Karl Heinz Brisch (Hrsg.)

Bindung und Sucht

Klett-Cotta

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Printausgabe: ISBN 978-3-608-98205-3

E-Book: ISBN 978-3-608-10327-4

Dieses E-Book entspricht der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Inhalt

Vorwort

Einleitung

ANDREAS SCHINDLER

Bindung und Sucht – theoretische Modelle, empirische Zusammenhänge und therapeutische Implikationen

PHILIP J. FLORES

Die Bindungstheorie in ihrer Relevanz für die Suchtbehandlung

FABIENNE BECKER-STOLL

Bindungsrepräsentation und Therapieerfolg bei essgestörten Patientinnen

MICHAEL HASE

Traumatisierter sucht Bindung. Über die Zusammenhänge zwischen Bindung, Bindungsstörung, seelischer Traumatisierung und substanzgebundener Abhängigkeit

ALEXANDER TROST

Drogenabhängige Mütter und ihre Säuglinge – Interaktionsverhalten und Einstellungen

KAREN M. FAISANDIER, JOANNE E. TAYLOR, ROBYN M. SALISBURY UND SHANE T. HARVEY

Zur Frage des Zusammenhangs zwischen Bindung und unkontrolliertem Sexualverhalten

RINA D. EIDEN

Zur Bindungssicherheit von Alkoholikerkindern

Eine Längsschnittstudie und ihre Relevanz für Intervention und Behandlung

KLAUS WÖLFLING

Internet- und Computerspielsucht bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen

JAAK PANKSEPP, VOLKER A. COENEN, MARK SOLMS UND THOMAS E. SCHLÄPFER

Warum tut uns die Depression weh? Ererbter primär-bewusster Trennungsschmerz (PANIC) und nachlassende Belohnung (SEEKING) und ihre Bedeutung für das Entstehen von Depression und Abhängigkeit

SILKE BIRGITTA GAHLEITNER

Gender – Trauma – Sucht und Bindung: Phänomenologie, Wechselwirkungen, Gegenstrategien

ARNOLD B. BAKKER, EVANGELIA DEMEROUTI UND RONALD BURKE

Arbeitssucht und Beziehungsqualität unter intrapersonellem und interpersonellem Aspekt: Die »spillover-crossover«-Perspektive

KARL HEINZ BRISCH

Die bindungsbasierte Behandlung von Suchterkrankungen auf verschiedenen Altersstufen

Vorwort

Am 15. und 16. Oktober 2011 wurde an der Poli- und Kinderklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital der Ludwig-Maximilians-Universität München von der Abteilung Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie eine internationale Konferenz mit dem Titel Bindung und Sucht (Attachment and Addiction) durchgeführt. Das Interesse an dieser Konferenz und die positiven Rückmeldungen waren für die Veranstalter außerordentlich ermutigend, so dass sie die Beiträge dieser Veranstaltung mit der Herausgabe dieses Buches einer größeren Leserschaft zugänglich machen möchten.

Die Thematik des vorliegenden Konferenzbandes umfasst eine Vielzahl von Aspekten aus dem Bereich »Bindung und Sucht«:

Wie kommt es, dass so verschiedene Substanzen wie Alkohol, Drogen, Medikamente, Nahrungsmittel, aber auch Verhaltensweisen wie Hungern, das Spiel mit Videospielen und Computerkonsolen oder die Nutzung von Geldspielautomaten, Arbeiten und Beziehungen Menschen süchtig machen können? Wie Studien zeigen, beginnt die Sucht oft damit, dass großer Stress, wie er etwa durch schwierige psychische Entwicklungsbedingungen, traumatische Erfahrungen, unlösbare Konfliktsituationen und Ähnliches entstehen kann, nicht mehr gelöst werden kann. Versuchsweise – oft eher zufällig und als »Notlösung« – wird gegen den Stress ein Suchtmittel eingesetzt, statt eine Bindungsperson zu rufen, um mit ihrer Hilfe den Stress unter Kontrolle zu bekommen oder abzubauen.

Dies ist erstaunlich, denn normalerweise würde sich ein Mensch, wenn er in Angst und Stress überfordert ist, mit der Bitte um Hilfe an seine Bindungsperson wenden. Wenn diese aber nicht zur Verfügung steht oder vielleicht im Zusammenhang früher Defizite und deprivatorischer Erlebnisse in der Kindheit nie zur Verfügung stand, könnte es sein, dass bereits Kinder sehr früh lernen, als Ersatz für eine Bindungsperson auf suchtartige Verhaltensweisen und Suchtmittel zurückzugreifen. Das Suchtmittel wird auf diese Weise zu einem Bindungsperson»Surrogat«. Meistens tritt nach dem Gebrauch des Suchtmittels eine kurzfristige, rasche Entspannung ein. Diese fühlt sich so ähnlich an, als wenn die Entspannung durch die emotionale Unterstützung der Bindungsperson erfahren worden wäre. Besteht aber der Stress weiter oder ist er chronisch, wird das Suchtmittel immer öfter benutzt und es entsteht hieraus eine Abhängigkeit, die psychisch und körperlich sein kann. Ist erst einmal das Suchtmittel zur »besten Bindungsperson« geworden, wird die Therapie entsprechend schwierig; denn der Suchtabhängige wird seine »Sucht-Bindungsperson« nicht freiwillig aufgeben.

In dem vorliegenden Band werden von internationalen Forschern und Klinikern die Zusammenhänge zwischen Bindungssuche und Suchtverhalten sowie therapeutische und präventive Möglichkeiten vorgestellt und im Zusammenhang ihrer Studien erläutert.

Insbesondere auch die therapeutischen und die präventiven Möglichkeiten stehen in einzelnen Beiträgen im Vordergrund. Frühzeitige Interventionen – am besten bereits im Kindesalter – können neue Bindungserfahrungen ermöglichen und so suchtartiges Verhalten verändern und neue beziehungsorientierte Verhaltensweisen auf den Weg bringen.

Ich danke allen Autorinnen und Autoren, dass sie ihre Beiträge für die Publikation zur Verfügung gestellt haben. Ein besonderer Dank gilt Frau Ulrike Stopfel, die sehr engagiert – wie in den vergangenen Jahren – alle englischsprachigen Beiträge in hervorragender Qualität übersetzt hat. Dank der exzellenten Arbeit von Herrn Thomas Reichert konnten die einzelnen Manuskripte rasch editiert werden. Ein weiterer Dank gilt Herrn Dr. Heinz Beyer vom Verlag Klett-Cotta sowie Frau Christel Beck dafür, dass sie sich mit unermüdlichem Engagement für die Herausgabe dieses Buches beim Verlag Klett-Cotta eingesetzt bzw. die rasche Herstellung geleistet haben.

