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Reiner Schöne

Werd ich noch jung sein, wenn ich älter bin

Erinnerungen und Storys

FUEGO

Über dieses Buch

Sex & Drugs & Rock’n’Roll, Freiheit, Lebenswille - politischer Aufbruch der Achtundsechziger

„Werd ich noch jung sein, wenn ich älter bin“ ist eine Zeitreise von den Bombennächten in Weimar, durch die alte DDR in den Goldenen Westen, weiter in den Wilden Westen Amerikas, nach Hollywood und wieder zurück nach Germany.

Reiner Schöne schreibt über seine Begegnung mit der Gospel-Legende Mahalia Jackson, sein erstes Konzert in der Prerower Seemannskirche, für das er Werbeflyer auf den Zeltplatztoiletten aushängte, von der Arbeit mit Clint Eastwood und Kris Kristofferson, erzählt von seinen Erfolgen in »Hair« und »Jesus Christ Superstar« und von den Dreharbeiten zu »Star Trek«. Er nimmt die Leser mit zu den Locations seiner Abenteuerfilme und Western, lässt sie teilhaben an seinen Höhepunkten und Tiefschlägen – eine Zeitreise nicht nur durch sein Leben. Eine Zeitreise, die eine Epoche und deren ganze Jugend formte. Es wird lebendige Geschichte erzählt, für die heutige Generation, die dadurch Teil nimmt an einer für die heutige Kultur so prägenden Zeit.

Für Sophie Charlotte

Homesick Blues

I’ve been away too long my love, I’m comin’ home

I’ve been away too long my love, I’m comin’ home

Too many faces in too many places

And none of them yours

I hate to wake up in yet another empty motel room

I hate to wake up in yet another empty motel room

I close my eyes and try to see the sweetness of your face

It’s not he homesick blues that gets me by the balls

It’s not he homesick blues that gets me by the ball

It’s just the emptiness I feel when I am gone and you’re not here

I’m losing track how many weeks it’s been so far

I’m losing track how many weeks it’s been so far

Maybe seven down, but baby, hey, it’s only one to go

Killarney, Irland, 10. Juli 2007

Vorwort

Sommer 1977. Wir sind mitten in den Vorbereitungen zu meinem zweiten Album (das erste heißt »Bluesfaces« und ist schon ein paar Jahre alt). Konstantin Wecker, Harold Faltermeier und ich schreiben, arrangieren und lassen die Songs entstehen. Ich verehre Curd Jürgens, dem sie den schönen Song »Sechzig Jahre und kein bisschen weise« auf den normannischen Leib geschrieben hatten.

Ich will so was Ähnliches schreiben, meine Weisheiten in Text und Töne setzen, aber ich bin halb so alt und laboriere rum mit banalen Zeilen wie »Wenn ich mal Sechzig bin…« schreibe und bleibe stecken. Wecker sagt, »Gib mir das mal, ich will mal sehen, was mir einfällt,« und kommt am nächsten Tag mit einem wunderschönen Song ins Studio. »Werd ich noch jung sein, wenn ich älter bin?« Catchy, ohrwurmig, berührend. Hucky F. schreibt das Arrangement, es wurde der Titelsong des Blauen Albums - der Rest ist History.

Mit der zweiten Reiner Schöne Band, meinen Hannöverschen Jungs, wurde die Gangart härter; bei unserer ersten Tour 1979 kam noch das Liedermacherpublikum, die »Werd ich noch jung sein…« – Connaisseurs, aber beim ersten Brett, das geflogen kam, die Gitarren auf 10, hielt sich unten alles die Ohren zu. Das Rock’n’Roll-Leder, auch schon mal ein scheues Stagediving, vor allem aber die Lautstärke verprellten die Altfans - gewannen mir aber auch viele neue Freunde der Deutschrockerei.

Und seit Jahren werde ich immer wieder gefragt, »Wo kann man den Song kriegen?«, aber die LP ist vergriffen, manchmal sehe ich sie auf Flohmärkten oder im Schrank von Freunden.

Die Musik der neuen, der dritten Reiner Schöne Band ist akustisch geworden, bluesbetont, passt in keine gängige Musikindustrie–Schublade, Singer/Songwriter-Musik heißt das heute, und der alte Wecker-Kollaborations-Song ist jetzt wieder - nach all den Jahren – meine Standard-Zugabe bei unseren Gigs. Und da die Nachfrage nach dem Song nicht nachgelassen hat, gibts davon endlich ein Remake auf unserer ersten gemeinsamen CD.

Das neue Album heißt nach dem Titelsong »Mitten ins Herz«, und das sollte auch der Titel des Buches und somit des Hörbuchs sein.

Beim Abhören der Tracks im Auto auf dem Heimweg von der Schule meiner Tochter kam mir die Erleuchtung: Bullshit, der Titel des Buches muss natürlich heißen »Werd ich noch noch jung sein, wenn ich älter bin«, wie das Lied, das sich seit 1977 wie ein roter Faden durch mein Leben zieht.

So soll es sein.

Reiner Schöne, Berlin, 10. Februar 2012

Ganz nah

Dein Lächeln steckt an

Es kommt aus der Unschuld

Aus der Tiefe der Seele

Und ich wünsche mir

Dass es bleibt

Es macht mich froh

Und ich erkenne mich darin wieder

Wenn ich dir in die Augen seh

Von ganz nah

Dann seh ich mich selbst

Dann erkenn ich mich wieder

Wie ich war

Mit einem Jahr

Oder zwei

Oder vier

Die Nähe bleibt uns

Für immer

Das andere Ende des Regenbogens

Er öffnet die Augen, bevor er aufwacht. Begreift nichts. Wo bin ich, warum liege ich hier zwischen all den Blumen? Erst als ihm eine nasse Schnauze ins Gesicht gestupst wird, klicken langsam die Sinne ein. Wie Ikonen auf einem alten Computer. Eine nach dem andern, wie in slow motion. Neben ihm steht ein türkiser Truck, das Radio ist an, und irgendein Commercial stört den Frieden. Er steht auf, steif und mit Schmerzen im Rücken und macht das Radio aus. Was war los, warum bin ich hier?

