Rosa Naumann

Das Versteck in der Mumie

Mit Illustrationen von Udo Kruse-Schulz

 

 

Originalausgabe 2010
© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

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Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,
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eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 41219 - 3 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 71427 - 3

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Personen

Abschied

Der fremde Diener

Ermittlungen

Die Priesterinnen des Apis-Stiers

Der Traum des Stiers

Die Einbalsamierung

Angst

Die Pforte zum Reich der Toten

Auf der Suche nach der Barke des Sonnengottes

Tamut versucht zu zaubern

Nefret auf dem Fest des heiligen Stiers

Quälende Fragen

Tamut hilft den Göttern

Der goldene Skarabäus

Ein neuer Tag

Das Versteck in der Mumie

Herisets Beichte

Wer mehr wissen möchte

Der wahre Hintergrund der Geschichte

Die Verehrung des Apis-Stieres

Die Jenseitsvorstellungen der Alten Ägypter

Götter und Dämonen

Wichtige Begriffe

[Informationen zum Buch]

[Informationen zur Autorin]

 

Für Heiner und Jörn

Personen

Tamut und Nefret, Zwillinge (13)

Hekab, ihr Vater, Kaufmann

Heriset, Tante der Zwillinge

May, Dienerin im Haus der Zwillinge

Merit, Priesterin im Tempel der Hathor

Tais, Schneiderin im Tempel des Ptah

Berenike, Dienerin im Tempel des Ptah

Ibet, Priester in der Ausbildung

Kratinos, griechischer Tänzer

Pennut, Hafenwirt

Irinefer, Befehlshaber beim Militär

Die Geschichte spielt im 2. Jh. v. Chr. in Memphis.

ABSCHIED

Tante Heriset behandelt uns nicht gut«, beschwerten sich Tamut und Nefret bei ihrem Vater Hekab, als sie sich zum Essen an den kleinen Tisch im Wohnraum setzten.

»Ist etwas vorgefallen?« Hekab musterte seine Töchter besorgt. Auch in ihrem Zorn sahen sich die Zwillinge überaus ähnlich. »Gestern sind wir viel zu spät zu unserer Tanzprobe gekommen, weil unsere Oberteile mit Granatapfelsaft beschmutzt waren und wir sie erst reinigen mussten«, schimpfte Nefret. »Das war bestimmt Herisets Schuld.«

»Wie kommst du darauf?«, wollte ihr Vater wissen.

»Die Oberteile lagen über einem der Schemel in unserem Zimmer und nicht auf der Kleiderkiste, wo wir sie hingelegt hatten«, antwortete Nefret.

»Und der Krug mit dem Granatapfelsaft, den wir zur Tanzprobe mitnehmen wollten, war auf einmal leer«, fügte Tamut hinzu.

»In letzter Zeit schimpft sie dauernd mit uns«, führte Nefret weiter aus. »Sie behauptet, wir hätten nur unsere Tanzaufführungen im Tempel im Kopf und gingen ihr im Haus zu wenig zur Hand.«

Hekab schüttelte bekümmert den Kopf. Seine Schwester Heriset war erst vor Kurzem zu ihnen gezogen. Tamut und Nefret hatten sie von Anfang an nicht gemocht. Doch Hekab hatte darauf bestanden, dass sie zu ihnen kam, damit die Mädchen nach dem Tod ihrer Mutter nicht nur von ihm erzogen wurden.

»Ich hatte gehofft, dass Heriset für euch da sein würde«, sagte er. »Aber wenn sie euch nur Steine in den Weg legt, muss ich mir etwas einfallen lassen.«

In diesem Moment kam May, die alte Dienerin im Haus des Kaufmanns, mit einem Tablett hereingeschlurft, das sie auf einem Beistelltisch abstellte.

»Wird Heriset wieder nicht mit uns essen?«, fragte sie ungehalten.

Hekab zuckte die Achseln. »Sie scheint keinen Wert darauf zu legen«, erwiderte er.

»Zum Glück haben wir ja May«, riefen Tamut und Nefret fast gleichzeitig. »Eigentlich brauchen wir Tante Heriset gar nicht. Am liebsten wären wir sie los.«

»Ihr wisst doch, dass May nicht mehr alle Aufgaben allein bewältigen kann«, gab Hekab zu bedenken. »Und ich bin als Kaufmann oft unterwegs. Außerdem können wir Heriset nicht so einfach wieder wegschicken.«

»Warum denn nicht?«, fragten die Zwillinge enttäuscht.

»Wie ihr wisst, habe ich meiner Schwester die Hälfte unseres Hauses überschrieben, damit sie zu uns kommt und sich um euch kümmert!«

»Kümmern kann man das wirklich nicht nennen«, riefen Tamut und Nefret empört.

