Die Frau ist immer die Jägerin

  1 Rom, Juni 1972

Schlaflos mit brennenden Augen.

Draußen ist der heiße, gewitterschwüle Tag in eine klebrige Nacht mutiert, zeigen sich auf den Straßen der Stadt Stricher mit kalten Eidechsenaugen und Körpern schön wie die Sünde.

Er verkriecht sich in seinem eigenen bockigen Schweiß. Das ärmellose Hemd sitzt ihm auf dem Leib wie eine zweite stinkende Haut, als ob die schmutzigen Fasern mit den entzündeten Poren schon verschmolzen wären.

Seit gestern ist der Ausschlag auf der Leiste aufgebrochen. Und juckt wie die Hölle. Nur mit aller Anstrengung kann er im Wachsein verhindern, daß seine Hände die enge Jeans weiter nach unten zerren, seine Nägel sich tief in das nässende Fleisch bohren.

Deshalb schläft er nicht.

Deshalb bleibt er wach, so müde, daß sein Körper zu einer trägen Masse geworden ist, die er mit einem eigenartig distanzierten Widerwillen beobachtet. Sein Kopf macht sich lustig über diesen stinkenden Haufen, der weint und kotzt und scheißt vor Angst. Jedem Aufbegehren seines müden, trostlosen Fleisches begegnet er mit dem hellen, scharfen Lied, das seit Tagen in ihm vibriert: Zwei Jahre ohne.

Zwei Jahre ohne flüstern ihm die Wände hämisch zu, wenn er seine Fingernägel in den grauen Putz drückt. Zwei Jahre ohne quietscht der verschmierte fahlgelbe Plastikeimer unter ihm, in den er seine Notdurft verrichten muß. Es springt ihm vom Grund des Blechnapfes entgegen, an dessen Rand er den Fraß gedrückt hat, den er nicht herunterbringt.

In den vertrauten, gnadenlosen Leuchtfarben der Droge dringt es durch die geschundene Haut seiner Lider, die so dünn geworden ist wie abgegriffenes Seidenpapier.

Grellorange, himbeerrot, geisterbahngrün.

Zwei Jahre ohne.

Angefangen damit hat der Dicke im Unterhemd, in dessen Zelle sie ihn nach den ersten beiden Nächten geschoben hatten.

Name?

Luca.

Warum bist du hier?

Keine Antwort.

Ein häßliches Grinsen.

Hat sich schon rumgesprochen, Kleiner. Bist nicht so schlau, wie du glaubst. Drogenanfänger. Zwei Jahre ohne. Keine Ahnung, was? Zwei Jahre Knast ohne Bewährung. Das machen die hier mit solchen Hippies wie euch. Dein Freund, der Ausländer, hat schon ausgepackt.

Stefan aus Wien. Weiches, blondes Haar, ein viel zu großer, viel zu roter Mund. Null Problem, hat er gesagt, in seinem holprigen, ein wenig atemlosen Italienisch, als sei er in beständiger Sorge, die richtigen Worte könnten ihm ausgehen.

Mit den Trips finanzieren wir unseren Urlaub. Ich weiß genau, wie. Und wo. Du führst die Verhandlungen. Schließlich bist du der Italiener.

Kurzes, kehliges Lachen. Ein Blick aus schwimmenden braunen Augen. Und nichts kann schiefgehen. Sind wir nicht ein tolles Team?

Stefan war schneller als er gewesen. Und schlauer. In dem kurzen Handgemenge, das er angefangen hatte, als die Bullen sich aus dem Schatten der Häuser gelöst hatten, war es ihm gelungen, das Säckchen mit dem Gras aus der Tasche ins Dunkel der Nacht zu befördern.

Schon damals war er wie gelähmt gewesen. Passiv vor Schreck, aber auch gefesselt von einem Gefühl tiefen, unbegreiflichen Erstaunens, daß es kein böser Traum war, aus dem er wieder erwachen konnte.

Daß wirklich er damit gemeint ist.

Luca Parvoni aus Verona, achtzehn Jahre alt.

Sohn des Andrea Parvoni und seiner Frau Maria.

Allein der Gedanke an das längliche, vorwurfsvolle Schafsgesicht seines Vaters mit den fast farblosen, gewölbten Augen hinter der randlosen Brille treibt ihm ein Übermaß an bitterem Speichel in den Mund. Ein kräftiger Schlag in seine blasierte, ehrenvoll-überhebliche Fresse – das ist es, wonach ihm ist.

Du hast uns enttäuscht, Luca. Sehr enttäuscht.

