Barbara Honigmann

Eine Liebe aus nichts

Roman

 

 

 

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
© Barbara Honigmann 1991

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

eBook ISBN 978-3-423-40378-8 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-13716-4

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website
www.dtv.de

Inhaltsübersicht

So, wie er es in einem ...

Erst seit wenigen Monaten, ...

Als der Lastwagen vor meinem ...

Auf dem Stadtplan von Paris, ...

Manchmal ist es mir fast unmöglich ...

In den ersten Wochen in Paris ...

In meiner braunen Handtasche, ...

Hier klemmt mir der Briefträger die ...

In einer der Regennächte, als ...

Am Gare de l’Est war immer ...

 

So, wie er es in einem hinterlassenen Brief – nicht etwa einem Testament, nur einem Brief, ein paar Zeilen auf einem karierten Zettel – gewünscht hat, ist mein Vater auf dem jüdischen Friedhof von Weimar nach den Vorschriften begraben worden. Auf dem kleinen Friedhof, der ein Stück weit von der Stadt liegt, ist seit Jahrzehnten niemand mehr begraben worden, und man konnte sich über den Wunsch meines Vaters nur wundern, denn er hatte in seinem ganzen Leben überhaupt keine Verbindung zum Judentum und nicht mal einen hebräischen Namen. Der Kantor, den man aus einer anderen Stadt hatte kommen lassen müssen, ein Jude aus Saloniki, der meinen Vater gar nicht gekannt und nie gesehen hat, fügte deshalb an den entsprechenden Stellen des hebräischen Singsangs einfach den deutschen Namen und lächerlicherweise auch noch den Doktortitel ein, und er hat keine der endlosen Wiederholungen ausgelassen und nicht aufgehört, mit seinem sefardischen Akzent immer von neuem den Namen meines Vaters zu entstellen.

Es war schwer zu glauben, daß dort in dem Sarg mein Vater liegen sollte, ich dachte, ich müsse ihn noch einmal sehen, ich müsse jemanden bitten, den Sarg wieder zu öffnen, damit ich ihn noch einmal sehen könnte, aber ich wagte es nicht, weil ich Angst hatte, ihn tot zu sehen, so wie ich schon Angst gehabt hatte, ihn krank zu sehen, denn ich mußte mich ja fragen, warum ich nicht früher gekommen war, es nicht wenigstens versucht hatte, vielleicht wäre es möglich gewesen, die »Berechtigung zum Erhalt eines Visums« schon eher zu bekommen, aber ich hatte nicht einmal danach gefragt, aus Angst, vielleicht war aber auch etwas von Rache dabei, denn mein Vater hatte mich ja auch verlassen, hatte mich auch betrogen, und warum hatte er in seinem Brief Mord unterstrichen?

Nach dem Begräbnis bin ich noch einmal zum Schloß Belvedere hinaufgegangen, dort hat mein Vater mit seiner letzten Frau gewohnt. Sie war Direktorin des Schloßmuseums, das es in Wirklichkeit gar nicht gab, weil die Restaurierungsarbeiten im Belvedere nie aufgehört und eigentlich nie begonnen hatten. Ihre Wohnung war unter dem Dach, gleich neben dem Tischleindeckdich, einem Speiseaufzug, den Goethe für Karl August hatte installieren lassen, damit sie oben auf der Dachterrasse picknicken konnten. Aus dem Fenster sieht man über den Park von Belvedere, wo der Ginkgo Biloba steht, den auch Goethe importieren und pflanzen ließ und auf den er das so berühmte Gedicht schrieb. Der Baum sieht aber ganz unauffällig und mickrig aus, und mein Vater und ich haben uns bei unseren Spaziergängen durch den Park oft gefragt, ob es wirklich »dieses Baums Blatt« in dem berühmten Gedicht gewesen sein kann, doch so steht es ja überall geschrieben, und jedermann dort sagt es immerzu.

Ich wollte das Zimmer meines Vaters noch einmal sehen und mir ein Erinnerungsstück mitnehmen, aber es war schwer und trostlos, etwas herauszusuchen, seine Kleider lagen in dem Raum so verloren herum, wie sein Körper jetzt war, und auch all die anderen Gegenstände, die zu seinem Leben gehört hatten und eine Erinnerung daran trugen, erschienen mir nur wie abgefallene Stücke, die ihren Halt verloren und nun keinen Sinn mehr hatten; eine Weile werden sie noch hin und her geschoben, in die Hand genommen und dann doch wieder weggelegt. Das oder jenes nahm ich auf, sah es an, drehte und wendete es, ob nicht irgend etwas Lebendiges noch darin zu finden sei, das ich herauslocken könnte, wie ein kleines Kind, wenn es ein neues Ding findet und es schüttelt und ans Ohr hält und in den Mund nimmt und darauf beißt, weil es nicht weiß, woher seine Wirkung kommen wird, und noch alles von dem unbekannten Gegenstand erwartet. Aber ich begriff, daß die Erinnerung aus den Gegenständen herausgefallen war; jetzt würden sie weggeworfen werden oder weggeschenkt, und andere Leute können ihre Geschichte wieder neu hineinlegen, aber die Geschichte meines Vaters war darin zu Ende, in den Dingen hielt sie sich nicht mehr.

In einer Schublade fand ich ein kleines, in rotes Leder gebundenes Notizbuch, ein englischer Taschenkalender aus der Emigrationszeit, den nahm ich mir und außerdem die russische Armbanduhr, die er immer getragen hatte. Sie war ein Geschenk von Jefim Fraenkel, dem Germanisten aus Moskau, mit dem mein Vater in den ersten Jahren nach dem Krieg im Sowjetischen Nachrichtenbüro in der russischen Besatzungszone zusammengearbeitet hatte. Als das Sowjetische Nachrichtenbüro aufgelöst und Jefim Fraenkel nach Moskau zurückgekehrt war, wurde er ins Lager und in die Verbannung geschickt, aber das erfuhr mein Vater erst zwanzig Jahre später, als sie sich zum erstenmal wiedertrafen. Da besuchte Jefim Fraenkel ihn in Weimar, und bei dieser Gelegenheit hatte er ihm die Uhr geschenkt, und mein Vater hatte in der »Jugendmode« drei Paar Jeans für Fraenkels Söhne in Moskau gekauft.

Jetzt war die Uhr stehengeblieben und nicht mehr aufzuziehen, deshalb habe ich sie hier in Paris gleich zur Reparatur gebracht. Der Uhrmacher hat sie mir wieder hergerichtet, aber er machte abfällige Bemerkungen über die russischen Uhren; sie seien zwar solide, sagte er, aber im Inneren grob und ohne Kunstfertigkeit. Und dann hat er mich gefragt, ob ich von dort käme, und ich habe geantwortet, nein, nein, aber woher denn, daher käme ich nicht.