»Ich habe mir das auch anders vorgestellt«, seufzte Hekab. »Aber eigentlich hätte ich es besser wissen müssen. Heriset war leider schon immer missgünstig und neidisch auf andere. Aber dass sie das an euch auslässt . . .!«

»Kannst du ihr nicht Geld geben, damit sie geht?«, fragte Nefret.

»Das Geld muss ich erst einmal haben«, antwortete ihr Vater. »Vielleicht bringt meine nächste Handelsreise so viel, dass ich Heriset auszahlen kann.«

»Deine nächste Handelsreise?«, fragten Tamut und Nefret erschrocken.

Hekab räusperte sich. »Das habe ich euch noch gar nicht erzählt: Ich werde mich auf eine große Reise in das Goldland Kusch machen müssen. Ich werde in Zukunft nämlich mit Gold und nicht mehr mit Keramik handeln, weil das mehr Geld bringt.«

»Kannst du nicht wenigstens mit Tante Heriset sprechen, bevor du auf diese Reise gehst?«, drängten die Zwillinge.

Hekab versprach ihnen, seine Schwester so bald wie möglich zur Rede zu stellen. Dann bat er May, sich zu ihnen zu setzen. Die alte Frau hatte sich in den hinteren Teil des Raums zurückgezogen, nachdem sie Teller mit gesalzenem Fisch, eingelegtem Gemüse und Brot auf den Tisch gestellt hatte.

»Wann wirst du dich endlich daran gewöhnen, dass du mehr als unsere Dienerin bist?«, bemerkte er lächelnd.

Ein verlegenes Lächeln huschte über Mays Gesicht, das wie ein zerknitterter Papyrus aussah. Sie setzte sich und wartete, bis alle von den Speisen genommen hatten. Erst dann bediente sie sich.

Nach dem Essen halfen Tamut und Nefret May, das Geschirr in die Küche zu bringen. Dann eilten sie in ihr Zimmer, um sich umzukleiden. Sie sollten am Nachmittag im Tempel der Göttin Hathor tanzen.

Sie werden ihrer Mutter immer ähnlicher, dachte Hekab. Bald wären sie so schön wie seine Frau, darüber gab es für ihn keinen Zweifel. Die Zwillinge hatten ihre schmale Nase, die gleichen vollen Lippen und große, dunkle Augen.

 

Kurz bevor Tamut und Nefret in Hekabs Begleitung den Tempel der Göttin Hathor erreichten, kamen sie am Tempel des heiligen Apis-Stiers vorbei. Wie jedes Mal auf diesem Weg blieben die Mädchen an der Umfassungsmauer stehen, um ihn zu betrachten. Die Priesterin Merit hatte sie gelehrt, dass das heilige Tier in enger Verbindung mit Osiris stand, dem Herrscher des Totenreichs. »Der heilige Apis übermittelt dem Gott Osiris Botschaften und Nachrichten der Lebenden für ihre Verstorbenen im Jenseits«, hatte sie den Zwillingen erklärt.

Seit dem Tod ihrer Mutter hatte sich Tamut angewöhnt, den Stier mit gedämpfter Stimme zu rufen. Er kam immer ganz dicht an die Mauer heran und betrachtete sie aufmerksam mit seinen glänzenden, braunen Augen. Sie wartete meistens, bis Nefret und ihr Vater ein Stück vorausgegangen waren, dann flüsterte sie dem heiligen Tier die Dinge ins Ohr, die sie ihrer Mutter im Jenseits mitteilen wollte. Wie oft hatte sie schon gewispert: »Bitte sag unserer Mutter, dass wir sie schrecklich vermissen.« Und in letzter Zeit hatte sie hinzugefügt: »Wir brauchen dich so sehr, Mutter. Tante Heriset ist unerträglich geworden, wir wollen sie nicht mehr bei uns haben.«

Tamut hatte sich immer erleichtert und getröstet gefühlt, wenn der heilige Stier leise geschnaubt hatte, als wollte er sagen: »Es wird alles wieder gut!«

Dieses Mal aber blieb er reglos mit gesenkten Hörnern im Schatten des Heiligtums stehen und scharrte kraftlos mit den Hufen. Als Tamut ihn noch einmal rief, bewegte er sich langsam ein Stück vorwärts, blieb dann aber mitten auf dem Gelände stehen. Beunruhigt hastete sie Nefret und ihrem Vater hinterher.

