Robert Merle

Der König ist tot

Roman

 

 

 

Impressum

Titel der Originalausgabe

Le Glaive et les amours

 

ISBN E-Pub 978-3-8412-0183-6

ISBN PDF 978-3-8412-2183-4

ISBN Printausgabe 978-3-7466-1227-0

 

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, 2010

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die deutsche Übersetzung erschien erstmals 2007 bei Aufbau, einer Marke

der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Le Glaive et les amours © Robert Merle

Die Originalausgabe ist 2003 bei den Éditions de Fallois in Paris erschienen

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

 

Umschlaggestaltung Preuße & Hülpüsch Grafik Design

unter Verwendung eines Gemäldes aus dem »Medici-Zyklus«

von Peter Paul Rubens

 

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

 

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Inhaltsübersicht

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

SECHSTES KAPITEL

SIEBENTES KAPITEL

ACHTES KAPITEL

NEUNTES KAPITEL

ZEHNTES KAPITEL

ELFTES KAPITEL

ZWÖLFTES KAPITEL

DREIZEHNTES KAPITEL

VIERZEHNTES KAPITEL

FÜNFZEHNTES KAPITEL

SECHZEHNTES KAPITEL

SIEBZEHNTES KAPITEL

 

Für Nicole

ERSTES KAPITEL

Du wirst dich erinnern, Leser, daß Gaston von Orléans, der jüngere Bruder des Königs von Frankreich, nach der Niederlage, die Ludwig dem Herzog von Lothringen beigebracht hatte, am achten Oktober 1634 in die spanischen Niederlande entwich. Fühlte er sich anfangs dort freundlich aufgenommen, mußte er, als zwischen Frankreich und Spanien der Krieg auszubrechen drohte, an gewissen Anzeichen feststellen, daß die Spanier ihn nicht mehr als Gast, sondern als ihre Geisel betrachteten. Und ebenso heimlich, wie er vormals Frankreich verlassen hatte, verließ er nun Brüssel.

Es war ein nächtlicher Gewaltritt von Brüssel nach La Capelle, der nächsten französischen Feste jenseits der Grenze, wo Gaston nicht einmal ohne weiteres Einlaß fand. Was mich anging, so wurde ich dort bekanntlich von einer fiebrigen Erkältung niedergeworfen. In seiner Eile, zu Ludwig zu kommen, konnte Gaston meine Genesung nicht abwarten und erschien gütigst in meinem Zimmer, um mir Lebewohl zu sagen. Abermals dankte er mir herzlich, daß ich ihm, unter manchen Gefahren, den königlichen Paß überbracht hatte, der ihm die Rückkehr nach Frankreich gestattete.

Zu meiner Überraschung wirkte er trotzdem bedrückt und unruhig, und so wagte ich ihn zu fragen, ob er denn nicht glücklich sei, ins liebliche Frankreich heimzukehren.

»Oh, doch!« sagte er. »Es war mein Traum! Nur bangt mir davor, wie mein königlicher Bruder mich aufnehmen wird.«

»Bitte, Monseigneur«, sagte ich, »vergeßt diese Furcht. Ludwig wird Euch mit offenen Armen empfangen, so sehr wird es ihn freuen, Euch wiederzusehen, und auch, daß Eure Rückkehr die königliche Familie angesichts des drohenden Krieges wieder vereint.«

Als Gaston aber trotz meinen Versicherungen seine Erregung nicht ablegte, forschte ich behutsam nach dem Grund. Und zu meiner großen Verblüffung schluchzte er plötzlich auf, und dicke Tränen rannen ihm über die Wangen. Ich wandte mich ab, damit er sich erst einmal fassen könne, und als er seine Augen getrocknet hatte, erlaubte ich mir die Frage, ob es bei seiner Rückkehr einen mir unbekannten Umstand gebe, den er dem König nicht zu gestehen wage.

»So ist es, leider!« sagte er leise und betrübt. »Und sogar Euch mag ich die Sache kaum bekennen. Mein Gott, wie unbesonnen ich war! Kaum hatte ich die Schwester des Herzogs von Lothringen erblickt, als ich mich so heftig in sie verliebte, daß ich sie heiratete, ohne meinen königlichen Bruder irgend nach seinem Einverständnis zu fragen.«

»Ihr habt geheiratet, ohne den König, Euren älteren Bruder, zu konsultieren!« rief ich erschrocken. »Ohne ihn um seine Einwilligung zu bitten! Aber das ist ja – wenn Ihr erlaubt, es beim Namen zu nennen – nahezu ein Majestätsverbrechen!«

»Er hätte mir seine Einwilligung doch nie und nimmer gegeben«, sagte Gaston bitter. »Der Herzog von Lothringen war seit langem Frankreichs hartnäckigster Feind!«

Trotzdem, dachte ich, war es eine bodenlose Ungehörigkeit gegen Ludwig, und wie sollte Ludwig seinem jüngeren Bruder einen solchen Verstoß jemals verzeihen?