Ich hoffe, dass dieses Buch allen hilft, die im Rahmen von Therapie, Beratung, sozialer Arbeit sowie bei der Prävention von frühen Störungen tätig sind und die Menschen mit Suchterkrankungen und -erfahrungen – insbesondere Eltern und Kinder sowie Jugendliche – betreuen. Das Buch richtet sich daher auch an Psychotherapeuten, Paar- und Familientherapeuten, Psychiater, Kinder- und Jugendpsychiater, Psychologen und Sozialarbeiter, Pädagogen und Heilpädagogen, Seelsorger, aber auch an Geburtshelfer, Hebammen, Kinderärzte und Krankenschwestern sowie an Richter und Politiker. Möge es allen, die in diesem Kontext mit Suchtgefährdeten oder Suchtkranken arbeiten oder für deren Entwicklung Sorge tragen, zahlreiche Anregungen geben, die sie in ihrer täglichen Arbeit fruchtbar umsetzen können.

Karl Heinz Brisch

Einleitung

Das vorliegende Buch fasst verschiedene Beiträge aus den Bereichen Forschung, Klinik und Prävention zusammen, die sich aus ganz unterschiedlichen Perspektiven mit dem Thema »Bindung und Sucht« beschäftigen. Es werden hierbei sowohl Ergebnisse aus der Grundlagenforschung als auch solche aus empirischen Forschungen dargestellt, die teilweise aus Längsschnittstudien gewonnen wurden. Außerdem werden Erfahrungen aus der klinischen Arbeit anhand von Fallbeispielen anschaulich berichtet, um die therapeutischen Möglichkeiten und die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Therapie aufzuzeigen.

Andreas Schindler stellt in seinem Beitrag die theoretischen bindungsbasierten Modelle und empirischen Zusammenhänge dar, die seinen therapeutischen Ansätzen für die Arbeit mit Suchtkranken zugrunde liegen, sowie sein therapeutisches Vorgehen.

Über viele Jahre hin hat Philip Flores Suchtpatienten in einem bindungsorientierten gruppentherapeutischen Modellprojekt behandelt. Er zeigt, wie die Bindungstheorie fruchtbringend für die Behandlung von suchtkranken, bindungsgestörten, traumatisierten Menschen im Rahmen einer Gruppe genutzt werden kann.

Magersüchtige Patientinnen stellen eine große Herausforderung für die Therapie dar. Nicht selten chronifiziert die Essstörung, was mögliche Therapieerfolge stark beeinträchtigt. Fabienne Becker-Stoll hat essgestörte Patientinnen im Hinblick auf ihre Bindungsrepräsentation untersucht und die Bindungsergebnisse im Hinblick auf den Therapieerfolg verglichen. Hierbei wird deutlich, dass die Bindungsrepräsentation einen wichtigen Vorhersagefaktor für den Therapieverlauf und den Therapieerfolg darstellt.

Seelische Traumatisierungen sind von großer Bedeutung für den Beginn und den Erhalt von substanzgebundener Abhängigkeit. Michael Hase berichtet, wie die Traumatisierungen das Bindungssystem erschüttern, zu Bindungsstörungen führen und Suchtverhaltensweisen gerade im Sinne von substanzgebundener Abhängigkeit auf den Weg bringen. Er beschreibt, wie er mit diesen Patienten unter einer Bindungs- und Traumaperspektive auch mittels eines speziellen EMDR-Protokolls erfolgreich arbeitet; durch die Methode des EMDR kann er bei den Patienten gezielt auch das Suchtgedächtnis und die damit assoziierten Traumaerfahrungen beeinflussen und ihnen auf diese Weise helfen, Letztere zu verarbeiten.

Drogenabhängige Mütter wünschen sich oft, durch eine Schwangerschaft möge alles neu beginnen und auch eigene Verletzungen aus ihrer Kindheit mögen hierdurch wieder »heil« werden. Alexander Trost und sein Team haben mit drogenkranken Müttern und ihren Säuglingen mit Hilfe eines speziellen Interventionsprogramms gearbeitet. Trost zeigt auf, wie sich das Interaktionsverhalten der Mütter und auch ihre Einstellung zu ihrem Säugling auf diese Art und Weise verändern ließen.

Sogenannte »Sex Addicts« mit unkontrolliertem Sexualverhalten stellen eine besondere Patientengruppe dar, bei der bisher kaum ein möglicher Zusammenhang zwischen Bindung und Sucht untersucht wurde. Karen Faisandier hat eine entsprechende Studie aufgebaut, die sich genau dieser Fragestellung widmet. Das Protokoll und erste Perspektiven zur Untersuchung werden aus diesem Forschungsprojekt berichtet.

Kinder von alkoholkranken Menschen sind in besonderem Maße einer sequentiellen Traumatisierung durch ihre Eltern ausgesetzt, weil diese besonders im alkoholisierten Zustand nicht feinfühlig mit ihren Kindern umgehen; oftmals kommt es sogar zu Gewalt und Missbrauch gegenüber den Kindern, oder die Kinder sind Zeuge von Gewalt zwischen ihren Bindungspersonen. Auf diese Weise wird ihr Bindungssystem immer wieder neu erschüttert, und es kann kaum zur Entwicklung von sicheren Bindungen kommen; denn die eigentlichen Bindungspersonen stehen nicht für Schutz und Sicherheit, sondern für Bedrohung und Angst, welche die Kinder in deren Gegenwart erleben. Rina Eiden hat über viele Jahre eine Längsschnittstudie aufgebaut, in der sie genau diese Kinder immer wieder im Hinblick auf die Entwicklungsstörungen untersuchte. Aus diesen Erkenntnissen hat sie ein erfolgreiches Interventionskonzept entwickelt. Die Ansätze sowie die Behandlungserfolge werden eindrücklich dargestellt.

Für viele Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene stellen heute Internet und Computer- sowie Videospiele eine besondere Suchtquelle dar. Sie verbringen viele Stunden des Tages mit suchtartigem Spielverhalten; dies bedeutet, sie können damit nicht mehr aufhören, vergessen, zu essen und zu trinken, schlafen nicht mehr, vernachlässigen sich und fallen schließlich auch aus sozialen Kontakten heraus und vereinsamen. Da die Zahl dieser Kinder wächst, die von Computerspielen abhängig werden, und sie alle Zeichen einer Suchterkrankung tragen, wurde von Klaus Wölfling in Mainz eine entsprechende Beratungsstelle aufgebaut, die sich genau mit diesem Problem auseinandersetzt und das Verhalten der Süchtigen wie ein sinnvolles therapeutisches Vorgehen erforscht. Das Konzept dieser Beratungsstelle und auch die therapeutischen und beraterischen Erfolge werden in seinem Beitrag im Detail geschildert und weisen auf eine bedeutungsvolle Zielgruppe hin, die unbedingt in Zukunft noch genauer untersucht werden muss, um solchen suchtkranken Kindern entsprechende gezielte Präventionsprogramme in einer größeren Breite zur Verfügung zu stellen.

