Ich gegen meinen Bruder.

Ich und mein Bruder gegen unseren Cousin.

Ich, mein Bruder und unser Cousin
gegen die Nachbarn.

Wir alle gegen die Fremden.

Beduinen-Sprichwort



Die Welt ist voller gefährlicher Waffen.

Aber die gefährlichste ist die Dummheit.

Italienischer Fernsehkommentator

  1  

Mehr als zwölf Stunden auf Achse. Der Nacken hart wie Fels, Hemd und Hose klatschnaß. Zwei Schichten Stadtverkehr waren selbst für einen routinierten Fahrer wie ihn zuviel.

In der Abenddämmerung war es im Taxi noch immer schwül und drückend. Er fühlte sich abgekämpft und war hungrig wie ein Bär. Lustlos nahm er einen großen Schluck aus der Mineralwasserflasche und schüttelte sich. Lauwarme Brühe.

Nur in den neuen Wagen, die er selten genug zugeteilt bekam, gab es elektrische Fensterheber. Richtig elegant. Leider hatte er heute morgen wieder Pech gehabt. Er kurbelte das Fenster nach unten, streckte den Kopf ins Freie und atmete gierig. Draußen roch es nach Herbst, obwohl die Tage noch immer warm und sommerlich waren. Im Schrittempo fuhr er ein paar Meter weiter. Auf einmal hing der Gestank von scharf gebratenem Fleisch, Zwiebeln, Fisch und gebrannten Mandeln in der klaren Luft. Vor allem aber witterte er Bierdunst und Schweiß, Volksfestmief, der in der Enge des Wageninneren schnell unerträglich werden konnte.

Er hatte versucht, sich daran zu gewöhnen, seit er in diesem Land lebte und arbeitete. Aber er mochte nicht, was er roch, und manchmal empfand er Abscheu vor den aufgelösten, gedunsenen Gesichtern. Fahrgäste veränderten sich, wenn sie viel getrunken hatten, wurden leicht gereizt und grob oder flüchteten sich in eine anbiedernde Freundlichkeit ihm gegenüber, die unversehens kippen konnte.

Seit ein paar Wochen war er nicht mehr schutzlos unterwegs. Ohne langes Überlegen hatten sie sich für das Nächstliegende entschieden. Allein der Gedanke daran verursachte ihm Unbehagen. Deshalb verdrängte er ihn, so gut es ging, und fühlte sich, wenn er ehrlich war, um keinen Deut sicherer als bisher. Die Zeiten hatten sich verändert, sehr sogar, das spürte er jeden Tag. Glatzköpfige Jugendliche standen grölend mit ausgestrecktem Arm herum, Wohnhäuser und Asylbewerberheime brannten. Trotzdem hoffte er auf Einsicht und glaubte daran, daß Menschen sich ändern konnten. Wahrscheinlich war er doch ein unverbesserlicher Optimist, wie Helga immer behauptete.

Jedenfalls waren um größere Bier-Festivitäten herum die fettesten Stiche zu machen. Mit ein paar Maß intus saß das Geld bei den meisten lockerer. Ein, zwei Fuhren noch, vorzugsweise in einen Vorort, und er konnte an diesem endlosen Tag guten Gewissens nach Hause fahren.

Er dachte an Helga und lächelte. Sie hatte ihm für heute abend Soupe de gombo versprochen, ein Okragericht aus seiner Heimat, mit Fisch- und Fleischstückchen, das auch den müdesten Krieger wieder beleben konnte. Ihr kehliges Lachen noch im Ohr, las er zerstreut zum x-tenmal die grellbunten Spruchbänder, die an hintereinander aufgestellten Pfostenpaaren gespannt waren.

Heute die, morgen du!

Mein Freund, der Ausländer

Wehret den Anfangen – Künstler gegen Gewalt!

Klar, daß »Gewalt ätzte«. Seit Tagen sprachen die lokalen Radiosender von nichts anderem, und in den Medien fanden die Berichte über das künstlerische Rahmenprogramm und die reichlich strömenden Besucherscharen kein Ende. »Licht in die Herzen der Menschen«, zu edel, um wahr zu sein.

