Der Pflichtwidrigkeitsvorsatz der Untreue

Zugleich ein Beitrag zur gesetzlichen Bestimmtheit des § 266 StGB

 

von

Lasse Dinter

 

 

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Der Pflichtwidrigkeitsvorsatz der Untreue › Herausgeber

Schriften zum Wirtschaftsstrafrecht

 

Herausgegeben von

Prof. Dr. Mark Deiters, Münster

Prof. Dr. Thomas Rotsch, Gießen

Prof. Dr. Mark Zöller, Trier

Impressum

Erster Berichterstatter: Prof. Dr. Mark Deiters
Zweiter Berichterstatter: Prof. Dr. Michael Heghmanns
Dekan: Prof. Dr. Hans-Michael Wolffgang
Tag der mündlichen Prüfung: 10. Juni 2011

D 6

 

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Vorwort

Die Arbeit wurde von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster im Sommersemester 2011 als Dissertation angenommen. Sie entstand im Wesentlichen in den Jahren 2008 bis 2010 in Münster, insbesondere im Laufe meiner Tätigkeit als Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, insb. Wirtschaftsstrafrecht (KR1).

Hervorragend betreut wurde ich von meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Mark Deiters, der sich wie selbstverständlich stets Zeit für Besprechungen nahm und dessen kluger und verlässlicher Rat mir so manchen Umweg ersparte; ihm sei von Herzen gedankt!

Als geduldige Gesprächspartner standen mir zudem meine Freunde und Kollegen zur Seite, die mir in unterschiedlicher Weise wertvolle Hilfe leisteten und so zum Gelingen der Arbeit beitrugen: Annette, Nicole, Marius und Nico – danke! Ganz besonders danken möchte ich Herrn Daniel David, mit dem ich in unzähligen Kaffeepausen beherzt diskutieren konnte und der meine zwischenzeitlich gewonnenen Erkenntnisse auf eine harte Probe stellte. Zu erwähnen ist auch Herr RA Thomas Holle, der als Strafverteidiger mein Interesse für die Juristerei überhaupt erst weckte.

Zu danken habe ich ferner Herrn Prof. Dr. Michael Heghmanns für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Im Übrigen freue ich mich über die Aufnahme in die neue Schriftenreihe des C.F. Müller Verlags „Schriften zum Wirtschaftsstrafrecht“ und bedanke mich bei den Herausgebern Prof. Dr. Thomas Rotsch, Prof. Dr. Mark Deiters und Prof. Dr. Mark Zöller.

Gewidmet ist dieses Buch meinen Eltern, Christa Maria und Hans-Joachim Dinter, die zu jeder Zeit liebevoll hinter mir stehen und deren Vertrauen mich schon so weit getragen hat.

November 2011

Bremen        Lasse Dinter

 

 

 

 

Meinen Eltern

Inhaltsverzeichnis

 Vorwort

Teil 1Einführung in die Problematik

 A.Einleitung

 B.Die Bedeutung der dogmatischen Einordnung der Pflichtwidrigkeit

  I.§ 266 als „gesetzlicher Tatbestand“ (§ 16 Abs. 1)

  II.§ 266 als „Garantietatbestand“ (Art. 103 Abs. 2 GG)

 C.Grundlagen

  I.Der Tatbestand der Untreue, § 266 Abs. 1

  II.Begriffsbestimmung

   1.Blankettmerkmale

   2.Normative Tatbestandsmerkmale

   3.Gesamttatbewertende Merkmale

 D.Verlauf der Untersuchung

Teil 2Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum

 A.Die Vorsatzmodelle beim Pflichtwidrigkeitsmerkmal

  I.Formale Abgrenzung der Vorsatzmodelle

   1.Kompetenzsprung als Abgrenzungskriterium

   2.Ort der Rechtsquelle

    a)Die reichsgerichtliche Irrtumsrechtsprechung

    b)Die Substituierbarkeitsthese

   3.Art der Verweisung

    a)Ausdrückliche und konkludente Verweisungen

    b)Statische und dynamische Verweisungen

   4.Zwischenergebnis

  II.Materielle Abgrenzung der Vorsatzmodelle

   1.Die Lehre vom Regelungseffekt

   2.Die verhaltensnormenvermittelnde Eigenschaft des Verweisungsmerkmals

    a)Die Auswahl des Vorsatzmodelles als rechtspolitische Entscheidung

    b)Das Irrtumskonzept der Schuldtheorie

    c)„Schutzrichtungsidentität“ der Ausfüllungsvorschrift

  III.Zwischenergebnis

 B.Bestimmung der untreueerheblichen Verhaltensnorm

  I.Verhaltensnorm und Verhaltenspflicht

  II.Bestimmung der Verhaltensnorm nach Binding und Puppe

  III.Teleologische Bestimmung der Verhaltensnorm

   1.Das allgemeine Schädigungsverbot als Verhaltensnorm

   2.Folgerungen für den Pflichtwidrigkeitsvorsatz

  IV.Zur Akzessorietät des § 266

  V.Zwischenergebnis

Teil 3Der Vorsatzgegenstand der Pflichtwidrigkeit

 A.Der Vorsatzgegenstand bei verhaltensnormenvermittelnden Merkmalen

  I.Legitimität der Appellfunktion des Tatbestandsvorsatzes

  II.Der „Experte“ als Maßstabsfigur des Unrechtsappells

 B.Vorsatzgegenstand der Verweisungsobjekte in § 266

  I.Verweisung auf gesetzliche Vermögensbetreuungspflichten

  II.Verweisung auf rechtsgeschäftliche Vermögensbetreuungspflichten

   1.Unkenntnis von Existenz und Inhalt der rechtsgeschäftlichen Pflicht

   2.Wiederholung gesetzlicher Pflichten durch Rechtsgeschäft

   3.Wiederholung elementarer gesellschaftlicher Pflichten

  III.Verweisung auf Vermögensbetreuungspflichten aus behördlichem Auftrag und Treueverhältnis