Seit vielen Jahren beschäftigt sich Jaak Panksepp zusammen mit einer Gruppe von Kollegen mit der Frage, warum wir Trennungen in Beziehungen als schmerzvoll erleben und wie sich diese Erfahrungen auf die Entwicklung von Depressionen und auch von Suchtkrankheiten auswirken. In einem eindrucksvollen Beitrag gehen die Forscher genau dieser Frage nach, und die neurobiologischen Zusammenhänge werden gut verständlich erklärt. Beim Erkennen der Zusammenhänge spielt das Bindungssystem eine große Rolle.

Silke Gahleitner geht der Frage nach, wie Gender, Trauma und Sucht zusammenhängen und wie diese verschiedenen Bereiche durch das Bindungssystem beeinflusst werden. Gerade in der Jugendhilfe hat sie sich in diesem Kontext intensiv mit den Fragen der Wechselwirkungen und auch der Gegenstrategien beschäftigt. An Fallbeispielen kann sie diese Zusammenhänge anschaulich darstellen.

Immer wieder wird in der Presse über Arbeitssucht geschrieben. Arnold Bakker hat sich mit der Gruppe der arbeitssüchtigen Menschen, den sogenannten »Workaholics«, beschäftigt, um mehr Informationen zum Prozess der Entstehung und zur Entwicklung einer suchtartigen Störung aufzeigen zu können.

In einem klinisch orientierten Artikel erklärt Karl Heinz Brisch, wie sich die Suchterkrankungen aus bindungstheoretischer Perspektive auf verschiedenen Altersstufen und bei verschiedenen Abhängigkeitsarten verstehen lassen. An Fallbeispielen zeigt er auf, wie auf dem Hintergrund der Bindungsperspektive suchtkranke Menschen auf verschiedenen Altersstufen angesprochen und behandelt werden können und wie die Betroffenen langfristig erfolgreich sichere Bindungen aufbauen können, die dann das Suchtverhalten quasi »ersetzen«. Brisch beschreibt auch eine Variante des primären bindungsorientierten Präventionsprogramms »SAFE® – Sichere Ausbildung für Eltern«, das in einer Modifikation des ursprünglichen Programms ab der Schwangerschaft mit jungen substituierten drogenabhängigen Müttern arbeitet, um ihnen – trotz so schwieriger Startbedingungen – beim Aufbau einer sicheren Bindung zu ihrem Kind zu helfen.

Alle Beiträge zusammen vermitteln einen sehr umfassenden Überblick, wie Bindungsentwicklung und Suchtverhalten entstehen und zusammenhängen, besonders dann, wenn die frühen Bindungserfahrungen von Deprivation und Trauma geprägt waren. Die klinisch orientierten Beiträge ermöglichen es, zu erkennen, wie suchtkranke Menschen verschiedener Altersstufen erfolgreich behandelt werden können, wenn ihre Suchterkrankungen aus einer Bindungsperspektive verstanden werden und sich auch der therapeutische Prozess daran orientiert.

Die Ergebnisse von Längsschnittstudien und präventiven bindungsorientierten Programmen sind bahnbrechend und weisen darauf hin, dass eine Hilfestellung und Therapie für suchtkranke Kinder und Jugendliche bereits frühzeitig erforderlich ist. Bei suchtkranken Eltern muss eine Prävention bereits in der Schwangerschaft beginnen, um möglichst zu vermeiden, dass die Kinder später unter den schwierigen Eltern-Kind-Beziehungen leiden.

Auf diesem Hintergrund wäre es wünschenswert, dass mehr Ansätze für Therapie und Prävention auf einem bindungstheoretischen Modell aufbauen und für die entsprechenden suchtkranken Patienten weiterentwickelt würden.

ANDREAS SCHINDLER

Bindung und Sucht – theoretische Modelle, empirische Zusammenhänge und therapeutische Implikationen

Ich möchte in diesem Beitrag zunächst ein theoretisches Modell entwickeln, das den Zusammenhang zwischen unsicherer Bindung und süchtigem Substanzmissbrauch beschreibt, möchte dann auf den Stand der empirischen Forschung eingehen und schließlich Implikationen für die Behandlung substanzbezogener Störungen ableiten. Dabei ist vieles von vorläufigem Charakter, da es bislang im Suchtbereich erst wenige bindungstheoretische Studien und überhaupt keine explizit bindungstheoretisch ausformulierten Behandlungsansätze gibt.

Theorie

Wenn es um den Zusammenhang zwischen Bindung und Sucht geht, wird üblicherweise gefragt, ob Sucht eine Bindungsstörung sei. Dabei wird versucht, aus dem Motivations- und Verhaltenssystem »Bindung« Motivationslagen für süchtigen Substanzkonsum abzuleiten. Die Frage nach diesem Zusammenhang ist allerdings – etwas provokativ – auch schon anders herum gestellt worden, nämlich: Ist Bindung eine Suchtstörung? Insel (2003) spielt damit vor allem auf die Parallelen zwischen der biochemischen Vermittlung der Bindungsmotivation und der Motivation süchtigen Substanzkonsums an. Aufgrund solcher Zusammenhänge lassen sich aus dem Wissen über die Sucht möglicherweise auch Rückschlüsse auf bindungstheoretische Fragen ziehen.

Bindung

Die grundlegende Funktion des Bindungssystems wird am besten im Vergleich von Tierarten mit und ohne ein solches deutlich. Beispielsweise kommen Suppenschildkröten ohne Bindungssystem aus. Die schiere Menge der von der Mutter am Strand abgelegten Eier stellt sicher, dass hinreichend viele frisch geschlüpfte und gepanzerte Schildkröten das Meer erreichen und die Art erhalten. Der Kaiserpinguin dagegen hat in der Regel nur ein einziges, wehrloses Küken im Jahr. Das Bindungssystem stellt sicher, dass dieses von seinen Eltern geschützt wird. Für sein Überleben ist das Küken unabdingbar auf Bindung angewiesen. »Süchtig nach Bindung« wäre hier ein falscher Begriff, aber Bindung stellt ein überlebenswichtiges Motivationssystem dar.