Es schien, als hätte sich die Gesamtheit der ortsansässigen Kulturpfadfinder zusammengetan, um zwischen Kleinkunst und Tofu-Burgern ausländerfreundliche Gesinnung zu demonstrieren. Integre Bürger, wohin das Auge blickte, aufrecht, menschenfreundlich, gerührt über die eigene Betroffenheit – vor allem jetzt, da sie von ein paar Pamphleten der neobraunen Fascho-Szene öffentlich als »Demokröten« verunglimpft wurden.

Auch die Stadt hatte dem dritten FESTIVAL GEGEN RECHTS in nicht einmal zwei Jahren einiges zugeschossen. Allerdings waren die Mittel deutlich spärlicher geflossen als bei den beiden vorangegangenen. Aber das konnte neben den allerorts im Land für notwendig befundenen kommunalen Sparzwängen auch daran liegen, daß die Organisatoren aus dem linksliberalen Lager eigensinnig auf der Überschneidung mit dem größten Volksfest der Welt beharrt hatten. In diesem Punkt verstand München keinen Spaß.

Er seufzte und dachte voller Grausen an die wandelnden Bierleichen, die nächste Woche nur mit viel Glück daran zu hindern sein würden, ihm das Taxi zu besudeln. Die »Wies’n«, wie die Einheimischen den offiziell als »Oktoberfest« bezeichneten Massenauftrieb nannten, war absoluter Dauerstreß für jeden Taxifahrer. Selbst wenn seine Haut nicht dunkel war.

Er gähnte herzhaft und sehnte sich nach einer heißen Badewanne. Sollte er sich nicht lieber gleich auf den Heimweg machen?

Unschlüssig ließ er den Motor an. Und stellte ihn gleich wieder ab. Eine allerletzte Fuhre noch, sagte er sich. Dann ist Schluß.

Das Geld konnte er gut gebrauchen. Erst recht die Familie zu Hause, die nahezu ausschließlich von dem wenigen lebte, was die Brüder schicken konnten. Er war lange nicht mehr zu Hause gewesen. Vierzehnhundert Mark für ein Ticket München-Dakar-München bedeuteten, daß er sich jeden Besuch gründlich überlegen mußte.

Er versuchte, seine Beine auszustrecken. Vielleicht war er sogar einen Augenblick eingeschlafen.

Er schreckte hoch, als die beiden Hintertüren und die rechte Vordertür gleichzeitig aufgerissen wurden. Zwei Männer quetschten sich auf die Rückbank, einer ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Jung, zwei von ihnen kurzgeschoren, einer glatzköpfig. Alle ziemlich betrunken. Der neben ihm war massig wie ein junger Bulle.

Er merkte, wie er sich unwillkürlich kleiner machte. Dann nahm er sich zusammen und schaute nach rechts.

»Bitte!« sagte er verbindlich. »Wohin Sie wünschen?« Die beiden krakeelten eine Weile lautstark herum, ohne sich auf ein gemeinsames Ziel einigen zu können. Schließlich setzte sich das Schwergewicht neben ihm durch.

Kantiger Schädel, tiefliegende Augen. Offenbar hatte er die meisten Kraftausdrücke auf Lager. Und nicht nur das.

Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein, verkündete das Abzeichen auf seiner schwarzen Bomberjacke.

»Gollierstraße«, knurrte er in breitem Bayerisch.

»Gollir? Habe, Entschuldigung, leider nicht verstanden.«

»Kann der kein richtiges Deutsch? Ich könnt’ immer kotzen, wenn die so dämlich die Sätze verdrehn«, röhrte der Glatzkopf von hinten.

»Halt's Maul, Locke«, verlangte der Dritte. »Ich will heim. Mir ist schlecht. Sauschlecht, wenn du’s genau wissen willst.«

Er hielt die Hand vor den Mund und begann erstickt zu würgen.

Alarmiert schaute der Taxifahrer über die Schulter. Das war das letzte, was er jetzt brauchen konnte.

»Vielleicht Sie wollen lieber aussteigen«, schlug er vor. »Um frische Luft bißchen zu atmen? Dann später weiterfahren, nein?«

»Komm in die Gänge«, raunzte Locke. »Unserem Freund ist nicht gut, kapiert? Gollierstraße, hat Rambo gesagt. Noch immer nix kapé, ha? Richtung Theresienwiese. Stichwort Bier. Das verstehst doch sogar du, oder?«

Zoff war angesagt. Er spürte es am ganzen Körper. Wie würde sein großer Bruder an seiner Stelle reagieren? Er nahm sich vor, stumm und konzentriert zu fahren, um die unangenehme Ladung möglichst schnell wieder loszuwerden.