 C.Zwischenergebnis

Teil 4Verfassungsrechtliche Probleme des Pflichtwidrigkeitsmerkmals

 A.Verweisungen im verfassungsrechtlichen Sachzusammenhang

 B.Der Verweis auf Vermögensbetreuungspflichten anderer Instanzen

  I.Vorüberlegungen

  II.Rechtsgeschäftliche Vermögensbetreuungspflichten

  III.Vermögensbetreuungspflichten aus ausländischen Gesetzen

  IV.Zwischenergebnis

 C.Der Verweis auf unbestimmte Vermögensbetreuungspflichten

  I.Vorüberlegungen

   1.Die Schwierigkeit einer „optimalen“ Tatbestandsfassung des § 266

   2.Die Blanketteigenschaft des § 266 als legislatorischer Kompromiss

  II.Folgerungen für den Tatbestand des § 266

   1.Sicherstellung der gesetzlichen Bestimmtheit auf objektiver Tatbestandsseite

    a)Erfordernis einer gravierenden Pflichtverletzung

    b)Kriterium der Vertretbarkeit und Evidenz

     aa)Problem der Auslegungskompetenz des Strafrichters

     bb)Probleme bei der Feststellung objektiv-„evidenter“ Pflichtverstöße

   2.Sicherstellung der gesetzlichen Bestimmtheit auf subjektiver Tatbestandsseite

    a)Viktimodogmatische Betrachtung unbestimmter Verhaltensgebote

    b)Unbestimmte Verhaltensgebote als tatbewertende Merkmale

    c)Sichere Kenntnis vom Pflichtverstoß

    d)Einwände gegen das Erfordernis sicherer Kenntnis vom Pflichtverstoß

   3.Schutzniveau des subjektiven Restriktionsansatzes

  III.Zwischenergebnis

  IV.Zusammenfassung

 Literaturverzeichnis

 Stichwortverzeichnis

Teil 1 Einführung in die Problematik

Teil 1 Einführung in die Problematik › A. Einleitung

A. Einleitung

1

Die Irrtumslehre wird in der Strafrechtswissenschaft seit jeher als wichtiges, aber auch reichlich umstrittenes Problemfeld wahrgenommen. Schon Binding resümierte im Jahre 1913, dass „kein Gebiet so voll von Streit, größter Unsicherheit und verkannter oder dissimulierter Ungerechtigkeit [ist], als gerade die Lehre vom Irrtum bei Delikten.“[1] Betrachtet man die Gegenwart, wird nicht ohne Berechtigung festzustellen sein, dass die Lehre vom Irrtum der Wissenschaft und Praxis auch heute noch erhebliche Probleme bereitet.[2] Dies gilt im Besonderen für den Irrtum über die Unerlaubtheit der Handlung. Die Einführung der §§ 16, 17 im Jahre 1975 in das StGB und die damit verbundene Entscheidung des Gesetzgebers für die sog. Schuldtheorie führten mitnichten dazu, dass fortan jeder Rechtsirrtum lediglich die Schuldebene berührt. Nach wie vor wird um die Antwort gerungen, in welchen Fällen der Irrtum über die Unerlaubtheit der Handlung bereits einen „Umstand“ im Sinne des § 16 Abs. 1 betrifft und somit Tatbestands- und nicht lediglich Verbotsirrtum ist.

Manches Rechtsproblem braucht sein zeitgeschichtliches Ereignis, um im wissenschaftlichen Diskurs hinreichende Beachtung zu finden. Veranlasste etwa die Parteispendenaffäre um Flick in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts strafrechtliche Literatur zum Irrtum über steuerrechtliche Rechtsfragen im Kontext des § 370 AO,[3] darf heute das Mannesmann-Urteil für den bis dahin nicht näher problematisierten Irrtum über die Pflichtwidrigkeit gem. § 266 stehen. Schünemann moniert in seiner 1998 erschienenen Kommentierung des § 266 mit Recht die fehlende Behandlung dieses – „eine Reihe schwierigster dogmatischer Fragen“[4] aufwerfenden – Problems in der Lehrbuch- und Kommentarliteratur.[5]

2

Dem Mannesmann-Urteil[6] des BGH lag das Urteil[7] des Landgerichts Düsseldorf zugrunde. Nach dessen Feststellungen übernahm das Mobilfunkunternehmen Vodafone plc. Anfang des Jahres 2000 nach längerem Übernahmekampf einvernehmlich die Anteile des Industrieunternehmens Mannesmann AG. Kurze Zeit nach der Einigung beschlossen drei Angeklagte in ihrer Funktion als Mitglieder des Aufsichtsratsausschusses für Vorstandsangelegenheiten (Präsidium) der Mannesmann AG mit Zustimmung der Geschäftsleitung der Vodafone plc. und auf Vorschlag eines Großaktionärs freiwillige Anerkennungsprämien in Millionenhöhe u. a. an den damaligen Vorstandsvorsitzenden der Mannesmann AG. Sie wollten dadurch die Verdienste des Vorstandsvorsitzenden etwa im Hinblick auf die Steigerung des Unternehmenswertes unter seiner Leitung honorieren. Auf Wunsch eines am Beschluss beteiligten Angeklagten wurde auch ihm eine Anerkennungsprämie gewährt. Die Angeklagten gingen davon aus, dass die Entscheidungen aufgrund ihres unternehmerischen Ermessenspielraums erlaubt seien.

Die Staatsanwaltschaft Düsseldorf warf den Angeklagten vor, sich durch die Gewährung der Anerkennungsprämien der Untreue zu Lasten der Mannesmann AG schuldig gemacht zu haben. Das Landgericht Düsseldorf sprach die Angeklagten hingegen frei. Die Gewährung der Anerkennungsprämien sei zwar aktienrechtlich unzulässig gewesen, den Angeklagten könne jedoch nur im Hinblick auf die finanzielle Zuwendung gegenüber dem Präsidiumsmitglied der Mannesmann AG eine „gravierende“ Pflichtverletzung vorgeworfen werden. Eine „gravierende“ Pflichtverletzung sei im Rahmen einer unternehmerischen Entscheidung zur Verwirklichung des § 266 indes erforderlich. Die Angeklagten haben nach Auffassung des Landgerichts insoweit allerdings in einem schuldausschließenden Verbotsirrtum gehandelt.[8]

3

Der 3. Strafsenat des BGH hob das Urteil mit der Begründung auf, § 266 setze im Kontext unternehmerischer Entscheidungen keine „gravierende“ Pflichtverletzung voraus. Durch die dienstvertraglich nicht geschuldete Gewährung einer Anerkennungsprämie ohne künftigen Nutzen für das Unternehmen werde überdies die Vermögensbetreuungspflicht der Präsidiumsmitglieder verletzt.[9]

Der 3. Strafsenat des BGH behandelt zudem die Frage, ob die irrtümliche Annahme der Angeklagten, ihr Handeln sei erlaubt, Tatbestands- oder Verbotsirrtum ist. Der Senat enthielt sich einer konkreten Antwort mit dem Hinweis darauf, dass „[e]ine sachgerechte Einordnung etwaiger Fehlvorstellungen oder -bewertungen der Angeklagten […] sich nicht durch schlichte Anwendung einfacher Formeln ohne Rückgriff auf wertende Kriterien und differenzierende Betrachtungen erreichen lassen [wird].“[10] Welche wertenden Kriterien zur Beurteilung hinzugezogen werden sollen, ließ der Senat offen.

