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Friedrich Hebbel

Maria Magdalena

Ein bürgerliches Trauerspiel in drei Akten

Mit Hebbels Vorwort betreffend das Verhältnis der dramatischen Kunst zur Zeit und verwandte Punkte

Reclam

Zu Hebbels Maria Magdalena gibt es in Reclams Universal-Bibliothek

• einen Lektüreschlüssel für Schülerinnen und Schüler (Nr. 15361, PDF 978-3-15-950168-0)

Erläuterungen und Dokumente (Nr. 8105)

• eine Interpretation in: Dramen des 19. Jahrhunderts in der Reihe »Interpretationen« (Nr. 9631, PDF 978-3-15-950033-1)

1965, 1994, 2002, 2012 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
Durchgesehene Ausgabe 2002
auf der Grundlage der gültigen amtlichen Rechtschreibregeln
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen. Made in Germany 2017
RECLAM ist eine eingetragene Marke
der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-960020-8
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-003173-5

www.reclam.de

Inhalt

Personen

Erster Akt

Erste Szene

Zweite Szene

Dritte Szene

Vierte Szene

Fünfte Szene

Sechste Szene

Siebente Szene

Zweiter Akt

Erste Szene

Zweite Szene

Dritte Szene

Vierte Szene

Fünfte Szene

Sechste Szene

Dritter Akt

Erste Szene

Zweite Szene

Dritte Szene

Vierte Szene

Fünfte Szene

Sechste Szene

Siebente Szene

Achte Szene

Neunte Szene

Zehnte Szene

Elfte Szene

Editorische Notiz

Hinweis zur E-Book-Ausgabe

[3] Vorwort zur »Maria Magdalena«,

betreffend das Verhältnis der dramatischen Kunst zur Zeit und verwandte Punkte

 

Das kleine Vorwort, womit ich meine Genoveva begleitete, hat so viel Missverständnis und Widerspruch hervorgerufen, dass ich mich über den darin berührten Hauptpunkt noch einmal aussprechen muss. Ich muss aber ein ästhetisches Fundament, und ganz besonders einigen guten Willen, auf das Wesentliche meines Gedankenganges einzugehen, voraussetzen, denn wenn die Unschuld des Worts nicht respektiert, und von der dialektischen Natur der Sprache, deren ganze Kraft auf dem Gegensatz beruht, abgesehen wird, so kann man mit jedem eigentümlichen Ausdruck jeden beliebigen Wechselbalg erzeugen, man braucht nur einfach in die Bejahung der eben hervorgehobenen Seite eine stillschweigende Verneinung aller übrigen zu legen.

Das Drama, als die Spitze aller Kunst, soll den jedesmaligen Welt- und Menschenzustand in seinem Verhältnis zur Idee, d. h. hier zu dem alles bedingenden sittlichen Zentrum, das wir im Weltorganismus, schon seiner Selbsterhaltung wegen, annehmen müssen, veranschaulichen. Das Drama, d. h. das höchste, das Epoche machende, denn es gibt auch noch ein zweites und drittes, ein partiell-nationales und ein subjektiv-individuelles, die sich zu jenem verhalten wie einzelne Szenen und Charaktere zum ganzen Stück, die dasselbe aber so lange, bis ein alles umfassender Geist erscheint, vertreten, und wenn dieser ganz ausbleibt, als disjecti membra poetae in seine Stelle rücken, das Drama ist nur dann möglich, wenn in diesem Zustand eine entscheidende Veränderung vor sich geht, es ist daher durchaus ein Produkt der Zeit, aber freilich nur in dem Sinne, worin eine solche Zeit selbst ein Produkt aller vorhergegangenen Zeiten ist, das [4] verbindende Mittelglied zwischen einer Kette von Jahrhunderten, die sich schließen, und einer neuen, die beginnen will.