Aber er kam nicht weit.

Sicherheitskräfte hatten die umliegenden Straßen großflächig abgesperrt, um den Besuchern des Festivals von mehreren Seiten her uneingeschränkten Zutritt zu Münchens »grünem Salon« zu garantieren. Fußgänger, Radfahrer und Buggies mit schiebenden Muttis und Vatis bevölkerten die Fahrbahn. Ganze Menschentrauben strömten in den Park.

Es blieb ihm nichts anderes übrig, als einen weiten Bogen zu fahren und die Innenstadt über die unbelebte Trasse durch den Englischen Garten anzusteuern, die in normalen Zeiten nur städtische Buslinien befahren durften.

Mittlerweile war es ganz dunkel. Baumwipfel neigten sich im aufkommenden Abendwind. Hier waren kaum noch Passanten unterwegs.

»He, willst du uns bescheißen, oder was? Ich glaub’, ich spinn’! Die Westend-Vandalen legst du nicht rein! Da machen wir kurzen Prozeß.« Rambos Stimme hatte einen gefährlichen Unterton angenommen.

»Ist Durchfahrt von Polizei verboten«, erwiderte er schnell und schielte zum Handschuhfach. Genau darunter steckten muskulöse Beine in genagelten Springerstiefeln. »Muß umdrehen. Anders leider nicht möglich.«

Das rettende Fach schien unerreichbar. Er schwitzte stärker. Sein Rücken war steif wie ein Brett, seine Kopfhaut juckte.

Den Funk hatte er ganz leise gestellt. Er zwang sich, auf die knappen Anweisungen und das undeutliche Rauschen, Gurgeln und Fiepen in der Leitung zu achten, nicht auf das, was die drei redeten.

Es gelang ihm nicht. Jedes einzelne ihrer Worte dröhnte in seinem Schädel.

»Ich mag Neger nicht, du vielleicht?«

»Ich? Wie die schon aussehn! Und wie die riechen!«

»Solches Gesocks gehört abgeklatscht«, kam es aggressiv von rechts. »Die verbreiten sich doch wie die Karnickel, diese Juden, Asylanten, Kanaken und Negerschwänze! Die sind doch selber schuld, wenn es sie trifft!«

»Genau«, stimmten die anderen grölend ein.

»Die sollen im Kral bleiben und sich ihre Baströckchen anziehen. Da können sie dann Humbahumba tanzen. Ich werd’ schon sauer, wenn ich die nur auf der Straße sehe!«

Er zog den Kopf ein. Bloß keine Randale, nicht jetzt, nicht mit diesen Typen!

»Und dann noch deutsche Frauen anmachen!« Das kam von dem, der eben noch seine Übelkeit beklagt hatte. »Speedy« war sein Spitzname. »Sandra hat mir erzählt, daß ihr eine von diesen widerlichen Wulstlippen nachgestiegen ist.«

»Hat sie ihm eine gescheuert?«

»Ist dann doch abgedreht«, räumte er ein. »Gerade noch rechtzeitig. War auch besser für ihn! Jedenfalls ist Sandra nix passiert.«

»Noch nicht«, verbesserte Rambo. »Die lassen doch nicht locker, bis sie eins auf die Mütze kriegen. Die wissen gar nicht, wie gefährlich sie hier leben.«

Er drehte sich zum Fahrer und begann halblaut zu singen.

»Triffst du mal ’nen Neger
mit ’ner deutschen Frau,
dann ist das Rassenschande,
das weißt du ganz genau.
Drum warte nur auf ihn,
an irgendeinem Eck,
schneid ihm seinen Schwanz ab,
daß er dran verreck …«

Er brach ab und rückte ihm weiter auf die Pelle.

Der Taxifahrer konnte seinen süßlichen Alkoholatem riechen. Er versuchte, in Richtung Tür auszuweichen.

»So was würde unser schwarzer Häuptling niemals machen«, sagte Rambo provozierend. »Oder etwa doch?«

Jetzt wurde ihm richtig mulmig. Seine Rechte berührte schon den grünen Hebel. Nur wenn er ihn leicht zu sich ranzog und angehoben hielt, konnte man in der Taxizentrale hören, was in seinem Wagen gesprochen wurde. Daß er ausgerechnet heute wieder einen älteren Wagen fahren mußte!