»Monseigneur«, sagte ich schließlich, »darf ich Euch eine delikate Frage stellen?«

»Fragt nur, fragt«, sagte Gaston, der sich in seiner Ratlosigkeit an mich klammerte. »Ich sehe doch, daß Ihr mein Freund seid.«

»Ihr spracht hinsichtlich der Prinzessin von Lothringen von Verliebtheit. Ist das nicht ein etwas kurzlebiges Gefühl?«

»Nein, nein!« sagte Gaston mit Nachdruck. »Ich liebe sie mit großer Liebe. Aus ganzem Herzen. Ich bin ihr sozusagen ergeben mit Haut und Haar. Und das Wort ›lieben‹ dünkt mich noch zu schwach für das, was ich für sie empfinde. Es zerriß mir schier das Herz, sie in Brüssel zurückzulassen. Aber natürlich hätte sie unseren harten Ritt nach La Capelle nicht durchhalten können.«

»Das heißt, Ihr wäret nicht bereit, Euch von Eurer Gemahlin zu trennen, wenn der König es verlangen würde.«

»Niemals!« rief flammenden Auges Gaston, »es wäre das niederträchtigste Unrecht an meiner Liebsten, und nie wäre ich dazu bereit.«

»Dann macht Euch darauf gefaßt, daß der König und Richelieu Himmel und Erde in Bewegung setzen werden, um Eure Scheidung ohne Euer Einverständnis herbeizuführen.«

»Ist das denn menschenmöglich?«

»Leider ja, Monseigneur. Den Mächtigen ist alles möglich. Nach kanonischem Gesetz braucht der König nur zwei Bischofskonferenzen nacheinander einzuberufen, die, eine wie die andere, Eure Ehe für null und nichtig erklären, und der Spruch hat Gültigkeit.«

»Bleibt mir dagegen denn kein Ausweg?«

»Doch! Wenn der Papst sich Eures Falles annehmen und sich für Euch aussprechen würde. Was aber Monate dauern könnte, vielleicht Jahre.«

Nach Gastons Abreise blieb ich zu meiner Heilung noch zwei Tage in La Capelle, und so schnell ich hierauf auch mit Nicolas über Frankreichs Straßen galoppierte, gelangte ich doch zu spät nach Saint-Germain-en-Laye, um dem Wiedersehen des Königs mit seinem jüngeren Bruder beizuwohnen. Es wurde mir indes nachher im Louvre von der Prinzessin von Guéméné erzählt.

Da diese weibliche Person zum erstenmal in meiner Erzählung auftritt, will ich ihr hier einige Worte widmen, wobei ich den Herrgott bitte, Catherine möge diesen Abschnitt meiner Memoiren niemals lesen. Denn obgleich meine Beziehung zu der Marquise durchaus keusch war, sah meine Catherine diese Freundschaft nicht besonders gern, wie sich bald zeigen wird. Zum Glück ging Catherine nicht an den Hof, außer wenn bestimmte Zeremonien ihre Anwesenheit erheischten, während Madame de Guéméné dort ihre Wohnung hatte. Diese hohe königliche Gunst verdankte sie den glanzvollen Diensten, die ihr seliger Gemahl Seiner Majestät geleistet hatte.

Mich dünkt, wenn ein Mann das gentil sesso1 liebt, liebt er alle Frauen, wie alt sie immer seien, wenn auch auf verschiedene Weise. Ich kann mich am Anblick eines fünfzehnjährigen Mädchens erfreuen, ohne ihm jemals näher zu treten. Und ich kann Zuneigung für eine Dame empfinden, die von gewissen Edelherren gemieden wird, weil sie nach ihrer Meinung über das Alter hinaus ist, in dem man gefällt. In Brüssel, entsinne ich mich, hegte ich zärtliche Gefühle für die Infantin Clara Isabella Eugenia und weinte bitterlich, als die großmütige Fürstin starb.

Um auf Madame de Guéméné zurückzukommen, so befehligte ihr Gemahl auf dem Italienfeldzug ein königliches Regiment. Dort begegnete ich ihm, fand an ihm einen sehr ehrenhaften Mann und wurde sein Freund. Es war eine kurze Freundschaft, denn so wenig und so miserabel die wild zurückflutenden Savoyarden bei der Einnahme von Susa auch schossen, wollte es der böse Zufall, daß eine Kugel den Prinzen von Guéméné mitten ins Herz traf.

Sein Tod betrübte mich tief, und damit die Witwe die schreckliche Nachricht nicht zuerst durch eine amtliche Mitteilung erfahre, schrieb ich ihr einen langen Brief, der ihr in ihrer Trauer wohltat, und sie antwortete mir ihrerseits mit einem bewegenden Schreiben. Ich weiß noch, mit welcher Bewunderung ich diesen Brief las, schien er mir doch zu beweisen, daß nur Frauen die Liebe recht zu fühlen vermögen, vielleicht weil sie für sie das Leben bedeutet, während sie für einen Mann eine Nebensache ist.

Als ich nach der Rückkehr von Brüssel eines Morgens gegen elf Uhr Madame de Guéméné in ihrer Louvre-Wohnung aufsuchte, saß sie, umgeben von ihren Kammerfrauen, bereits frisiert, geschminkt und in all ihrem Putz in einem Lehnstuhl. Wie ich indes ihr gegenüber auf einem Tabouret Platz nahm, gewahrte ich, daß sie weder Strümpfe noch Pantoffeln anhatte, weil eine vor ihr kniende Fußpflegerin ihr die Nägel schnitt, was der schönen Patientin bald ein Stöhnen, bald einen kleinen Aufschrei, bald ein schmerzliches Zucken entlockte, ohne daß es ihrer Schönheit irgend Abbruch tat. Ich war entzückt, daß ich zu solch weiblicher Intimität, samt Schreien und Stöhnen, zugelassen war.