Er schmeckt, wie faulig die Worte auf seiner Zunge liegen, und spuckt sie auf den Steinboden.

Deine Mutter und ich sind der Meinung, daß du deine bevorstehende Strafe voll und ganz verdienst. Du mußt endlich lernen, für dich selbst die Verantwortung zu tragen. Mama wird für dich beten. Das ist alles, was wir für dich tun können.

Er hat noch jetzt das Klicken des Telefons im Ohr, als der oberste Magistratsbeamte Dott. Parvoni den Hörer auflegt.

Ein wütender, ohnmächtiger Schmerz wühlt in seinem Bauch. Nie zuvor hat er gewußt, daß die Farbe der Angst ein stumpfes, moderndes Braun ist. Daß sie die ganze Zelle mit ihrem gemeinen Gestank verpesten kann und wie ein grinsender Alp auf seiner Brust sitzt.

Deshalb bleibt er wach.

Um aufzupassen, daß die schrecklichen Träume der ersten beiden Nächte nicht zurückkommen, die Bilder von dem feuchten, tiefausgeschaufelten Grab, in das sie seinen steifen Körper geworfen haben. Die vielen kleinen weißen LSD-Tabletten, wie ein dichter Konfettiregen über seinem Leichnam.

Er denkt an die groben Hände an seinem Schwanz, an seinem Arsch. An das nervöse Zucken des Bullen, der ihn so roh wie möglich untersucht hat, zunehmend sauer darüber, daß er nichts Verdächtiges entdecken konnte. Das verrotzte Papiertaschentuch auf dem alten, blankgescheuerten Tisch im Revier, das während der entwürdigenden, schier endlosen Prozedur hell zu ihm herübergeleuchtet hat.

Kannst dich wieder anziehen.

Das auffällige Zittern seiner Hand, die beim Einstecken des Taschentuchs nicht gehorchen wollte.

Moment einmal – was haben wir denn hier?

Zehn flache, millimeterwinzige Tabletten. In der Mitte gekerbt. Unschuldig weiß.

Fettiges, befreites Lachen. Wird nicht ganz billig, Kleiner.

Zwei Jahre ohne.

Er ballt die Fäuste und preßt die Nägel dort in die Handballen, wo sich bereits rote, entzündete Kuhlen gebildet haben. Gestern um diese Zeit haben sie den aus der Nachbarzelle geholt und im Hof zusammengeschlagen. Lautes, unterwürfiges Winseln. Später langgezogene Schreie, so durchdringend, daß er sich am Kopfende seiner Pritsche zusammengekrümmt hat, die Hände an den Ohren.

Dann Stille.

Jeder konnte der nächste sein. Jeder.

  2  

Im wirklichen Leben war Sina V. Teufel das, was man eine attraktive Frau nennt. Ein auffallender, schmaler Kopf, der Hals lang und anmutig. Unter einer Masse lockigen, tiefmaronenbraunen Haars die Augen dunkel, fast schwarz.

Nachtaugen. Sehr wach.

Auch mit ihrer Nase, die kühn wie ein Sarazenerdolch in ihrem länglichen, leicht gebräunten Gesicht stand, hatte sie sich im Lauf der Jahre angefreundet. Heute war sie froh über diesen unverwechselbaren Stempel, der ihr ein Flair von Leidenschaftlichkeit und unzähmbarer Wildheit verlieh. Heute kostete sie schon mal das Erstaunen in den – vorwiegend – männlichen Augen aus, wenn sie in ihrer mattglänzend besetzten schwarzen Anwaltsrobe den Gerichtssaal betrat.

Was will denn die hier?

In solchen Momenten pflegte ein leises Lächeln ihre Mundwinkel zu kräuseln. Würden sie sehr bald sehen. Die Anwältin Dr. Sina Teufel war berüchtigt für ihre straffen, sehr individuell geführten Rechtsvorträge. Das stellten meist nicht nur ihre Gegner binnen kurzem fest. Auch die Mandanten hatten keine andere Wahl, als sich ihrem entschiedenen, unkonventionellen Führungsstil zu beugen. Wenn sie Aussicht auf Erfolg wünschten.

Sina Teufel haßte es zu verlieren. Noch mehr aber verabscheute sie faule Kompromisse. Das Wort »Vergleich«, von ebenso arbeitsscheuen wie einfallslosen bayerischen Richtern allzugern schon im Vorfeld ins Spiel geworfen, genügte, um alle Energien in ihr zu mobilisieren. Und davon besaß sie mehr, als ihre schlanke, knapp mittelgroße Gestalt auf den ersten Blick verriet.