Überlebenswichtig ist Bindung auch beim Menschen. Auch hier reguliert das Bindungssystem Nähe und Distanz zwischen Eltern (bzw. Bindungsfiguren) und Kind. Bei wahrgenommener Gefahr sucht das Kind die Nähe der Eltern. Diese beruhigen es und geben ihm ein Gefühl von Sicherheit. Von dieser »sicheren Basis« aus kann das Kind seine Umwelt explorieren und seine innere Welt mentalisieren. Es ergibt sich ein Wechselspiel von Bindung und Exploration. Die »sichere Basis« ist die Voraussetzung dafür, dass Lernerfahrungen in der äußeren Umwelt gemacht werden können und ein kohärentes Bild der eigenen psychischen Prozesse entstehen kann. Außerdem findet damit eine Affektregulation des Kindes über die Bindungsfigur statt. Im Laufe der Zeit werden die immer wieder gemachten Bindungserfahrungen internalisiert. Es entstehen »innere Arbeitsmodelle« (»Inner Working Models«, IWM) des Selbst und der Bindungsfiguren: »Ich bin eine Person, die beschützt und der geholfen wird«. Und »Andere wenden sich mir zu, helfen mir und schützen mich bei Bedarf.« Diese IWM sind die Voraussetzung dafür, dass später auch andere Menschen außer den ursprünglichen Bindungsfiguren die Funktion einer »sicheren Basis« bekommen können. Außerdem ermöglichen sie eine zumindest teilweise autonome Affektregulation ohne andere Menschen. Holmes (1996) bringt dieses auf den Punkt indem er schreibt, dass eine sichere Bindung befreie. Dass eine »sichere Basis« oft auch anderswo gesucht wird, beschreibt Herbert Grönemeyer sehr schön in seinem Lied »Alkohol«: »Alkohol ist mein Fallschirm und mein Rettungsboot!« Wenn sich Sucht als Bindungsstörung begreifen lässt, ist das Suchtmittel dann also eine Bindungsfigur?

Sucht

Bevor diese Zusammenhänge weiter beleuchtet werden, stellt sich zunächst einmal die Frage: Was ist Sucht? Sucht ist nur multifaktoriell, im Zusammenspiel biologischer, psychischer und sozialer Faktoren zu erklären. Zu den biologischen Faktoren zählen beispielsweise die genetische Ausstattung, Besonderheiten des individuellen Stoffwechsels psychotroper Substanzen, somatische Faktoren wie Schmerzstörungen und eine Vielzahl weiterer Faktoren. Bei den psychischen Faktoren ist z. B. an so unterschiedliche Dinge wie Temperament und Persönlichkeitszüge (z. B. Impulsivität) zu denken, an komorbide psychische Störungen, an Konsumerwartungen usw. Bei den sozialen Faktoren schließlich spielen u. a. familiäre Beziehungen, Peerbeziehungen, das soziale Milieu, Vorbilder, die Verfügbarkeit psychotroper Substanzen eine Rolle. Angesichts der Vielzahl und Vielfalt der Einflussfaktoren und deren Wechselwirkungen ist es kaum möglich, diese in einem auch nur halbwegs überschaubaren Bild zusammenzustellen. Da »Bindung« hier als zentrale Perspektive auf die Sucht in den Mittelpunkt gestellt werden soll, ist es wichtig, nicht zu vergessen, dass auch Bindung nur ein Einflussfaktor unter vielen ist, der ebenso wenig wie alle anderen die Sucht allein erklären kann.

Ich habe den Begriff Sucht bisher sehr allgemein und unscharf benutzt. Treffender wäre es, vom »Konsum psychotroper Substanzen« zu sprechen. Da es bei bindungstheoretischen Fragestellungen meist um Erklärungen für die Motive dieses Konsums geht, muss berücksichtigt werden, dass diese Motive sich in unterschiedlichen Phasen deutlich unterscheiden. Probierkonsum ist in der Regel von Neugier motiviert. Konsumenten psychotroper Substanzen, die diese in sozial- und gesundheitsverträglichem Maße »gebrauchen«, antworten auf die Frage nach ihrem Konsummotiv meist mit »Genuss«.

Allerdings ist der Übergang zum schädlichen Gebrauch, bzw. Substanzmissbrauch, fließend. Um diesen zu erklären, spielt die »Selbstmedikation« (Khantzian 1997), d. h. der Konsum mit dem Ziel der Veränderung aversiver Affekte, die größte Rolle. Diese Phase ist für die Bindungsforschung am interessantesten. Geht die Suchtentwicklung noch weiter in Richtung Abhängigkeit, werden die ursprünglichen Motive des Substanzkonsums mehr und mehr von der Suchtdynamik überlagert. Motivational überwiegen dann Craving und die Vermeidung von Entzugserscheinungen.

Unsichere Bindung und Substanzmissbrauch

Ein Modell des Zusammenhangs zwischen unsicherer Bindung und Substanzmissbrauch ließe sich theoretisch folgendermaßen skizzieren. Die Bindungsbeziehungen eines Kindes bieten diesem keine hinreichend »sichere Basis«. Das heißt, das Kind kann Angst und andere Affekte nicht hinreichend mit Hilfe seiner Bindungsfiguren regulieren. In der Folge werden negative Bindungserfahrungen internalisiert und führen zu negativen IWM des Selbst und anderer Menschen. Dadurch können die eigenen Affekte weder über andere Menschen noch über die IWM, also über positive innere Objekte, hinreichend reguliert werden. Hier könnte der Substanzkonsum eine Ersatzfunktion bekommen. Er könnte als »Selbstmedikation«, als »chemische Affektregulation« von Menschen mit unsicherer Bindung eingesetzt werden. Mit einer solchen Funktion wird der Konsum zum Missbrauch. Zu diesem gehören neben den bekannten Risiken auch drei bindungsspezifische Nebenwirkungen: Erstens wird die Exploration der Umwelt unterbunden, verzerrt, oder aber es werden Risiken eingegangen, die in nüchternem Zustand nicht in Kauf genommen worden wären. Zweitens wird die Mentalisierung, die Exploration der eigenen Innenwelt (und der anderer Menschen), unterdrückt. Oftmals entsteht der Eindruck, dass dieses Nicht-Wahrnehmen, dieses »Dichtmachen« gerade das Ziel des Konsums ist. Und drittens werden Beziehungserfahrungen verhindert, die sonst altersentsprechend hätten gemacht werden können und sollen. Im Ergebnis ist man klinisch dann z. B. mit 25-jährigen Cannabiskonsumenten konfrontiert, die seit zehn Jahren kaum mehr nüchtern waren und den Entwicklungsstand eines 15-Jährigen haben; die keine Beziehungs- und Freundschaftserfahrungen jenseits der Konsumentenclique gemacht haben, die keinen Schulabschluss und keine Ausbildung haben und die weder kognitiv noch emotional altersgemäß entwickelt sind.

Empirie

Methodische Probleme

Theoretisch lässt sich der erwartete Zusammenhang zwischen Bindung und Sucht gut beschreiben, empirisch wird die Sache allerdings etwas komplizierter. Zunächst einmal weisen viele der Studien zum Thema eine Reihe methodischer Probleme auf. Denn nicht alle Studien, die »Bindung« im Titel führen, sind auch bindungstheoretisch fundiert. Häufig wird Bindung als Synonym für »Beziehung« oder »enge Beziehung« verwendet und mit Instrumenten erfasst, die mit der Bindungstheorie nichts zu tun haben. Aber auch die bindungstheoretisch fundierten Studien sind schwer zu vergleichen, da bei der Erfassung von Bindungsmustern unterschiedliche Verfahren verwendet werden. Shaver und Mikulincer (2002) haben sich die Mühe gemacht, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verschiedenen Verfahren herauszuarbeiten.