Er strengte sich an, Ruhe zu bewahren. Noch war ja nichts geschehen. Unter allen Umständen wollte er vermeiden, sich vor den Kollegen lächerlich zu machen.

Er beschloß, den Mund zu halten.

»Du, der redet nicht mit uns!« Lockes Stimme klang gespielt empört. »Der weiß wohl nicht, wen er vor sich hat!«

»Der macht sein Maul schon noch auf«, sagte Rambo langsam.

Ein Messer schnappte auf. Dann spürte er die Klinge kühl und scharf an seinem Hals. Hinten, genau in Höhe der Kehle.

»Na, wird's bald?«

Auf einmal konnte er nur noch mit Mühe schlucken, so trocken war sein Mund. Nicht der geringste Grund, den Helden zu spielen.

»Keine deutschen Frauen«, krächzte er und schob den Gedanken an Helgas graue Augen beiseite. »Bestimmt.« Seine Stimme zitterte. »Niemals!«

»Na also, warum nicht gleich!« Das Messer blieb, wo es war. »Macht richtig Spaß, wenn solche Typen sich wieder erinnern, wo ihr Platz ist!«

Die beiden hinten lachten dreckig.

»Sonst könnte es nämlich sein, daß meine Freunde und ich Appetit auf Niggerhatz bekommen.«

»Anhalten!«

Wider besseres Wissen trat er scharf auf die Bremse. Inzwischen waren sie am Chinesischen Turm schon vorbei. Er sah die Lichter der neueröffneten Gaststätte durch die Bäume blinken.

Nicht allzuweit, schoß es durch seinen Kopf. Wenn ich die Tür aufreiße und schnell loslaufe …

Er blieb ruhig sitzen.

Sie waren zu dritt und würden ihn kriegen. Gutgenährte Kerle mit jungen, bösen Gesichtern. Wahrscheinlich stachelte eine Flucht ihren Jagdinstinkt erst richtig an.

»Bitte«, setzte er an, da war das Messer wieder an seinem Hals. Der Druck verstärkte sich. Es kostete ihn Kraft, weiterzusprechen. »Ich will Sie fahren nach Hause«, stieß er mit flacher Stimme hervor. »Sicher und gut. Wie in Mamas Schoß.«

»Laß Muttis schwarzen Fettarsch aus dem Spiel, Nigger«, befahl Locke. »Der hilft dir jetzt auch nicht mehr weiter. Rück die Knete raus!«

Er rührte sich nicht.

»Verlassen mein Taxi jetzt«, krächzte er mühsam.

»Nix viel Geld bei mir. Sie fahren umsonst.«

Der erste Schlag kam von hinten, direkt auf den Kopf. Er machte eine abwehrende Bewegung, dabei ritzte das Messer seinen Hals.

Er begann zu bluten.

»Bitte«, begann er wieder, da traf ihn der zweite Faustschlag an der Schläfe.

Er taumelte zur Seite. Trotzdem arbeitete sein Verstand glasklar. Millimeterweise tastete sich seine Hand vor. Jetzt war sie am grünen Hebel angekommen. Er hatte nur noch Angst.

Aber er wußte, was zu tun war.

Rambo hatte inzwischen begonnen, das Taxi zu inspizieren. Er ging gründlich vor. Die Innentaschen, der Fußboden, die Ablage. Er warf die Sonnenbrille, einen angebissenen Apfel und ein paar Kassetten mit afrikanischer Musik aus dem Fenster.

»So ein Scheißdreck, du solltest lieber mal ›Störkraft‹ hören«, bleckte er. »Das ist Musik! Und erst die Texte!« Dann verschwand sein Lächeln. »Und jetzt das Geld her!« forderte er. »Diridari, aber fix!«

Er war unfähig, sich zu bewegen.

»Sollen wir es dir aus den Eiern schneiden?«

Tausend Gedanken schossen durch seinen Kopf, rasende Bilder, längst vergessen geglaubte Gesprächsund Musikfetzen. Wie durch einen gelblichen Nebel sah er die staubigen Straßen von Dakar vor sich, den Hafen, das Haus seiner Familie. Er hörte leise Harfenlaute.

War das nicht sein ältester Bruder, der die Cora spielte?