Madame de Guéméné richtete ihr Augenmerk ganz auf das Wirken der Fußpflegerin, und so schweifte mein Blick denn des öfteren über das zwar nicht großzügig, aber doch ohne Zimperlichkeit dekolletierte Morgenkleid der Dame.

Nachdem die Fußpflegerin ihr Werk beendet und sich unter tiefen Reverenzen zurückgezogen hatte, nicht ohne mir nebenher einen raschen und scheinbar diskreten Blick zuzuwerfen, konnte ich mich nicht enthalten, Madame de Guéméné, mit der ich endlich allein blieb, zuerst einmal große Komplimente zu machen, was für hübsche kleine Füße sie habe.

»Mein lieber Herzog«, sagte sie, »Ihr versteht es wirklich wunderbar, einer Dame neuen Mut zu machen. Als ich heute morgen beim Schminken wieder eine Falte mehr unter meinen Augen entdeckte, war ich verzweifelt und fragte mich, ob es nicht an der Zeit sei, mich von Menschen und Gesellschaft zurückzuziehen, freilich ohne darum den Schleier zu nehmen. Denn ehrlich gestanden, habe ich für Klosterfrauen nicht viel übrig. Ich finde, es ist eine reichlich dumme und gottlose Entscheidung, wenn Eva sich Adam versagt, schließlich hat der Schöpfer uns sichtlich füreinander geschaffen. Kurzum, meine Schwermut war groß, als Ihr kamt, aber Gott sei Dank habt Ihr meinen schwarzen Gedanken ruckzuck das Haupt abgeschlagen.«

»Ich habe«, sagte ich, »als ich Eure niedlichen Füße pries, die reine Wahrheit gesprochen, und wenn Ihr es erlaubtet, Madame, würde ich sie mit Wonne ganz ergebenst küssen.«

»Nein, nein, Herzog«, sagte Madame de Guéméné, indem sie wie erschrocken lachte, »wenn Ihr das tätet, hielte der Schwur, den wir einander geleistet, womöglich nicht lange. Eure Zärtlichkeiten sind mir zu verlockend.«

Weil ich nun nicht wußte, ob sie sich hiermit meine verbalen Zärtlichkeiten energisch verbat oder mich aufforderte, darin fortzufahren, begrub ich die Sache lieber und fragte Madame de Guéméné statt dessen, wie das Wiedersehen zwischen Gaston und dem König verlaufen sei, weil sie ja mit dem Hof in Saint-Germain-en-Laye war, während ich, wie der Leser weiß, noch über Frankreichs Straßen trabte.

»Obwohl ich in Saint-Germain wohnte«, erwiderte sie, »war ich bei diesem Wiedersehen natürlich nicht zugegen, es ereignete sich in den Gemächern des Königs. Aber es wurde mir anschließend von den Herzögen Longueville, Montbazon und Chaulnes geschildert.«

»Madame«, sagte ich, »ich wußte gar nicht, daß Ihr so viele Herzöge kennt!«

»Von denen ein gewisser mir allerdings der liebste ist«, sagte sie lächelnd. »Kein anderer steht so vertraut mit mir, daß er sich herausnehmen dürfte, meine Füße zu feiern. Solch ein Lobpreis bleibt allein Euch vorbehalten.«

»Madame, ich hoffe, mich dieser kleinen Gunst würdig zu erweisen.«

»Nun denn, Schluß mit der Tändelei, auch wenn sie für mich, und wohl auch für Euch, noch so vergnüglich sein mag. Kommen wir zu dem königlichen Wiedersehen. Es war, wie mein Beichtvater zu sagen pflegt, erbaulich.

Gaston soll, wie ich hörte, ein wenig gezittert haben, als er das Gemach betrat, wo der König ihn erwartete, und war erst einmal außerstande, das erste Wort hervorzubringen.

›Monsieur‹, sagte er endlich, indem er vor seinem großen Bruder ins Knie fiel, ›ich weiß nicht, ist es Furcht oder Freude, die mir die Sprache verschlägt. Doch bleibt mir deren soviel, Euch um Vergebung für alles Vergangene zu bitten.‹

Auf diesen eleganten Satz antwortete der König nicht minder elegant.

›Mein Bruder, ich habe Euch vergeben. Reden wir nicht mehr von der Vergangenheit, sondern allein von der großen Freude, die ich empfinde, Euch wiederzusehen.‹

Wenig darauf trat mit der gutmütigsten Miene, die man je an ihm sah, Richelieu herein.

›Mein Bruder‹, sagte der König, ›ich bitte Euch, den Herrn Kardinal zu lieben.‹

Wie zu erwarten, war die Antwort engelgleich.

