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Planetenroman

 

Band 12

 

Tödliches Psychospiel

 

Der Jubiläumsflug eines Explorers – der Kampf um die Paradieswelt

 

Uwe Anton

 

 

 

Am Anfang des 23. Jahrhunderts: Von der Erde und den anderen Welten der Menschheit starten die Explorer des Solaren Imperiums in die Weiten der Milchstraße. Diese Raumschiffe erforschen Sonnensysteme und kartografieren die gigantischen Leerräume zwischen den Sternen. Die Flotte steht unter dem Kommando von Reginald Bull, dem ältesten Gefährten Perry Rhodans – er will den Menschen den Zugang zur Galaxis eröffnen.

Die Explorer sind nicht die Einzigen: Private Firmen sind auf der Suche nach Profit – sie wollen neue Planeten entdecken und für sich selbst ausbeuten. Ein Konflikt zwischen militärischen und zivilen Interessen ist kaum zu vermeiden.

Das zeigt sich bei einem öffentlichkeitswirksamen Explorer-Flug, an dem Medienvertreter teilnehmen. Über einer paradiesischen Welt kommt es zur Konfrontation mit dem Raumer eines privaten Konzerns, der am Rande der Legalität operiert. Ein gefährliches Psychospiel beginnt – bei dem es um viel mehr geht, als es den Anschein hat ...

Prolog

 

Generationen von Historikern haben sich die Frage gestellt, wie es im Vereinten Imperium um die Zusammenhänge zwischen Wirtschaft und Politik bestellt war. Ein Beispiel, das ein aussagekräftiges Schlaglicht auf diese Frage wirft, finden wir im Jahr 2222 alter Zeitrechnung.

Eine wichtige Rolle in der nachstehenden Abhandlung spielt der Cordan-Konzern, eine private Wirtschaftsmacht von offenkundig großem Einfluss. Der Konzern scheint nahezu unberührt von der Judikative des Imperiums zu existieren und wird illegaler Handlungen verdächtigt – dennoch lässt die Verwaltung des Imperiums es zu, dass kolonisierbare Planeten durch den Konzern »vorbereitet« werden, und kauft sie ihm dann sogar ab.

Sicherlich lässt sich vieles, das wir heute nicht verstehen, mit den Bedingungen der damaligen Zeit erklären: Der Zusammenschluss aus dem Solaren Imperium und dem der Arkoniden hatte zu einem großen Bereich geführt, der vermutlich mit den seinerzeitigen Kommunikationsmethoden kaum zu verwalten war. Dies ließ einzelnen Interessengruppen viel Platz, sich ihre eigenen »Nischen« zu schaffen, in denen sie auf Kosten des Imperiums Gewinne einfahren konnten.

Wir erfahren hier zudem interessante Details zu den Untiefen der frühen imperialen Kolonialpolitik: Bereits im frühen dreiundzwanzigsten Jahrhundert ist die Welt Nosmo bekannt. Später wird sie zuerst terranische Kolonie und dann die Keimzelle des terrafeindlichen Imperiums Dabrifa. Die Bedingungen für eine Besiedlung gelten als »ausgezeichnet«.

Und dennoch findet eine großmaßstäbliche Besiedlung erst im 26. Jahrhundert statt – als es schon lange kein Vereintes Imperium mehr gibt. Diese Details belegen, über welche Zeiträume die Entwicklung des Sternenreiches der Menschheit anzusiedeln ist. Besonders hier zeigt sich die langfristig denkende Planung, die der verlängerten Lebensdauer der Zellaktivatorträger geschuldet ist.

Indes wenig Wunder nimmt es, dass sich Reginald Bull etwas über einhundert Jahre später nicht mehr an die Episode mit dem Raumschiff auf Chrystiana I erinnert, als das Problem 2326 n. Chr. akut wird: Die Ortungsgeräte seines Schiffes waren nicht in der Lage, es genau anzumessen. Die Ereignisse beeinflusst hätte die Erinnerung an diese frühe Begegnung ohnehin nicht.

 

(Aus: Hoschpians unautorisierte Chronik des Solaren Imperiums; Abschnitt II.5.8, Wirtschaftliche und politische Grauzonen in der Zeit des Vereinten Imperiums)

 

Eins miteinander

 

Der Planet umkreiste eine Sonne vom Spektraltyp G2. Er befand sich in genau richtigem Abstand von dem gelben Zwergstern, und auch alle anderen Voraussetzungen für das Entstehen von Leben waren geradezu ideal.