Unwillkürlich verzogen sich seine Lippen. In seiner Sippe gab es viele, die musikalisch waren. Sänger und Seher. Die Diops waren landauf, landab berühmt dafür.

Rambo hatte das Handschuhfach aufgefummelt.

»Was haben wir denn da?« Anerkennend pfiff er durch die Zähne. »Feini, feini, feini! Unser schwarzer Held fährt ja heimlich eine schöne, dicke Eisenstange spazieren!«

»Wow!« kam es von hinten. »Ehrlich? Zeig mal!«

Er schwenkte sie triumphierend.

»Sollen wir das etwa als Bedrohung verstehen?« fuhr er lauernd fort. »Will er uns damit vielleicht ans Leder? Ja, ich glaube fast, das will er!«

Sein Finger war halb steif, so krampfhaft hielt er den Hebel in Aufnahmeposition. Bitte! dachte er verzweifelt, helft mir! Ihr müßt sie doch hören und die Kollegen verständigen! Er begann lautlos zu beten.

Wo bleiben die Taxen? Scheiße, warum holt mich keiner hier raus?!

Er nahm seinen letzten Mut zusammen. »Englischer Garten«, röchelte er halblaut. »Ganz in Nähe von Chinaturm …«

Gurgelnd brach er ab.

Die Brieftasche mit den Papieren hatten sie bereits kassiert. Dreihundert Mark und ein paar Zerquetschte. Sonst gab es nichts zu holen.

Rambo schlug zu. Wieder und wieder. Beine. Unterleib und Bauch. Brustkorb. Kopf. Gesicht. Von Lockes Messer in Schach gehalten, wehrte er sich schon längst nicht mehr.

Um so wütender drosch Rambo los. Der Geschlagene stöhnte erstickt. Fleisch brach auf. Knochen splitterten. Geräusche, die ihn alles vergessen ließen. Rot war es vor seinen Augen, wutrot. Haßrot. Blutrot.

Der dunkle Kopf ähnelte einer zerplatzten Frucht.

Speedy hockte grüngesichtig im Gras und kotzte sich die Seele aus dem Leib.

»Aufhören!« wimmerte er. »Schluß! Ende! Du bringst ihn ja um!«

»Und wenn schon«, keuchte Rambo, ließ aber die Stange sinken. »Von dem Ungeziefer gibt’s genug. Da fällt einer mehr oder weniger nicht auf. Was ist los mit dir? Muffensausen?« Er lachte dünn. »Zu spät! Du steckst mit in der Scheiße, Kleiner!«

»Der Nigger schläft jetzt ein bißchen«, sagte Locke.

»Aus. Zack. Vorbei. So schnell kann es gehen! Kommt, wir hauen ab!« Er lauschte in die Nacht. »Scht!« machte er. »Hört ihr nichts?«

Motorengeräusch kam näher. Scheinwerferlicht. Viele helle Wagen. Alles Taxen.

»Nichts wie weg! Die machen uns sonst platt!«

Rambo warf die Eisenstange auf den Boden.

»Wo sollen wir denn …«, wollte Speedy noch wissen.

Die beiden anderen rannten bereits was das Zeug hielt ins Dunkel, dorthin, wo die großen, hohen Bäume standen und kein Auto weiterfahren konnte.

Speedy kämpfte verzweifelt gegen würgenden Brechreiz und setzte sich ebenfalls in Bewegung. Der Schreck saß ihm in den Gliedern, und auf den ersten Metern waren seine Beine bleischwer. Dann ging es besser. Er kannte seine Vorteile, war leichter als Locke und Rambo und damit schneller. Bald würde er sie eingeholt haben.

Hinter ihm blieben die Verfolger weiter und weiter zurück.

Blut sang in seinen Ohren. Er lief um sein Leben.

»Die Saukerle waren nicht zu fassen«, japste einer der Taxifahrer und stützte sich auf seine Knie. »Sind zu schnell gewesen, diese Hurensöhne.«

»Mörderbande!« schrie der Feiste neben ihm wütend hinter den Flüchtenden her. »Feige Drecksäcke! Aber wir kriegen euch, könnt ihr drauf wetten! Und dann gnade euch Gott! Einen Taxler bringt niemand ungestraft um!«

Dann stolperte er über einen Gegenstand. Bückte sich schwerfällig, hob ihn auf.