Ein Blick auf den Hund bringt ihn zurück zur Realität. Irgendwie war alles zuviel, too much von allem, und er hat sich einfach rausfallen lassen aus seinem Leben. Nur noch weg. Allein sein. Nachdenken oder nicht Nachdenken. Treiben lassen. Stundenlang ist er durch die Wüste gefahren, nur als der Hund unruhig wurde, hatte er gehalten und ihn rausgelassen. Und um irgendwo einen Burger und einen Kaffee in seinen unschlüssigen Magen zu tun. Mechanisch, Hunger war nicht wirklich da.

»Komm her, Julie«. Die Hündin drückt sich an ihn. Sie war schon immer sensibel. Wann immer es ihm nicht gut ging, sie hat es gespürt und war ihm dann noch näher. Hunde haben eine Antenne für menschliche Miseren. Hündinnen vielleicht noch eher als Rüden. Er hatte noch nie einen Rüden. Er hatte überhaupt noch nie einen Hund. Sie ist sein erster.

Die Sonne geht unter, die Grillen werden wach, der Hund jagt einen Jack Rabbit, keine Chance, der Hase wird überleben.

Ist es das, was er wollte? Er lässt sich fallen, macht sich ganz leer, zieht alle Antennen ein und starrt in den Himmel. An nichts denken. Geht das? Als die Hündin zurück kommt, legt er seinen Arm um das hechelnde Tier und steckt seinen Kopf in das schwarze Fell. Sie riecht gut, ganz anders als andere Hunde. Selbst wenn ihr Fell nass ist, ist das immer noch ein schöner Geruch. Er presst sein Gesicht an ihren Kopf und zieht den Hundeduft ein. Ein vertrauter Geruch. Unbedrohlich. Er legt sie langsam auf den Rücken und kniet über ihr. Legt beide Hände um ihren dicken Hals und massiert sie, bis sie das Maul aufklappt und die Zunge raushängen lässt. Das ist das abgemachte Signal zwischen beiden, dass sie glücklich ist.

Er lässt sich wieder auf den Rücken fallen und starrt in den Himmel. Den Bussard nimmt er nicht wahr, der seine Jagd beendet für den Tag. Auch nicht den Kojoten, der auf dem Felsen steht und sie beobachtet. Den Mann und den Hund. Regungslos steht er in der untergehenden Sonne und fixiert die beiden mit seinen gelben Augen. Unbemerkt.

»Zeit für dich.« Er geht zum Truck, kramt unter der Rückbank und holt ein Paket Trockenfutter raus, öffnet eine Wasserflasche, füllt eine Schale und füttert den Hund aus der Hand. Ganz weit weg fliegt ein Flugzeug nach Osten. Ein kleines Gebet, dass das Flugzeug auch da landet, wo es landen soll. Just a little prayer. Dunkel heben sich die Joshua Trees gegen den Wüstenhimmel ab, gegen die Milchstraße; nachts schlafen die Klapperschlangen, er hofft, nicht auf eine zu treten. Die Chance ist gering, tatsächlich einem Wüsten-Rattler zu begegnen, Schlangen weichen aus, weiß er. Das Heulen eines jagenden Kojotenpacks macht die Hündin nervös, sie sucht seine Nähe und knurrt. Warnend; aber mehr ängstlich, er kennt sie seit sechs Jahren, da gibt’s eigentlich nur noch Vertrautheiten zwischen ihnen.

Er liegt da und sieht ganz tief in die Milchstraße hinein. Lichtjahre weit weg ist er, ganz tief eingeschmolzen ins Universum. Komisch, immer wenn er am Mittelmeer den Sternenhimmel sah, überkam ihn ein unstillbares Fernweh, ein schmerzendes Fernweh! Nicht jetzt, nicht heute, da ist nur Frieden und Ruhe. Er ist in der Ferne, in der Welt, er ist angelangt am anderen Ende seines Regenbogens. Go West. Wie die Siedler, die Pioniere der vergangenen Jahrhunderte in ihren Wagentrecks. Von Oklahoma nach Oregon. Von Kentucky nach California. Tausende Gräber säumen die Trails der Ochsenkarren, namenlos, ohne Grabsteine, ohne Blumen. Siedler, die ihre Heimat verlassen hatten, die mit den Indianern in Frieden lebten, bis die US Kavallerie dem ein Ende bereitete, Verrat und Bruch der Verträge politisch kalkuliert im fernen Washington.

Die Hündin hat die Augen geschlossen, aber er weiß, dass sie nicht schläft, das gelegentliche Zucken ihrer Ohren verrät sie. Sie nimmt die Geräusche der nächtlichen Wüste wahr, analysiert sie, jederzeit bereit, Hund zu sein.

Er spürt die Kraft, die aus dem Nichts kommt. Aus dem ,An Nichts Denken’. Wie lange hat er damit gewartet, sich überfordert, wie eine Maschine, die den Ölwechsel brauchte und nicht gewartet wurde!? Er hat funktioniert. Immer die Notwendigkeiten im Blick. Ob er vermisst wird, ob sie ihn suchen?

Er spürt, wie er eins wird mit dem Universum, mit der Wärme seines Hundes, der Milchstraße und dem Mantra der Grillen. Ganz langsam sinkt er ein in den Boden, spürt die Wurzeln der Joshua Trees, den Frieden, den er endlich annimmt.

Und dann sieht er den Engel, der vor ihm steht.

20. Oktober 2001

Bierflaschen und Wasserflöhe

Ich werde nie wieder das Geräusch der Bierflaschen vergessen. Leere Bierflaschen, die in den übereinander gestapelten Kästen wackelten; sie wackelten so heftig, dass es sich für immer in meine kleine Kinderseele einprägte. Die Kisten standen im Hausflur eines bebenden Hauses. Es war der 9. Februar 1945, und draußen ging die Welt unter.

Meine Mutter wollte sich nette Wellen legen lassen um ihr schönes Gesicht herum und hatte mich mitgenommen zu ihrem Friseur. Sie war gerade unter der Haube, als die Sirenen mit ihrem markerschütternden Geheul anfingen. Auch das war ein Geräusch, das ich nie wieder vergessen würde. Weimar wurde von englischen und amerikanischen Bombern angegriffen. Es krachte und heulte, alles wackelte, ein Treffer nach dem anderen, und wir waren mitten drin im Inferno. Mein Bruder und der Rest der Familie waren in Ehringsdorf, meine Mutter betete, dass die anglo-amerikanischen Verbände den kleinen Vorort nicht so wichtig nehmen würden wie das große Weimar.