Bis jetzt hat die Geschichte erst zwei Krisen aufzuzeigen, in welchen das höchste Drama hervortreten konnte, es ist demgemäß auch erst zweimal hervorgetreten: einmal bei den Alten, als die antike Weltanschauung aus ihrer ursprünglichen Naivetät in das sie zunächst auflockernde und dann zerstörende Moment der Reflexion überging, und einmal bei den Neuern, als in der christlichen eine ähnliche Selbstentzweiung eintrat. Das griechische Drama entfaltete sich, als der Paganismus sich überlebt hatte, und verschlang ihn, es legte den durch alle die bunten Göttergestalten des Olymps sich hindurchziehenden Nerv der Idee bloß, oder, wenn man will, es gestaltete das Fatum. Daher das maßlose Herabdrücken des Individuums, den sittlichen Mächten gegenüber, mit denen es sich in einen doch nicht zufälligen, sondern notwendigen Kampf verstrickt sieht, wie es im Ödip den Schwindel erregenden Höhepunkt erreicht. Das Shakespeare’sche Drama entwickelte sich am Protestantismus und emanzipierte das Individuum. Daher die furchtbare Dialektik seiner Charaktere, die, soweit sie Männer der Tat sind, alles Lebendige um sich her durch ungemessenste Ausdehnung verdrängen, und soweit sie im Gedanken leben, wie Hamlet, in ebenso ungemessener Vertiefung in sich selbst durch die kühnsten entsetzlichsten Fragen Gott aus der Welt, wie aus einer Pfuscherei, herausjagen möchten.

Nach Shakespeare hat zuerst Goethe im Faust und in den mit Recht dramatisch genannten Wahlverwandtschaften wieder zu einem großen Drama den Grundstein gelegt, und zwar hat er getan, oder vielmehr zu tun angefangen, was allein noch übrig blieb, er hat die Dialektik unmittelbar in die Idee selbst hineingeworfen, er hat den Widerspruch, den Shakespeare nur noch im Ich aufzeigt, in dem Zentrum, um das das Ich sich herum bewegt, d. h. in [5] der diesem erfassbaren Seite desselben, aufzuzeigen, und so den Punkt, auf den die gerade, wie die krumme Linie zurückzuführen schien, in zwei Hälften zu teilen gesucht. Es muss niemand wundern, dass ich Calderón, dem manche einen gleichen Rang anweisen, übergehe, denn das Calderón’sche Drama ist allerdings bewunderungswürdig in seiner konsequenten Ausbildung und hat der Literatur der Welt in dem Stücke: Das Leben ein Traum, ein unvergängliches Symbol einverleibt, aber es enthält nur Vergangenheit, keine Zukunft, es setzt in seiner starren Abhängigkeit vom Dogma voraus, was es beweisen soll, und nimmt daher, wenn auch nicht der Form, so doch dem Gehalt nach, nur eine untergeordnete Stellung ein.

Allein Goethe hat nur den Weg gewiesen, man kann kaum sagen, dass er den ersten Schritt getan hat, denn im Faust kehrte er, als er zu hoch hinauf, und in die kalte Region hinein geriet, wo das Blut zu gefrieren anfängt, wieder um, und in den Wahlverwandtschaften setzte er, wie Calderón, voraus, was er zu beweisen oder zu veranschaulichen hatte. Wie Goethe, der durchaus Künstler, großer Künstler, war, in den Wahlverwandtschaften einen solchen Verstoß gegen die innere Form begehen konnte, dass er, einem zerstreuten Zergliederer nicht unähnlich, der, statt eines wirklichen Körpers, ein Automat auf das anatomische Theater brächte, eine von Haus aus nichtige, ja unsittliche Ehe, wie die zwischen Eduard und Charlotte, zum Mittelpunkt seiner Darstellung machte und dies Verhältnis behandelte und benutzte, als ob es ein ganz entgegengesetztes, ein vollkommen berechtigtes wäre, wüsste ich mir nicht zu erklären; dass er aber auf die Hauptfrage des Romans nicht tiefer einging, und dass er ebenso im Faust, als er zwischen einer ungeheuren Perspektive und einem mit Katechismusfiguren bemalten Bretterverschlag wählen sollte, den Bretterverschlag vorzog und die Geburtswehen der um eine neue Form ringenden Menschheit, die wir mit Recht im ersten Teil erblickten, im zweiten zu bloßen [6] Krankheitsmomenten eines später durch einen willkürlichen, nur notdürftig-psychologisch vermittelten Akt kurierten Individuums herabsetzte, das ging aus seiner ganz eigen komplizierten Individualität hervor, die ich hier nicht zu analysieren brauche, da ich nur anzudeuten habe, wie weit er gekommen ist. Es bedarf hoffentlich nicht der Bemerkung, dass die vorstehenden, sehr motivierten Einwendungen gegen den Faust und die Wahlverwandtschaften diesen beiden welthistorischen Produktionen durchaus nichts von ihrem unermesslichen Wert abdingen, sondern nur das Verhältnis, worin ihr eigener Dichter zu den in ihnen verkörperten Ideen stand, bezeichnen und den Punkt, wo sie formlos geblieben sind, nachweisen sollen.