›Monsieur‹, sagte Gaston zu seinem Bruder, ›ich will den Kardinal künftig lieben wie mich selbst und bin entschlossen, in allem seinem Rat zu folgen.‹«

»Kam bei dieser ersten Begegnung«, fragte ich, »seine unglückselige Ehe mit Margarete von Lothringen zur Sprache?«

»Nur mit einem Satz, und äußerst diskret. Richelieu sagte, Gastons Ehe werde ›nach geltendem Gesetz‹ betrachtet, was natürlich eine Ausflucht war, mit der Gaston sich in seiner Wiedersehensfreude aber begnügte.«

»Das wundert mich nicht!« sagte ich. »Obwohl durchaus geistvoll, ist Gaston ein Leichtfuß und Spieler.

Als er Margarete von Lothringen heiratete, soll er gejubelt haben, welchen Schabernack er seinem Bruder damit spiele, ohne irgend die ernstlichen Konsequenzen dieser Eheschließung für Ludwig, für ihn selbst und für das Reich zu bedenken. Und jetzt, wieder in Frankreich, vergißt er vor Freuden seine Gemahlin. Nach vier Jahren freiwilligen Exils hat er Paris, seine Freunde und Freundinnen wieder, seine trägen Tage und durchfeierten Nächte. Dazu gibt ihm der König vierhunderttausend Livres, um seine alten Schulden und neuen Lustbarkeiten zu bezahlen. Für einen solchen Batzen Geld kann man den König und den Kardinal schon lieben ›wie sich selbst‹.«

Mit meiner Erzählung in Fahrt geraten, merke ich gerade, daß ich dem Leser Madame de Guéméné noch gar nicht beschrieben habe, und dabei, Leser, hättest du allerdings nicht wenig verloren.

Daß sie über Dreißig war, ist sicher, vielleicht sogar älter, doch fiel es nicht ins Auge, denn im Unterschied zu unseren hohen Damen, die sich wie faule Katzen auf damastenen Kissen räkeln, hatte Madame de Guéméné sehr acht auf ihre »leibliche Hülle«, wie unsere Frömmlerinnen sich auszudrücken belieben, die übrigens nie auch nur eine Mahlzeit auslassen, um desto früher zu ihrem Schöpfer zu gelangen.

In diesem Jahrhundert der Vielfraße (zumindest am Hof) aß Madame de Guéméné wenig, naschte nie Süßigkeiten, trank mehr Quellwasser als Wein und machte sich viel Bewegung. Als Catherine und ich sie einmal auf ihrem bretonischen Schloß besuchten, sah ich verwundert, daß sie in ihrem Teich zu schwimmen und alle Tage, die Gott werden ließ, auf ihrer Stute auszureiten pflegte. Dabei saß sie nicht im Damensattel, sondern rittlings wie ein Mann, und um deshalb nicht ins Gerede zu kommen, galoppierte Madame de Guéméné nur innerhalb ihres eigenen Besitzes, um das Schamgefühl fremder Betrachter nicht zu verletzen.

Madame de Guéméné, Leser, hatte nicht nur hübsche Füße. Sie hatte auch Geist, ohne daß sie jemals den kleinlichen Wortklaubereien und Zierereien unserer gelehrten Damenzirkel verfiel. Ich entsinne mich, daß sie mir eines Tages sagte, ihrer Meinung nach könne eine Frau in der Ehe niemals glücklich sein. Sehr verdutzt, bat ich sie, ihre seltsame Ansicht zu begründen. »Wenn der Mann«, sagte sie lächelnd, »den Frauen gefällt, lebt sie in ständiger Unruhe. Gefällt der Mann den Frauen nicht, kann auch sie mit ihm nicht glücklich werden.«

Wenig nach meinem Besuch bei Madame de Guéméné erschien eines Morgens gegen zehn Uhr an meiner Haustür ein struppiger kleiner Schmutzfink, aber mit blitzwachen Augen, und meldete mir, der ehrwürdige Doktor der Medizin Fogacer lasse fragen, ob er mich heute, vor oder nach dem Essen, besuchen dürfe.

Catherine, die aufs erste Klopfen an unserem Tor neugierig herbeigeeilt war, sagte, unser Freund solle nur richtig zum Essen kommen, und zwar pünktlich um zwölf.

»Ich werd’s ausrichten«, sagte der Junge.

Als ich ihm ein Geldstück reichte, wollte er es zuerst nicht nehmen, der Domherr, sagte er, habe ihn schon bezahlt. Doch mußte ich nicht groß insistieren, daß er die Münze mit gieriger, wenn auch nicht allzu sauberer Hand trotzdem annahm. Zu meinem Erstaunen steckte er sie in seinen Mund. Da ich vermutete, er tue dies, um zu Hause von seiner Familie nicht um seinen Verdienst beraubt zu werden, fragte ich ihn, ob er Hunger habe. Er klopfte auf seine von dem Geldstück geblähte Backe.

»Jetzt nicht mehr, Monseigneur«, sagte er.

Meine Catherine war in Fogacer ganz vernarrt, und er erwiderte ihre Zuneigung, ohne daß es mich störte, der Leser weiß, warum. Fogacer kam, wie stets, von seinem hübschen kleinen Geistlichen begleitet, den Nicolas nicht ausstehen konnte und hinterm Rücken mit Schimpfwörtern wie »Luder« oder »Schlampe« bezeichnete, die ja gemeinhin liederlichen Weibern gelten.