Wer es noch rechtzeitig geschafft hatte, saß in einem der Luftschutzkeller; noch lange nach dem Krieg sah man an vielen Häusern die drei Buchstaben mit einem Pfeil nach unten: LSR. LuftSchutzRaum. Die meisten hatten eher einen psychologischen Effekt und waren Augenwischerei; es waren simple Keller; und wenn das Haus drüber einen Volltreffer kriegte, war man auch im Himmel. Wer »nur« verschüttet wurde, hatte einen Schaden fürs Leben. Wir saßen jetzt in so einem nutzlosen Keller und hörten im Hausflur die Bierflaschen scheppern.

Dann heulten die Sirenen Entwarnung, die Luft war rein, die Bomber waren weg.

Meine Mutter nahm mich an der Hand, und wir gingen ins Freie. Das erste, was ich sah, war das brennende Nationaltheater gegenüber vom Friseur. Aus den Säulen loderten haushohe Flammen, es war heiß wie in der Hölle. Überall war Rauch, die Menschen kamen wieder auf die Straße, und wir gingen nach Hause. Unsere Wohnung lag gegenüber vom Goethehaus am Frauenplan. Aber Goethes Haus hatte kein Dach mehr. Das Kaufhaus gegenüber hatte einen Volltreffer abgekriegt, und die Explosion hatte den ganzen Frauenplan beschädigt.

Wir gingen in unsere kleine Wohnung. Auch hier nacktes Chaos. Die Fenster hatten keine Scheiben mehr; der Luftdruck hatte sie alle nach innen gedrückt, meine weinende Mutter lief über knirschende Glasscherben und Trümmerteile, die den gesamten Fußboden bedeckten. Bei jedem Schritt macht es kkrrcckk, kkrrcckk. Die Wohnung war unbewohnbar geworden.

Ich weiß nicht mehr, wie wir zu den Großeltern nach Ehringsdorf gekommen sind, da waren jedenfalls alle am Leben und wohlauf.

Ein paar Tage später stand eine Nachbarin in der Küche und rührte ihren Kuchenteig. Plötzlich kamen sie wieder, die Flugzeuge. Aber sehr hoch; die Sirenen blieben stumm diesmal. Wenn die Flieger in dieser Höhe ankamen, dann war kein Angriff zu befürchten. Sie konnte ihre Augen nicht abwenden, und ihr wurde angst. Eine unglaubliche Anzahl von Bombern flog hoch über Weimar Richtung Osten. Und sie dachte sich, mein Gott, wo die ihre Last abladen, ist das Leben zu Ende. Es war der 13. Februar, und ein paar Stunden später gab es Dresden nicht mehr.

Im Mai war der Spuk vorüber, und vor unserem Haus in der Weimarischen Straße standen die Amis. Ein schwarzer GI kletterte von seinem Panzerspähwagen herunter und gab mir ein Stück Schokolade und einen Kaugummi. Leider kamen nach drei Wochen die Russen, die hatten solche Köstlichkeiten nicht; aber ein paar Jahre später hab ich von den Rotarmisten meine erste Zigarette gekriegt. Eine legendäre Papyrossi, kurze, kratzige Zigaretten mit Papiermundstück, das man einmal kreuz und einmal quer eindrückte, ehe man es sich zwischen die Zähne steckte. Die Variante für Arme waren Selbstgedrehte. Man baute eine kleine Tüte, sie musste aber aus dem Papier der »Prawda« sein - das garantierte den authentischen Geschmack - da kam dann Machorka rein, der raueste Tabak der Welt, mit Stängeln und allem. Kurzgehacktes sibirisches Homegrown. Ein Lungenzug genügte, um sich das Rauchen ganz schnell wieder abzugewöhnen.

Im Goethepark gab’s ein paar Bombentrichter. Von Bomben, die den Fliegern offensichtlich daneben gegangen waren; warum hätten die Amis auch noch Goethes alte Buchen bombardieren wollen!? In diesen Trichtern stand das Grundwasser – es waren inzwischen kleine Biotope geworden. Voll von Leben. Wir waren aber nur an den Wasserflöhen interessiert. Man zog einen von Muttern ihr’n alten Strümpfen über einen runden Draht, befestigte einen langen Stock dran, und fertig war das Wasserflohnetz. Wasserflöhe wurden von unseren Aquariumsfischen sehr gerne gefressen, also hatten die Streubomben wenigstens einen Nutzen nach dem Krieg. Die Ruinen der Häuser waren lange Zeit begehrte, wenn auch gefährliche Abenteuerspielplätze; außerdem gabs da immer Schätze zu finden unter den Trümmern.

Mein Bruder kam in die Schule, und ich sollte in den Kindergarten. Genau einen halben Tag hab ich’s ausgehalten. Ich war vier und fand das da alles blöd. Irgendwann drückte die Peristaltik, ich traute mich aber nicht zu sagen: »Ich muss mal.« Drei kleine Worte, die ungesagt, mir dann eine viel schönere Kindheit ermöglichten, als es so ein organisiertes Kindergartenleben jemals vermocht hätte. Unterwegs nach Hause passierte’s; ich konnte es nicht mehr halten, ich versuchte x-beinig zu retten, was zu retten war, aber nichts ging mehr; ich schiss mir in die Hose. Wenn ich nicht in diesem blöden Kindergarten gewesen wär, wäre das nicht passiert, war meine kindliche Schlussfolgerung. Nachdem mich meine Großmutter wieder sauber geputzt hatte, sagte ich trotzig; »Ich will nie wieder in den Kindergarten.«

Kinderfoto

Mein Bruder Wolfgang und ich.

Ich kriegte auch einen Schlüssel um den Hals und strolchte mit meinem Bruder durch Wald und Flur. Was war das doch für ein schönes Leben in Freiheit.

Irgendwann 1946 mussten wir ausziehen aus dem großen gelben Haus in der Weijmarischen Straße in Ehringsdorf, um den neuen Herren Platz zu machen, den Bonzen der neuen Partei. Wir zogen nach Oberweimar in eine kleine Zweizimmerwohnung; wir alle vier, Vater, Mutter, und wir beiden Jungs. Es war eng, aber es gab eine große Wohnküche. In meiner Erinnerung war sie jedenfalls groß. Wir wurden den Hauseigentümern einfach aufgedrängt, sie mussten in die obere Etage und wohnten genauso beengt wie wir unten.