An diesem grauen, nieseligen Aprilmorgen aber fühlte sie sich ausgesprochen schlapp. Aus dem deckenhohen Spiegel, illuminiert von schlecht imitierten Ingo-Maurer-Halos, starrte sie erbarmungslos ein wenig berückendes Spiegelbild an.

Das Gesicht blaß, übernächtigt, mit den Verräterisch dunklen Ringen unter den Augen, die ab dreißig weniger verrucht als vielmehr leicht elend wirken. Das Haar ungeduldig zusammengeknödelt, angeklatscht, schweißnaß.

Schon mehrmals hatte sie am Ende der Übungen passen müssen. Sie spürte die harten Schichten auf ihrem Rücken, die sich sehr unauffällig während des langen, verregneten Winters angepanzert hatten, und wäre um ein Haar vollständig aus dem Takt gekommen.

Mißmutig starrte sie auf die handtuchschmale Turnlady vor ihr, die ihren ausgemergelten Kinderkörper so easy nach allen Seiten verrenkte, als bestehe er aus Knetgummi. Ein starres Lächeln, haarscharf an der routinierten Freundlichkeit vorbei, die sie mehr als geschäftstüchtig von morgens bis abends zu verströmen versuchte, ließ ihre hageren Züge fast gequält wirken. Unter dem enganliegenden quietschgelben Catsuit traten ihre Hüftknochen aggressiv wie gutgeschärfte Sicheln hervor.

Sina versuchte, ihr schmerzendes linkes Bein einen Augenblick zu entlasten. Welch ausgemachte Mistidee, den Tag hier in dieser Mörderfabrik zu beginnen!

Von ganzem Herzen verlangte es sie nach einem schaumigen Milchkaffee – und einer Zigarette. Es hatte wenig Sinn, sich selbst etwas vorzumachen. Trotz aller guten Vorsätze würde sie es auch diesmal wieder nicht schaffen, mit dem Rauchen aufzuhören. Gut fühlte sie sich allerdings schon lange nicht mehr dabei.

Die Kippen vom Vorabend schienen in ihrer Lunge einen zentimeterdicken Teerfilm hinterlassen zu haben. Und drei großzügig gemixte Cocktails waren offensichtlich auch nicht gerade dazu angetan, ihre Sportlichkeit zu steigern.

Während Moni Jussuf, Besitzerin dieses Movingpoints, gnadenlos zum Endspurt ansetzte und das schlaffe Fünferhäuflein der anwesenden Frauen mit spitzen Schreien in die endgültige Hundehaltung trieb – Bauch! Die Schenkel! Po! –, beschloß Sina keuchend, auf den Erwerb der vielgerühmten Golden Card dieses Etablissements zu verzichten.

Mit weichen Knien schlich sie nach dem morgendlichen Workout aus der Fitnesshalle in den weißgekachelten Duschraum, der den heimeligen Charme einer Großmetzgerei ausstrahlte. Wahrscheinlich war es dem fanatischen Körperwahn der Jussuf zu verdanken, zementiert auf dem denkbar schlechtesten Gewissen ihrer Kundinnen, daß auch nicht die kleinste barmherzige Trennwand die Duschende vor den Blicken der Nachbarin schützte. Sina wandte sich taktvoll ab, als ein hochrotes, schnaufendes Walroß sich neben ihr abseifte, und beschleunigte den eigenen Reinigungsvorgang. Fast mit einer Spur von Verärgerung stellte sie anschließend fest, wie gut sie sich nach dem Training fühlte.

Als sie in ihren tröstlich weichen Mantel aus cremefarbenem Kaschmir schlüpfte und hinaus in die ungemütliche Empfangshalle trat, wo kalorienarme Säfte unter poliertem Glas vor sich hin sauerten, war sie einen versöhnlichen Augenblick lang versucht, die blanke Gier im Habichtsgesicht der Jussuf zu übergehen. Unübersehbar allerdings die ochsenblutroten Krallen, die einladend mit dem Vertrag für ihre allfällige Mitgliedschaft vor ihrer Nase hin und her wedelten.

Moni Jussufs Lächeln erstarb abrupt, als Sina das Papier kurzerhand packte und in ihren großen schwarzen Lederbeutel stopfte. »Verträge lese ich mir grundsätzlich zu Hause durch«, grinste sie boshaft.