Goethe hat demnach, um seinen eigenen Ausdruck zu gebrauchen, die große Erbschaft der Zeit wohl angetreten, aber nicht verzehrt, er hat wohl erkannt, dass das menschliche Bewusstsein sich erweitern, dass es wieder einen Ring zersprengen will, aber er konnte sich nicht in gläubigem Vertrauen an die Geschichte hingeben, und da er die aus den Übergangszuständen, in die er in seiner Jugend selbst gewaltsam hineingezogen wurde, entspringenden Dissonanzen nicht aufzulösen wusste, so wandte er sich mit Entschiedenheit, ja mit Widerwillen und Ekel, von ihnen ab. Aber diese Zustände waren damit nicht beseitigt, sie dauern fort bis auf den gegenwärtigen Tag, ja sie haben sich gesteigert, und alle Schwankungen und Spaltungen in unserem öffentlichen, wie in unserem Privatleben, sind auf sie zurückzuführen, auch sind sie keineswegs so unnatürlich, oder auch nur so gefährlich, wie man sie gern machen möchte, denn der Mensch dieses Jahrhunderts will nicht, wie man ihm Schuld gibt, neue und unerhörte Institutionen, er will nur ein besseres Fundament für die schon vorhandenen, er will, dass sie sich auf nichts, als auf Sittlichkeit und Notwendigkeit, die identisch sind, stützen und also den äußeren Haken, an dem [7] sie bis jetzt zum Teil befestigt waren, gegen den inneren Schwerpunkt, aus dem sie sich vollständig ableiten lassen, vertauschen sollen. Dies ist, nach meiner Überzeugung, der welthistorische Prozess, der in unseren Tagen vor sich geht, die Philosophie, von Kant, und eigentlich von Spinoza an, hat ihn, zersetzend und auflösend, vorbereitet, und die dramatische Kunst, vorausgesetzt, dass sie überhaupt noch irgendetwas soll, denn der bisherige Kreis ist durchlaufen und Duplikate sind vom Überfluss und passen nicht in den Haushalt der Literatur, soll ihn beendigen helfen, sie soll, wie es in einer ähnlichen Krisis Äschylos, Sophokles, Euripides und Aristophanes, die nicht von ungefähr und etwa bloß, weil das Schicksal es mit dem Theater der Athener besonders wohl meinte, so kurz hintereinander hervortraten, getan haben, in großen gewaltigen Bildern zeigen, wie die bisher nicht durchaus in einem lebendigen Organismus gesättigt aufgegangenen, sondern zum Teil nur in einem Scheinkörper erstarrt gewesenen und durch die letzte große Geschichtsbewegung entfesselten Elemente, durcheinander flutend und sich gegenseitig bekämpfend, die neue Form der Menschheit, in welcher alles wieder an seine Stelle treten, in welcher das Weib dem Manne wieder gegenüber stehen wird, wie dieser der Gesellschaft, und wie die Gesellschaft der Idee, erzeugen. Damit ist nun freilich der Übelstand verknüpft, dass die dramatische Kunst sich auf Bedenkliches und Bedenklichstes einlassen muss, da das Brechen der Weltzustände ja nur in der Gebrochenheit der individuellen erscheinen kann, und da ein Erdbeben sich nicht anders darstellen lässt, als durch das Zusammenstürzen der Kirchen und Häuser und die ungebändigt hereindringenden Fluten des Meers. Ich nenne es natürlich nur mit Rücksicht auf die harmlosen Seelen, die ein Trauerspiel und ein Kartenspiel unbewusst auf einen und denselben Zweck reduzieren, einen Übelstand, denn diesen wird unheimlich zumute, wenn Spadille nicht mehr [8] Spadille sein soll, sie