Über Jahrmillionen hinweg konnte dieses Leben sich ungestört entwickeln.

Bis zu dem Tag, an dem die Fremden kamen.

Sie waren nicht eins miteinander. Sie waren jeder für sich.

Sie vermaßen sorgfältig die Oberfläche des Planeten, speicherten alle Daten in ihren Computer und stellten fest, dass diese Welt hervorragend dazu geeignet war, ihr eigenes, sich explosiv vermehrendes Leben aufzunehmen. Nach Abschluss ihrer Untersuchungen waren sie sehr zufrieden.

Dann kamen Artgenossen dieser Fremden. Der Planet verstand nicht, wieso, doch sie bekämpften sich und stritten sich um ihren Fund. Sie zogen Glutspuren über die Oberfläche und verletzten die Welt erneut, als ein künstliches Gebilde der unterlegenen Partei schließlich wie eine brennende Fackel ins Eins miteinander stürzte.

Der Planet musste sich schützen. Die Fremden weigerten sich, eins miteinander zu werden, und er griff sie an. Die Jeder für sich rissen weitere schwere Wunden in die Welt, waren am Ende jedoch hoffnungslos unterlegen. Bevor der Letzte von ihnen starb, vernichtete er auf eine Art und Weise, die die Welt nicht verstand, das Innere des Gebildes, mit dem die Fremden auf den Planeten gestürzt waren. Diejenigen, die in der Umlaufbahn zurückgeblieben waren, flohen entsetzt und mieden den Planeten von nun an. Das künstliche Gebilde blieb zurück.

Die Verletzungen, die man der Welt zugefügt hatte, schmerzten noch lange, doch irgendwann heilten sie. Der Planet vergaß die Jeder für sich und schickte sich an, das zurückgelassene Objekt zu vereinnahmen.

Der Planet zog weiterhin seine Bahn um die Sonne. Ein Umlauf folgte dem anderen.

Zehn Umläufe.

Hundert.

Der Planet war wieder eins miteinander.

Zeit spielte für diese Welt keine Rolle, doch viel, viel später kamen andere Fremde.

Sie vermaßen sorgfältig die Oberfläche des Planeten, speicherten alle Daten in ihren Computer und stellten fest, dass diese Welt ideal dazu geeignet war, ihr eigenes, sich explosiv vermehrendes Leben aufzunehmen. Und sie fanden, was die ersten Besucher zurückgelassen hatten.

Diese Fremden verletzten den Planeten nicht, als sie auf ihm landeten. Dennoch war die Welt erleichtert, als sie sich kurz darauf wieder entfernten. Sie verließen den Planeten so plötzlich, wie sie gekommen waren.

Doch dann kehrten sie erneut zurück.

Auch sie waren jeder für sich.

Wollte der Planet überleben, musste er sie töten oder versuchen, sie eins mit ihm zu machen.

Kapitel 1

Reginald Bull

 

Staatsmarschall Bull mochte Tulz Mjura, den Kommandanten der EX-2222, nicht besonders. Mjura wurde den Anforderungen, die man an den Befehlshaber eines Raumschiffes der Explorerflotte stellen musste, vollauf gerecht: Er stand das anstrengende Programm bravourös durch, verhielt sich zu sämtlichen Gästen an Bord stets verbindlich und schien seine Besatzung hervorragend im Griff zu haben. Dennoch war der Kapitän der GOLDEN JUBILEE Reginald Bull suspekt.

Verdrossen kniff der Staatsmarschall die Augen zusammen, während Mjura die fünfzig Journalisten einzeln und mit Handschlag am Schott der Zentrale begrüßte. Vielleicht trübte auch der Neid sein Verhältnis zu dem groß gewachsenen, dunkelhaarigen und unbestritten gut aussehenden Mann. Irgendwie wurmte es Bull, wie leger und freundlich der Kommandant mit den Würdenträgern umging. Und das, obwohl Mjura ihm durch sein verbindliches Verhalten einen Großteil der Bürde abnahm, die dieser Flug mit sich brachte.