Mit dem Triumph des guten Abgangs bewältigte sie tänzelnd die vier Stockwerke hinunter zum alten Fabriktor. Schlecht gestrichen und abgeschlagen rostete es vor sich hin wie zu den Zeiten, als in dem großen Gebäude noch die teuren, aber geschmacklosen Lodenmäntel eines etablierten Münchner Bekleidungshauses für Möchtegern-Bayern geschneidert wurden, Jetzt wurden die Prestigeklamotten in Polen oder Jugoslawien genäht, und das Haus hatte längst neue Mieter. Die gesalzenen Mietpreise konnten sich nur bestimmte Branchen leisten. Deshalb bevölkerten nun Galeristen, Agenturen, Zeitschriftenverlage und unter dem Dach eben der Movingpoint die einstmaligen Werkhallen. Eine feine, sehr erlesene Auswahl derer, die es sich leisten konnten oder mußten, im Herzen des Englischen Gartens, ganz nah dem Nobelviertel Altbogenhausen, sündteuer, dafür aber stilvoll zu residieren.

Die Autos auf dem Parkplatz sprachen eine ähnliche Sprache. Aufgemotzte GTIs, taktvoll ein wenig beiseite gestellt, ein einsamer Range Rover, zwei Metallic-Volvos, mehrere Mercedes-Familienkutschen und einige Luxusschlitten vorwiegend italienischer Herkunft. Sina stieg in ihren abgeschrammten Golf und dachte wehmütig daran, daß sich der Liefertermin für ihren neuen Wagen nochmals verschoben hatte. Endlich mit dem sahneweißen Fünfer an einem sonnigen Vormittag durch das bayerische Oberland gleiten! Aber noch saß sie an einem grauen Montagmorgen in ihrer alten Beule und hatte Kaffeedurst. Und Weltschmerz.

Entschlossen fuhr sie los, passierte das regennasse erste Grün des Englischen Gartens und quetschte sich nach der Münchner Freiheit auf die weitgehend zugeparkte rechte Spur der Leopoldstraße. Ihr war nicht nach den neuen Nobelcafés zumute, wo die Bedienungen so schön waren, daß ihnen beinahe das Tablett aus den wohlmanikürten Händen fiel.

Lieber sich gleich in der Kanzlei selbst einen Milchkaffee schäumen – mit der ehrwürdigen Pavoni, die sie gleich zu Beginn ihrer Sozietät, selbstredend gegen Hannes erbitterten Widerstand, angeschafft hatte. Allerdings lagen vor dem heißen, schaumigen Genuß noch einige blechintensive Kilometer. Mißmutig starrte sie nach vorn in den dichten Graupelschauer, der draußen niederging. Nach hinten versperrte ihr die blindbeschlagene Scheibe jede Sicht. Die Heckscheibenheizung schien endgültig ihren Geist aufgegeben zu haben.

Sina zündete sich resigniert die zweite Zigarette an. Jedes Frühjahr das gleiche Spiel! Nach ein paar trügerisch lauen Februartagen kam der Winter nochmals zurück und führte sich auf, als ob er für immer in München heimisch werden wollte. Während in den feinen Geschäften auf der Maximilianstraße bereits aprikotfarbene Kostüme und winzige pinkfarbene Teilchen lockten, mußte man wieder zu den ollen Pullis greifen, die man schon seit dem Spätherbst auf dem Leib hatte.

Sina schnitt dem Typ, der von links hupend Sicht- und um ein Haar Blechkontakt suchte, eine Grimasse. Sie war wirklich nicht in der Stimmung für Annäherungsversuche. Schon seit Monaten nicht. Und da lag, wenn sie ehrlich war, der eigentliche Grund für ihre abgrundtiefe Mißstimmung. Das Leben war grau, langweilig. Einfallslos.

Die ewig quengelnden, stets unzufriedenen Mandanten. Die bornierten Richter. Die sturen oder nörgelnden Kollegen. Ihre Sozietöse Hanne Bromberger mit ihren schwankenden Hormonspiegel-Launen. Die allzu vertrauten Probleme der drei Damen im Sekretariat. Und last not least sie selbst.

Seit Monaten fühlte sie sich unlebendig. Gebremst. Irgendwie abgeschnitten vom Leben, das ihr zu entgleiten schien und sich irgendwo da draußen ohne sie in geheimnisvoll fernen Glitzerwelten abspielte. Nichts passierte. Kein einziger netter Mann in Sicht. Kein Flirt, der sich lohnen würde. Nur schale, alltagsgraue Normalität.