4

Eine klare Antwort auf die Vorsatzfrage könnte sich aus der dogmatischen Ausgestaltung des Pflichtwidrigkeitsmerkmals ergeben. Nicht nur das Mannesmann-Urteil, auch die im Zuge der EuGH-Rechtsprechung in Sachen Inspire Art[11], Centros[12] und Überseering[13] immer häufiger gestellte Frage nach den Grenzen zulässiger Fremdrechtsanwendung auch im Rahmen der Untreue, etwa im Fall des Geschäftsleiters einer EU-Auslandsgesellschaft,[14] haben das Problem der dogmatischen Einordnung des Pflichtwidrigkeitsmerkmals in § 266 inzwischen erheblich an Aktualität gewinnen lassen. Es erstaunt nicht, dass sich in jüngster Zeit vermehrt Äußerungen zu dessen Rechtsnatur finden lassen.[15] Das Pflichtwidrigkeitsmerkmal der Untreue wird im Kontext verschiedener Sachfragen als normatives Tatbestandsmerkmal[16], als Blankett- bzw. „blankettartiges“ Merkmal[17] oder als gesamttatbewertendes Merkmal[18] eingestuft[19] – freilich nicht selten ohne nähere Begründung.

Auch in der Rechtsprechung lässt sich bislang keine einheitliche Antwort verzeichnen. Das OLG Stuttgart identifiziert § 266 im Hinblick auf die zeitliche Geltung von Strafgesetzen (§ 2 Abs. 3) „eindeutig“[20] als Blankettstrafgesetz, der 5. Strafsenat des BGH[21] und das BVerfG ordnen das Pflichtwidrigkeitsmerkmal im Zusammenhang mit Art. 103 Abs. 2 GG demgegenüber als ein („komplexes“[22]) normatives Tatbestandsmerkmal ein. Bezüglich des gesetzlichen Tatbestandes gem. § 16 Abs. 1 stehen nach wie vor kategorisierende Stellungnahmen in der Rechtsprechung aus.

Teil 1 Einführung in die Problematik › B. Die Bedeutung der dogmatischen Einordnung der Pflichtwidrigkeit

B. Die Bedeutung der dogmatischen Einordnung der Pflichtwidrigkeit

5

Die Rechtsnatur des Pflichtwidrigkeitsmerkmals aus § 266 Abs. 1 wird in der vorliegenden Untersuchung in erster Linie unter dem Gesichtspunkt des Vorsatzes („gesetzlicher Tatbestand“, § 16 Abs. 1 S. 1) erörtert. Durch den verweisenden Charakter des Pflichtwidrigkeitsmerkmals auf Vermögensbetreuungspflichten, die ihrerseits von unterschiedlichem Bestimmtheitsgrad geprägt und von verschiedenen Rechtssubjekten begründet (Private) bzw. erlassen (nationaler oder ausländischer Gesetzgeber) sein können, erfährt seine dogmatische Kategorisierung jedoch auch unter dem Aspekt des Bestimmtheitsgrundsatzes aus Art. 103 Abs. 2 GG („Garantietatbestand“) Relevanz.[23]

Teil 1 Einführung in die Problematik › B › I. § 266 als „gesetzlicher Tatbestand“ (§ 16 Abs. 1)

I. § 266 als „gesetzlicher Tatbestand“ (§ 16 Abs. 1)

6

Die dogmatische Erfassung des Pflichtwidrigkeitsmerkmals ist für die Funktion des Tatbestandes relevant, diejenigen Merkmale zu beschreiben, deren Unkenntnis vorsatzausschließend ist.[24] Die Pflichtwidrigkeit der untreuerelevanten Handlung muss nach § 15 vom Vorsatz des Täters umfasst sein. Unbeantwortet bleibt insoweit allerdings, was der vorsatzrechtliche Bezugspunkt – der Gegenstand – des Pflichtwidrigkeitsmerkmals ist. Im Unterschied zum normativen Tatbestandsmerkmal, bei dem der Täter den rechtlich-sozialen Bedeutungsgehalt des Tatumstandes – hier die Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht – nach Laienart richtig erfassen muss,[25] sind im Fall der Qualifizierung des Pflichtwidrigkeitsmerkmals als Blankett nach h.M. geringere Anforderungen an den Vorsatz zu stellen. Ausreichend ist es, dass der Täter Kenntnis von den strafbarkeitsbegründenden bzw. pflichtwidrigkeitsbegründenden Tatsachen hat.[26] Dem entspricht nach überwiegender Ansicht die Einordnung der Pflichtwidrigkeit als ein tatbewertendes Merkmal: Der Täter muss zwar das rechtlich missbilligte Risiko, nicht aber dessen rechtliche Missbilligung erkannt haben.[27]

7

In der Rechtsprechung wurde im vorsatzrechtlichen Zusammenhang auf eine dogmatische Kategorisierung des Pflichtwidrigkeitsmerkmals bislang verzichtet. Lediglich als Indiz kann die rechtliche Behandlung des Irrtums über die Pflichtwidrigkeit der Untreue seitens der Gerichte gewertet werden. Wird ein solcher Irrtum als Tatbestandsirrtum[28] eingestuft, spricht dies für die Einordnung als normatives Tatbestandsmerkmal. Wird auf ihn hingegen die Rechtsfolge des § 17 angewendet,[29] liegt die Kategorisierung als Blankett- bzw. tatbewertendes Merkmal nahe.

