachbarn oder seinem Rechen. »Du kannst los!«

Janosch rührt sich nicht.

»Janosch! Verdammt!« Ich laufe zum Bett zurück, wo inzwischen sein Oberkörper herauslugt. »Wenn du nicht gesehen werden willst, musst du los.«

»Und wohin?«

Spinnt der? Woher soll ich das wissen? Oder … Ich stehe kurz vor der Schnappatmung. Will er etwa hier übernachten?

Ich stelle mich über ihn, die Hände in die Hüften gestemmt. »Hier kannst du nicht unterschlüpfen! Das spannen meine Eltern sofort!«

Er bleibt seelenruhig liegen. Meine Hände werden feucht. Es gibt zwei Menschen auf dieser Welt, die nie erfahren dürfen, woher ich Janosch kenne und vor allem: warum ich ihm einen Gefallen schulde. Beide befinden sich gerade ein Stockwerk tiefer. Andrea würde jetzt sagen, dass ich mich meinem Schicksal stellen soll. Ich sage: »Du bist ein Arsch, weißt du das?«

»Yo.« Er lächelt mich mit dem Charme einer Hyäne an. Ich renne zum Schreibtisch, reiße die mittlere Schublade auf und ziehe einen überdimensionalen Schlüsselbund heraus. Als habe das Klimpern der Schlüssel ihn unter dem Bett hervorgebeamt, steht Janosch auf einmal neben mir.

»Du hast also was für mich?«

»Andreumdock. Du fährst zur Osterheide und kurz vor Ende biegst du in einen Feldweg ab. Auf dem bleibst du, bis du zu einem total verwilderten Garten kommst. Du kannst es nicht verfehlen. Da liegt nur ein Boot.«

»Ein Boot?«

»Ein Hausboot. Aber versuch ja nicht, den Gasofen anzuwerfen. Ich komm nachher vorbei und zeig dir, wie’s geht.«

Er greift nach den Schlüsseln, doch meine Hand schnellt in die Höhe. »Ein Kratzer … Hast du verstanden? Wenn du nur einen Kratzer in das Boot machst, fliegst du auf.«

Er legt seine Hand aufs Herz. »Ich wusste, du bist in Ordnung.«

4

AARON

Zwei Stunden beim Spanier und kein Wort über Lennja und mich. Dabei hätt ich’s ’n paarmal elegant einfließen lassen können, als wir über unsre Eltern und die unsrer Freunde gesprochen haben, darüber, ob’s Fluch oder Segen ist, wenn die Eltern eine Firma aufgebaut haben, in die man einsteigen kann. Ich zum Beispiel wär heilfroh, wenn meine Eltern mir was hinterlassen würden, worauf ich aufbauen könnt, aber Mark und Casey werden in Jobs gepresst, die sie nicht wollen. Lennja dagegen macht ihr Ding, egal, was irgendjemand sagt. Das wär die Gelegenheit gewesen, Ina von mir und Lennja zu erzählen, ganz beiläufig, damit’s erst gar nicht die Wichtigkeit bekommt, die Lennja der Geschichte verpassen würd. Na ja, egal, Chance vertan. Wobei: Wenn Lennja bis jetzt die Klappe gehalten hat, tut sie’s wahrscheinlich auch weiterhin.

Bei den Motorrädern angelangt, leg ich meine Hände um Inas Hüften und dreh sie zu mir rum.

»Gleich zu mir oder erst ins Croc?«

Ina windet sich aus meinen Händen. »Sorry, weder noch. Ich muss heim.«

»Heim?« Diese Option ist in meiner Abendplanung nicht vorgesehen.

»Gut Wetter machen. Meine Eltern zicken rum, weil ich nie zu Hause bin.«

»So, wie ich deine Ma vorhin verstanden hab, denkt sie, dass du bei mir übernachtest.« Ich zieh sie wieder zu mir. So schnell werd ich nicht aufgeben. »Ich hab zwei Folgen von How I Met Your Mother für dich.«

»Und meine Arbeitsklamotten? So kann ich nicht ins Tierheim.«

»Dann fahr morgen früh zu Hause vorbei. Oder wir machen gleich ’nen Schlenker.«

»Also gut.« Sie stülpt ihren Helm über. »Ich hole meine Sachen, dann treffen wir uns bei dir.«

Ich tret ein paar Schritte von meinem Hubschraubermodell zurück und lass den Farbpinsel sinken. Hilft leider nicht. Von weiter weg sieht es noch bescheuerter aus. Biene Maja in Übergröße, mit Rotoren anstelle von Fühlern. Ina würd das gefallen. Schnell tunk ich den Pinsel in die schwarze Farbe und mal über die noch feuchten gelben Streifen, bis ein unruhiges, schwarz-bräunliches Muster entsteht. Hässlich, aber lieber Military-Look als Monsterbiene.

