Diese Welt ist wie eine Brücke.

Gehe hinüber, aber baue nicht dein Haus darauf.

Aus Indien

Die besten Geschichten
schreibt immer noch das Leben.

Volksmund





Lichtgestalt auf Tigerfell

Mit einem ärgerlichen Schnarchton schreckt er hoch. Um ein Haar wäre er mitten in seiner Meditation eingeschlafen. Sein Wackeln hat ihn im letzten Augenblick daran gehindert. Er friert.

Er trägt nichts als alte Socken, seine Hosen aus dem Libanon und das ausgeleierte grüne Sweatshirt, das er nur aus dem Schrank zerrt, wenn er sich vollkommen unbeobachtet fühlen kann. Sein Rücken ist verspannt, und er spürt die Taubheit des linken Oberschenkels, auf dem der andere schier unerträglich lastet. Der kleine Spalt freier Haut zwischen Socke und Hose juckt. Wahrscheinlich hätte die alte, abgeschabte Fellimitation, von der aus er seit Monaten zweimal täglich in höhere Gefilde aufbricht, schon längst einmal in die Reinigung gehört. Keiner von den anderen weiß, daß er sie heimlich beim Meditieren auf den Holzboden legt.

Ob er wieder Hämorrhoiden hat?

Zum abertausendsten Mal verwünscht er die Unbequemlichkeit der Lotoshaltung. Ganz ähnlich muß sich das Sitzen auf einem Scheiterhaufen anfühlen, der langsam unterm Hintern zu glimmen beginnt. Unerreichbar weit in der anderen Zimmerecke steht die Erlösung, das kuschligbraune Sesselungetüm.

Unter immenser Anstrengung verschiebt er seinen Fuß millimeterweise. Den ganzen Schenkel entlang, bis hinauf zur Leiste, zieht sich ein dumpfes Stechen, dem erfahrungsgemäß schon bald ein scharfes, widerliches Brennen in der Muskulatur folgen würde. Er seufzt mehrmals auf, laut und bestenfalls ansatzweise so lustvoll, wie er es seinen Anhängern ständig predigt. Wann endlich werden sie seine Jünger sein?

Kein Gefühl darf sich im Körper stauen, wie er nicht müde wird, in seinen readings zu betonen, die besser besucht sein könnten. Aber die erwartete Erleichterung in seinem eigenen Leib bleibt fieserweise aus. Er spürt, wie ihm vor Anspannung der Schweiß ausbricht. Sein Bein ist frühestens in einer halben Stunde wieder einigermaßen zu gebrauchen.

Aber das ist längst nicht alles.

Tapfer widersteht er dem Bedürfnis nach Alkohol, das ihn in der letzten Phase seiner Selbstversenkung jäh überfallen hat. Sein ganzer Körper giert nach dem lang entbehrten Schock der Mundhöhle beim ersten Kontakt mit dem aggressiven Zeug, das langsam und köstlich in Zunge und Schleimhäute sickert; den endlosen, erwartungsvollen Weg die Speiseröhre hinunter; der unvergleichlichen Explosion im Magen schließlich, die Wärme, Ruhe und Gelassenheit nach sich zieht. Jene unübertroffene Gleichgültigkeit, die ihm heute ferner scheint denn je.

Wieder beginnt er unmerklich zu zittern, und er hat Mühe, seine Fassung zu bewahren. Sein schmaler Mund verzieht sich nach unten. Er schnaubt verächtlich. Kein Drandenken, diesen irdischen Lüsten einfach nachzugeben! Das Wochenende steht bevor, und Wochenende bedeutet Seminar. Er muß klar und clean bleiben. Er hat noch Großes vor. Aber das Ziel rückt unaufhaltsam näher.

Gedanken sind Wolken, sagt er zu sich selbst, mehrmals hintereinander, betont ruhig, fast heiter, als rezitiere er ein Mantra. Gedanken und Bedürfnisse sind nichts als Tautropfen, Träume, Seifenblasen, die rasch vergehen.

Die Tiefe und Vielfältigkeit seiner poetischen Bilder überrascht ihn immer wieder von neuem und hebt seine Laune augenblicklich. Ja, seine Worte sind Mantras, unvergängliche, ewige Botschaften für die Seele, daran gibt es nicht den geringsten Zweifel. Wichtig ist vor allen Dingen, daß er selbst daran glaubt.

Hinter deinem Kopf ist das Ufer.