Allmählich wurde es in der Zentrale der EX-2222 unangenehm eng. Der Chef der Explorerflotte trat einen Schritt zurück, bis er mit dem Rücken die Instrumentenkonsole vor dem Panoramabildschirm berührte. Allerdings verfügte er noch über Freiraum; die handverlesenen Gäste näherten sich ihm nur zögerlich. War es die Scheu vor einem relativ Unsterblichen, oder nahmen sie instinktiv Bulls Unbehagen wahr?

Neben ihm räusperte sich Shuls Osterbaan, der Feuerleitoffizier des Raumschiffs; er musterte angestrengt das Terminal der Bordpositronik links von ihm und bemühte sich, niemanden offen anzusehen. Auf seinem rundlichen Gesicht standen Schweißtropfen; die lockigen blonden Haare klebten ihm auf der Stirn. Osterbaan litt offensichtlich an starken Beklemmungen; man merkte ihm seine Unsicherheit deutlich an.

Bull fragte sich, wie Osterbaan es überhaupt geschafft hatte, auf diesem Flug eingesetzt zu werden. Der Feuerleitoffizier war gut zwei bis drei Köpfe kleiner als der Staatsmarschall, dafür aber wesentlich beleibter. Nicht nur sein Gesicht, einfach alles an ihm war rundlich. Wie hatte so jemand überhaupt die Aufnahmeprüfung der Flotte überstehen können, von den regelmäßigen Bewertungen ganz zu schweigen?

Jetzt hör aber auf, mahnte Bull sich. Die zahlreichen Reden, die endlosen Tischgespräche, die wiederholten Erklärungen über Sinn, Notwendigkeit und Aufgabe der Explorerflotte gingen ihm auf die Nerven. Statt fast ein Jahr lang den Touristenführer für mehr oder weniger bedeutende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zu spielen, hätte er gern das getan, wovon er nun lediglich sprechen durfte: neue Welten erkunden, unbekanntes Leben erforschen. Irgendetwas unternehmen.

Seine Unzufriedenheit veranlasste ihn, von Äußerlichkeiten auf das Wesen eines Menschen zu schließen. Er hatte Osterbaan noch nicht im Einsatz gesehen, wusste nichts von seinen Qualitäten. Vielleicht war er ja ein wahrer Zauberer auf der Feuerorgel, auch wenn die EX-2222 nur über eine Pro-forma-Bewaffnung verfügte. Schließlich handelte es sich bei ihr um ein Forschungsraumschiff zur friedlichen Erkundung der Galaxis.

Aus den Augenwinkeln nahm Bull wahr, dass der Offizier sich plötzlich reckte, die Schultern herausschob und versuchte, den Bauch einzuziehen – bei ihm ein allerdings noch hoffnungsloseres Unterfangen als beim Staatsmarschall selbst. Er sah zum Eingang der Hauptzentrale hinüber.

Natürlich. Hatte er es doch geahnt! Etwa vierzig der fünfzig Pressevertreter waren mittlerweile von Mjura begrüßt worden, und nun wechselte der Kommandant einen Händedruck mit einer – zumindest in Bulls Augen – blutjungen Journalistin. Das Mädchen war eher unscheinbar; nicht besonders groß, nicht besonders auffällig. Eine durchschnittliche Erscheinung.

Früher hätte man unscheinbares Häschen dazu gesagt, dachte Bull und verzog das Gesicht zu einem leichten Schmunzeln. Und doch führten Mjura und Osterbaan, wenn sie sich in ihrer Nähe befanden, einen Balztanz auf, über den man nur den Kopf schütteln konnte.

Bull hatte die Angelegenheit noch nicht ganz durchschaut. Anscheinend hatte der Feuerleitoffizier ein Auge auf die Reporterin geworfen, und sein Vorgesetzter schien ihn ausspielen und in den Hintergrund drängen zu wollen. Dabei sah, und das gestand der Staatsmarschall neidlos ein, Mjura hervorragend aus und hätte wohl jede Frau haben können, die auf solche Äußerlichkeiten Wert legte.

Vielleicht kann ich ihn genau deshalb einfach nicht leiden, dachte Bull. Vielleicht ist er jener Typ von Mann, der zwanghaft seine Männlichkeit beweisen muss, wenn eine Frau in der Nähe ist, auch wenn sie ihn gar nicht interessiert. Und obwohl er gar nicht an der kleinen Journalistin interessiert ist, nimmt er dem Feuerleitoffizier allein durch seine Anwesenheit jede Chance.