Du wirst eben älter, hatte ihr kluger Freund Carlo van Rees gelästert, als sie neulich bei ihrem allmonatlichen Testessen in einem abgeschrammten Lokal namens Blue Nile gelandet waren. Sina versuchte links abzubiegen und sah Carlos unverschämt veilchenblaue Augen deutlich vor sich. Weltschmerz? Lebenskrise? Bei vielen fängt das schon mit dreißig an. Bei dir eben mit fünfunddreißig. Das Leben ist nicht immer ein Ringelpiez. Es sei denn, du machst es dazu.

Sein nachfolgendes Lächeln, breit und vergnügt, hatte ihr vollends den Appetit auf die dünnen, mit köstlichem Gemüse gefüllten Maisfladen verdorben, die man zusammenrollte und mit der Rechten in den Mund stopfte. Kluge Sprüche hatte sie selbst massenweise auf Lager.

Das Leben als Abenteuer sehen! Dazu fehlte ihr momentan der Schwung. Und die Kraft. Sie pustete ärgerlich in ihren Autospiegel. Auch eine neue Lage Rouge würde diesen verdrossenen Ausdruck nicht aus ihren Zügen wegtünchen können. Sie war einfach gemein schlecht drauf.

Nach dem direkten Ansteuern des Zentrums und einer weiteren systematischen Umrundung des Maximiliansplatzes hatte sie nach einer knappen halben Stunde endlich einen Parkplatz. Ihre Laune war mittlerweile wieder dem Gefrierpunkt gefährlich nahe.

Offensichtlich sprach ihr Gesicht Bände. Als sie den weiten, hellen Empfangsbereich der Kanzlei betrat, stoben die schwatzenden Damen aus dem Sekretariat wie aufgeregte Schneehühner auseinander und verschwanden geschäftig hinter diversen Türen. Nur ihre Aushilfe, Frau Nöber, die mit ihren hochtoupierten Tizianwellen jeder besseren Bar Ehre gemacht hätte, drückte ihr einen engbeschriebenen Telefonzettel in die Hand.

Fünfzehn Anrufe an diesem Morgen!

Aus Hannes Zimmer kam ein gebrummtes »Daß du auch noch auftauchst«, was sie geflissentlich überhörte. Sina zog ihren Mantel aus, schloß die Türe hinter sich und machte sich – mit äußerst gebremstem Schaum – an den entmutigend hohen Aktenberg, der auf der linken Seite ihres mattschwarzen Schreibtischs lag.

Kein Bock auf Arbeit! Wirklich nicht! Aber vor ihr lag das Resultat der faulen, romanintensiven Wochenenden, die sie nicht brav in der Kanzlei geschuftet, sondern in wonniger Schmuserei mit Taifun, ihrem blauschwarzen Perserkater, auf dem hellen Berber verbracht hatte.

Stirnrunzelnd klackerte sie ein letztes Mal über den Gang hinüber in die Teeküche. Bloß jetzt keine Fragen beantworten. Keine Probleme lösen – nicht vor dem ersten Milchkaffee!

Zurück an den Schreibtisch. Müller % Frei.

Die Arbeitswoche hatte begonnen.

Irritiert tauchte sie aus der bodenlosen Schlamperei eines auf professionell getrimmten Alternativbetriebes auf, der ihrer Mandantin in einer Mischung aus Naivität und Unverschämtheit den Dachausbau gründlich versaut hatte, als Anke nach vorsichtigem Klopfen ihr Zimmer betrat.

Unter einer frechen, pechschwarzen Punkfrisur, die schon manchen ihrer konservativen Klienten leicht geschockt hatte, porzellanblaue, neugierige Augen. Ein großer, dunkelrot geschminkter Mund, unsicher ein wenig nach oben verzogen. Hinter dem Clownsgehabe steckte eine ganze Portion Trauer. Überspielt von teils pfiffigem, teils aufgesetztem »why-not«-Gehabe, das Sina nicht alle Tage gleich gut abkonnte.

»Der Berger ist da.«

»Herr Berger!«

Sina kannte Anke Frey noch aus der Zeit, als diese gerade gelernt hatte, auf den Topf zu gehen. Ihre Mutter Friederike war ihre beste Freundin. Und einer ihrer allerschlimmsten Sozialfälle.

Seit ihrer Scheidung vor mehr als neun Jahren hing sie in konsequenter Selbstzerstörung an der Flasche. Sina und Anke arbeiteten als mittlerweile gut eingespieltes Team dagegen an, im Augenblick allerdings ohne jede Aussicht auf Erfolg.

Vielleicht war sie gerade deshalb zur Zeit ein bißchen strenger zu dem Mädchen, das in ihrer Kanzlei das zweite Lehrjahr absolvierte. Fast als ob sie ihr dadurch etwas von der Festigkeit und Sicherheit geben könnte, die zu Hause nicht vorhanden war.