»Ob der Stier krank ist?«, fragte sie. »Er ist gar nicht an die Mauer gekommen.«

»Vielleicht wird er einfach nur alt«, meinte Nefret leichthin. »Was machst du eigentlich immer so lange bei dem Stier?«

»Ich teile Mutter unseren Kummer mit«, erwiderte Tamut. »Du weißt doch, was uns Merit über den heiligen Apis erzählt hat. Außerdem fühle ich mich getröstet, wenn mich der Stier ansieht.«

 

Im Tempelhof empfing sie Merit, die Priesterin der Hathor, die als Göttin der Freude und des Tanzes die Hauptgöttin des Tempels war.

»Wie schön, dass ihr schon hier seid«, sagte sie lächelnd, »ich muss noch etwas mit euch besprechen. Euer Vater kann sich inzwischen in den Schatten der Sykomore setzen.«

Hekab nickte der Priesterin freundlich zu und suchte sich einen Platz unter dem mächtigen Baum, der sich in der Mitte des Tempelhofs erhob.

Während Merit mit den Zwillingen noch einmal ihren Auftritt durchging, grübelte Hekab über seine Schwester nach. Ihm graute vor der Aussprache, er hatte sogar etwas Angst davor. Er wusste, wie aufbrausend und verletzend Heriset werden konnte. Aber er wusste auch, dass er der Auseinandersetzung nicht mehr lang aus dem Weg gehen konnte und dass er noch vor der Reise nach Kusch würde mit ihr reden müssen. Der Gedanke, seine Töchter allein bei Heriset zurücklassen zu müssen, gefiel ihm gar nicht.

Er seufzte tief auf. Welch ein Glück, dass Tamut und Nefret außer May auch noch Merit hatten, das beruhigte ihn ein wenig. Er kannte die Priesterin schon, seit sie eine junge Frau war. Sie hatte die Zwillinge ins Herz geschlossen. Bei ihr hatten sie Lesen und Schreiben gelernt, und nicht zuletzt Tanzen und Musizieren. Außerdem hatte sie in letzter Zeit begonnen, seine Töchter mit den Jenseitsbüchern vertraut zu machen, deren Inhalt alle Jungen und Mädchen in ihrem Alter kennen mussten.

Inzwischen waren die anderen Tänzerinnen und Musikantinnen sowie die Besucher eingetroffen. Die Gäste standen dicht gedrängt. Nur einige wenige wagten es, unter der heiligen Sykomore neben Hekab Platz zu nehmen.

Merit trat mit erhobenen Armen vor den Baum, in dessen Ästen rote Bänder flatterten. »Sei gegrüßt, du Göttin Hathor, die du geschmückt bist mit Bändern aus rotem Leinen«, rief sie mit kräftiger Stimme zur Baumkrone hinauf. »Seid gegrüßt, all ihr Götter von Himmel und Erde!«

Ihre füllige Gestalt wogte und bebte, als sie die Sykomore zu umrunden begann. Nach dem dritten Mal blieb sie stehen und bedeutete den Mädchen mit einem Handzeichen, ihren Tanz aufzunehmen. Die Tänzerinnen und Musikantinnen umringten den Baum und wiederholten den Singsang. Ein Gong ertönte und einige junge Priester schleppten die Statue der Göttin Hathor herbei, die sie vor der Sykomore abstellten. Auf ihrem Kopf trug sie zwei gewaltige Kuhhörner, zwischen denen eine goldene Sonnenscheibe glänzte.

Alle Anwesenden verneigten sich ehrfürchtig. Während Tamut mit einem Tamburin den Rhythmus zu dem nun folgenden Tanz anschlug, wanderten ihre Gedanken immer wieder zu dem Stier. Sie beschloss, Merit nach der Aufführung zu fragen, was sie über sein Verhalten dachte.

Nachdem die Tänzerinnen einige Runden gedreht hatten, legte Tamut das Tamburin beiseite und nahm ihr Sistrum, das sie in der Nähe bereitgelegt hatte. Sie rasselte heftig mit dem Instrument und die Mädchen begannen, mit über dem Kopf erhobenen Armen zu schreiten. Dann wurden sie immer schneller, bis Tamut innehielt. Nach einer kurzen Atempause begannen sie, in rascher Abfolge Saltos zu schlagen. Die Zuschauer warfen den Tänzerinnen bewundernd frische Blumen und kleine Geschenke zu.

»Ihr werdet immer besser«, lobte Merit Tamut und Nefret nach der Aufführung. »Ihr seht ja, wie begeistert die Zuschauer sind. Wenn mich nicht alles täuscht, bekommt ihr beide besonders viel Aufmerksamkeit.«

»Das ist ja wunderbar«, rief Nefret erfreut. »Komm, lass uns das gleich Vater erzählen!« Sie fasste ihre Schwester am Arm und wollte sie zur Sykomore ziehen, wo sich Hekab mit einem anderen Zuschauer unterhielt.