Schluss damit! Bull rief sich zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit zur Ordnung. Das kommt davon, wenn man Frauen an Bord lässt. Von den Besatzungsmitgliedern natürlich einmal abgesehen ...

Aber zornig war er eher auf sich selbst. Er hatte schon wieder vom Aussehen auf die Qualitäten eines Menschen geschlossen. Zuerst bei Osterbaan, jetzt bei dieser Frau. Ich müsste mittlerweile doch ein so alter Esel sein, dachte er, dass ich mich auf dieses Glatteis nicht mehr begebe ...

Es kam Bulls Seelenheil zugute, dass Mjura die Begrüßung mittlerweile abgeschlossen hatte und auf das kleine Podest gestiegen war, das man vor der säulenförmigen Umhüllung des von Pol zu Pol führenden Antigravschachts in der Mitte der Zentrale errichtet hatte. Bull atmete auf. Jetzt ging es endlich los, und bald würde das Schlimmste überstanden sein.

»Meine Damen und Herren«, sprach der Kommandant in das Mikrofon auf der Mitte des Podests, »ich darf Sie herzlich zum vorläufigen Höhepunkt unserer Reise begrüßen, die uns in einen im Ostteil der Galaxis gelegenen Sektor geführt hat.«

Mjuras Rumpfmannschaft war ein eingespieltes Team. Auf dem Panoramaschirm erschien auf den Sekundenbruchteil genau zum Stichwort eine detaillierte Darstellung der Milchstraße. Die Position der Erde war rot hervorgehoben, und der Weg, den das Raumschiff genommen hatte, war als dicke helle Linie wiedergegeben.

»Seit vierzehn Tagen befinden Sie sich nun schon an Bord der EX-2222, und Sie haben einen Einblick in das alltägliche Leben auf einem Raumschiff und die selbstgestellte Aufgabe der Explorerflotte gewinnen können. Nachdem wir bereits zahlreiche Sonnensysteme kartografiert haben, sind wir nun auf einen Planeten gestoßen, den nie ein Mensch zuvor gesehen hat und der zu einer eingehenden Erkundung geradezu auffordert.«

Die kleine Lüge ging Mjura glatt über die Lippen; zumindest fiel sie bei der pathetischen Gemächlichkeit, mit er sprach, nicht weiter auf. Der Kommandant der EX-2222 sollte keine mitreißende Rede halten, sondern den Gästen verdeutlichen, von welch herausragender Bedeutung dieser Augenblick war. Die Erkundung eines neu entdeckten Planeten, der Menschen auf den ersten Blick ideale Lebensbedingungen bot.

Diesen Planeten allerdings – auf dem Schirm erschien gerade eine Darstellung des gesamten Sonnensystems – hatte durchaus schon einmal ein Mensch gesehen. Zwar nur aus einiger Entfernung, aber lange genug, um ihn umfassend zu untersuchen und festzustellen, dass er gute Bedingungen für eine Besiedelung bot. Denn dies war die eigentliche Aufgabe der Explorerflotte des Vereinten Imperiums: die Auffindung und Erforschung von Planeten, die sich zur Kolonialisierung durch Menschen eignen.

Reginald Bull hatte sich als Chef der Flotte verleiten lassen, eine Idee aufzugreifen, die an einem Silvesterabend entstanden war. Nun bedauerte er allmählich, sich damals, vor über zwei Jahren, dafür begeistert zu haben. Die Finanzierung der Flotte war zwar durch Zuweisungen aus dem Staatsetat gesichert, doch das Interesse der Führungsspitze des Imperiums musste es natürlich sein, zum Ersten die Akzeptanz der Idee Explorerflotte in der breiten Öffentlichkeit zu fördern, zum Zweiten die Wirtschaft zu motivieren, in die Explorerflotte zu investieren, und zum Dritten über Spenden und den Verkauf von Staatsobligationen den Ausbau der Flotte zu gewährleisten.