»Wartet mal, Kollegen, halt! Hier hat einer was verloren!«

Sein Kopf lag zerquetscht auf dem Lenkrad. Blutverschmiert. Nase zertrümmert, Zähne eingeschlagen. Er atmete schwer und unregelmäßig.

»Habt … ihr … die Schweine?«

Die Männer schüttelten den Kopf.

»Zu dunkel. Und zu schnell«, sagte ein Bärtiger mit Schiebermütze. Speckige Lederweste, Bierbauch. Sein Gesicht war fleckig, seine Hände in Aufruhr.

»Sie können nicht weit kommen. Polizeigroßeinsatz ist schon ausgelöst. Kann sich nur noch um Augenblicke handeln.«

»Wo habt ihr denn so lange gesteckt?« wollte ein anderer wissen. Bleiches, pickeliges Gesicht, typischer Nachtfahrer. Einer der zahlreichen Studenten, die sich auf diese Weise Lebensunterhalt und Studium finanzierten.

»Du machst mir vielleicht Spaß!« schimpfte ein älterer Kollege. »War doch kein Durchkommen! Weit und breit alles abgesperrt wegen dem dämlichen Festival.«

»Als die Zentrale seine Nummer durchgab, wußte ich, wo er ungefähr sein mußte. Ich habe seinen Wagen vorhin losfahren sehen. Da war er allerdings noch quietschfidel.«

Alle Scheinwerfer brannten. Im Femekreis standen die Fahrer um das Taxi.

»Die kriegen wir«, sagte ein Dünner drohend. »Und dann machen wir Hackfleisch aus ihnen!«

»Mindestens!« kam es von den anderen. »Schwanz ab! Eier ins Maul gestopft!« Es klang wie ein Schwur. Die Türen standen weit offen. Das Innenlicht ließ die Haut des Schwerverletzten beinahe grau wirken.

»Bruder«, versuchte er zu sagen und spuckte einen hellroten Schwall. Die anderen wichen erschrocken zurück. Er gab nicht auf. »Brüder, ich … Mutter … Helga. Ich will euch …«

»Wo bleibt denn nur der Sanka? Der Kerl hier verblutet noch vor unseren Augen!«

Jetzt beugten sie sich zu zweit über den Sterbenden.

»Der braucht keinen Krankenwagen mehr. Der is’ hin«, war das letzte, was er noch hörte.

Dann hörten seine Schmerzen auf, und er stürzte in abgrundtiefe Schwärze.

  2  

»Traut ihr euch?«

»Ja!«

Die beiden küßten sich stürmisch.

Blitzlichtgewitter. Weiße Kutsche mit Vierergespann.

Sektkorken flogen. Niedliche Blumenmädchen griffen ins Volle.

Alle klatschten und strahlten, nur eine machte ein finsteres Gesicht.

Die Anwältin Dr. Sina V. Teufel haßte Hochzeiten wie die Pest. In ihrer Negativhitliste rangierten sie an zweiter Stelle, ganz knapp nur nach Scheidungen, die sie noch um einiges grauenhafter fand. Nicht, daß sie Heiratswilligen für den ehelichen Bund nicht das Beste wünschen wollte – sie war nicht in der Lage dazu.

Bräutliche Requisiten wie handgeschriebene Menükarten, Geschenkkataloge und krampfhaft launige Tischreden bewirkten, daß Sina Teufel auf der Stelle von Depressionen übermannt wurde. Ihr fiel wieder ihr eigenes, lang zurückliegendes Fiasko mit Exgatte Harry ein, der sich auf Dauer gegen sie und für seine Whiskyflaschen entschieden hatte. Komischerweise geriet sie gerade bei solchen Anlässen noch immer unter Druck, ihr Singledasein vor sich selbst überzeugend zu legitimieren.

War es Neid, der sie quälte? Der Wunsch, auch noch einmal Braut zu sein?

Eher die Gewißheit, daß Schaden unweigerlich drohte.

Ihrer heimlichen Statistik nach rutschten selbst vielversprechende Verbindungen in Schräglage, wenn Schleier und Trauringe am Horizont auftauchten. Sich mittels bürgerlicher Versatzstücke ein dauerhaftglückliches Leben zu zweit einzurichten, funktionierte nur in den seltensten Fällen.

Mögliche Variationen: Entweder flogen über kurz oder lang die Fetzen, und man trug eine Menge Geld zum Scheidungsanwalt, oder das Paar blieb aus sogenannten Vernunftgründen auf verkniffen-gleichgültige Weise zusammen.