Das ist nicht von ihm. Er erinnert sich, es vor langer Zeit irgendwo gelesen zu haben. Aber was macht das für einen Unterschied? Auf die richtige Art dargeboten, mit dem kleinen, verhaltenen Pathos, das seine Sprechweise so charakteristisch wirken läßt, ist es mindestens so gut, als käme es direkt von seinem Herzen. Er wird es einbauen, schon übermorgen, wenn er das nächste Mal öffentlich auftritt. Seit Wochen schon ist ihm kein so vielsagender Einstieg mehr eingefallen.

Verstohlen beginnt er sich zu bewegen. Er verlagert sein Gewicht und spürt die schmerzende Stelle an seinem Steißbein. Dort, wo seine Kundalini viel zu einsam schläft. Es wird dringend Zeit, diese Schlange der Lust zu neuem Leben zu erwecken. Alles wird anders werden, sagt er zu sich selbst.

Um noch etwas im Raum erkennen zu können, muß er sich anstrengen. An diesem Abend, der schon verlockend nach Frühling duftet, ist die Dunkelheit so zögerlich gekommen, als täte es ihr leid, den Tag zu vertreiben. Jetzt erst wird es langsam kühl. Er beschließt, aufzustehen und das angelehnte Fenster zu schließen. Empört schlägt sein Steißbein Alarm.

Er hält inne und hat plötzlich das Gefühl, daß es noch dunkler um ihn wird. Er zwinkert heftig, aber die wabernden, merkwürdig fauligen Schwaden denken nicht daran, zu verschwinden. Direkt von dem üblen Punkt am Ende seiner Wirbelsäule scheinen sie auszustrahlen, aufzusteigen und ihn immer dichter einzuhüllen.

Verzweifelt wehrt er sich gegen die Panik, die ihn zu überfallen droht. Er hat Angst, den Verstand zu verlieren. Vielleicht ist ihm sein ständiger Aufenthalt bei den kleinsten Elementarteilchen nicht bekommen. Ist das die Strafe für seine jahrelangen Blasphemien? Für seine Behauptung, es gäbe kein mächtigeres Wesen im Kosmos als ihn?

Er atmet heftig und ungleichmäßig. Dann, ohne Vorwarnung, sieht er das Feuer.

Er hält den Atem an. So hat er sich immer den Kern der Sonne vorgestellt. Hell, beinahe weißglühend. Gnadenlos intensiv.

Die dichte, dunkle Materie um ihn herum verschwindet. Sie löst sich einfach auf, scheinbar in nichts. Da ist nur noch dieses unbarmherzig heile Licht, das keine Fragen mehr zuläßt.

Das einfach ist.

Wahnsinn! schießt es ihm durch den Kopf Daß ich das erleben darf! Daß das mir passiert – mir!

Hektisch schaut er nach links und nach rechts, aber da ist niemand, mit dem er diese Erfahrung teilen könnte. Das wird mir keiner glauben, denkt er. Warum eigentlich nicht? sagt er sich gleich hinterher. Alles eine Frage der richtigen Vermittlung.

Es bleibt ihm nicht die Zeit, sich eine differenziertere Wahrnehmung zu wünschen, denn das Licht verblaßt allmählich. Langsam, ganz langsam wird es schwächer, bis es erloschen ist und sein Zimmer ihm undurchdringlich dunkel erscheint.

Noch eine ganze Weile bewegt er sich nicht. Die erste Aufregung ist längst verklungen, und allmählich schleicht sich ein fades Glück ein, das beinahe nach Enttäuschung schmeckt. Da war nur das weiße Licht gewesen. Sonst nichts. Die anderen Farben, von denen er bei ähnlichen Anlässen immer gehört hat, sind ausgeblieben.

Keine Spur von Rot, Gelb oder gar Blau.

Weiß ist alles, womit er sich zufriedengeben muß. Weiß und nichts sonst. Trotzdem zweifelt er keinen Augenblick länger.

Es ist geschehen.

Es.

Steifbeinig, mit unsicheren Bewegungen, steht er auf und geht hinüber in die kleine Küche, die zu seiner Souterrainwohnung gehört, ohne sich um die Haufen physikalischer Wälzer zu kümmern, die sich überall auf dem schmutzigen Boden stapeln. Noch im Dunkeln dreht er den Wasserhahn auf und füllt ein Glas.

Er trinkt gierig.

Dann erst betätigt er den Lichtschalter. Unwillkürlich geht sein Blick zur Uhr. Er nickt befriedigt. Zwanzig Uhr und zehn Minuten.

Er wird diesen exakten Zeitpunkt dem einen Datum zufügen, das er niemals in seinem Leben vergessen wird. Mittwoch, 12. März 1986.

Der Tag seiner Erleuchtung.

Der Tag, an dem er eins mit seiner Meisterseele wurde.


1


Harry war zurück, und sofort fing der ganze Ärger von vorne an.