Der Staatsmarschall wusste es nicht mehr genau, doch wenn er sich nicht sehr irrte, hatte ausgerechnet Gucky ihn darauf angesprochen, nachdem das Feuerwerk über Terrania erloschen und das Knallen der Sektkorken in Rhodans Bungalow am Goshun-See verklungen war. »Sag mal, Dicker, willst du nicht mal was für das Image deiner schrottreifen Erkundungsschiffe tun?«

Bull hatte sich jeder Bemerkung zur Wortwahl des Mausbibers enthalten. Ein Rundflug über den See hätte zwar zur Erheiterung der Feiernden, aber nicht unbedingt zu seiner eigenen beigetragen.

»Ich meine, so richtig«, fuhr Gucky fort. »Deine armseligen Schiffe tragen doch alle so alberne Nummern.«

Bull wusste genau, dass der Ilt wusste, was es mit der Nummerierung des Explorers auf sich hatte. Also nickte er nur.

»Wie viele hören auf dein Kommando? So um die zweitausend, wenn ich mich nicht irre?«

»Ja, so ungefähr«, antwortete Bull vorsichtig. Wenn er doch nur ahnte, worauf der Mausbiber hinauswollte ...

»Und wie viele kommen pro Jahr dazu?«

»Unterschiedlich. Zurzeit etwa zweihundert.«

»Und in zwei Jahren werden wir das Jahr 2222 feiern. Nach Menschenrechnung.«

Das ließ sich nicht bestreiten. Bull konnte sich wirklich nicht vorstellen, dass die Völker der Milchstraße sich jemals, geschweige denn in naher Zukunft, einigen und eine neue – vielleicht sogar galaktische – Zeitrechnung einführen würden.

»Was«, bohrte Gucky weiter, ohne die sowieso überflüssige Antwort abzuwarten, »wenn du das zum Anlass nimmst, mal ordentlich die Werbetrommel für deine Spielzeuge zu rühren?«

»Und wie?«, fragte Bull.

Gucky verdrehte die Augen. »Muss man dir denn alles groß und breit erklären? Lade wichtige Leute zu Flügen auf dem neuesten Explorer ein. Bitte sie an Bord deines 2222. Schiffes, das am 22. Zweiten des Jahres 2222 um Punkt 22.22 Uhr vom Stapel läuft.«

Bull hatte den Vorschlag zuerst als Schnapsidee abgetan. Natürlich hatte er sich davor gehütet, dies dem Mausbiber so eindeutig zu sagen. Doch nachdem er mehrere Nächte darüber geschlafen hatte, hatte die Idee ihn auf einmal geradezu elektrisiert. Wichtige Personen des öffentlichen Lebens auf großer Erkundungsfahrt, begleitet vom Staatsmarschall persönlich ... Sympathiewerbung erster Güte für die Explorerflotte!

Nach reiflicher Überlegung hatte man sich jedoch entschieden, nicht nur eine solche Reise zu unternehmen, sondern sieben – aus Sicherheitsgründen. Es war Rhodan zu gefährlich erschienen, drei- oder vierhundert Persönlichkeiten des Imperiums gleichzeitig auf große Fahrt in unbekannte Regionen zu schicken. Dann schon lieber sieben monatliche Trips mit je fünfzig ausgesuchten Passagieren. Gucky hatte den Begriff »Risikostreuung« geprägt und war damit der Wirklichkeit ziemlich nahegekommen.

Um den Ehrengästen größtmöglichen Schutz bieten zu können, hatte man als 2222. Schiff der Explorerflotte einen modifizierten Leichten Kreuzer der STAATEN-Klasse in Dienst gestellt, eigentlich einen Angriffskreuzer von einhundert Metern Durchmesser mit doppelwandiger Panzerung. Die Bewaffnung war etwas gedrosselt worden, um Platz für wissenschaftliche Stationen und die modernsten Ortungsinstrumente zu schaffen. Des Weiteren war die Besatzung von regulär einhundertfünfzig Mann auf einhundert reduziert worden, um die fünfzig Gäste in zwar nicht luxuriösen, aber doch bequemen Quartieren unterbringen zu können, die später zu normalen Mannschaftsräumen abgespeckt werden konnten.

Auch in anderer Hinsicht war man auf Nummer sicher gegangen. Sollten die einflussreichen Passagiere sich später tatsächlich für die Explorerflotte engagieren, musste man ihnen ein Erfolgserlebnis bieten. Die große Begeisterung für die Erkundung neuer Welten würde ausbleiben, wenn man vier Wochen durchs All kreuzte, ohne auch nur einen Planeten zu finden, auf den ein Normalsterblicher freiwillig seinen Fuß setzen würde.