Erstaunlicherweise gab es trotzdem Menschen, die unverdrossen zum Standesamt strebten. Diesmal war Dr. Wolinski den Weg gegangen, zum zweiten Mal, freiwillig und allem Anschein nach voller Begeisterung. Sein schmales Gesicht glühte von innen, selbst der graumelierte Bürstenschnitt schien fröhlich zu wippen. Anstelle seiner aschfarbenen Notarskluft trug er Nachtblau, kombiniert mit einem zitronengelben Binder, auf dem sich blaue Flügelwesen tummelten.

Es war nicht zu übersehen, daß ein frischer Wind sein Leben durchlüftete. Die Frau an seiner Seite war nicht nur fünfzehn Jahre jünger, sondern ein Powerweib mit aufregenden Rubensrundungen, die scharlachroter Pannesamt ungeniert hervorhob. Gute Beine, ein sanft wogender Busen, den sogar der Standesbeamte während seiner Ansprache nicht aus den Augen ließ.

Dr. Wolinski war selig. Augenscheinlich konnte er es kaum erwarten, sich mit ihr gemeinschaftlich ins Radleroutfit zu werfen und die Hochzeitsreise anzutreten. Dies im wahrsten Sinn. Vor ihnen lag die Eroberung Korsikas per Mountainbike – von anderen denkbaren Lustbarkeiten ganz zu schweigen.

Zuvor aber mußten noch die Feierlichkeiten durchgestanden werden. Sina Teufel und Hanne Bromberger kooperierten seit Jahren mit Wolinskis Notariat; deshalb hatte sie seine Einladung nicht überrascht. Reizenderweise war die ganze Kanzlei von ihm zur Feier gebeten worden, inklusive Sekretariat. Entzückt hatte das Damentrio zugesagt; den beiden Anwältinnen war nichts anderes übriggeblieben, als diesen Extraurlaubstag zu spendieren.

Und da saß es jetzt, ihr »Chaos-Team«, mit dem Sina sich Tag für Tag im Kanzleialltag herumschlagen mußte: Bürovorsteherin und Dramakönigin Tilly Malorny im Seidendirndl, die ohne die Begleitung ihres wettsüchtigen Ehemanns wie eine Barockfürstin aufblühte. Ihr gegenüber Marina König. Heute fehlte in ihrem Gesicht der gehetzte Ausdruck der alleinerziehenden Mutter, der ihre hübschen Züge sonst scharf machte. Sie flirtete mit ihren Tischherren, lachte viel und sah endlich mal wieder so jung aus, wie sie eigentlich war. Währenddessen versuchte die Dritte im Bunde, Azubine Anke Frey, mittels gezielten Einsatzes von Leder-hotpants, schaurig-grünem Lidschatten und frecher Lippe den männlichen Teil der Hochzeitsgesellschaft aufzumischen.

Man feierte ausgiebig. Silber blinkte vornehm, vorgewärmte Teller samt ansehnlichem Inhalt wurden in Windeseile aufgetragen.

Es mundete allgemein. »Das Seehaus«, im Herzen des Englischen Gartens gelegen, fuhr bei mutig überteuerten Preisen auf, was Küche und Keller zu bieten hatten: Kartoffelcarpaccio mit weißen Trüffeln, Marseiller Fischsuppe, Champagner-Safran-Sorbet, Lammbraten, Butterbohnen. Jeder zweite begann bereits verstohlen am Hosenbund zu nesteln.

Als die frischgebackenen Wolinskis die schneeweiße Torte anschnitten, begann Hanne vor Rührung ins Taschentuch zu schluchzen.

Sina warf ihr einen besorgten Blick zu. Und einen strengen in Richtung Bill Bergis, der am Nebentisch lümmelte und hemmungslos Wodka soff.

Seitdem der dubiose Exillette zum Fixpunkt in Hannes Leben avanciert war, schien alles auf merkwürdige Weise verrutscht zu sein. Nicht genug mit endlosen Zerwürfnissen und noch endloseren Versöhnungen, tränenreich zelebriert.

Jetzt wohnten sie auch zusammen!!!