Näher hat sich der 3. Strafsenat des BGH im Mannesmann-Urteil zur Rechtsfolge des Irrtums über die Pflichtwidrigkeit geäußert. Dort führt er aus:

„Je nach dem Stand ihrer (Un-)Kenntnis von den Tatsachen und der eigenen (Fehl-) Bewertung ihres Verhaltens könnten [die Angeklagten] in einem den Vorsatz und damit die Strafbarkeit ausschließenden Tatbestandsirrtum (§§ 15, 16 StGB) oder in einem vermeidbaren oder unvermeidbaren Verbotsirrtum (§ 17 StGB) gehandelt haben. Die Abgrenzung im Einzelnen dürfte sich als schwierig erweisen, wie dies bei Tatbeständen mit stark normativ geprägten objektiven Tatbestandsmerkmalen (hier in § 266 Abs. 1 StGB die Verletzung der Pflicht, die Vermögensinteressen wahrzunehmen) häufig der Fall ist und gerade für den zu beurteilenden Sachverhalt auch durch entgegen gesetzte Stellungnahmen in der Literatur belegt wird.“[30]

8

Die Pflichtverletzung des § 266 stellt laut BGH ein „stark normativ geprägt[es] objektives Tatbestandsmerkmal“[31] dar. Prima vista fasst der BGH damit die Pflichtverletzung als normatives Tatbestandsmerkmal auf. Allerdings sagt die Normativität eines Tatbestandsmerkmals noch wenig über den Charakter des Merkmals aus. Auch Blankett- bzw. tatbewertende Merkmale sind insofern „normativ“, als sie durch die Hinzunahme einer außertatbestandlichen Wertung auszufüllen sind. Zudem stimmt die Einordnung der Pflichtverletzung als normatives Tatbestandsmerkmal nicht mit den Ausführungen des BGH zum Irrtum über die Pflichtverletzung überein:

„Die Annahme etwa, dass jede (worin auch immer begründete) fehlerhafte Wertung, nicht pflichtwidrig zu handeln, stets zum Vorsatzausschluss führt, weil zum Vorsatz bei der Untreue auch das Bewusstsein des Täters gehöre, die ihm obliegende Vermögensfürsorgepflicht zu verletzen, kann nicht überzeugen. Umgekehrt könnte der Senat auch der Auffassung nicht folgen, dass es für die Bejahung vorsätzlichen Handelns ausreicht, wenn der Täter alle die objektive Pflichtwidrigkeit seines Handelns begründenden tatsächlichen Umstände kennt und dass seine in Kenntnis dieser Umstände aufgrund unzutreffender Bewertung gewonnene fehlerhafte Überzeugung, seine Vermögensbetreuungspflichten nicht zu verletzen, stets nur als Verbotsirrtum zu werten ist.“[32]

Der Irrtum darüber, nicht pflichtgemäß zu handeln, führt nach Auffassung des 3. Strafsenats also keineswegs stets zu einem Tatbestandsirrtum. Dies wäre hingegen die zwingende Folge des Irrtums über ein normatives Tatbestandsmerkmal. Der BGH ist vielmehr geneigt, diesen Irrtum als Verbotsirrtum zu bewerten:[33]

„War den Präsidiumsmitgliedern – was allerdings kaum anders vorstellbar sein dürfte – bewusst, dass die Sonderzahlungen für die Mannesmann AG in der gegebenen Situation (Übernahme des Unternehmens durch Vodafone und Ausscheiden von Dr. Esser) ohne jeden Nutzen war, so dürfte ihre irrige Annahme, zur Bewilligung der Prämien gleichwohl berechtigt gewesen zu sein, den Vorsatz unberührt lassen und lediglich einen Verbotsirrtum begründen.“[34]

Deutet man die Kenntnis von der Nutzlosigkeit der Sonderzahlung als ausreichende, „laienhafte“ Bewertung des Tatbestandsmerkmals „Pflichtverletzung“,[35] entspräche das Vorstellungsbild der Täter nicht nur den vorsatzrechtlichen Voraussetzungen eines Blankett- bzw. tatbewertenden Merkmals, sondern zugleich denen eines normativen Tatbestandsmerkmals. Zu dieser Sachverhaltsinterpretation – ohne dies als Revisionsinstanz feststellen zu müssen[36] – neigt der 3. Strafsenat:

„Wer als Verwalter fremden Vermögens in Kenntnis seiner Vermögensfürsorgepflicht eine Maßnahme trifft, die dem Inhaber des betreuten Vermögens keinen Vorteil bringen kann und deswegen einen sicheren Vermögensverlust bedeutet, kennt nicht nur die Tatsachen, die rechtlich als Verletzung der Vermögensfürsorgepflicht zu bewerten sind. Er weiß, weil das Verbot, alles das Vermögen sicher und ausnahmslos Schädigende zu unterlassen, zentraler Bestandteil der Vermögensfürsorgepflicht ist, vielmehr zugleich auch, dass er diese seine Pflicht verletzt.“[37]

Die Vorstellung der Täter, gleichwohl zur Gewährung von Anerkennungsprämien in genanntem Umfang berechtigt zu sein, fiele dann – wie der 3. Strafsenat zutreffend anmerkt[38] – in den Anwendungsbereich des § 17 und wäre Verbotsirrtum.

9

Der Rückschluss von der Behandlung des Irrtums über die Pflichtwidrigkeit in der Rechtsprechung auf die zutreffende Begriffskategorie des Pflichtwidrigkeitsmerkmals kann aber im Allgemeinen nur ein schwaches Indiz darstellen. Nicht sonderlich aussagekräftig ist er deshalb, weil zum einen nicht unerhebliche Unterschiede im Begriffsverständnis normativ geprägter Tatbestandsmerkmale bestehen können[39] und zum anderen die gängigen Irrtumsregeln der entsprechenden Tatbestandsmerkmale von der Rechtsprechung nicht konsequent angewendet werden. So wird § 370 AO zwar als Blankettstrafgesetz identifiziert („Steuerstrafrecht ist Blankettstrafrecht“[40]), Anwendung finden jedoch die Irrtumsfolgen eines normativen Tatbestandsmerkmals.[41]

Da sich der 3. Strafsenat des BGH ohnedies eines Rückgriffs auf „einfache“ Formeln ausdrücklich verschließen möchte, wird man aus der Rechtsfolge des Irrtums über die Pflichtwidrigkeit keinen zulässigen Schluss auf die möglicherweise zugrunde liegende dogmatische Einordnung des Pflichtwidrigkeitsmerkmals ziehen dürfen. Im Gegenteil, eine solche Handhabung könnte der vom Senat eingeforderten „differenzierenden“ Betrachtung widersprechen.