»Geh schon mal vor«, sagte Tamut, »ich möchte Merit noch etwas fragen.«

Nefret stob davon, um sich von Hekab loben zu lassen, doch Tamut blieb bei Merit.

Die Priesterin musterte das Mädchen besorgt. »Du bist ganz bleich, stimmt etwas nicht?«

Da erzählte ihr Tamut von dem Stier.

»Du musst dir nicht so viele Gedanken machen«, meinte Merit. »Frag doch seine beiden Priesterinnen, ob alles in Ordnung ist mit ihm.«

Tamut nickte stumm.

»Was hast du denn?«, fragte Nefret, die inzwischen mit dem Vater zu ihnen gestoßen war.

»Ach, nichts«, antwortete Tamut.

»Sag schon, dich bedrückt doch etwas.«

Tamut holte tief Luft. »Wer soll mich trösten, wenn der heilige Stier krank ist?«, fragte sie mehr sich selbst als ihre Schwester.

»Na, ich«, antwortete Nefret.

Tamut lächelte dankbar, obwohl sie wusste, dass Nefret den heiligen Apis nicht ersetzen konnte.

 

Einige Abende später trat Hekab in das Zimmer seiner Töchter. Er nahm zwei von mehreren Amuletten, die er um seinen Hals trug, und reichte sie ihnen. »Dies ist für dich, Tamut«, sagte er, »und dieses hier für dich, Nefret.«

Tamut schaute gebannt auf das Amulett in ihrer Hand. Es stellte den Gott Osiris dar, fein gearbeitet aus einem gemaserten Türkisstein. Als Herrscher des Totenreiches trug er Mumienbinden, eine hohe Krone sowie Krummstab und Geißel. Auch Nefret bekam ein solches Amulett. Es glich dem Anhänger Tamuts in jeder Einzelheit. Hekab erklärte ihnen, dass das Amulett des Osiris sie vor allen Gefahren im Diesseits wie auch im Jenseits bewahren würde. Wer ein solches Amulett besaß, erhielt etwas von der Stärke des mächtigen Gottes der Unterwelt, davon war Hekab überzeugt.

»Vielen Dank, Vater«, sagten die Zwillinge, »aber warum schenkst du uns die Amulette? Wir freuen uns natürlich, aber . . .«

»Es gibt kein Aber«, unterbrach sie Hekab. »Es wird allerhöchste Zeit, dass ihr sie erhaltet. Alle Väter schenken ihren Kindern Amulette, wenn sie aus dem Kindesalter heraus sind. Außerdem gehe ich morgen auf die große Handelsreise. Ich möchte, dass ihr während der Zeit meiner Abwesenheit einen starken Schutz habt.«

»Schon morgen?« Die beiden Mädchen schauten betrübt. »Du lässt uns wirklich mit Heriset allein?«, fragte Tamut entsetzt.

»Hast du wenigstens mit ihr gesprochen?«, wollte Nefret wissen.

»Ja, das habe ich«, erwiderte Hekab, während sich Tamut und Nefret ihr Amulett um den Hals hängten.

Die Zwillinge schauten ihn erwartungsvoll an.

»Na ja, so richtig einigen konnten wir uns nicht«, begann er zögernd.

»Was bedeutet das?«, fragten sie beunruhigt.

»Heriset wurde sehr zornig, als ich ihr sagte, dass wir sie nicht mehr bei uns haben wollen. Sie hat gefragt, wovon sie denn leben soll. Ihr Anteil am Haus sei wertlos, solange wir noch mit darin wohnen.«

»Und was wird jetzt?«, wollte Nefret wissen.

»Wir werden versuchen, eine Lösung zu finden, sobald ich zurück bin«, antwortete Hekab. »Am liebsten wäre es mir natürlich, wenn sie einen Mann fände«, fügte er hinzu. »Dann müsste ich mich nicht um ihre Zukunft sorgen. Aber wahrscheinlich ist sie den meisten Männern schon zu alt.«

»In letzter Zeit steht Tante Heriset immer lange vor dem Spiegel«, bemerkte Tamut. »Könnte es nicht sein, dass sie sich heimlich mit einem Mann trifft?«

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, meinte Nefret. »Es hält bestimmt keiner mit ihr aus. Ich frage mich ehrlich gesagt, ob wir es überhaupt mit ihr aushalten, bis du zurück bist.« Sie schaute ihren Vater betrübt an.