Im Bereich substanzbezogener Störungen kommt hinzu, dass deutliche Mängel im Hinblick auf die Erfassung des Substanzmissbrauchs und die Stichprobenauswahl bestehen. Es wird oft nicht klar, welche Substanzen wie häufig und in welchen Mengen konsumiert wurden. Ein weiteres Problem sind die oft hohen Komorbiditätsraten, die es schwer machen, die Rolle des Substanzmissbrauchs von der der anderen psychischen Störungen zu trennen (Übersicht bei Schindler et al. 2005).

Sichere und unsichere Bindung

Trotz dieser Probleme lässt sich heute eindeutig belegen, dass eine sichere Bindung einen Schutzfaktor gegen und eine unsichere Bindung einen Risikofaktor für späteren Substanzmissbrauch darstellt. Jordan & Sack (2009) haben versucht, die Größe dieses Effekts metaanalytisch zu berechnen, und kamen auf Odd’s Ratios von OR = .60 bis .70. Dies bedeutet, dass bei einer sicheren Bindung ein etwa um ein Drittel niedrigeres Risiko in Bezug auf Substanzmissbrauch besteht. Dies heißt aber nicht, dass eine sichere Bindung völlige Abstinenz bedeuten würde. Vielmehr fanden Cooper, Shaver und Collins (1998), dass Jugendliche mit altersentsprechendem Probierkonsum sicherer waren als abstinente Gleichaltrige. Sobald es aber nicht mehr um Probierkonsum, sondern um Substanzmissbrauch und Abhängigkeit geht, ist der Zusammenhang mit der unsicheren Bindung wieder eindeutig (Schindler et al. 2005; Mikulincer & Shaver 2007).

Wechselwirkungen

Üblicherweise geht man davon aus, dass sich unsichere Bindungsmuster bereits in der frühen Kindheit herausbilden und dann einen Risikofaktor für späteren Substanzmissbrauch darstellen. Dabei wird oft übersehen, dass Substanzmissbrauch seinerseits die Bindungsfähigkeit weiter beeinträchtigen kann. Mit fortgesetztem Konsum werden Beziehungserfahrungen vermieden, ersetzt und behindert. Zusätzliche Beeinträchtigungen können durch die Neurotoxizität der konsumierten Substanzen entstehen. Empirisch lassen sich diese Wechselwirkungen oder auch nur die Richtung eines Zusammenhangs bislang nicht belegen, da keine Längsschnittstudien vorliegen.

Bindungsmuster

Bindungsmuster umfassen ein bestimmtes Maß an Bindungssicherheit, einen Bewältigungsstil und ein System der Affekt- und Beziehungsregulation. Sollten sich Zusammenhänge solcher spezifischen Bindungsmuster mit bestimmten Formen des Substanzmissbrauchs finden, so könnten damit Rückschlüsse auf all diese Bereiche – Bewältigungsstil, Affekt- und Beziehungsregulation – gezogen werden. Bindungsmuster beschreiben im Kleinkindalter die Qualität der Beziehung des Kindes zu einer bestimmten Bindungsfigur. Im Erwachsenenalter werden Bindungsmuster allerdings nicht mehr als Beziehungsvariable, sondern als individuelles Merkmal erfasst.

Die Suche nach Zusammenhängen zwischen Substanzmissbrauch und spezifischen Bindungsmustern wird allerdings durch die verschiedenen Instrumente zu deren Erfassung erschwert. Bindungsinterviews wie das Adult Attachment Interview (AAI; Main & Goldwyn 1998) oder das Bartholomew Attachment Interview (Bartholomew & Horowitz 1991) bewerten vor allem die Art, wie jemand über seine Bindungsbeziehungen spricht. Fragebogenverfahren bieten dagegen verschiedene Kurzbeschreibungen von Bindungsstilen an, denen sich die Probanden dann zuordnen sollen. Beispiele sind der Hazan and Shaver Self Report (Hazan & Shaver 1987), der Relationship Questionnaire (RQ; Bartholomew & Horowitz 1991) oder der Bochumer Bindungsfragebogen (Neumann et al. 2007). Shaver & Mikulincer (2002) haben die so erfassten Bindungsstile als »Oberflächenindikatoren« für die im Interview erfassten Bindungsrepräsentationen bezeichnet.

Bei Jugendlichen werden Bindungsmuster wie bei Erwachsenen als individuelles Merkmal erfasst. Dies geschieht teils mit den auch bei Erwachsenen verwendeten Instrumenten, teils aber auch mit jugendspezifischen Anpassungen wie z. B. dem AAI-Q-Sort (Kobak et al. 1993) oder jugendspezifischen Instrumenten wie z. B. dem Inventory of Peer and Parent Attachment (IPPA; Armsden & Greenberg 1987), dem Parental Bonding Instrument (PBI; Adam et al. 1994) oder dem Attachment Behavior Classification System for Young Adolescents (ABCP; Cobb 1996). Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich Jugendliche durchaus noch in einer bindungstheoretisch bedeutsamen Beziehung zu ihren Eltern befinden, deren Qualität auch zu diesem Zeitpunkt noch großen Einfluss auf die weitere Entwicklung des Bindungsmusters hat.

Studien mit dem Adult Attachment Interview (AAI)

Das AAI (Main & Goldwyn 1998. Dt.: Gloger-Tippelt 2001) wurde ursprünglich als System mit den drei Bindungskategorien »sicher« (z. T. auch als »frei« oder »autonom« bezeichnet), »unsicher-abweisend« (auch »distanzierend«, »deaktivierend«, »vermeidend«) und »unsicher-anklammernd« (auch »ambivalent«, »präokkupiert«, »verstrickt«, »hyperaktivierend«) konzipiert.