Die Nachkriegszeit war Partyzeit, man feierte das Überleben; es wurde getanzt, was das Zeug hielt, und es wurden abartige, berauschende Flüssigkeiten konsumiert. Die Erwachsenen arbeiteten hart und feierten noch härter Meine Mutter war der Hit jedes Betriebsfestes; sie steppte mit Frack und Zylinder auf den Tischen. Ich kenne leider nur Fotos und Augenzeugenberichte von diesen ihren Aktivitäten; auch als Weihnachtsmann auf den Kinderweihnachtsfeiern war sie später nicht minder gefragt. Sie hat ihr musisches Talent mit einigem Erfolg auf ihre beiden Söhne vererbt. Mein Vater war stolz auf seine Frau; er, stets der Kavalier alter Schule und immer picobello angezogen und frisiert - letzteres hat er leider nicht auf mich übertragen können – verließ das Haus nie ohne Hut und Krawatte. Unsere Eltern waren oft weg abends. Und meine Mutter war stolz auf ihre beiden Jungs: »Die sind im Bett und sind ganz brav,« sagte sie immer.

Die braven Jungs aber spielten Fußball in der Küche, und der alte Lösch kam mit hochrotem Gesicht die Treppe runter und schiss uns zusammen. Mit Recht, wir waren laut; der selbst gebastelte Fußball donnerte an die Küchentür, eins der beiden Tore. Als er weg war, waren wir leise und machten mit Zeitungspapier und Feuerholz ein geräuschloses Lagerfeuer auf den Küchenfliesen; Karl May hatte bereits seine Spuren hinterlassen.

Die große Mutprobe war dann, nackig ums Viertel zu rennen. Dazu mussten wir aber erst aus den nicht ganz niedrigen Fenstern im Erdgeschoss klettern. Raus war nicht so schwer, aber beim Reinklettern kriegte die Kniescheibe den einen oder anderen blutigen Kratzer ab. Nackig um den Block, am hellerlichten Sommerabend, das war wirklich eine Mutprobe, die wir beide bestanden haben. Sie wurde oft wiederholt.

Wenn man Glück hatte, kam man an eine leere Tankhülse ran, die die Flieger offenbar abgeworfen hatten; so zwei bis drei Meter lange Blech-Zigarren. An der Seite wurde eine Öffnung ausgeschnitten, wer konnte, ließ sich die scharfen Ränder mit Holz verkleiden, damit man sich nicht verletzte, und dann wurde das Boot zu Wasser gelassen. Die »Boote« waren natürlich nicht sehr seetüchtig, weil sie ja einen runden Boden hatten. Sie sahen aus wie Mini-U-Boote. Wer einen Handwerker in der Familie hatte, der hatte auch einen Kiel unterm Kahn, das war das Non Plus Ultra.

Zwei Fotos

Unsere Mutter hatte die charmante Neigung, ihre beiden Jungs zum Kinderfasching wechselweise in das Mädchen zu verwandeln, das sie so gerne noch gehabt hätte.

Irgendeiner meiner Freunde hatte so ein Hülse aufgetrieben. Wir hievten sie auf unseren Familienhandwagen. Die Ilmbrücke zwischen Ehringsdorf und Oberweimar wurde gerade repariert. Wir organisierten ein paar Brocken Teer, Reste des Belags, einen alten Eimer und zogen mit der Fracht zu unserem Garten. Wir nannten ihn unser Feld, weil er nur an zwei Seiten durch die Nachbargärten eingezäunt war und weit weg von unserm Hause lag. Auf dem Feld wurde ein Feuer angefacht, der Teer kochte, unser Boot kriegte einen Rostschutz, und mein Vater am nächsten Tag einen Anfall, weil wir nicht nur das Boot geteert hatten, sondern auch die Zwiebeln, die Tomaten, die Bohnen; der halbe Garten trug Spuren der Aktion. Und leider auch der Handwagen.

Inzwischen hatten wir unser Boot zu Wasser gelassen; der Stapellauf konnte beginnen. Das Kanu war wie erwartet unstabil, das Reinklettern war nicht ganz leicht, man gab mir das Paddel, ich paddelte drei Meter … und kippte um. Ich konnte mich zwar befreien und kam wieder hoch, aber unsere Titanic sank langsam und verschwand in der Ilm. Und da blieb sie dann, wir hatten die Nase voll von der Aktion Paddelboot. Inzwischen molekular verrostet, treiben seine Partikel durch die Gewässer des Freistaats Thüringen.

Als wir dann nach vielen Jahren endlich eine größere Wohnung gefunden hatten, zogen wir nach Weimar. Ich war in der siebenten Klasse und hatte überhaupt keine Lust, meine Freunde in Oberweimar zu verlassen, meine Klasse, ich wollte an meiner alten Schule bleiben. Also stand ich jeden Morgen eine halbe Stunde früher auf, um rechtzeitig da zu sein. Manchmal mit dem Rad, manchmal zu Fuß, im Winter oft auf Skiern. Ich musste jeden Morgen an Goethes kleinem Gartenhaus im Park vorbei; auf dem Nachbargrundstück gabs einen Schäferhund. Dieser verdammte Hund kam immer durch die Haselnusshecke auf mich zu, blieb drei Meter vor mir stehen und bellte bösartig auf mich ein. Das machte mir Angst. Und dann hab ich mir von meinem Konfirmationsgeld eine ganz und gar unchristliche Waffe gekauft; einen Hirschfänger mit Blutrinne. Den hab ich dann immer bei mir getragen und dachte mir, wenn der Misthund mich jemals angreift, dann ist er tot. Ich war kampfbereit.

Einschulung

Einschulung

Der Hund musste das gespürt haben. Er hatte Angst vor mir und blieb fürderhin immer hinter seiner Hecke. Er wagte sich nicht mal mehr zu bellen. Das war mein Kalter Krieg; Einschüchterung durch Aufrüstung.

Das Leben bringt es mit sich, dass man das Nest verlässt und sich in der Welt herumtreibt. Man sieht seine alten Freunde nur noch selten. Bei gelegentlichen Klassentreffen, bei den - immer zu kurzen - Besuchen zu Hause. Man driftet auseinander. Mit manchen mehr, mit manchen weniger, und manchmal verliert man Freunde auch. Das ist schmerzlich.