Teil 1 Einführung in die Problematik › B › II. § 266 als „Garantietatbestand“ (Art. 103 Abs. 2 GG)

II. § 266 als „Garantietatbestand“ (Art. 103 Abs. 2 GG)

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Erheblich ist die Einordnung des Pflichtwidrigkeitsmerkmals zudem für die Garantiefunktion des Tatbestands. Ein Strafgesetz genügt danach nur dann dem aus Art. 103 Abs. 2 GG fließenden Gebot nullum crimen sine lege, wenn das verbotene Verhalten präzise bezeichnet wird.[42] Ist die Pflichtwidrigkeit normatives Tatbestandsmerkmal, findet Art. 103 Abs. 2 GG auf die von diesem Merkmal in Bezug genommenen Vorschriften keine Anwendung.[43] Den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG müsste allein der Straftatbestand genügen.[44] Wäre § 266 hingegen ein Blankettstrafgesetz, müssten sich sowohl der Straftatbestand als auch die Ausfüllungsvorschrift an Art. 103 Abs. 2 GG messen lassen.[45] Auf tatbewertende Merkmale findet der Bestimmtheitsgrundsatz dergestalt Anwendung, dass sich das außerrechtliche Werturteil mit der allgemeinen Überzeugung decken muss. Strafbarkeitsbegründend sind danach nur gesicherte (Wert-)Urteile; Einzel- und Sonderansichten bleiben außer Betracht.[46] Die Kategorisierung des Pflichtwidrigkeitsmerkmals erlangt mithin auch auf der objektiven Tatbestandsseite des § 266 Relevanz.

Teil 1 Einführung in die Problematik › C. Grundlagen

C. Grundlagen

11

Die Identifizierung des Pflichtwidrigkeitsmerkmals in § 266 als normatives Tatbestandsmerkmal, als Blankett- bzw. tatbewertendes Merkmal erlangt für den gesetzlichen Tatbestand und Garantietatbestand nach überwiegender Ansicht zentrale Bedeutung. Zum Verständnis ist es daher sinnvoll, sich zunächst mit dem Tatbestand des § 266 und den grundlegenden Begrifflichkeiten näher vertraut zu machen.

Teil 1 Einführung in die Problematik › C › I. Der Tatbestand der Untreue, § 266 Abs. 1

I. Der Tatbestand der Untreue, § 266 Abs. 1

12

Der Tatbestand des § 266 ist unübersichtlich gestaltet. Nur mit Mühe sind die einzelnen Tatbestandsmerkmale der beiden Varianten herauszulesen. Das Verständnis der Strafvorschrift wird erleichtert, wenn die drei Satzteile gesondert betrachtet werden. Der erste Satzteil betrifft die „Missbrauchsvariante“ der Untreue:

Wer die ihm durch Gesetz, behördlichen Auftrag oder Rechtsgeschäft eingeräumte Befugnis, über fremdes Vermögen zu verfügen oder einen anderen zu verpflichten, mißbraucht […].

Der zweite Satzteil wird als „Treubruchsvariante“ bezeichnet:

[…] oder die ihm kraft Gesetzes, behördlichen Auftrags, Rechtsgeschäfts oder eine Treueverhältnisses obliegende Pflicht, fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen, verletzt […].

Der dritte Satzteil bezieht sich im Ausgangspunkt auf beide Varianten:

[…] und dadurch dem, dessen Vermögensinteressen er zu betreuen hat, Nachteil zufügt, […].

Lange Zeit war unklar, ob auch für die Missbrauchsvariante die aus dem Relativsatz des dritten Satzteils gelesene Vermögensbetreuungspflicht zu fordern ist. Die Antwort ist davon abhängig, ob dem Relativsatz im dritten Satzteil auch für die Missbrauchsvariante eigenständige Bedeutung zukommt und bejahendenfalls, ob sich die inhaltlichen Anforderungen an die Vermögensbetreuungspflicht in der Missbrauchs- und Treubruchvariante gleichen.

Während mittlerweile Einigkeit darüber herrscht, dass der Relativsatz ein selbstständiges Tatbestandsmerkmal in Form der „Vermögensbetreuungspflicht“ beschreibt und daher nicht etwa bloß formal die Person des Geschädigten bezeichnet,[47] ist die Frage nach den Anforderungen an die Vermögensbetreuungspflicht in der Missbrauchsvariante streitig geblieben. Dieses Rechtsproblem ist Ausdruck der Uneinigkeit darüber, ob die Missbrauchs- und die Treubruchvariante jeweils selbstständige Tatbestände bilden.

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Die Untreuevarianten basieren auf zwei Theorien, mit denen vor Erlass des § 266 in jetziger Fassung im Jahre 1933[48] versucht wurde, das Wesen der Untreue etwa in Abgrenzung zur Unterschlagung herauszustellen: die sog. Missbrauchs- und die Treubruchtheorie.[49] Ausgangspunkt war die umstrittene Auslegung des § 266 Nr. 2 der seit 1871 bis 1933 geltenden Untreue-Fassung. Danach machte sich der „Bevollmächtigte“ strafbar, der „über Forderungen oder andere Vermögensstücke des Auftraggebers absichtlich zum Nachteil desselben [verfügte]“, wobei im Streit stand, ob der Täter rechtsgeschäftlich wirksam über fremde Vermögensstücke verfügt haben musste. Die Anhänger der sog. Missbrauchstheorie sahen das Wesen der Untreue in der Vermögensschädigung durch Missbrauch rechtlicher Vertretungsmacht,[50] bejahten mithin dieses Erfordernis. Demgegenüber fassten die Vertreter der sog. Treubruchtheorie das Wesen der Untreue weiter und erkannten in der Untreue die vermögensschädigende Verletzung der Rechtspflicht zur Fürsorge für fremdes Vermögen.[51] Danach reichte es aus, auch in anderer Weise als rechtsgeschäftlich nachteilig auf das Vermögen des Auftraggebers einzuwirken, um „Beauftragter“ zu sein.