Viertel vor zehn. Seltsam, Ina müsst längst da sein, doch ihr Schlüssel dreht und dreht sich nicht in meiner Wohnungstür. Ich hätt mitfahren sollen, damit ihr Vater sie nicht wieder in eine seiner endlosen Grundsatzdebatten verwickelt. Ich nehm den Pinsel, geh durch den Miniflur in das noch winzigere Bad und tunk die Pinsel in ein Glas mit Lösungsmitteln. Während die Lösungsmittel ihre Arbeit verrichten, seh ich mich im Bad um, überleg, wie ich die abscheulichen grün-braun melierten Fliesen möglichst billig in neutrales Weiß verwandeln kann. Die Küche hatt ich damals noch mit Lennja hergerichtet, aber nach dem großen Knall war die Farbe der Badfliesen plötzlich ziemlich nebensächlich angesichts der Anzeige, des vergeigten Stipendiums und meines angeknacksten Egos. Den ausgewaschenen Pinsel in der Hand, geh ich zurück ins Wohnzimmer. Erst jetzt bemerk ich den intensiven Geruch nach Lack, denk an meinen Vater. Denk an den Dreck, den er so lang eingeatmet hat, bis er todkrank und als arbeitsunfähig entlassen wurde. Ich öffne die Fenster, füll meine Lungen mit frischer Oktoberluft, dräng die Wut zurück, die noch immer in mir schwelt. Es bringt nichts, sie zuzulassen. So wie damals, als ich mich von ihr hab leiten lassen, mich auf die falsche Seite gestellt hab. Einmal und nie wieder. Ich hab meine Lektion gelernt, hab kapiert, dass ihm das nicht hilft. Im Gegenteil, wenn’s schiefläuft, mach ich alles nur noch schlimmer. Ich darf die Wut nur nie vergessen. Sie ist mein Motivator. Um mein Studium schnell und gut abzuschließen. Um danach was zu verändern. Um Schicksale wie das von meinem Vater zu vermeiden.

Ich lass mich auf das weltbeste Sofa plumpsen und zappe durch die Kanäle. Bei The Transporter bleib ich hängen. Kenn ich zwar schon, ist aber immer wieder gut. Mitten in der durchgeknalltesten Verfolgungsjagd des Films läutet’s.

Mark. Wer sonst. Unsere Fäuste schlagen kurz aneinander, dann holt er sich mit der Selbstverständlichkeit des besten Freundes ein Bier aus dem Kühlschrank und geht an mir vorbei ins Wohnzimmer. Er schnuppert, rümpft die Nase, fläzt sich zeitgleich aufs Sofa und startet eine Lästerattacke gegen unsern Prof für Umwelttechnik. Ich schalt den Fernseher auf lautlos, während der Szene gibt’s eh keinen Dialog, nur krasse Stunts. Trotzdem schenk ich meine Aufmerksamkeit mehr der Glotze als ihm.

Da fällt mir die Stille auf. Ich seh zu Mark. Er nimmt einen Schluck von seinem Bier und stellt die Flasche aufm Couchtisch ab.

»Hast du von dem Lorellbrand gehört?«

»Casey hat sich vorhin bei mir ausgeheult.«

»Casey?« Mark wirkt irritiert.

»Die Lorelltochter. Ich geb ihr Nachhilfe, vergessen?«

»Exakt. Du bist ihr Nachhilfelehrer. Läuft da was?«

»Mit Casey? Bist du irre?«

»Und warum rennt sie dann zu dir?« Er stutzt. »Warum überhaupt ausheulen?«

»Sie hat den Wachmann gefunden.«

»Ach du Scheiße.« Mark stürzt den Rest seiner Flasche auf Ex runter.

»Genau. Und da sie nicht mal die Formeln wusste, die sie im Schlaf rückwärts können sollte, wollt ich wissen, was los ist, und dann ist der Springbrunnen losgegangen.«

»Und?«, fragt Mark gespannt.

»Und was?«

»Warum hat sie den Wachmann gefunden? Warum nicht die Feuerwehr?«