Bergis hatte sich, ohne lange zu fackeln, vor ein paar Wochen mit all seinen Kisten und Koffern bei Hanne einquartiert. Sina fürchtete nicht nur um den angestammten Pflegeplatz für Kater Taifun. Vor allem sorgte sie sich um das Seelenheil der Sozia und Freundin. »Nur vorübergehend«, hatte Hanne gemurmelt, als Sina sie dezent auf den offensichtlichen Schwachsinn dieser Entscheidung hingewiesen hatte.

»Der läßt dir doch nicht einmal die Luft zum Atmen!«

»Nur bis er wieder flüssig ist. Du weißt doch, sein neues Projekt!«

Das freilich ließ Dauerzustand befürchten.

Bill Bergis war nach eigenen Aussagen ständig am Auftun neuer Projekte, von denen die meisten allerdings ebenso schnell wieder ins Dunkel des Vergessens rutschten. In der Zwischenzeit übte er sich in Geduld oder widmete sich der Pflege seiner Genialität. Sehr anstrengend für alle, die in seinen Dunstkreis kamen.

Sina fand ihn unerträglich.

»Ich weiß genau, was du jetzt sagen willst«, flüsterte Hanne trotzig, die ihre Blicke sehr wohl bemerkt hatte. Sie trug kaum Make-up und sah trotz ihres modisch tannengrünen Hosenanzugs blaß und mitgenommen aus. »Aber es ist mein Leben, und ich war lang genug allein!« Ihre Unterlippe begann gefährlich zu zittern. »Schon gut«, murmelte Sina versöhnlich und zwang sich, an die eigenen Beziehungsmacken zu denken. Nichts war bei Licht betrachtet so, wie es eigentlich sein sollte. Zweisamkeit klappte nicht, aber Alleinsein konnte ebenfalls ganz schön an die Nieren gehen. Wie kam sie dazu, anderen vorschreiben zu wollen, wie sie leben sollten?

»Tränen?« trällerte eine muntere Stimme. »Aber Hanne! Daran ist nur diese blödsinnige Hochzeit schuld! Was macht sie aus uns? Alt fühlt man sich, zu dick und depressiv! Ab einem gewissen Alter sollte man lieber zu Beerdigungen gehen – ist bei weitem vergnüglicher, meine Lieben!«

Anwaltsfreund Louis Levin war gemächlich zu ihnen herübergeschlendert. Wie immer mit einem Glas Rotwein in der Hand.

»Ganz schwache Veranstaltung hier«, lamentierte er halblaut. »Nervtötend! Nicht ein einziger vielversprechender Mann weit und breit! Könnt ihr mir verraten, weshalb ich extra meinen Kaschmiranzug in die Reinigung gebracht habe?« Er grinste und sah sich neugierig um. »Wo steckt denn mein alter Freund van Rees? Habt ihr den zu Hause abgestellt?«

»Carlo ist wieder mal auf Diät«, sagte Sina leicht anzüglich. »Seit vorgestern. Sozusagen der endgültige Versuch – zum 104ten Mal.«

»Mein Gott, wie gut ich den Mann verstehe!« L. L. klopfte auf seine beachtliche Leibeswölbung. »Es ist eine Ungerechtigkeit, daß ihr Weiber trotz vorgerückten Alters noch immer so mager seid!«

»Reife, nicht Alter«, korrigierte Hanne.

»Schlank, nicht mager«, fiel Sina ein. »Das macht der tägliche Wahnsinn. Da bleibt nichts hängen!«

»Trifft bei mir leider nicht zu«, erwiderte er bekümmert. »Wahnsinn hab’ ich zur Genüge, aber leider nur dann keinen Appetit, wenn ich frisch verliebt bin. Und das ist erschreckend lang her! Wie soll man es als Schwuler von Format, bitteschön, anstellen, in diesen schwierigen Zeiten, wo alle nur noch auf Nummer Sicher …«

»Wer ist eigentlich der Superblonde an deinem Tisch?« unterbrach Hanne unbarmherzig seinen melancholischen Exkurs.

»Der Windhund?«

»Genau der.«

»Kollege Graf Stock, gleicher Flur, übernächstes Zimmer. Unheilbar deutsch. Kennst du den nicht?«

»Nie gesehen.«

»Kein Wunder«, sagte L. L. »Der mischt sich nur ungern unters gemeine Volk. Zu Höherem geboren.«

»Und was macht er dann hier, unter den ganzen Plebejern?« wollte Sina wissen.