Daher führte die Reise in der ersten Woche zwar tatsächlich in unbekannte Regionen. Sollte man dort jedoch nicht fündig werden, befanden sich in der Bordpositronik die Koordinaten einer bereits von einem anderen Explorer entdeckten, aber nicht näher erforschten Welt, die ganz in der Nähe lag. Zur ersten Erforschung dieser Welt blieb dann noch immer vierzehn Tage Zeit – der Höhepunkt und das Erfolgserlebnis dieser Reise.

Und das war die kleine Lüge, die der Kommandant so glatt ausgesprochen hatte. Auf den ersten drei Expeditionen waren tatsächlich völlig unbekannte Welten entdeckt worden. Nun jedoch hatte man Pech gehabt und zum ersten Mal auf den Notplan zurückgreifen müssen.

Aber damit nicht genug. Fing man erst einmal damit an, die Wahrheit etwas ... nun ja, zu korrigieren, konnte man damit so schnell nicht wieder aufhören. Der Eigenname der EX-2222 – GOLDEN JUBILEE – deutete zwar darauf hin, dass mit diesem Schiff das goldene, also fünfzigjährige Jubiläum der Explorerflotte gefeiert wurde, doch das entsprach nicht den Tatsachen. Zudem war die EX-2222 nicht unbedingt genau das 2222. Schiff, das die Flotte in den Dienst gestellt hatte. Aber die Duplizität zwischen Schiffsbezeichnung und Datum war so verlockend gewesen, dass der Staatsmarschall auf diesen kleinen Schwindel nicht hatte verzichten wollen.

Bull riss sich aus seinen Gedanken. Mjura war fast am Ende der Rede angelangt und würde das Wort gleich an ihn übergeben. Doch zuvor gebührte ihm als Kommandanten des Raumschiffes ...

»... die Ehre«, sagte Mjura gerade, »dem von uns entdeckten Planeten einen Namen zu verleihen. Einer alten Tradition der Explorerflotte gemäß darf ich das jüngste Mitglied der geehrten Pressevertreter ...«

Von diesem Brauch hatte Bull zwar noch nie gehört, aber der vorhergehende Satz entsprach der Wahrheit. Obwohl Bull als Staatsmarschall und Chef der Explorerflotte ranghöher war, galt er offiziell als Gast an Bord, und der Kommandant eines Explorers hatte tatsächlich das Recht, Sonnen und Planeten zumindest vorläufig offiziell zu taufen. Und es war abgesprochen, dass während dieser Reise Neuentdeckungen nach einem der Gäste benannt wurden.

Bull sah, dass Feuerleitoffizier Osterbaan plötzlich die Hände ballte. Jetzt übertreibt Mjura es aber wirklich, dachte er. Das kann er doch nicht machen ...

»... zu mir auf das Podium bitten.«

Er konnte es, und er tat es. Der Kommandant der EX-2222 deutete lächelnd und mit einer ausholenden Handbewegung auf die junge Journalistin. Verwirrt sah das Mädchen zu ihm hoch, und Mjura nickte auffordernd.

Nun ja, vielleicht ist es doch eine Frau, dachte Bull. Wenn man fast 285 Jahre alt ist, kommen einem mitunter auch Menschen, die sich schon für sehr erwachsen halten, noch wie Kinder vor.

Das Mädchen – die Frau – löste sich aus der Menge der Presseleute und schritt zögernd die drei Stufen empor, die auf das Podest führten. Mjura ergriff sie an der Hand und führte sie lächelnd zur Mitte des Podiums. Dann deutete er auf den Panoramaschirm, und die Journalisten drehten sich wie ein Mann um einhundertachtzig Grad zu dem Schirm.

»Hiermit taufe ich diese Sonne auf den Namen Chrystiana«, sagte Mjura. »Und ihre beiden Planeten taufe ich vorläufig auf die Namen Chrystiana I und Chrystiana II. Ich muss jedoch ...«

Der Kommandant der EX-2222 hielt inne, als Applaus erklang, zuerst spärlich und höflich, dann immer lauter. Die Kunstpause, die er einlegte, war ein weiterer Beweis dafür, dass er sich tatsächlich darauf verstand, die Stimmung der Passagiere in die gewünschten Bahnen zu lenken.