wollen wohl neue Kombinationen im Spiel, aber keine neue Regel, sie verwünschen den Hexenmeister, der ihnen diese aufdringt, oder doch zeigt, dass sie möglich ist, und sehen sich nach dem Gevatter Handwerker um, der die Blätter wohl anders mischt, auch wohl hin und wieder, denn Abwechselung muss sein, einen neuen Trumpf einsetzt, aber im Übrigen die altehrwürdige Erfindung des Ururgroßvaters, wie das Naturgesetz selbst, respektiert. Hier wäre es am Ort, aus dem halben Scherz in einen bittern ganzen Ernst überzugehen, denn es ist nicht zu sagen, bis zu welchem Grade eine zum Teil unzurechnungsfähige und unmündige, zum Teil aber auch perfide Kritik, sich den erbärmlichen Theaterverhältnissen unserer Tage und dem beschränkten Gesichtskreis des großen Haufens akkommodierend, die einfachen Grundbegriffe der dramatischen Kunst, von denen man glauben sollte, dass sie, nachdem sich ihre Kraft und Wahrheit vier Jahrtausende hindurch bewährte, unantastbar seien, wie das Einmaleins, verwirrt und auf den Kopf gestellt hat. Der Maler braucht sich, und er mag dem Himmel dafür danken, noch nicht darüber zu entschuldigen, dass er die Leinewand, aus der auch Siebbeutel gemacht werden könnten, bemalt, auch verlacht man ihn noch nicht, wenn man sieht, dass er auf die Komposition seines Gemäldes Mühe und Fleiß verwendet, dass er die Farben, die ja doch auch schon an sich dem Auge schmeicheln, auf Gestalten, und die Gestalten wieder auf einen inneren, für den bloßen Gaffer nicht vorhandenen Mittelpunkt bezieht, statt das Farbenbrett selbst mit dem eingerührten Blau, Gelb und Rot, für das Gemälde zu geben, oder doch den bunten Gestalten- und Figurentanz; aber jene Kunst, die, wie alles Höchste, nur dann überhaupt etwas ist, wenn sie das, was sie sein soll, ganz ist, muss sich jetzt, wie über eine Narrheit, darüber hudeln lassen, dass sie ihre einzige, ihre erste und letzte Aufgabe, im Auge behält, statt es sich bequem zu machen und für den Karfunkel den Kiesel zu bieten, für ein tiefsinniges [9] und unergründliches Lebenssymbol ein gemeines Lebensrätsel, das mit der gelösten Spannung ins Nichts zerplatzt, und, außerstande, auch nur die dürftigste Seele für einen Moment zu sättigen, nichts erweckt, als den Hungerruf: was Neues! was Neues! Ich sage es euch, ihr, die ihr euch dramatische Dichter nennt, wenn ihr euch damit begnügt, Anekdoten, historische oder andere, es gilt gleich, in Szene zu setzen, oder, wenn’s hoch kommt, einen Charakter in seinem psychologischen Räderwerk auseinander zu legen, so steht ihr, ihr mögt nun die Tränenfistel pressen oder die Lachmuskeln erschüttern, wie ihr wollt, um nichts höher, als unser bekannter Vetter von Thespis her, der in seiner Bude die Marionetten tanzen lässt. Nur wo ein Problem vorliegt, hat eure Kunst etwas zu schaffen, wo euch aber ein solches aufgeht, wo euch das Leben in seiner Gebrochenheit entgegentritt und zugleich in eurem Geist, denn beides muss zusammenfallen, das Moment der Idee, in dem es die verlorne Einheit wieder findet, da ergreift es, und kümmert euch nicht darum, dass der ästhetische Pöbel in der Krankheit selbst die Gesundheit aufgezeigt haben will, da ihr doch nur den ÜbergangBehandlungUnvermischtseinletzte Resultat[10][11]