Aber manchmal sitzt man zusammen, redet von den ersten Jahren, den gemeinsamen Erlebnissen; das Bier zischt über die Bratwürste, die auf dem Grill duften und langsam knusprig werden; und dann wird man ganz still, horcht in sich hinein, und die Bilder kommen wieder. Das sind leise, glückliche Momente, in denen ich mich immer fühle, als wär ich maximal, na sagen wir mal zwölf.

Als ob die Zeit stehen bleibt.

Killarney, Irland, 7. Juli 2007

Die Walnuss

Es war vier Uhr morgens, sehr früh für einen Neunjährigen. Mein Vater trug meinen Koffer zum Bahnhof, und der Bahnhof war weit weg, ein paar Kilometer entfernt von meinem warmen Bett. Auch meine Mutter ließ es sich nicht nehmen, den Jüngsten zum Zuge zu bringen; mein Bruder durfte weiter schlafen. An ein Taxi war nicht zu denken, außerdem hätte es um die Zeit in Weimar sowieso keins gegeben. Selbstverständlich hatte keiner in unsrer Nachbarschaft ein Auto. Und noch fuhr kein O-Bus um diese Stunde.

Es war ein kalter Herbstmorgen, meine Mutter zog die Schultern hoch und fror. Über Nacht war Schnee gefallen, sehr früh in diesem Jahr, unsere Schritte knirschten auf der weißen Pracht und noch war kein Mensch auf den Beinen, um die Wege zu räumen. Wir liefen schon eine Weile auf der Belvederer Allee Richtung Stadt und waren kurz vor der Helmholtzstraße, da ließ mein Vater einen krachen. Kein verklemmter, heimlicher Furz; ein richtig lustvoller Kracher war das.

»Aber Vati!« Meine Mutter wollte ihre erzieherische Aufgabe nicht vernachlässigen, aber da sie eine wunderbar humorvolle junge Frau war, übertönte ihr Glucksen den ohnehin gespielten Vorwurf. Ich wollte noch einen nachlegen und drückte, um meinen Vater zu entlasten, aber es wurde nichts. Nicht mal ein Rohrkrepierer gelang mir.

Eine abenteuerliche Reise lag vor mir; alleine, ohne Familie, sechs Wochen ohne vertraute Stimmen und vor allem ohne die geheimnisvollen Abendgeschichten, die wir uns immer erzählten, mein Bruder und ich. Wir hatten hinter’m Kopfende unserer Betten wundersame Gänge voller fantastischer Wesen und Abenteuer. Und da war jeden Abend was los, auch unsere Hunde waren immer dabei. Jeder hatte einen. Hunde, die unserer Fantasie entsprungen waren, und die man als Kind einfach brauchte.

Am Bahnhof wurde ich der Obhut irgendwelcher Erwachsenen übergeben, die sich auch um meine Weggefährten kümmerten, und dann stiegen wir ein in einen kalten Zug mit harten Holzbänken; die Koffer wurden in die altmodischen Gepäcknetze gehievt, und mit Geheul und fürchterlicher Rauchentwicklung zockelte der Zug nach Norden. Einen ganzen Tag lang ratterten wir durch ein kleines Land, das sich gerade von den Bombenschäden zu erholen versuchte. Die frühen Fünfziger waren eine emsige Zeit für die Überlebenden des Grauens.

Nach endlosen Stunden rumpelte der Zug ein in Sellin auf der großen Insel Rügen; ich kann mich nicht erinnern, wie oft wir umsteigen mussten, aber es waren mit Sicherheit einige Male. Es war schon wieder dunkel, unser kleines Grüppchen tippelte Richtung Kindererholungs-heim, und ich merkte sofort, hier roch’s anders als in Weimar. Frischer. Ich hatte von Seeluft bisher nur gehört.

Ein mitfühlender Arzt hatte meinen Eltern die Möglichkeit verschafft, den wachsenden, dünnen Jungen ein paar Wochen lang aufpäppeln zu lassen und verschrieb mir eine Kur. Ich war pudelgesund, aber der Doktor meinte, das würde mir gut tun. Und ein Esser weniger würde das schmale Familienbudget für ein paar Wochen entlasten. Das Heimpersonal allerdings wunderte sich überhaupt nicht, was für Mengen ich in mich reinzustecken imstande war. Zehn belegte Scheiben Brot am Abend war ganz normal; die Küche hatte keinen Mangel an Proviant. Meine ganze Kindheit lang hab ich gegessen wie ein Scheunendrescher, meine Mutter sagte immer; »Am Essen wird nicht gespart.« Erst viel später hat sie mir auf ein paar bohrende Fragen hin gestanden, dass sie und mein Vater öfter mal hungrig ins Bett gegangen sind, damit wir Jungs satt werden konnten in den Nachkriegsjahren, die mit ihren immer zu knapp bemessenen Lebensmittelkarten den Überlebenden wahren Erfindungsreichtum abverlangten.

Ich war schon immer ein Geruchsmensch. Gerüche haben sich immer in Verbindung mit dem jeweiligen Ort eingenistet in mein Langzeitgedächtnis. Hier im Heim roch’s intensiv nach Kernseife, Bohnerwachs, Desinfektionsmittel und Suppe. Die Beleuchtung war funzelig, die Glühbirnen waren auf sparsame 25 Watt reduziert. Aber es war eh dunkel in diesen Jahren; ich habe oft meine Hausaugaben beim Scheine der gemütlichen Petroleumlampe gemacht, wenn mal wieder Stromsperre war, damit die volkseigene Planwirtschaft genügend Energie hatte, um den Kapitalisten im Westen zeigen zu können, auf welcher Seite der grünen Grenze der bessere Staat lag. Der Geruch einer Petroleumlampe ist mir bis heute vertraut und verbindet sich mit meiner Kindheit. Durchaus positiv.