Metaanalysen haben gezeigt, dass diese Kategorien eher Pole zugrunde liegender Dimensionen sind (van IJzendoorn & Bakermans-Kranenburg 1996). Die Dimension »abweisend-anklammernd« wurde als »Bewältigungsstil« bezeichnet, die Dimension »sicher-unsicher« als »Bindungssicherheit«. Dabei fällt auf, dass der – klinisch besonders relevante – unsichere Pol der Dimension »Bindungssicherheit« zunächst nicht definiert war. In klinischen Stichproben fand sich immer wieder ein hoher Anteil nicht klassifizierbarer Interviews mit kontrastierenden unsicheren Bindungsrepräsentanzen. Für diese wurde die Behelfskategorie »Cannot Classifiy« (CC) gebildet. Mittlerweile liegen zwei Konzepte unsicher-desorganisierter Bindung im AAI vor. »Unverarbeitete« (U) Bindung wird codiert, wenn sich nach einem Trauma oder Verlust sprachlich-logische Auffälligkeiten beim Sprechen über dieses Thema zeigen oder aber wenn in der Folge dieses Ereignisses eine psychopathologische Symptombildung zu beobachten ist. Ein Beispiel hierfür wäre eine Abhängigkeitsentwicklung nach einer Vergewaltigung. Von der Arbeitsgruppe um Lyons-Ruth (Lyons-Ruth et al. 2003) wurde das Konzept »hostile-helpless« (HH; »feindselig-hilflos«) entwickelt. Dieses beinhaltet kontrastierende und nicht integrierte Bewertungen von Selbst und Bindungsfigur.

Studien mit dem AAI weisen sehr gemischte Ergebnisse auf, es finden sich fast alle unsicheren Bindungsmuster. In einer deutschen Studie fand Amann (2009) abweisende, unverarbeitete und Cannot-classify-Repräsentationen bei drogenabhängigen Jugendlichen mit Cannabis-, Alkohol- und polytoxem Konsum. Zwei Studien mit jugendlichen Psychiatriepatienten fanden anklammernde und abweisende Repräsentationen, die mit unterschiedlichen komorbiden Störungen zusammenhingen (Allen et al. 1996; Rosenstein & Horowitz 1996). Eine amerikanische Studie fand überwiegend feindselig-hilflose Repräsentationen (hostilehelpless) bei methadon-substituierten, überwiegend afroamerikanischen Müttern (Finger, 2006; Melnick et al. 2008). Zwei weitere Studien fanden unverarbeitete Traumata bei werdenden Eltern (Riggs & Jacobvitz 2002) und erwachsenen Psychiatriepatienten (Fonagy et al. 1996). Diese sehr unterschiedlichen Ergebnisse mögen zum Teil der Unterschiedlichkeit der untersuchten Stichproben geschuldet sein. Ein Zusammenhang zwischen Substanzmissbrauch im Allgemeinen und einer spezifischen AAI-Klassifikation erscheint danach aber als sehr unwahrscheinlich.

Fragebogenstudien

Erstaunlicherweise sind die Ergebnisse der beiden einzigen vorliegenden Fragebogen-Studien mit dem Hazan & Shaver Self Report (HSSR; Hazan & Shaver 1987) kongruenter, obwohl auch sie sehr unterschiedliche Stichproben untersucht haben und obwohl Zweifel an der Validität von Bindungsfragebögen bei klinischen Stichproben bestehen. Sowohl erwachsene Heroinabhängige (Finzi-Dottan et al. 2003) als auch unausgewählte Substanzmissbraucher in einer repräsentativen US-Studie (Mickelson et al. 1997) schrieben sich einen »vermeidenden« Bindungsstil zu. Dieser entspricht dem ängstlich-vermeidenden Bindungsprototyp nach Bartholomew & Horowitz (1991). Deren Modell umfasst das sichere, anklammernde und abweisende Muster analog dem AAI, fügt diesem aber am unsicheren Pol der Dimension »Bindungssicherheit« das ängstlich-vermeidende Bindungsmuster hinzu. Dieses umfasst zwei negative IWM: ein negatives Selbstmodell und ein negatives Modell anderer; außerdem Furcht vor Intimität, soziale Vermeidung als Versuch, sich vor erwarteter Zurückweisung zu schützen; ein Gefühl der persönlichen Unsicherheit sowie Misstrauen anderen gegenüber. Es fehlen funktionierende Strategien zum Umgang mit negativen Affekten und Beziehungserfahrungen (Bartholomew & Horowitz 1991; Horowitz et al. 1993; Doll et al. 1995).

Bindungsmuster junger Drogenabhängiger

Eine eigene erste Studie untersuchte die Bindungsmuster junger Drogenabhängiger mit dem Bartholomew Attachment Interview. Die Stichprobe bestand aus N = 71 Drogenabhängigen mit Heroin- und polytoxem Beikonsum im Alter von 14 bis 25 Jahren, die Kontrollgruppe aus N = 37 nicht drogenabhängigen Geschwistern. Beide Gruppen nahmen an einer ambulanten familientherapeutischen Behandlung teil. Es zeigten sich deutliche Unterschiede zwischen den beiden Gruppen. Die Heroinabhängigen waren vorwiegend ängstlich-vermeidend, die Kontrollgruppe dagegen vorwiegend sicher gebunden. Darüber hinaus korrelierte das Ausmaß ängstlich-vermeidender Bindung mit der Schwere der Abhängigkeit, gemessen mit dem European Addiction Severity Index (EuropASI; Gsellhofer et al. 1999) (r = .42, p < .001). Unabhängig von der Schwere der Abhängigkeit korrelierte das Ausmaß ängstlich-vermeidender Bindung auch mit dem Vorliegen komorbider psychischer Störungen (r = .49, p < .05). Zudem ergab sich eine negative Korrelation zwischen abweisender Bindung und Schwere der Abhängigkeit (r = –.28, p < .05). Dies spricht gegen die gelegentlich aufgestellte Vermutung eines Zusammenhangs von Substanzmissbrauch und abweisender Bindung. Eine mögliche Erklärung dafür wäre, dass Menschen mit abweisender Bindung ja durchaus über ein funktionierendes, wenn auch unsicheres Bindungsmuster verfügen. Im Gegensatz dazu verfügen Menschen mit ängstlichvermeidender Bindung nicht über bindungsbezogene Bewältigungsstrategien. Die Ergebnisse bestätigen also einen deutlichen Zusammenhang zwischen Heroinabhängigkeit und ängstlich-vermeidender Bindung und einer möglichen Ersatzfunktion des Heroins für fehlende Bindungsstrategien (Schindler et al. 2005).

Substanzspezifische Unterschiede

Nach dieser Studie stellte sich die Frage, ob der gefundene Zusammenhang auch für Konsumenten anderer Substanzen oder nur für Heroinabhängige gilt. Unterschiedliche Suchtmittel teilen einige allgemeine Wirkungen, weisen aber auch deutliche Unterschiede in ihren Wirkprofilen auf. Alle Suchtmittel bewirken eine affektive und kognitive Zustandsveränderung des Konsumenten, und alle bewirken eine Stimulation des Belohnungszentrums. Daneben gibt es aber erhebliche Unterschiede z. B. zwischen stimulierenden und sedierenden Substanzen, beim Ausmaß der halluzinogenen Wirkung und in den spezifischen affektiven Wirkungen, die Anxiolyse, Euphorisierung, Selbstwertsteigerung, Enthemmung und anderes umfassen können.