Anke schnitt eine hinreißende Schnute, die ihr glattes Mädchengesicht in eine Grimasse verwandelte. »Herr Berger – Frau Doktor Teufel läßt bitten.«

Unwillkürlich mußte Sina grinsen. Witz hatte sie, die Kleine, Ohne den hätte sie ihre Kindheit mit Sicherheit nicht so relativ unbeschadet überstanden.

Sie zupfte an ihrem schwarzweißen Pulli, der frech über schwarzen Leggins saß, und versuchte, die Vision von pimiento-duftenden spaghetti vongole in ihrer Vorstellung nicht übermächtig werden zu lassen. So ein bißchen morgendliches Herumhüpfen berechtigte keineswegs zu derartigen Exzessen!

Und dann stand Nick Berger in ihrem Zimmer.

Der Berger?

Das kommt davon, wenn man seine Angestellten die Termine machen läßt!

In gewohnt miserabler Haltung, den Kopf mit der hellen, sichelförmigen Narbe auf der linken Backe wie eh und je leicht schräg zur linken Schulter gebeugt, grinste ihr ein schmal gewordener Nick entgegen. So long ago, daß es schon fast gar nicht mehr wahr war.

Sein Anblick ließ ausgiebige, lang vergangene Zigaretten- und Rotweinmarathons vor ihrem inneren Auge wiedererstehen. In der schrecklichen Zeit vor dem Ersten Juristischen Staatsexamen hatten sie wie ein eingeschworenes Musketierhäuflein zu viert den Tücken der Gesetzgebung getrotzt – und alle mit ausgefransten Nervenenden, aber einigermaßen passablen Noten bestanden. Sina, einzige Frau in der Lerngruppe, hatte gegen Ende der schier endlosen Prüfungsvorbereitungen unvermutet geradezu mütterliche Züge entwickelt und Nick, Hans und Klaus mit Spiegeleiern und nächtlichen Spaghettigelagen bei Kräften gehalten.

Schon während der Referendarzeit aber hatten sich ihre Wege gründlich getrennt. Und das war so geblieben.

Klaus strebte heute als alerter Staatsanwalt bei der Sitte das Richteramt an, Hans arbeitete bei einer Bank. Sina war seit sieben Jahren Anwältin, seit vier Jahren in Sozietät mit der Steuerfachanwältin Hanne Bromberger, ein paar Jahre älter als sie.

Und Nick? Nick war irgendwie in den verschlungenen Windungen der mobilen Gastronomie gelandet. Nachdem er zur Überraschung aller das Zweite Staatsexamen im Prüfungssaal geschmissen hatte und erst einmal in der Versenkung verschwunden war, erstrahlte sein Stern bald um so heller auf Weihnachtsmärkten, alternativen Theaterfestivals und Open-air-Veranstaltungen. Mit seiner Crêpebude und ihren mobilen Filialen verstand er es, haarscharf im Zug der Zeit, Galettes und Crêpes an die Frau bzw. den Mann zu bringen.

Lange war ihr Kontakt ganz unterbrochen. Dann war er plötzlich wieder bei ihr aufgetaucht. Diesmal als Mandant.

Vor mehr als vier Jahren hatte die Landeshauptstadt München auf häßlich penetrante Weise versucht, ihm wegen einer Mißachtung ihrer »Hackfleischordnung« das Leben schwerzumachen. Vorbereitete Putenschnitzelstreifen waren im Kühlschrank von 23 Uhr bis 9 Uhr morgens nicht vorschriftsmäßig gelagert gewesen. Sina hatte den Fall rasch und schmerzlos mit einer kleinen Geldstrafe vom Tisch gefegt. Danach wieder Sendepause. Dreihundertfünfzig Mark Honorar. Daran erinnerte sie sich noch genau.

»Siehst gut aus, Valerie.«

Er war der einzige, der sie scherzeshalber bei ihrem zweiten Namen nennen durfte. Normalerweise hatte sie ihn für alle zum schamhaften »V.« verkürzt.

»Du auch«, lächelte sie zurück. »Und so schick.«

Das zweite stimmte. Das erste nicht. Er trug ganz ungewohnt nicht seine vergammelten, schlabbrigen Jeans und ewigen Sweatshirts, sondern einen lässigen italienischen Knitterstil, der gut zu seinem hellen, kürzergeschnittenen Haar und den unruhigen blauen Augen paßte. Sogar seine Schuhe waren zweifarbig und glänzten. Aber seine Wangen waren schmal, fast eingefallen, und in seinem Blick lag eine alarmierte Vorsicht, die neu und irritierend an ihm war.