Und dann kam der große Moment. Am Morgen nach dem Frühstück ging’s ans Meer. Da lag sie, die riesengroße Ostsee; die Wellen rollten, die Fischerboote waren an den Strand gezogen, und ein paar Fischer hatten ihre Netze gespannt und flickten sie. Es roch nach allem, was mein abenteuerlustiges Thüringer Kinderherz erfreuen konnte. Es war überwältigend. Hinterm Horizont ging’s weiter, aber das konnte ich nicht sehen. Wasser, Wellen, Meer soweit man sehen konnte. Ich stand da, staunte, und der frische Wind blies in meinen offenen Mund. Am intensivsten hatte ich den Seetang in der Nase; Salz, Seetang, Sand; die Möwen kreischten und stritten sich um die Brocken, die die Fischer liegengelassen hatten. Teergerüche von den Spanten der Boote mischten sich in all die die wunderbaren Düfte hier.

Seit ich sieben war, wollte ich Seemann werden. Ich war fast am Ziel. Das war das wahre Leben hier. Sechs Wochen lagen vor mir, sechs Wochen Leben am Meer. Ich vermisste nichts; nicht die Stimme der Mutter, keine Kracher vom Vater und keine brüderlichen Fantasien um Hunde und Schätze hinter der Wand am Bett. Weimar war unendlich weit weg, Heimweh kam überhaupt nicht auf.

Wir durchstreiften die Gegend. Es war eine unbekannte Welt mit Mooren, einem geheimnisvollen See, Buchenwäldern und jeden Tag wieder der Strand. Wir suchten Bernstein, wühlten im angeschwemmten Seetang herum; es war jedes Mal aufregend, wenn man wieder einen gelblichen Stein gefunden hatte; aber dann wars eben doch nichts anderes als das, ein Stein. Die Taschen waren voll von sandigen Muscheln, die nach einigen Tagen einen gefährlich rottigen Geruch verströmten.

Unter der Seebrücke wars immer spannend, die Wellen liebkosten die Pfeiler, und ich verliebte mich. Nicht in eine Meerjungfrau, sondern in Gerlinde. Im Bett neben mir lag mein neuer Freund Ulli, und wir merkten, dass wir uns beide in Gerlinde verliebt hatten. Gerlinde hat das nie erfahren; sie hätte uns beide haben können, aber wir waren viel zu schüchtern, um sie einzuweihen in unsere Schwärmereien. Wir wären eh zu jung für sie gewesen, sie war ja schon elf.

Es wurde langsam winterlicher, der Nikolaustag kam, und wir kriegten kleine Leckereien. Eine Nuss hatte es mir besonders angetan, eine Walnuss. Ich hatte noch nie in meinem Leben eine Walnuss gegessen, oder ich hatte doch und erinnerte mich an den köstlichen Geschmack, ich weiß es nicht mehr, jedenfalls schenkte ich dieser Walnuss meine unerwiderte Zuneigung. Ich knackte sie nicht, ich trug sie mit mir herum, roch an ihr, leckte sie ab, versuchte, sie in meinen neunjährigen Mund zu stecken. Was für eine Köstlichkeit! Die Erinnerung an diese eine Walnuss hat mich mein Leben lang begleitet.

Und dann, Wochen später, fasste ich mir ein Herz und knackte sie. Ganz langsam, Viertel für Viertel steckte ich sie in den Mund und genoss, wie ich nie wieder eine Walnuss genossen habe.

Killarney, Irland, 30. Juni 2007

Ein Sommer an der Donau

Es war schon nach Mitternacht, als ich endlich in Rechtenstein ankam. Ich war zwölf und hatte eine endlose Bahnfahrt hinter mir. Ich hatte nicht nur ein Land diagonal durchquert, ein Land, das jetzt in zwei Teile geteilt war; man musste eine Grenze mit mürrischen Kontrolleuren überstehen, und man musste den Spagat von Ost nach West verarbeiten. Ich hatte vor allem Hunger wie ein Wolf und war müde wie Hund - und: ich war mutterseelenalleine.

Wo war Onkel Max?! Warum holte mich keiner ab?! Ich stand auf einem Dorfbahnhof irgendwo im Schwabenlande und fühlte mich verlassen von der Welt. Aber zwölf heißt nicht hilflos, irgendwo musste es ja hier Menschen geben. Irgendwer würde schon noch wach sein.

Ich schleppte meinen Koffer vom Bahnhof und ging zu einem Haus, das wie eine Wassermühle aussah. Stockdunkel alles. Also klopfte ich sanft an ein Fenster. Tatsächlich steckte der Müller seinen verschlafenen Schwabenkopf aus dem Fenster.

»Entschuldigen Sie die Störung, wie komm ich denn nach Mittenhausen?«

»Jetscht no? Mhm, da musst du durch de Wald. Da no.«

»Ist das weit?« fragte ich ein bisschen verzagt.

»Ha noi, des is it weit. So zwei Kilometer sind das, nit mehr. Mittehause hat nur drei Höfe, zu wem willscht du denn?«

Ich sagte es ihm. »Die wohnet da mittedrin, du wirscht es scho finde.« Er erklärte mir noch wortreich, worauf ich achten müsse und sagte Gute Nacht.

Und dann stand ich vor der Mühle wie das Männlein im Walde. Ich hatte ein bisschen gehofft, dass er mich hinbringen würde. Nun musste ich mich alleine auf den Weg machen. Ich tappste in den finsteren Wald hinein. Es hatte geregnet, meine einzige Orientierung in der mond- und sternenlosen Nacht waren die schwachen Reflektionen in den Pfützen. Auch als Erwachsener geht man nachts nicht gern alleine durch den Wald, für einen Zwölfjährigen war es Horror pur. Ich fühlte mich von aller Welt verlassen und betete, dass ich aus dem großen, dunklen Walde raus fände und mich vor allem nicht verirrte in diesen fremden Jagdgründen. Mir kamen all die Räubergeschichten in den Sinn, die man zu Hause unter der Bettdecke mit der Taschenlampe so gerne liest im sicheren Schlafzimmer. Wilhelm Hauffs »Wirtshaus im Spessart« war noch ganz lebendig in meiner Erinnerung, nun war ich selber mittendrin in so einer Gruselgeschichte.

Nach einer Ewigkeit wurde es ein bisschen heller, das musste das Ende des Waldes sein; jetzt nur nicht vom Weg abkommen. Links lag ein Bauernhof, an dem sollte ich noch vorbei. Aber da schlug auch schon der Hofhund an. Wenn der frei rum läuft, bin ich verloren, dachte ich, aber er kam nicht, er bellte nur böse, das war ja sein Job.