In der Neufassung des § 266 vom 26. Mai 1933[52] wurden die beiden Theorien vom Gesetzgeber in Absatz 1 des § 266 übernommen. Fortan wurden die Untreuevarianten überwiegend als selbstständige Tatbestände qualifiziert[53] (sog. ältere dualistische Theorie[54]), bis der BGH im Jahre 1972 in der Scheckkarten-Entscheidung[55] auch für die Missbrauchsvariante eine dem Treubruchtatbestand entsprechende Vermögensbetreuungspflicht verlangte und damit der Ansicht das Wort sprach, wonach die Missbrauchsvariante lediglich ein Unterfall der Treubruchvariante sei (sog. monistische Theorie)[56]. Diese Ansicht findet bis heute breite Gefolgschaft auch in der Literatur, sodass die monistische Theorie als herrschend bezeichnet werden darf.[57]

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Das Urteil stieß allerdings auch auf erheblichen Widerspruch. In der Literatur ist zwar anerkannt, dass sich der Relativsatz im dritten Satzteil auch auf den Missbrauchstatbestand bezieht und insoweit auch der Täter der Missbrauchsvariante Inhaber einer Vermögensbetreuungspflicht sein muss. Die Untreuevarianten verblieben jedoch selbstständige Tatbestände. Es überrascht daher nicht, wenn in der Literatur geringere Anforderungen an die Vermögensbetreuungspflicht des Missbrauchstäters gestellt werden und sie etwa mit der rechtmäßigen Ausübung der eingeräumten Befugnis gleichsetzen (sog. neuere dualistische Theorie)[58] oder die Fremdnützigkeit der Dispositionsbefugnis des Täters fordern und diese als Inhalt der Vermögensbetreuungspflicht des Täters der Missbrauchsvariante ausreichen lassen.[59]

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Einen anderen Ansatz verfolgt Schünemann. Er konzediert das dualistische Untreuekonzept, möchte dieses jedoch gemeinsam mit der monistischen Theorie zu einer typologischen Theorie weiterentwickeln. Das Untreueunrecht wird danach als ein Typus begriffen. Ein Typusbegriff zeichne sich durch mehrere für sich selbst abstufbare Merkmale aus, die nur durch fallgebundene Ähnlichkeitsregeln konkretisiert werden können. Die Merkmale (auch Dimensionen genannt) können verschiedener Ausprägung sein, sodass ein Merkmal mit besonders starker Ausprägung eines mit schwächerer Ausprägung kompensieren und gleichwohl der Typusbegriff bejaht werden könne.[60]

Die Merkmale des Untreueunrechts erkennt Schünemann in der rücksichtslosen Ausübung von Herrschaft über fremdes Vermögen, welche beide Untreuevarianten gleichermaßen auszeichne.[61] Herrschaft begreift er als „eingeräumte Zugriffsmöglichkeit bei Abwesenheit von Kontrolle“[62]. Lediglich die Art der Herrschaft unterscheide sich in § 266 darin, dass die Missbrauchsvariante eine rechtsgeschäftliche, die Treubruchvariante hingegen eine nichtrechtsgeschäftliche Herrschaft erfordere. Das Verhältnis zwischen der Missbrauchs- und der Treubruchvariante sei sodann vom Einzelfall abhängig.[63] Schünemanns typologische Theorie hat konkrete Auswirkungen bei der Auslegung der Pflichtwidrigkeit des § 266, die seines Erachtens strafrechtsautonom zu erfolgen habe und an gegebener Stelle problematisiert wird.[64]

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Eine erneute Erörterung der Streitfrage nach den Anforderungen der Vermögensbetreuungspflicht in der Missbrauchsvariante kann im Rahmen dieser Untersuchung unterbleiben.[65] Ausreichend ist die Feststellung, dass nach allen Ansichten Täter der Untreue derjenige ist, der in vermögensschädigender Weise eine (irgendwie ausgestaltete) Vermögensbetreuungspflicht vorsätzlich verletzt; in der Missbrauchsvariante durch rechtsgeschäftliches Handeln, in der Treubruchvariante durch sonstiges Verhalten. Daher ist es auch gerechtfertigt, die von § 266 beschriebene Tathandlung verkürzt mit der Pflichtwidrigkeit oder -verletzung zu kennzeichnen.[66] Besteht über die tatbestandliche Struktur der Untreue insoweit Einigkeit, stellt sich nach allen Ansichten die Frage, in welcher Weise § 266 an seine Verweisungsobjekte dogmatisch anknüpft.[67]

Teil 1 Einführung in die Problematik › C › II. Begriffsbestimmung

II. Begriffsbestimmung

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Dass der Rechtsnatur eines Tatbestandsmerkmals im vorsatzrechtlichen Sachzusammenhang eine derart wichtige Bedeutung zukommt, ist auf die Entwicklung der Irrtumslehre seit Beginn des 20. Jahrhunderts zurückzuführen. Die Strafrechtswissenschaft wandte sich seinerzeit von der Dichotomie der Irrtumslehre (Rechts- und Tatirrtum) des Reichsgerichts ab und begann die Verschiedenartigkeit der in den Strafgesetzen vorgefundenen Tatbestandsmerkmale zu typisieren.[68] Heute sind vier Gruppen von Tatbestandsmerkmalen anerkannt, die in deskriptive und normative Merkmale einteilbar sind.[69] Das Tatbestandsmerkmal der Pflichtwidrigkeit des § 266 kann nur unter die Sammelkategorie der normativ geprägten Merkmale eingeordnet werden.[70] Darunter fallen normative Tatbestandsmerkmale, Blankett- und gesamttatbewertende Merkmale.

1. Blankettmerkmale

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Der Begriff „Blankettstrafgesetz“ geht auf Binding zurück, der darunter ein Gesetz verstand, das durch ein Verbot „der Landes- oder Ortspolizeibehörde oder einer sonstigen Behörde oder von der Partikulargesetzgebung“ ausgefüllt werde.[71] Der Begriff wurde vom Reichsgericht[72], später auch vom BGH[73] übernommen und hat sich mittlerweile etabliert[74], nicht aber seine Bedeutung. Der Begriff des Blanketts ist ursprünglich im verfassungsrechtlichen Zusammenhang geprägt worden, mittlerweile ist er jedoch auch eine vorsatzrechtliche Kategorie. Der Sprachgebrauch des Blankettbegriffs ist bereits aus diesem Grund nicht einheitlich. Einigkeit besteht jedenfalls insoweit, als dem Blankettstrafgesetz der Verweis auf andere (traditionell verstanden als Rechts-) Vorschriften zu eigen ist. Dabei werden echte von unechten Blankettstrafgesetzen unterschieden.[75] Zu ersteren gehören die Sanktionsnormen, die auf Ausfüllungsvorschriften einer anderen Instanz Bezug nehmen, zu letzteren solche, die auf Ausfüllungsvorschriften desselben Gesetzgebers verweisen.[76]