Wie ein Gehetzter, dachte Sina. Fast, als ob ihm jemand auf den Fersen sei.

»Man tut, was man kann«, frotzelte er und grinste. »Darf man Platz nehmen in deinem vornehmen Laden? Scheint dir ja echt nicht schlechtzugehen!«

»Dir aber auch nicht!«

Was sollte die unbestimmte Handbewegung und sein Lächeln, das plötzlich eine Spur müder wirkte?

Leicht irritiert führte sie ihn zu dem gläsernen Besprechungstisch unter der gerahmten Ruetz-Fotografie von Manhattan, mit den lichtgrauen Leder-Freischwingern der kühle, luftige Ruhepunkt in ihrem Zimmer. Er lehnte die Zigarette ab, die sie ihm anbot. Da war er durch.

Sina ließ Kaffee servieren, um die plötzliche Steifheit zwischen ihnen zu lockern und sich von seiner lauernden Nervosität nicht anstecken zu lassen. Überraschenderweise brachte Tilly Malorny, ihre Bürovorsteherin, eigenhändig das Tablett. Ihr mächtiges, von keiner ihrer tausend Diäten in Frage gestelltes Hinterteil schob sich als erstes durch die Türe. Als sie sich umdrehte, wogte ihr Busen in pinkfarbener Seide so nah vor Nicks blassem Gesicht, daß er unwillkürlich zurückwich.

Tilly schnaubte hörbar ärgerlich. Sie konnte es nicht leiden, wenn jemand ihre mütterliche Zuvorkommenheit nicht zu honorieren wußte. Bevor sie ihren Unmut entsprechend verbalisieren konnte, dankte Sina schnell.

Beleidigt zog Tilly ab.

Während Nick ein kleines Schächtelchen mit Süßstoff aus der Jackentasche nestelte, stellte Sina sich innerlich schon mal auf den nächsten 400-Mark-Fall ein.

Immer das gleiche, wenn jemand aus ihrer Vergangenheit auftauchte! Irgendwie schien sich bei den meisten ihrer Bekannten und ehemaligen Freunde das Vorurteil eingeschlichen zu haben, es sei genug, einmal im Leben einen Anwalt persönlich gekannt zu haben, um bis zum Ende aller Tage umsonst beraten zu werden.

Sie wartete. Er machte eine lange, umständliche Konversationsschleife, die bei ihr leise Gereiztheit aufkommen ließ. Angelegentlich schielte sie hinüber zu dem Aktenberg, der während seiner Ausführungen noch gewachsen zu sein schien.

Komm raus, Junge, dachte sie. Red endlich Tacheles mit mir.

»Kennst du den Gardasee?« kam er endlich zur Sache und nestelte nervös an dem Brieföffner aus altem Elfenbein, den ihr kürzlich eine Mandantin aus Prag mitgebracht hatte.

»Nur vom Durchfahren.«

Sie mußte richtig lange überlegen. Für sie fing Italien eigentlich erst kurz vor Verona an. »Ich glaube, ich war zum letzten Mal in Riva, als ich als Fünfjährige mit meinen Eltern nach Riccione gefahren bin. Sind da nicht die ganzen blöden Surfer, die jedes Wochenende runterbrettern?«

Nick wurde plötzlich eifrig. »Die sind da, aber vor allem im Norden, bei Torbole. Schon bei Malcesine sieht die Sache anders aus. Dort hocken vor allem diejenigen aus München und Umgebung, die nicht weit von zu Hause ein Füßchen in Italien haben wollen. Weißt du eigentlich, daß du von hier aus mit einem schnellen Wagen in dreieinhalb Stunden unten sein kannst?«

»Hast du keine Lust mehr auf Weihnachtsmärkte und willst auf Tourismus umsatteln? Nur zu deiner Information: Ich habe meinen Jahresurlaub schon fest geplant«, spottete Sina. »Mindestens die Malediven sind diesmal angesagt.«

»Meinst du, ich will deine Zeit vergeuden? Es geht um ein Geschäft. Könnte ein vielversprechendes Mandat für einen interessierten Anwalt sein.«

Er machte eine effektvolle Pause und starrte auf den geschmackvollen blaugrauen Wollteppichboden, zu dem sie ihre geizige Partnerin beim Einzug fast gewaltsam hatte überreden müssen. Hanne Bromberger hielt nichts von unnützen Ausgaben. Der einzige Luxus, dem sie überhaupt huldigte, waren ausgedehnte Fernreisen.