Ich weiß noch, daß wir bei dieser Mahlzeit Tränen lachten, als Fogacer das Geplapper unserer höfischen Zierpuppen nachahmte. Dazu nahm er eine Kopfstimme an und machte allerlei graziöses Getue, wie es bei unseren Präziösen gang und gäbe war.

Erst nach beendeter Mahlzeit, als wir zu vertraulichem Gespräch im kleinen Salon Platz nahmen, rückte Fogacer mit seinem Anliegen heraus. Sotto voce stellte er mir verschiedene Fragen, ohne mir zu verheimlichen, daß er die Antworten dem Apostolischen Nuntius mitteilen werde, der sie per Kurier dem Papst übermitteln würde. Ich muß nicht betonen, daß meine Ohren taub und meine Zunge stumm geblieben wären, hätte Richelieu mich zu diesen Mitteilungen nicht geradezu autorisiert, allerdings indem er meiner Offenheit von vornherein Grenzen setzte.

»Mein lieber Herzog«, sagte Fogacer, »als Ihr in geheimer Mission nach Brüssel reistet, um Gaston den königlichen Paß zu überbringen, müßt Ihr auch die Favoriten gesehen haben, mit denen er sich umgibt.«

»Was, mein lieber Fogacer, wollt Ihr über sie wissen?«

»Ihre Anzahl, ihre Namen.«

»Es sind ihrer sechs, der wichtigste heißt Puylaurens. Es gibt noch andere, aber überanstrengt Eure Gehirnwindungen nicht mit dem Versuch, Euch alle die Namen zu merken. Ich schreibe sie Euch auf einen Zettel, bevor Ihr geht.«

»Besten Dank. Und was sind das für Leute?«

»Meint Ihr, vom Wesen her?«

»Ja.«

»Ganz wie ihr Herr: verantwortungslos. Alles wird angefangen, nichts beendet, und insgesamt tanzen sie wie Korken auf den Wassern des Lebens.«

»Hier heißt es immer, sie seien Gastons böse Geister, sie gäben ihm nichts wie schlechte Ratschläge.«

»Oh, die gibt er sich ganz allein. Sagen wir, seine Favoriten setzen nur immer noch eins drauf.«

»Richelieu will Puylaurens zum Herzog machen, hört man. Ist das nicht paradox?«

»Er hat es schon getan. Nur wird er ihm den Herzog wohl wieder aberkennen. Richelieu hatte gehofft, wenn er Puylaurens mit Gunst überhäufe, werde dieser Gaston zur Scheidung überreden. Ein so großer Genius Richelieu auch ist, hierin irre er. Da er selbst das gentil sesso verschmäht, kann er nicht begreifen, wie sehr ein Mann an einer Frau hängen kann, wie das bei Gaston der Fall ist.«

»Puylaurens hat also seinen Auftrag nicht erfüllt.«

»Falls er es überhaupt versucht hat.«

»Und was macht Richelieu nun?«

»Er wird ihn kaltstellen.«

»Könnt Ihr mir ein Wort über die Stimmung des Königs sagen?«

»Als tugendhafter und sogar ein bißchen zu tugendstrenger Mann ist Ludwig von seinen Untertanen enttäuscht, und weil er den Glauben, sie ändern zu können, verloren hat, verfällt er oft in Schwermut. Ihn hat tief enttäuscht, daß sein Feldzug gegen den Kleiderluxus am Hof so offensichtlich fehlgeschlagen ist. Im Hinblick auf den bevorstehenden Krieg hat er seinen Adel zu den Waffen gerufen, sein Ruf fand leider geringen Widerhall, unsere schönen Edelherren ziehen die Muße und Freuden des Landlebens dem gefährlichen Waffenwerk vor. Ihre Verweigerung hat den König schwer enttäuscht, bitterlich beklagte er den ›Leichtsinn‹ der Franzosen und drohte in seinem Zorn, den Adligen ihren Adel abzusprechen, weil sie ihn nicht mehr verdienten.«

»Meint er das ernst?« fragte, die Brauen wölbend, Fogacer.

»Nein. Wie könnte er Titel aberkennen, die von seinen Vorgängern auf Frankreichs Thron, womöglich von seinem eigenen Vater, verliehen wurden?«

»Und noch eine Enttäuschung bedrückt unseren armen König: Einem Edikt zum Trotz, das ihm am Herzen liegt und das er Jahr für Jahr erneuert, hat einer seiner Musketiere einen gewissen Daubigny im Duell getötet. Unverzüglich wurden besagter Musketier und seine Sekundanten ins Gefängnis geworfen.«

»Werden sie den Kopf verlieren?«

»Wahrscheinlich nicht. Der König wird es für die Sekundanten mit einem Aufenthalt in der Bastille bewenden lassen, und der Musketier wird aus seinem Elitecorps verjagt.«

»Monseigneur«, fuhr Fogacer fort, »was ist nach Eurer Ansicht zur Stunde Ludwigs größte Sorge?«