2. Normative Tatbestandsmerkmale

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Seit der „Entdeckung“ der normativen Tatbestandsmerkmale Anfang des 20. Jahrhunderts durch Max Ernst Mayer[77] hat man versucht, ihre wesensbestimmende Eigenart herauszuarbeiten.[78] Heute wird überwiegend der normative Bezug bzw. die normative Ergänzungsbedürftigkeit der normativen Tatbestandsmerkmale als Charakteristikum hervorgehoben.[79] Engisch versteht unter normativen Tatbestandsmerkmalen solche Merkmale des Tatbestandes, die „überhaupt nur unter logischer Voraussetzung einer Norm vorgestellt und gedacht werden können.“[80] Normative Tatbestandsmerkmale lassen sich erst unter Heranziehen einer außerhalb ihrer Sanktionsnorm liegenden, von Menschen gesetzten rechtlichen oder außerrechtlichen „Norm“ interpretieren.[81] Die Bezugnahme auf außerhalb des Tatbestandsmerkmals liegende Wertungen wird folglich zum wesensbestimmenden Attribut von normativen Tatbestandsmerkmalen erhoben.

3. Gesamttatbewertende Merkmale

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Auch gesamttatbewertende Merkmale verweisen auf außertatbestandliche Wertungen. Im Unterschied zu Blankettmerkmalen folgen sie jedoch aus ungeschriebenen „Normen“.[82] Von den normativen Tatbestandsmerkmalen sollen sich die gesamttatbewertenden Merkmale dadurch unterscheiden, dass sie die ganze Tat bewerteten, während normative Tatbestandsmerkmale lediglich ein Teilstück des Sachverhalts beschrieben.[83] Gesamttatbewertende Merkmale bezeichneten nicht nur das typische, sondern bereits das im konkreten Einzelfall bestehende Unrecht der Tat.[84] Wessen Verhalten den Tatbestand verwirklicht, der handelt folglich zugleich rechtswidrig und wem ein Rechtfertigungsgrund zur Seite steht, handelt schon nicht tatbestandsmäßig.[85]

Dem heutigen Begriffverständnis entspricht es allerdings, auch solche Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes als „gesamttatbewertend“ einzuordnen, die nur einen Ausschnitt des Unrechtsgeschehens betreffen (z. B. „grob verkehrswidrig“ gem. § 315c Abs. 1 Nr. 2[86]). Die formale Begriffsanforderung erfüllen diese Tatbestandsmerkmale eigentlich nicht. Die Grenze zwischen der Beschreibung eines „Teilstücks des Sachverhalts“ und der „Bewertung der ganzen Tat“ wird aber ohnedies nicht immer trennscharf zu ziehen sein,[87] sodass der Regelungsumfang des Merkmals angesichts des eigentlichen Anliegens, nämlich einen bestimmten Vorsatzgegenstand begrifflich zu erfassen, als Spezifikum gesamttatbewertender Merkmale ausscheiden sollte.[88] Treffender ist es, unter „gesamttatbewertenden Merkmalen“ diejenigen (Tatbestands-) Merkmale zu verstehen, die durch ungeschriebene gesellschaftliche Wertung ausgefüllt werden.[89] Die verbleibende sprachliche Ungenauigkeit, durch die auch eindeutig nicht die gesamte Tat bewertende Merkmale (z. B. „pornographisch“ gem. § 184)[90] als „gesamttatbewertend“ bezeichnet werden, kann durch den Verzicht auf den Zusatz „gesamt“ behoben werden.[91]

Teil 1 Einführung in die Problematik › D. Verlauf der Untersuchung

D. Verlauf der Untersuchung

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Im zweiten Teil wird untersucht, nach welchen Kriterien die Unterscheidung von Tatbestands- und Verbotsirrtums im Fall des verweisenden Tatbestandsmerkmals der Pflichtwidrigkeit vorzunehmen ist. Es soll gezeigt werden, dass die Kategorisierungsbemühungen des Pflichtwidrigkeitsmerkmals als normatives Tatbestandsmerkmal, Blankettmerkmal oder gesamttatbewertendes Merkmal im vorsatzrechtlichen Problemzusammenhang nicht weiterführend sind. Nach Analyse und Kritik der in der Rechtsprechung und Literatur vorgeschlagenen formalen und materiellen Kriterien zur Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum wird sich zeigen, dass sich die Unterscheidung nach schuldtheoretischem Irrtumskonzept an dem sog. Postulat der Appellfunktion des Tatbestandsvorsatzes zu orientieren hat. Dabei wird es erheblich sein, welche Funktion dem Pflichtwidrigkeitsmerkmal in § 266 zukommt. Eingehend wird der Frage nachgegangen und im Ergebnis bejaht, ob § 266 über das Pflichtwidrigkeitsmerkmal verschiedene Verhaltensnormen teilweise in Bezug nimmt. Hierbei wird insbesondere untersucht, ob das in der Rechtsprechung und Literatur befürwortete allgemeine Schädigungsverbot als Kernbestandteil jedweder ungetreuen Handlung dieser Sichtweise entgegensteht.

Im dritten Teil wird die Frage behandelt, welche Umstände gem. § 16 erkannt sein müssen, damit den Täter ein Unrechtsimpuls erreicht, der ihm die Pflichtwidrigkeit seines Handelns verdeutlicht. Dabei wird im Besonderen zu problematisieren sein, welcher Maßstab bei der Beurteilung der Appellwirkung des jeweiligen Lebenssachverhalts anzulegen ist („Expertenstrafrecht“). Im Anschluss wird der Gegenstand des Pflichtwidrigkeitsvorsatzes gesondert für die verschiedenen Pflichtenquellen des § 266 untersucht. Im Ergebnis soll gezeigt werden, dass der Gegenstand des Pflichtwidrigkeitsvorsatzes im Verhältnis zur Pflichtenquelle steht und insoweit nicht einheitlich zu bestimmen ist.