»Ich muss jedoch darauf hinweisen«, fuhr er fort, nachdem der Beifall verebbt war, »dass es späteren Kolonisten, sollte diese Welt jemals besiedelt werden, vorbehalten bleibt, dem von ihnen in Besitz genommenen Planeten einen neuen Namen zu geben.« Nahtlos lenkte er zum nächsten Programmpunkt über: »Und nun möchte ich unseren Gastgeber auf die Bühne bitten. Begrüßen Sie gemeinsam mit mir ... Staatsmarschall Reginald Bull, den Chef der Explorerflotte!«

Respektvoll wichen die Pressevertreter vor ihm zurück, als er zu dem niedrigen Podest schritt. Bull atmete geradezu erleichtert auf; das Warten war vorbei. Eine kurze Rede, dann einige Erläuterungen zu dem Planeten, den sie »erkunden« würden; anschließend etwas Small Talk beim Sektempfang und kleinen Imbiss, und morgen würden sie mit drei Shifts nach Chrystiana I hinabfliegen und endlich etwas tun.

Die einleitenden Worte kamen fast von allein über die Lippen des Staatsmarschalls; schließlich hielt er diesen Teil der Rede zum vierten Mal. Die Bedeutung der Explorerflotte für die Erkundung der Galaxis ... das Aufspüren neuer Welten für die Besiedlung durch Bewohner der Erde ... die erhöhte Sicherheit für die Menschheit, die proportional mit jeder Welt wuchs, die dem Vereinten Imperium angeschlossen wurde ... die technischen Innovationen, die mit dem Raumschiffsbau Hand in Hand ging ... und, nicht zuletzt, das grandiose Abenteuer der Erkundung der Milchstraße, an dem die Gäste nun einen Monat lang teilnehmen konnten ...

Abenteuer, dachte Bull fast zynisch. Dieser Flug der EX-2222 war so ereignislos verlaufen wie die drei vorherigen, und auch die drei nächsten würden sich genauso langweilig und vorhersagbar abwickeln ...

Er bat die Gäste, sich zu der Darstellung des Sonnensystems auf dem Panoramaschirm umzudrehen. »Wie Sie sehen«, fuhr er fort, »handelt es sich bei der Sonne Chrystiana um einen Fixstern, der unserer Sonne verblüffend ähnlich ist. Ihr Durchmesser beträgt knapp 1,5 Millionen Kilometer, sie ist also etwas größer als Sol, und der Umfang des Sonnendurchmessers beträgt fünf Millionen Kilometer. Allerdings wird Chrystiana nur von zwei Planeten umkreist. Der erste ist um fünf Prozent kleiner als die Erde, seine Schwerkraft ist also etwas geringer als die, unter der Sie aufgewachsen sind – was, wie ich Ihnen aus Erfahrung bestätigen kann, ganz angenehm ist. Der Planet ist mit einer mittleren Entfernung von 165 Millionen Kilometern etwas weiter von seinem Fixstern entfernt als die Erde von Sol. Da Chrystiana jedoch etwas größer als unsere Sonne ist, liegt er genau in der Leben spendenden Zone und bietet geradezu ideale Bedingungen für die Besiedlung durch Menschen.«

Bull ging anschließend noch kurz auf den zweiten Planeten ein, einen Gasriesen von fast doppelter Jupitergröße, der seine Sonne in über 950 Millionen Kilometern Entfernung umkreiste, und auf die ungewöhnlich hohe Anzahl von über 800.000 Planetoiden und Asteroiden, die zum System gehörten.

»Wahrscheinlich verfügte dieses Sonnensystem bei seiner Entstehung nicht über so viel Masse, dass sich mehr als diese beiden Planeten bilden konnten. Stattdessen ist eine Vielzahl kleinerer und kleiner Planetenkörper entstanden. Während unseres Aufenthaltes wird die astrophysikalische Abteilung gemeinsam mit einem Teil unserer Gäste versuchen, Licht in diese Sache zu bringen.«

Bull kam zum Schluss: »Und nun darf ich Sie zur Feier unserer Entdeckung zu einem kleinen Empfang bitten. Wir haben bereits alles vorbereitet. Entspannen Sie sich, morgen wartet harte Arbeit auf uns.«

Harte Arbeit, dachte er ironisch, während höflicher Applaus erklang. Routinemäßige Untersuchungen, eine Landung auf dem Planeten unter Einhaltung aller gebotenen Vorsichtsmaßnahmen. Überraschungen waren nicht zu erwarten ...