»Die Kaiserlichen und die Ostgrenze, aber selbstverständlich die Nordgrenze ebenfalls. Deshalb hat Ludwig ja Lothringen sozusagen annektiert und die elsässischen Städte, auf ihre Bitten hin, besetzt und verstärkt. Und schließlich hat er Speyer eingenommen, das seit 1294 kaiserliche Reichsstadt ist.«

»Und was macht der Kaiser?«

»Der Kaiser wartet auf seine Stunde.«

»Hat Speyer für Ludwig denn eine so große strategische Bedeutung?«

»Zweifellos. Dank Speyer braucht er nur über den Rhein zu marschieren, und er ist in Deutschland.«

»Noch eine Frage, mein lieber Herzog«, sagte Fogacer, »eine letzte, aber vielleicht die delikateste: Wie steht es mit Ludwigs Liebe zu Mademoiselle de Hautefort?«

»Wenn ich zur Häme neigte, würde ich sagen, er liebt sie wie einen Engel aus Himmelshöhen. Aber den König in diesem Punkt zu verspotten, wie es die Zierpuppen vom Hofe tun, liegt mir fern. Sagen wir also, wie es ist. Er liebt dieses Mädchen wie einen Engel aus Himmelshöhen, ohne es anzurühren. Er wagt ja kaum, wenn er mit ihr redet, sich ihr auf einen halben Klafter zu nähern. Dabei ist sie seine große Liebe! Er, der Luxus immer verachtet hat, der über die großspurige Lebensführung des Kardinals höhnt, der alles tut, um die Prunksucht der Höflinge einzudämmen – auf einmal kleidet er sich mit äußerster Eleganz, ohne auf die Kosten zu sehen. Jeden Tag, den Gott werden läßt, besucht er die Schöne. Er wird eifersüchtig, wenn hohe Herren Mademoiselle de Hautefort den Hof machen. Er beauftragt Dichter, ihre Schönheit zu besingen, und was völlig unerhört ist, er ist so in sie verliebt, daß er darüber seine erste und einzige Leidenschaft vergessen hat: Er hat die Jagd nahezu aufgegeben, seit ›das Mädchen‹ in sein Leben getreten ist.«

»Mein lieber Herzog, Ihr sagt ›das Mädchen‹? Ist das nicht etwas respektlos?«

»Ganz und gar nicht. Ludwig selbst nennt sie so, und in seinem Sinn hat das zu bedeuten, daß es auf der Welt nur ein Mädchen gibt und daß es sie ist. Gestern sah ich ihn in größter Unruhe und wagte, ihn nach dem Grund zu fragen. Für gewöhnlich hätte ich auf meine Frage eisiges Schweigen geerntet, aber dem war nicht so. ›Ach, Sioac!‹ sagte er, als sei er froh, sich auszusprechen, ›ich bin sehr in Sorge: Das Mädchen ist krank‹.«

»Herzog«, sagte Fogacer, »könnt Ihr mich aufklären? Seit einer Weile geht am Hof, quer durch alle Gruppen und Ränge, eine neue Witzelei um.«

»Zum Exempel?«

»Fragt der eine: ›Und wie nimmst du ihn?‹, sagt der andere: ›Mit der Zange, wie Ludwig‹, und alles brüllt vor Lachen.«

»Wen wundert es? Der Hof nährt sich von Albernheit und Bosheit. Dennoch eine Frage: Wenn ich Euch aufkläre, mein lieber Domherr, wem werdet Ihr die Geschichte weitersagen?«

»Dem Nuntius natürlich!«

»Aber bitte, nur dem Nuntius allein.«

»Versprochen.«

»Nun, die Sache ist die: Bevor die Königinmutter in Ungnade fiel (was ich, glaube ich, schon erzählt habe), war Marie de Hautefort deren Ehrenjungfer. Ihre Schönheit trug ihr viele Komplimente ein, und manche Herren schickten ihr verliebte Billets. Und einmal, als Ludwig seiner Mutter seine allmorgendliche Ehrerbietung erweisen kam, fand er ›das Mädchen‹ beim Lesen eines dieser Briefchen. Er verlangte, sie solle es ihm aushändigen. Doch die Schöne war trotzig, weigerte sich und steckte das Billet in ihren Busen. Entrüstet über solchen Ungehorsam, hielt die Königinmutter ihr die Hände fest und sagte zu ihrem Sohn: ›Ich halte die Pute. Holt Euch nur mit der Hand den Brief, den sie Euch vorenthalten will.‹

Ludwig geriet in grausame Verwirrung, so unziemlich dünkte es ihn, die Finger in den Ausschnitt der Jungfer zu stecken. Er konnte sich absolut nicht dazu verstehen, und in seiner Verlegenheit griff er eine silberne Zuckerzange vom Tisch und versuchte, damit das so innig versteckte Papier zu fassen. Doch vergebens, denn er hätte die Zange nun zudrücken müssen, wozu Ludwig sich aber nicht entschließen konnte. Und weil Marie schrie wie am Spieß und Ludwig beschuldigte, er quetsche ihre Brüste, zog Ludwig entmutigt die Zange zurück, warf sie wütend auf den Tisch und eilte spornstreichs davon.«

Es klopfte an der Tür.