»Auch in deinem feinen Etablissement kommt wahrscheinlich nicht jeden Tag ein Millionen-Projekt auf den Tisch – oder?« setzte er hinzu.

Jeder Spaghetti-Hunger, alle graue Müdigkeit waren im Nu wie weggeblasen. Sina beschloß, die Kippen heute nicht mehr zu zählen, und zündete sich die nächste an. »Fang an«, sagte sie. »Ich könnte nicht mehr Ohr sein.«

Nick legte los, in einer Weitläufigkeit, die ihr schon seit Studientagen vertraut war. Wie oft war sie nahe daran gewesen, aus der Haut zu fahren, wenn er sich intelligent, aber langatmig in juristischen Interpretationsversuchen ergangen war, um am Ende wieder alles in Frage zu stellen!

Er hörte sich offensichtlich noch immer am liebsten selbst reden. Aber es war ein neuer Ton dazugekommen. Ein Ton, der ihr irgendwie Unbehagen bereitete. Während er redete, versuchte sie beim Notizenmachen dahinterzukommen, was es war. Als er schließlich eine Pause machte, um sich neuen Kaffee einzuschenken, war sie fast dran. Dann aber ging sie ihm erneut auf den Leim und verlor sich in seinen schier endlosen Ausführungen. Ihr ungutes Gefühl jedoch blieb bestehen.

»Ich fasse also noch einmal kurz zusammen«, unterbrach sie ihn schließlich. »Es geht um ein Objekt oberhalb Malcesines …«

»Ein echter Traum: Wohnanlage mit acht Häusern, je zwei pfiffig geschnittene Wohnungen pro Haus, alle vorstellbaren Extras. Balkone, Terrassen, schöner Garten, Pool unter Berggipfel, Tennisplatz und berückendes Seepanorama …«

»Nick, ich bin nicht taub. Und dieses Wunderwerk wird verkauft. An eine deutsche GmbH.«

»Genau.« Nick runzelte die Stirn. »Die wiederum soll es in Deutschland auf den Markt bringen. Nicht als Bungalow-Hotel-Betrieb, sondern einfach als schöne Ferienhäuser für Leute, die auch mal auf die Schnelle einen Kurzurlaub oder ein langes Wochenende dort verbringen wollen.«

»Und was hast du mit der ganzen Sache zu tun?« bohrte Sina weiter. »Bist du trotz aller guten Vorsätze endgültig unter die Kapitalisten gegangen?«

»Leider nicht«, frotzelte Nick zurück.

Er war lediglich der Mittelsmann für italienische Partner. Im Auftrag seiner amici sollte er die GmbH in Deutschland gründen und den italienisch-deutschen Kaufvertrag reibungslos über die Bühne bringen. Dann allerdings würde sein Einsatz belohnt werden.

Stand die Paradiso Immobilien GmbH erst einmal, sollte Nick als ihr Geschäftspartner fungieren und dafür sorgen, daß die gutausgebauten Wohnungen zu optimalen Preisen an finanzkräftige Deutsche veräußert würden. Die Chancen standen gut. Dazu trug nicht zuletzt der strikte Neubaustopp bei, der seit einigen Jahren über den gesamten Gardasee verhängt war. Da war einiges drin.

Einiges.

»Also doch keine Weihnachtsmärkte mehr«, stellte Sina fest.

Ein Schatten zog über sein Gesicht. »Man wird nicht gerade jünger. Und auch nicht gesünder. Ich habe das Rumzigeunern gründlich satt. Weißt du, daß Geli und ich geschieden sind?«

Sina schüttelte den Kopf. So ändern sich die Zeiten, dachte sie erstaunt. Alles im Fluß.

Vor zehn Jahren waren Nick und Geli ihr immer als das Traumehepaar schlechthin vorgekommen. Damals allerdings lag ihre eigene Scheidung noch nicht lange zurück. Die Narben waren noch frisch gewesen, um ordentlich weh zu tun.

»Ich habe eine neue Freundin. Susanne heißt sie. Vielleicht klingt es kitschig, aber ich möchte mit ihr noch einmal ganz von vorne anfangen. So viel Zeit haben wir alle gar nicht mehr«, sagte Nick, plötzlich ganz ernst.

»Na ja«, wehrte Sina lachend ab, weil sie keine Lust hatte, wieder in ihre trübe Stimmung von vorhin zurückzufallen. »So direkt steht der Knochenmann ja noch nicht vor der Türe.«