Der Koffer zog wie Blei, und ich schleppte mich ganz langsam weiter, bis ich an eine Art Gutshof kam. War ich am Ziel? Was mach ich jetzt? Am besten rufen.

»Onkel Maaaaaax!!!« Nichts. Noch mal. »Haaaaaallo! Tante Geeeeertrud!«

Ein Fenster ging auf. »Wer ist da?« Inzwischen bellte ein ganzes Rudel schwäbischer Hofwölfe um die Wette.

»Bist du das Onkel Max? Hier ist der Reiner aus Weimar.«

»Ja Junge, wo kommst du denn jetzt her mitten in der Nacht? Im Brief von deiner Mutter stand doch, dass du morgen kommst.«

Inzwischen wurde es hell, die Tür ging auf, der Albtraum hatte ein Happy End, und Tante Gertrud machte mir erst mal was zu essen. Und man konnte gar nicht verstehen, dass der Müller von Rechtenstein mich hatte allein durch den Wald gehen lassen. Aber nun war ich ja da.

Mein Onkel und meine Tante hatten Krieg, Vertreibung und Flucht aus Oberschlesien überstanden und waren hier an der Donau gelandet. Hatten wieder einen kleinen Hof und arbeiteten hart, um im neuen Land und Leben auf die Füße zu kommen.

Am Morgen strich ich mit meinen beiden Cousins durch die Gegend und war begeistert. Es gab da einen zerfallenden Turm vom alten Rittergut mit Fledermäusen und verwunschenen Ecken, es gab Schweine, Kühe, Enten, Gänse und Hühner, Hund und Katz, und es gab ein Pferd, mit dem morgens die Milch nach Obermarchtal gefahren wurde. Ich hatte acht Wochen Schulferien auf dem Bauernhof, was kann es Schöneres geben!?

Zu meinen täglichen Pflichten gehörte es, die Enten an die Donau zu treiben. Und damit sie da nicht die Freiheit missbrauchten und abhauten, kamen sie in einen großen Drahtverhau, nach oben geschlossen, damit der Habicht nicht die Küken holte. So konnten sie schwimmen und das machen, was Enten am liebsten tun. Schnattern und Gründeln. Eine Woche später stieg die Donau an, meine Enten schwammen samt Käfig stromabwärts Richtung Schwarzes Meer, und Onkel Max warf den Traktor an. Es dauerte zwei Stunden, bis wir sie wiederhatten.

Nun gab es da ein einsames Entlein namens Simpel. Das war von einem Huhn ausgebrütet worden, einer Henne. Samt ihren leiblichen Küken. Simpel wurde zum Entsetzen der Pflegemutter in den Entenschwarm eingereiht und ging baden. Die Henne tanzte auf und ab, schlug mit den Flügeln und war außer sich. Ich versuchte, ihr Simpels wahre Natur zu erklären. Nach drei Tagen war sie beruhigt.

Nur Tante Gertrud war unzufrieden. Es gab einen nutzlosen Esser am Hofe. Seit Tagen holte sie immer Eier aus dem Hühnerstall, unter denen sie ein kleines, dotterloses Ei fand. Kleine Eier ohne Dotter, man kann sie nicht verkaufen, man kann sie nicht verwenden.

Tante Gertrud befand, das schuldige Huhn müsse gefunden werden und sollte in die Pfanne. Also wurden mein Cousin Eckartund ich beauftragt, die Henne ausfindig zu machen. Unter zwanzig Legegenossinnen auf dem Hofe! Die Aktion Dotterlos begann damit, dass wir im geschlossenen Hühnerstall jedes Huhn befummeln mussten, sprich, jedem Huhn den Finger ins Legeloch stecken, um zu tasten, ob da ein Ei drin steckte, bereit, gelegt zu werden. War das Loch leer, kam die Henne raus ins freie Leben. Die legebereiten Hühner wurden einzeln in Verschläge gesperrt, und wir hatten zu kontrollieren, ob ein Ei im Heu lag. War das Ei ein richtiges Ei, durfte auch die entleerte Henne draußen scharren.

Wir haben drei Tage lang unseren rechten Zeigefinger in Hühner-arschlöcher gesteckt – und dann hatten wir sie. Mir tat sie leid, die arme Henne, aber geschmeckt hat sie dennoch.

Am liebsten war ich im Kuhstall. Und steckte dem Kälbchen meine Hand ins noch zahnlose, rosige Maul, es saugte an meinen Fingern, freute sich ob meiner Zuneigung, auch wenn keine Milch raus kam. Ich schaute Tante Gertrud beim Melken zu, eine Melkmaschine hatten sie noch nicht. So schwer kann das doch nicht sein, dachte ich mir.

»Darf ich auch mal?«

Tante Gertrud lächelte wissend und machte den Melkschemel für mich frei. Ich zupfte, zog und zerrte; kein Tropfen kam. Dafür haute mir die Liese ihren bekleckerten Schwanz um die Ohren, wehrte sich vehement mit dem Hinterbein; es war ihr offenbar sehr unangenehm, was ich da mit ihrem empfindlichen Euter machte, und ich überließ die Kunst lieber wieder den geschickten oberschlesischen Händen der Bäuerin. Dafür durfte ich dann meinem Cousin Manfred helfen, die Milchkannen sauber zu machen; der Lohn war die Fahrt mit dem Pferdewagen zur Molkerei ins Nachbardorf.

Mein Onkel hatte einen Dachs erlegt. Warum man einen Dachs nicht leben lassen kann, war mir nicht klar, jedenfalls hing er tot am Scheunentor. Hunderte von Flöhen versuchten, den kalten Körper zu verlassen, wussten aber nicht so recht wohin und hüpften sinnlos auf den Dachshaaren rum. Jedenfalls haben wir dann seinen Kopf in einen Ameisenhaufen gesteckt. Eine Woche später haben wir den sauber abgenagten Schädel wieder mitgenommen. Ich hörte später, dass Wilddiebe das auch gerne mit dem ganzen Förster gemacht haben. Lebend.

Nun war ich ja das erste Mal im Westen. Und freute mich an all den Dingen, die wir im östlichen Weimar nicht hatten. Meine erste Coca Cola war ein Hit, bis heute denke ich immer, wenn ich mal das Glück habe, aus einer originalen Cokeflasche zu trinken - das gibt’s ab und zu noch - wow, wie damals in Obermarchtal bei Edeka.