Khantzian (1982) hat bereits vor 30 Jahren versucht, von der bevorzugten Substanz, der »Drug of choice«, auf die Motivation der Konsumenten zu schließen. Mit der Fragestellung, ob sich von der bevorzugten Substanz auf spezifische Bindungsmuster schließen lässt, sollten in einer Folgestudie (Schindler et al. 2009) die Bindungsmuster von Heroinkonsumenten mit denen von Konsumenten anderer Substanzen verglichen werden.

Opiate als Sonderfall?

Opiate spielen eine entscheidende Rolle für das Verständnis substanzbezogener Störungen, denn es ist die Stimulation von Endorphinrezeptoren im ventralen Tegmentum, die das dopaminerge Belohnungssystem desinhibiert. Körpereigene Opiate (Endorphine) haben aber auch einen besonderen Bezug zum Bindungssystem. Das Erleben der »sicheren Basis« ist an eine Endorphinausschüttung gekoppelt und hat einen ähnlichen emotionalen Effekt wie der Konsum exogener Opiate. Beides wird durch dieselben neuronalen Schaltkreise vermittelt (Panksepp 1998).

Diese Befunde haben Insel (2003) zu seiner Frage veranlasst, ob Bindung eine Suchtstörung sei. Die Antwort wäre, dass Bindung natürlich keine Sucht, aber ein überlebenswichtiges Motivationssystem ist und dass Suchtmittel ihre Attraktivität und auch ihre Gefährlichkeit u. a. dadurch erhalten, dass sie die neuronalen Schaltkreise des Bindungsbedürfnisses zweckentfremden. Eine Reihe von Tierstudien zeigt die Enge des Zusammenhangs. So verstärkt Endorphinmangel das Bedürfnis nach Zuwendung. Die Gabe von Opiaten dagegen verringert dieses Bedürfnis ebenso wie den »Trennungsschmerz« von Jungtieren bei Trennung von der Mutter. Wird Tiermüttern ein Opiat verabreicht, so reduzieren diese die Pflege ihres Nachwuchses. Darüber hinaus lässt sich die analgetische Wirkung von Opiaten durch die Anwesenheit verwandter Tiere steigern (Panksepp 1998; Panksepp et al. 2013). Untersuchungen bei Menschen fehlten bislang, aber kürzlich haben verschiedene Forschergruppen eine »Opiatdefizithypothese« zur Erklärung von Sucht und auch von Borderline-Störungen vorgelegt (Trigo et al. 2010; New & Stanley 2010). Möglicherweise könnte ein Opiatdefizit so etwas wie ein biochemisches Korrelat unsicherer Bindung sein. Zeifman und Hazan (1997) gehen davon aus, dass die Entstehung von Bindungen über die Konditionierung des körpereigenen Opioidsystems auf den Reiz einer bestimmten anderen Person vermittelt wird, und zwar über die mit dem Erleben der sicheren Basis verknüpfte Endorphinausschüttung. Eine unsichere Bindung würde dementsprechend mit einer unvollständigen Konditionierung, einer mangelnden Verfügbarkeit von Endorphinen und einer erschwerten Stimulation des Belohnungssystems einhergehen. Der Konsum von exogenen Opiaten könnte dann besonders gut als »Bindungsersatz« geeignet und damit besonders attraktiv für Menschen mit hochunsicherer Bindung sein (vgl. zu diesem Thema auch den Beitrag von Panksepp in diesem Band).

Bindungsmuster von Heroin-, Ecstasy- und Cannabisabhängigen

Die Ausgangsfrage für unsere zweite Untersuchung war also, ob sich Opiatkonsumenten von anderen Substanzkonsumenten in ihrem Bindungsmuster unterscheiden. Allgemeiner formuliert, ob Konsumenten unterschiedlicher Substanzen gleiche oder unterschiedliche Bindungsmuster aufweisen. Die Hypothese dabei war, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Konsum sedierender Substanzen und vermeidenden, deaktivierenden Bindungsmustern sowie zwischen dem Konsum stimulierender Substanzen und anklammernden, hyperaktivierenden Bindungsmustern geben könnte.

Untersucht wurden daher drei Gruppen möglichst »reiner« Konsumenten von Heroin, Cannabis und Ecstasy mit jeweils missbräuchlichem bis abhängigem Konsum. Dabei wurde Cannabis als eher deaktivierende, in ähnlichen Altersgruppen konsumierte, nicht-opioide Vergleichssubstanz zum Heroin gewählt, Ecstasy (MDMA) dagegen als Kontrast, mit einem stimulierenden und »entaktogenen« (Nichols 1986), also zwischenmenschlichen Kontakt stiftenden Wirkprofil.

Die Ergebnisse der Studie zeigten, dass Bindungsmuster substanzspezifisch unterschiedlich sind. Die überwiegend ängstlich-vermeidende Bindung fand sich nur bei Heroin-Konsumenten und stützte damit die These vom Opiat als Substitut fehlender Bindungsstrategien. Die Ecstasy-Konsumenten waren zwar durchweg unsicher und klinisch hoch auffällig, zeigten aber keinen Bezug zu einem spezifischen Bindungsmuster. Damit ließ sich auch der vermutete Zusammenhang zwischen stimulierenden Substanzen und aktivierend-anklammernder Bindung nicht bestätigen. Die Cannabis-Konsumenten waren dagegen überwiegend abweisend und außerdem überraschend sicher. Cannabis kann damit nicht als Ersatz fehlender Bindungsstrategien verstanden werden, möglicherweise aber als Verstärker vorhandener abweisender Strategien. Insgesamt zeigt sich diese Gruppe auf einem Niveau eher leichterer klinischer Auffälligkeit. Zu berücksichtigen ist hier allerdings, dass es sich bei den Cannabiskonsumenten um eine in Techno-Discos rekrutierte Stichprobe handelt, die keine Repräsentativität für die Gesamtheit der Cannabiskonsumenten beanspruchen kann (Schindler et al. 2009).

Adoleszenz und familiäre Bindungsmuster

Für das Verständnis substanzbezogener Störungen ist der Zeitraum der Adoleszenz ein entscheidender. Zwischen dem 16. und 20. Lebensjahr liegt die Zeit des höchsten Substanzkonsums und vor allem der kritische Zeitraum für eine Abhängigkeitsentwicklung. Bindungstheoretisch betrachtet, stellt die Adoleszenz mit der Ablösung von den Eltern einen wichtigen Übergang dar, eine Trennungssituation, die das Bindungssystem aktiviert. Kobak & Sceery (1988) haben die sichere Bindung in der Adoleszenz als »balancierte Selbstbehauptung« definiert, wobei sich die Balance von der Bindung mehr in Richtung Exploration und Autonomie verschiebt. Dieser Übergang zu mehr Autonomie gelingt umso besser, je mehr die Eltern bei Bedarf noch als sichere Basis und auch als Reibungsfläche zur Verfügung stehen.