»Meine Herren«, sagte die hereintretende Catherine, »darf ich mich zu Euch gesellen, oder habt Ihr noch Reichsdinge zu besprechen?«

»Sind wir fertig, mein lieber Domherr?« fragte ich.

»Das sind wir«, sagte Fogacer. »Wir sprachen über Mademoiselle de Hautefort und darüber, daß der König sie nun schon seit Jahren liebt.«

»Ist sie denn so schön?« fragte in zweifelndem Ton Catherine.

Ich zauderte, denn so harmlos die Frage klang, so gefährlich war die Antwort. Fogacer gab sie mit seiner gewohnten Rücksicht statt meiner.

»Sie ist blond, hat schöne blaue Augen, schöne Zähne, das Inkarnat ihres Alters und ist achtzehn.«

Das Lob klang, wie erwünscht, mäßig, die achtzehn Jahre gewissermaßen abschätzig.

»Aber worüber reden sie denn«, fragte Catherine, »wenn sie beim Gespräch einen halben Klafter Abstand halten?«

»Worüber kann der König schon reden?« versetzte Fogacer mit seinem langsamen, gewundenen Lächeln, »über Hunde, Pferde und die Jagd.«

»Und sie, was sagt sie?«

»Nichts. Sie sieht Ludwig aus großen blauen Augen an und hört zu.«

»Und was sagt der Kardinal zu der Liebe zu diesem ›Mädchen‹, wie Ihr sie nennt?«

»Zuerst war er sehr aufgebracht, aber da die Eltern von Mademoiselle de Hautefort sich weder gegen seine Person noch gegen seine Politik erklärten, fand er sich allmählich damit ab.«

***

»Monsieur, auf ein Wort, bitte.«

»Sind Sie es, schöne Leserin?«

»Ich bin’s.«

»Wie reizend! Sie wissen, ich schätze Ihre Gegenwart und Ihren Scharfsinn. Fragen Sie, teure Freundin, was Sie wollen, nur sagen Sie zuerst, ob Sie sich an den Herzog von Orbieu oder an seinen Chronisten wenden.«

»An seinen Chronisten.«

»Zum Glück. Denn angenommen, Sie würden den Herzog von Orbieu fragen, ob der auf Frankreich zurollende Krieg etwa ein Ausläufer des Dreißigjährigen Krieges sei, wüßte er Ihnen nicht zu antworten. Wir befinden uns im Jahr 1635, und der Herzog ist ja kein Seher, er kann also nicht wissen, daß dieser Krieg, der 1618 begann, erst 1648 enden wird.«

»Danke. Meine zweite Frage, wenn Sie erlauben, Monsieur: Wer sind die ›Kaiserlichen‹, die unsere Ostgrenze bedrohen und gegen die Ludwig sich durch die Eroberung Lothringens, die Besetzung des Elsaß’ und zu guter Letzt Speyers gesichert hat? Sind diese ›Kaiserlichen‹ Deutsche?«

»Im Jahr 1635, liebe Freundin, gibt es noch kein deutsches Kaiserreich. Deutschland ist ein Flickenteppich aus dreihundert Fürstentümern, großen und kleinen, regiert von Fürsten, Herzögen, Markgrafen und Burggrafen.«

»Burggrafen? Wie in dem Stück von Victor Hugo?«

»Das aber nicht eben historisch ist, denn Hugos Burggraf ist hundertzwanzig Jahre alt, hat einen Sohn von hundert und einen Enkel von achtzig Jahren, und wenn der Achtzigjährige den Schnabel auftut, herrscht ihn der Großvater an: ›Schweigt, junger Spund!‹ Übrigens gibt es in Deutschland auch Freie Reichsstädte und kaiserliche Reichsstädte.«

»Aber Sie sagten doch, Deutschland war 1635 noch kein Kaiserreich.«

»Richtig, der Kaiser war ein Habsburger, ein Österreicher also, verwandt mit dem König von Spanien und sein natürlicher Verbündeter. Und wie dieser ist Kaiser Ferdinand II. ein wütender Gegner der Hugenotten.«

»Wütend?«

»Wütend, wildwütend sogar. Eines Tages erklärte er, lieber wolle er über eine Wüstenei herrschen als über Ketzer. Spricht aus so schrecklichen Worten nicht der Wunsch nach Ausrottung?«

»Monsieur, Sie sagten Speyer sei eine kaiserliche Reichsstadt. Was heißt das? Was ist eine kaiserliche Reichsstadt in Deutschland, wenn das Kaiserreich österreichisch ist?«

»Eine kaiserliche Reichsstadt ist eine Freie Stadt, auf welche der Kaiser ein Auge geworfen und die er sich durch Gewalt angeeignet hat.«

»Ferdinand II. ist also auch einer der Fürsten, die sich gerne auf Kosten ihrer Nachbarn vergrößern?«

»Und die mit Spaniens Beistand in Europa eine Universalmonarchie errichten wollen, natürlich unter dem Vorwand, dem Herrgott zu dienen, indem man die Protestanten bis auf den letzten ausrottet. Leider hat die Verfolgung im Königreich Böhmen, das Ferdinand seiner Fuchtel unterworfen hat, längst begonnen. Wissen Sie von dem berühmten ›Prager Fenstersturz‹, mit dem die Schlacht um Böhmen begann, die sich zum Dreißigjährigen Krieg auswachsen sollte?«