 

Während Besatzungsmitglieder die vorbereiteten Getränke reichten, mischte er sich unter das Publikum. Er schüttelte schwach den Kopf. Ingenieure, die normalerweise für die reibungslose Funktion der Kalupschen Konverter sowie der Impuls- und Antigravtriebwerke sorgten, schenkten nun Sekt nach; Piloten, die sonst Bereitschaftsdienst schoben, um sich bei einem Notfall umgehend in die Drei-Mann-Zerstörer und Ein-Mann-Jäger zu begeben, servierten Appetithappen.

Unwillkürlich strebte er einer Gruppe entgegen, die sich um den Kommandanten gebildet hatte. Es verwunderte ihn nicht, dass ihr auch die kleine Journalistin und der Feuerleitoffizier angehörten. Osterbaan schien einen Witz gemacht zu haben, über den niemand außer ihm gelacht hatte, und hing dann wieder gebannt an den Lippen der Frau, der zu Ehren ein Planet gerade auf den Namen Chrystiana getauft worden war.

Bull schnappte einen Gesprächsfetzen auf. »In unserer Familie pflegen wir die Tradition, dass die Frau ihren Namen bei einer Ehe behält. Der Verlobte muss sich sogar verpflichten, bei der Unterzeichnung des Ehevertrags den Namen der Frau anzunehmen ...«

Der Feuerleitoffizier hätte gegen diesen Brauch bestimmt nichts einzuwenden, überlegte Bull spöttisch, wurde dann aber abgelenkt, als der Chefredakteur einer terranischen Fachzeitschrift für Raumschifftechnik ihn bat, ihm zusätzliches Informationsmaterial über die Explorerflotte zukommen zu lassen. Bull versprach, am Ende der Reise würde er ein umfassendes Paket erhalten, und für weitere Fragen stünden nach der Rückkehr zur Erde seine Mitarbeiter zur Verfügung.

Ein etwas lauterer Wortwechsel erregte seine Aufmerksamkeit; er drehte sich wieder zu der Gruppe um Kapitän Mjura um. Bislang war Bull die junge Journalistin eher zurückhaltend, ja fast schüchtern vorgekommen, doch nun schien ein Thema zur Diskussion zu stehen, bei dem sie ihre Meinung zum Ausdruck brachte.

»Natürlich unterstütze ich den Ausbau der Explorerflotte«, sagte sie und schien damit offene Türen einzurennen. »Ich bin davon überzeugt, dass die Zukunft der Menschheit im All liegt. Wir werden Kolonien gründen, und es werden neue Ausprägungen der Gattung Homo sapiens entstehen ...«

»Umweltangepasste, meinen Sie?«, fragte Osterbaan.

»Genau«, bestätigte Chrystiana. »Menschen, die auf Planeten mit höherer oder niedrigerer Schwerkraft geboren werden und aufwachsen, Menschen, deren Erbmasse verändert wird ...«

Bull trat zu der Gruppe, und alle sahen ihn an und verstummten. »Wie bei Siga?«, fragte er.

»Das ist ein hervorragendes Beispiel«, sagte die junge Journalistin. »Bei Gladors Stern kommt es aufgrund der spezifischen Strahlungskomponente der Sonne doch zu einer Verkleinerung der Kolonisten, nicht wahr?«

»Bereits seit der zweiten Generation«, bestätigte Bull. »Allerdings haben wir diesen Einfluss noch nicht völlig erforscht. Aber wir arbeiten daran, Miss ...« Verdammt, dachte Bull, wie heißt die Kleine noch gleich?

»Sagen Sie einfach Chrystiana zu mir«, ergänzte das Mädchen. »Wenn schon eine Sonne nach mir benannt wird ...«, sie lächelte Mjura an, und Bull bemerkte, dass Osterbaans Blick noch finsterer wurde, »... werde ich mich wohl daran gewöhnen müssen, dass alle mich beim Vornamen nennen.«

Der Staatsmarschall lächelte gequält. »Dann bestehe ich darauf, dass Sie mich Bully nennen. Wenn ich nicht in der Nähe bin, tut das sowieso jeder.«