In der familientherapeutischen Literatur wird adoleszenter Substanzmissbrauch immer wieder mit misslingender Ablösung in Verbindung gebracht. Dabei werden einerseits die »Ausstoßung« des Jugendlichen aus dem Familienverband und andererseits die »Triangulation« und »Verstrickung« des Jugendlichen beschrieben (Minuchin 1974; Haley 1980; Stierlin 1980). Bei beiden Konstellationen springt die Nähe zu den Konzepten von abweisender bzw. anklammernder Bindung unmittelbar ins Auge (Marvin & Stewart 1990; Byng-Hall 1999). Es fehlten aber bislang empirische Untersuchungen dieser Thematik.

Wir haben daher versucht, die familientherapeutische Hypothese bindungstheoretisch zu operationalisieren und an einer Stichprobe junger Drogenabhängiger und ihrer Familien zu untersuchen. Wir haben dabei »familiäre Bindungsmuster« als Kombination der individuellen Bindungsmuster von Mutter, Vater und drogenabhängigem Jugendlichen untersucht. Die Stichprobe bestand aus den N = 37 Familien in familientherapeutischer Behandlung aus der bereits beschriebenen Studie, bei der beide biologischen Eltern teilnahmen. Dies schränkt die Verallgemeinerbarkeit ein, allerdings hätte die Berücksichtigung von Ein-Eltern-, Adoptiv-, Stief- und anderen Patchwork-Familien zu viele und bindungstheoretisch gravierende weitere Variablen mit sich gebracht. Wir gingen von der Hypothese aus, dass eine »unsichere familiäre Basis« und das familiäre Bindungsmuster der »Triangulation« die altersentsprechende Autonomieentwicklung verhindern und mit der Drogenabhängigkeit zusammenhängen. Wir erwarteten dabei vor allem triangulierte, verstrickte familiäre Muster, bei denen der Jugendliche für die konfliktbelastete elterliche Dyade eine Funktion hat und sich aus dieser nicht lösen kann. In unserer familientherapeutischen Stichprobe erwarteten wir eher weniger ausstoßende, zerfallende Familienstrukturen.

Die Ergebnisse bestätigten diese Hypothese weitgehend. Im Durchschnitt aller Familien zeigten sich überwiegend triangulierte Muster aus ängstlich-vermeidenden Jugendlichen, anklammernden Müttern und abweisenden Vätern. Eine Clusteranalyse zeigte allerdings drei sehr unterschiedliche Muster. Zwar beschrieb das triangulierte Muster die Mehrheit der Familien (65 %), daneben zeigten sich aber noch ein »sicher-instabiles« (16 %) und ein »unsicheres« Muster (19 %) bei den am schwersten beeinträchtigten Familien. Das »sicher-instabile« Muster umfasste relativ sichere Mütter, nur wenig unsichere Jugendliche und anklammernde Väter. Ebenso wie beim triangulierten Muster gingen wir hier davon aus, dass die elterliche Dyade konflikthaft und instabil sei und die Jugendlichen hier wie dort Schwierigkeiten hätten, sich aus der familiären Verstrickung zu lösen.

Beide Gruppen ließen sich familientherapeutisch erfolgreich behandeln (Schindler et al. 2010b). Im Unterschied dazu war das familientherapeutische Vorgehen bei den unsicheren Familien manchmal notwendig, aber alleine wenig erfolgreich. Hier waren alle Familienmitglieder sehr unsicher und mit behandlungsbedürftigen eigenen Problemen belastet. Unterschiede in den familiären Bindungsmustern haben also durchaus klinische Relevanz und sollten bei der Behandlungsplanung berücksichtigt werden. Künftige Studien sollten ihren Zusammenhang mit aktuellen Beziehungsparametern untersuchen (Schindler et al. 2007).

Therapeutische Implikationen

Familientherapeutische Ansätze

Diese Studie leitet uns über zu den therapeutischen Implikationen der vorliegenden Untersuchungen. Bleiben wir zunächst bei der Thematik um Adoleszenz und Familientherapie. In der Literatur ist die Adoleszenz oft als »2. Chance« beschrieben worden, in der sich Problemlagen aus der früheren Entwicklung verändern können. Dabei bietet die Autonomieentwicklung in der Adoleszenz einen Ansatzpunkt bindungsbasierter Behandlungen. Familientherapeutische Settings bieten darüber hinaus die Möglichkeit, Bindungsstörungen in ihrem Entstehungskontext zu behandeln. Eine Übersicht über familientherapeutische Ansätze im Suchtbereich findet sich bei Schindler et al. (2010a).

Der einzige explizit bindungsorientierte Ansatz in diesem Bereich ist die Attachment Based Family Therapy (ABFT; Diamond et al. 2007). Diese ist allerdings für depressive und suizidale Jugendliche entwickelt worden und hilft diesen, den verlorenen emotionalen Kontakt zu ihren Eltern wiederherzustellen. Doch auch die nicht explizit bindungstheoretischen Ansätze im Bereich der substanzbezogenen Störungen konzentrieren sich auf die Entwicklung von Autonomie und Bezogenheit im familiären Rahmen. Während dieser Aspekt bei den multimodalen Ansätzen wie der Multidimensional Family Therapy (MDFT; Liddle 2010; Gantner & Spohr 2010) ein Element unter mehreren darstellt, ist er bei Ansätzen, die im Wesentlichen mit der Kernfamilie arbeiten, zentral. Zum Beispiel wird in der Eppendorfer Familientherapie (Thomasius 2004; Schindler et al. 2010b) der Substanzmissbrauch als Versuch verstanden, gleichzeitig in der Familie zu bleiben und sich aus dieser zu distanzieren. In der Therapie führt der Weg meistens aus dem Substanzmissbrauch heraus und zunächst wieder in die Familie hinein. Erst im zweiten Schritt – und bei bestehender Abstinenz – kann dann eine erfolgversprechende Autonomieentwicklung beginnen.

Unsere bindungstheoretischen Untersuchungen bestätigen die Annahmen und klinischen Beobachtungen der Familientherapie weitgehend. Sie zeigen aber auch eine Notwendigkeit der Differenzierung nach familiären Bindungsmustern auf. Insbesondere bei sehr unsicher gebundenen Familien erscheint eine Familientherapie alleine als wenig erfolgversprechend.

Die therapeutische Beziehung

Nimmt man familientherapeutische Settings einmal aus, so ist die vielleicht wichtigste und bisher am meisten rezipierte therapeutische Implikation der Bindungstheorie der Hinweis auf die Bedeutung der therapeutischen Beziehung. Diese kann im besten Falle eine »korrigierende Beziehungserfahrung« werden, die zu mehr Bindungssicherheit führt. Zudem fördert sie in der Regel die Mentalisierungsfähigkeit und damit die Verarbeitung negativer Bindungserfahrungen.