»Fenstersturz? Was heißt das?«

»Nun, daß man jemanden aus dem Fenster wirft.«

»Das ist ja furchtbar!«

»Trotzdem ist es passiert. Am dreiundzwanzigsten Mai 1618 berieten auf dem Hradschin die kaiserlichen Statthalter Unterdrückungsmaßnahmen gegen die Ketzer. Mitten in der Sitzung drangen rund hundert tschechische Edelleute, die Delegierten der protestantischen Stände Böhmens, in den Ratssaal ein, bemächtigten sich der kaiserlichen Räte Slawata und Martinitz und ihres jungen Sekretärs und warfen alle drei aus dem Fenster.«

»Mein Gott, wie entsetzlich! Und waren alle drei tot?«

»Keineswegs. Allerdings war einer der Räte schwer verletzt, weil er auf Wegplatten gestürzt war. Aber der andere Rat und der junge Sekretär fielen auf einen Misthaufen, der dort nicht hätte liegen sollen. Sie taten sich nicht weh. Göttliche Vorsehung, riefen die Katholiken, das sichtbare Zeichen himmlischen Schutzes! Während die Protestanten meinten, der Misthaufen sei das Lager, das den Papisten am besten fromme, weil ihre Kirche durch ebenso stinkende Mißstände längst verrottet sei.

Nach diesem Gewaltstreich setzten die kämpferischen böhmischen Stände, die den Zorn des Kaisers fürchteten, ihr Landaufgebot in Bereitschaft. Den Befehl vertrauten sie dem Kurfürsten von der Pfalz, Friedrich V., an. In der Schlacht am Weißen Berg wurden sie von den Kaiserlichen grausam geschlagen, noch grausamer waren die hierauf folgenden Repressalien. Und damit, liebe Freundin, begann der Dreißigjährige Krieg. Doch will ich es heute hierbei belassen, um den Ereignissen nicht vorzugreifen.«

»Danke, Monsieur, daß Sie mir ein Licht aufgesteckt und geklärt haben, was in meinem Kopf verworren war. Wenn Sie erlauben, möchte ich Ihnen jetzt zwei ganz indiskrete kleine Fragen stellen.«

»Fragen Sie, Madame. Ich werde in meinen Antworten diskret sein für zwei.«

»Die Höflinge finden Sie abseitig, weil Sie in die Prinzessin von Guéméné verliebt sind, obwohl sie schon über Dreißig ist.«

»Ich bin in die Prinzessin von Guéméné nicht verliebt, ich habe sie sehr gerne, aber den Unterschied können diese Leute offenbar nicht verstehen.«

»Meine zweite Frage wage ich gar nicht zu stellen, so zudringlich erscheint sie mir.«

»Liebe Freundin, wer hätte gedacht, daß Sie plötzlich so schüchtern wären? Bitte, fragen Sie!«

»Am Hof erzählt man, einmal habe die Frau Herzogin von Orbieu Sie dabei überrascht, wie Sie an Madame de Guéméné einen langen Brief schrieben. Da habe sie über diesen Ihr ganzes Tintenfaß ausgegossen.«

»Das ist völlig frei erfunden. Niemals hätte Catherine sich zu einer solchen Geste hinreißen lassen.«

»Monsieur, nun noch eine Frage zum Dreißigjährigen Krieg: Warum ging der Krieg weiter, nachdem der böhmische Aufstand niedergeschlagen war?«

»Daran war der religiöse Fanatismus des Kaisers Ferdinand schuld und seine offenen oder heimlichen Versuche, in Deutschland seine Hegemonie zu errichten. Er brachte nicht nur die deutschen Fürsten gegen sich auf, sondern auch Dänemark und Schweden, die ihn nacheinander, mit unterschiedlichem Schlachtenglück, angriffen. Ferdinand büßte dabei ebensoviel Geld wie Ansehen ein.

Währenddessen blieben seine Verbündeten, die Spanier der Niederlande, die über jene fabelhafte, sogar von Henri Quatre bewunderte Infanterie geboten und die das amerikanische Gold mit vollen Händen ausstreuten, für unser Königreich furchtbare Gegner, zumal die Grenze, die uns von den spanischen Niederlanden trennte, so lang und so schwach befestigt war.

Als ich einem unserer Marschälle gegenüber bemerkte, daß Ludwig sich dank der Besetzung Lothringens und des Elsaß’ im Osten verstärkt habe, daß aber der Norden leer ausgehe, erwiderte er mir mit kaum verhohlener Herablassung: ›Das mag wohl sein, aber um unsere Nordgrenze zu verstärken, brauchte man mehrere Goldmillionen und ein halbes Jahrhundert Festungsbau. Unsere solide Ostbefestigung schließt wenigstens aus, daß die Kaiserlichen uns in die Flanke fallen, wenn die Spanier unsere Nordgrenze überschreiten.‹

›Das Gute ist also nur halbgut‹, versetzte ich hierauf.

›Ich würde eher behaupten‹, sagte der Marschall, indem er hochmütig seinen Schnurrbart zwirbelte, ›es ist das halbe Übel.‹«