Die Frage, ob diese Betrachtung auch dann sachgerecht ist, wenn über das Pflichtwidrigkeitsmerkmal ungenaue Pflichten Eingang in § 266 finden, steht im Mittelpunkt der Untersuchung des vierten Teils. Die allgemein gehaltenen Pflichtenprogramme werden dabei als Problem des Bestimmtheitsgrundsatzes gem. Art. 103 Abs. 2 GG aufgefasst. Um die erforderliche Bestimmtheit ungenauer Pflichten sicherzustellen, wird das objektive Restriktionsmodell einer näheren Untersuchung unterzogen. Der von weiten Teilen der Literatur und Rechtsprechung befürworteten Begrenzung der Pflichtwidrigkeit auf „evidente“ resp. „gravierende“ Pflichtverstöße wird ein subjektiver Restriktionsansatz gegenüber gestellt, dem zufolge der Mangel an Bestimmtheit des objektiven Handlungsgebots über den Vorsatz behoben werden kann. Zur Untermauerung des subjektiven Restriktionsansatzes wird insbesondere die Risikoverteilung zwischen Treugeber und Treunehmer näher thematisiert, um die Fragen zu klären, wer sich im Fall unbestimmter Verhaltensgebote für die fehlerhafte Ausübung zuvörderst verantwortlich zu zeichnen hat und welche Auswirkungen diese Sichtweise für den Pflichtwidrigkeitsvorsatz im Allgemeinen und für den Vorsatzgrad im Besonderen hat.

Mit der hier konstatierten verhaltensnormenvermittelnden Eigenschaft des Pflichtwidrigkeitsmerkmals eng verbunden ist das Problem, ob ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG unter dem Aspekt des Parlamentsvorbehalts droht, wenn § 266 auf ausländische Pflichtenprogramme zugreift. Diese Rechtsfrage wird zu Beginn des vierten Teils erörtert.

Anmerkungen

[1]

Binding GS 81 (1913), 19, 21.

[2]

Maurach/Zipf AT I, § 37 Rn. 48 („derzeit am wenigsten gelösten Problem der gesamten Irrtumslehre“); Jakobs AT 8. Absch. Rn. 52 („Konfuse Lage“); Schünemann in: LK-StGB, § 292 Rn. 65 („dogmatisches Labyrinth“); Kindhäuser GA 1990, 406, 420 („dogmatische Konfusion“).

[3]

Vgl. die Besprechung der Literatur bei Tiedemann ZStW 107 (1995), 639 ff.

[4]

Schünemann in: LK-StGB, § 266 Rn. 153.

[5]

Schünemann in: LK-StGB, § 266 Rn. 153.

[6]

BGHSt 50, 331 ff.

[7]

LG Düsseldorf NJW 2004, 3275 ff.

[8]

LG Düsseldorf NJW 2004, 3275, 3285.

[9]

BGHSt 50, 331 ff.

[10]

BGH 3 StR 470/04, Rn. 83 (insoweit nicht in BGHSt 51, 331 ff. abgedruckt); zustimmend Vogel in: LK-StGB, § 16 Rn. 32.

[11]

EuGH NJW 2003, 3331 ff.

[12]

EuGH NJW 1999, 2027 ff.

[13]

EuGH NJW 2002, 3614 ff.

[14]

Dazu etwa Rönnau ZGR 2005, 832 ff.; Schlösser wistra 2006, 81 ff.; BGH 5 StR 428/09 Rn. 21 f.

[15]

Exemplarisch ist die Kommentierung Fischers § 266 Rn. 8, die erst seit der 55. Auflage Ausführungen zur Rechtsnatur des § 266 enthält.

[16]

Arzt/Weber § 22 Rn. 69; Baumann in: FS Welzel, S. 533, 542; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht AT, Rn. 227; Jakobs NStZ 2005, 276, 277; ders. in: FS Dahs, 49, 62; Kubiciel NStZ 2005, 353, 357; Dittrich S. 239; Schmitz Europäisierung des Strafrechts, 199, 208: „[Ein] normatives Tatbestandsmerkmal, das freilich in die Nähe eines Blanketts rückt, da die Pflichtwidrigkeit gerade auch im Zusammenhang mit den gesellschaftsrechtlichen Normen interpretiert wird“; Gross/Schork NZI 2006, 10, 15; Vogel/Hocke JZ 2006, 568, 571; Lüderssen in: FS Schroeder, S. 569, 571; ders. in: FS Richter II, S. 373, 377; Werle/Jeßberger in: LK-StGB, Vor § 3 Rn. 335; Hellmann ZIS 2007, 433, 443; Hellmann/Beckemper S. 128; Beckemper ZJS 2010, 554, 557; Ransiek/Hüls ZGR 2009, 157, 177; Schreiber/Beulke JuS 1977, 656, 660; Laskos S. 135; Burger S. 258; Dannecker in: LK-StGB, § 1 Rn. 258; nunmehr auch Rönnau ZStW 119 (2007), 887, 905.

[17]

Fischer § 266 Rn. 5; Sax JZ 1977, 663, 664; Deiters ZIS 2006, 152, 159; Dierlamm in: MK-StGB, § 266 Rn. 229; ders. StraFo 2005, 397, 401 („blankettartig“); Mosiek StV 2008, 94, 95; Nelles S. 505 („blankettartig“); Worm S. 112; Hantschel S. 86; Seier Symposion Geilen, S. 145, 150, der die Blanketteigenschaft auf die Treubruchvariante beschränkt. Unklar Schlösser wistra 2006, 81, 86, der § 266 StGB als eine „Sanktionshülle“ versteht, dessen Inhalt durch (mitgliedstaatliches) Gesellschaftsrecht auszufüllen sei. Früher Rönnau/Hohn NStZ 2004, 113 („Blankett“); Rönnau ZGR 2005, 832, 854 („blankettartig“).

[18]

Schünemann in: LK-StGB, § 266 Rn. 153; Puppe GA 1990, 145, 170 f.

[19]

Offen gelassen Radtke GmbHR 2008, 729, 735; Walter Der Kern des Strafrechts, S. 261; Mankowski/Bock ZStW 120 (2008), 704, 705, 756 f.

[20]

OLG Stuttgart wistra 2010, 34 ff.

[21]

BGH 5 StR 428/09 Rn. 21 f.

[22]

BVerfG 2 BvR 2559/08, Rn. 97; zustimmend BGH 1 StR 220/09 (BGH NJW 2011, 88, 91).

[23]

Walter