»Es wird euch wohl nichts anderes übrig bleiben«, erwiderte Hekab. »Aber ihr habt ja May und Merit und haltet euch so oft im Tempel auf, dass ihr von Heriset wahrscheinlich gar nicht so viel sehen werdet.« Er schloss seine Töchter in die Arme. Ihm selbst war nicht wohl bei dem Gedanken, sie bei seiner Schwester allein zu lassen.

 

Am nächsten Morgen begleiteten Tamut und Nefret ihren Vater auf Eseln zum Hafen von Memphis. Um zur Anlegestelle zu gelangen, mussten sie fast die ganze Stadt durchqueren, über der ein modriger Geruch hing. Während sie ein Stück an den Schutzdeichen des Nils entlangritten, wurden sie von unzähligen Fliegen belästigt. Die Fliegenwedel, zu denen sie noch im letzten Moment gegriffen hatten, nützten nicht viel. Kaum hatten sie eine Schicht der lästigen Insekten vertrieben, setzte sich auch schon die nächste auf ihre Augen, in die Nasenhöhlen und auf den Mund. Erst als sie die Stadtmitte hinter sich gelassen hatten, ließ die Fliegenplage ein wenig nach. Sie überquerten einen Marktplatz, an den sich viele Werkstätten anschlossen. Schließlich kamen sie zum Haupthafen der Stadt, der neben dem Handelshafen auch einen Flottenstützpunkt aufwies. Vom Nil her wehte ein weicher Wind, der ihre Kopftücher flattern ließ.

In der Nähe des Schiffes, mit dem Hekab seine Reise antreten würde, blieben sie stehen.

»Hoffentlich vergeht die Zeit schnell, bis du wieder bei uns bist«, sagte Tamut leise. »Wie lange wirst du unterwegs sein, Vater?«

»Mindestens acht Wochen . . .«, erwiderte Hekab. »Wenn alles gut geht«, setzte er nach kurzer Pause hinzu. Er musterte seine Töchter ernst. »Im Falle, dass mir etwas passiert . . .«

Tamut und Nefret ließen ihn nicht ausreden.

»Aber Vater, warum sagst du so etwas?«, rief Tamut. »So hast du bisher nie gesprochen!«

»Und du hast selbst gesagt, dass dir nichts passiert«, beschwor Nefret ihren Vater.

»So habe ich es nicht gesagt«, entgegnete Hekab, »denn nur die Götter wissen, ob uns etwas Schlimmes widerfährt oder nicht.«

»Trotzdem sollst du nicht so sprechen«, sagte Tamut.

»Macht euch keine Sorgen«, erwiderte Hekab. Dennoch sollt ihr wissen, was ihr tun müsst, wenn mir etwas zustößt.«

Als Tamut und Nefret erneut protestieren wollten, ermahnte er sie ernsthaft, ihm zuzuhören. »Also, wenn dieser Fall eintritt, müsst ihr zum Oberpriester des Ptah-Tempels gehen. Er ist ein alter Freund unserer Familie, der schon meinen Vater kannte. Er verwahrt für mich eine Schriftrolle, in der belegt ist, dass euch meine Hälfte des Hauses gehört, wenn ich nicht mehr lebe und in das ewige Binsengefilde eingegangen bin. Außerdem habe ich ihm eine recht hohe Summe Geld anvertraut, von der ihr eine Weile leben könnt.«

»Aber warum hast du Heriset nichts von dem Geld angeboten, damit sie geht?«, fragte Nefret.

»Weil es euer Geld ist«, erwiderte Hekab. »Außerdem muss ich mich auf lange Auseinandersetzungen mit meiner Schwester über die Höhe der Summe gefasst machen. Das wird nicht so schnell gehen.«

Tamut und Nefret schauten ihren Vater bekümmert an. Da hörten sie, wie von der großen Barke Hekabs Name gerufen wurde. Hekab drückte seine Töchter innig und griff nach seinem Bündel, das er neben sich auf den Boden gestellt hatte. Dann eilte er an Bord. Noch lange stand er an der Reling und winkte den Zwillingen zu.

Das Schiff bewegte sich mithilfe der Ruderer rasch zur Mitte des Nils. Nur allzu rasch verschwand das rechteckige Segel hinter einer Biegung des Flusses.

Tamut und Nefret winkten auch noch, als von der Barke schon längst nichts mehr zu sehen war.

Auf dem Rückweg sprachen sie nicht viel. Die Aussicht, in den kommenden Wochen den Launen ihrer Tante ausgeliefert zu sein, bedrückte beide.

»Wenigstens sind wir Tante Heriset in einigen Wochen los«, sagte Nefret.

»Hoffentlich«, erwiderte Tamut.