Nicht so beliebt war die Arbeit im Kartoffelschuppen. Die Kartoffeln vom Vorjahr hatten lange Keime, und die mussten entfernt werden, damit die Kartoffeln als Schweinefutter gekocht werden konnten. Da war’s duster, und da gabs Ratten. Eines Tages fanden wir ein Nest unter den Kartoffeln mit kleinen nackten Ratten. Bauern haben wenig Verwendung für Ratten, auch keine so gute Beziehung zu ihnen; den Rest der Geschichte hab ich verdrängt.

Irgendwann ließ mich Onkel Max auf den Trecker. Sehr aufregend war das, übers Feld zu donnern mit zehn Stundenkilometern, aber es war meine erste Erfahrung mit einem motorisierten Fahrzeug und ich freute mich. Und so leicht war das gar nicht mit den verwirrend vielen Gängen und Pedalen. Es fing an zu donnern, und dann krachte ein schönes, fettes Sommergewitter über uns nieder. Auf freiem Feld ist das nicht die große Freude, Traktor fahren vorher fand ich wesentlich schöner, aber es war ein elementares ländliches Erlebnis, dass mich sehr beeindruckt hat.

Am allerschönsten aber war’s auf dem Heuboden. Der Geruch von frischem Heu, die Leichtigkeit, wenn man aus mehreren Metern Höhe runterspringt und versinkt, Staub wirbelt auf, man niest - von Heuschnupfen und derlei zivilisatorischem Firlefanz wusste ich damals noch nichts - das hab ich sehr geliebt damals. Da gab’s Mäuse, und irgendwie war das der große Renner, der Heuboden.

Ende August war die Herrlichkeit zu Ende, ich fuhr wieder nach Weimar und überraschte Familie und Schulkameraden mit einer Mischung aus Oberschlesisch und Schwäbisch. Und jedes Mal, wenn dann zu Weihnachten eine Ente nach Weimar geschickt wurde aus Mittenhausen, hab ich immer gehofft, dass es nicht der Simpel ist, den wir da verspeisen.

Killarney, Irland 1. Juli 2007

Sweet little Sixteen

Seemann wollte er werden. Kapitän, oder Steuermann. Irgendwie klang Steuermann besser. Steuermann ist wichtiger als Kapitän. Ein Kapitän befiehlt nur rum, der Steuermann aber macht das Ding. Er ist eindeutig der Macher an Bord. Sagte ihm seine kindliche Seele und ließ ihn Schiffe malen. Aus Lexika, aus Abenteuerbüchern; kein Abbild eines Schiffes war vor ihm sicher. Aber es mussten Segelschiffe sein, am liebsten malte er die »Gorch Fock«. Nichts unter einem Dreimaster. Und er las jedes Buch, in dem ein Segel gerefft wurde.

»Na, was willst du denn mal werden?« Die Standardfrage, mit der jedes Kind gepeinigt wird, oder motiviert, je nachdem, diese Frage konnte er ohne rumzurudern beantworten.

»Seemann. Steuermann.« Zehn Jahre lang. Andere gehen durch die Stadien ihrer Berufswahl. Erst Feuerwehrmann, dann Lokomotivführer wie sein Freund Ede, den sie »Laubfrosch« nannten wegen des grünen Anzugs, den Edes Mutter handgenäht hatte in diesen schweren Zeiten. Edes Opa war bei der Bahn; Ede spielte mit Modelleisenbahnen. Er, sein Freund malte Schiffe.

Dann kam Inge in sein junges Leben. Inge war seine erste Liebe und hatte keine Lust, ihr Leben als Dauer-Strohwitwe zu verbringen. »Wenn du auf See bist, dann bin ich ja immer alleine.« Recht hatte sie. »Was mach ich denn da?« Inge war gerade sechzehn und dachte weiter als bis zum Horizont.

»Stimmt, da hast du Recht.« Er dachte nach. Die Kastanienbäume blühten auf der Allee zum Schloss, er atmete ihren Duft ein. Inges Duft. Er liebte ihren Geruch.

Zwei Minuten später warf er den Traum seiner ganzen Kindheit über Bord. »Dann werd ich eben nicht Seemann.«

Liebe macht blind, aber sie bewahrt einen vor der Seekrankheit.

Sie standen vor dem Möbelgeschäft am Herderplatz und sahen die Nierentische. Die Schwanenhals-Lampen im Trio und das türkise Sofa. Noch drei Jahre bis zum Abitur, noch drei Jahre, bis die Glocken läuten würden.

Die Rock’n’Roll Heros ihrer kleinen Stadt ließen es krachen. Was man so krachen nannte in der Zeit, bevor 120 Dezibel das Maß aller Dinge wurden. Der Spruch »If the music’s too loud, you’re too old« war noch weit weg. Sie tanzten engumschlungen zu Schmuseklängen; er renkte ihr den Arm aus und trat ihr auf die Füße beim Rock’n’Roll der ersten Stunde, und sie waren glücklich.

Er hatte keine Ahnung, was er nun statt Seemann werden sollte. Inge war alles recht, solange es ihn in ihrer Nähe hielt.

Tanzstunde. Geht heute noch jemand zur Tanzstunde?! Wer nicht geht, verpasst die Romantik der ersten Liebe. Der Konfirmationsanzug tut‘s noch, dachten die Eltern, aber er sah in den Hochwasserhosen aus wie Elvis für Arme. Zehn Zentimeter ist er gewachsen in den zwei Jahren. Inge jedenfalls hatte ein Tanzstundenkleid und sah aus wie eine Braut. Schön.

Wieder gingen sie am Schaufenster mit den Nierentischen vorbei. Träumten, küssten sich, und noch immer wurde er nicht Seemann, noch immer wusste er nicht, was er werden sollte. Der Traum der ersten Jahre verblasste irgendwo zwischen Nirwana und Abitur.

Zwanzig Jahre später. Klassentreffen. Die Nierentische stehen irgendwo rum, wahrscheinlich bereits auf dem Flohmarkt, Inge trägt eine Perlenkette und ist immer noch schön. Und sie hat einen Eherring am rechten Ringfinger.

Er nicht.

Im ICE zwischen Hamburg und Berlin, 28. 11.01