Sie hatte es im Blut, als Tilly Malorny, ihre üppig bebuste Bürovorsteherin, ihn durchstellte und honigsüß flötete: »Der Ex ist dran.«

Wahrscheinlich war das die Rache für Sinas wenig taktvolle morgendliche Bemerkung. Die anderen in der Kanzlei hatten gut daran getan, das Veilchen an Tillys linkem Auge krampfhaft zu übersehen. Dabei hätte sie es wirklich besser wissen müssen. Niemand auf der Welt war nachtragender als Tilly. Und kaum einer schlug treffsicherer zu als Tillys heißblütiger Ire. Schon im achtzehnten Jahr bereitete John ihr die Ehehölle auf Erden.

»Was gibt’s?« sagte sie unfreundlicher in den Hörer, als ihr eigentlich zumute war.

Seltsamerweise hatte sie gerade in den letzten Wochen häufig an Harry gedacht. Schon witzig, wenn man bedachte, daß ihre Scheidung mehr als zehn Jahre zurücklag und sie in der Zwischenzeit wenig Neigung verspürt hatte, zu erfahren, wo er war und was er trieb. Damals, nach den endlosen Tagen voller Streit und den vielen durchweinten Nächten, hatte sie ihren Mädchennamen wieder angenommen. Kurzentschlossen war sie aus der großzügigen Vier-Zimmer-Wohnung im Herzen Altschwabings in eine miefige WG-Behausung in den Norden Münchens gezogen. Dort, im Stadtteil Milbertshofen, hatte sie ihr Studium beendet und sogar die Zeit des Examens überlebt.

Mit diesem Umzug war die Ära Harry für sie endgültig abgeschlossen gewesen. Sie spielte nicht länger die junge, aparte Frau Wolters, die sich neben dem dynamischen Kunsthändler auf Festen und bei Vernissagen so unwahrscheinlich dekorativ ausnahm. Immer zähneknirschender und nur noch mühsam lächelnd.

Seitdem war sie wieder sie selbst. Sina V. Teufel, inzwischen promoviert und Anwältin mit eigener Kanzlei – aber ihre Probleme mit Kerlen schienen noch immer kein Ende nehmen zu wollen. Harrys unverhoffte Rückkehr hatte ihr gerade noch gefehlt.

Und dennoch ging er ihr nicht mehr aus dem Kopf. Den ganzen Vormittag über hatte sie seinen kantigen Schädel vor sich, auf dem eine Menge dunkelblonden, an den Schläfen markant angegrauten Haares vorteilhaft verteilt war. Graue Augen, mal treuherzig, mal eher asig, eine fleischige Boxernase, große, unregelmäßige Zähne. Beileibe kein schöner Mann, aber ein verdammt attraktiver. Mit Geist und Witz und einer bisweilen beinahe unwiderstehlichen Flapsigkeit. Einer, der wußte, wie Frauen zu nehmen waren. Es war zu befürchten, daß er mit den Jahren noch dazugelernt hatte.

Während sie sich durch die Aktenberge auf ihrem Schreibtisch schaufelte, fielen ihr wieder seine knubbeligen Knie ein und seine leicht affektierte Art, beim Rauchen die Zigarette zu halten. Tuntig, so hatte sie es immer genannt, und er hatte amüsiert darüber geschmunzelt, anfangs zumindest.

Es half nicht viel, daß sie sich das leergetrunkene Bataillon stinkender Flaschen wieder vor Augen rief, das zum Schluß die ganze Wohnung verschandelt hatte. Anstatt an ihren Abscheu angesichts der seifigen, verschmierten Whiskeyreste zu denken – von Harry bis zum Geht-nicht-mehr mit Wasser »gestreckt«, um sie hinters Licht zu führen –, überfielen sie die Bilder ihres gemeinsamen irischen Sommers.

Beinahe wütend verbannte sie grüne Hügel, einsame, endlose Sandbuchten und keltische Hochkreuze aus ihrem unangenehm präzisen Gedächtnis und versuchte, sich auf die häßlichen Seiten jener Tage zu konzentrieren. Aber selbst beim Reizthema Pub kamen ihr nur antikes Mahagoni und alte, halbblinde Reklamespiegel in den Sinn. Alles an Widerlichem, was ihr dazu einfallen wollte, waren die saugfähigen Sägespäne auf dem Boden der funzelig beleuchteten Lokale.

Dort hatte er ihr beigebracht, wie man Whiskey trinkt, jenen mollig-weichen »Paddy«, der am besten zu einem schaumigen Guiness paßt. Ohne Eis. Allenfalls von eigener Hand mit ein wenig Wasser versetzt. Freilich hatte sie damals nicht ansatzweise geahnt, welche Meisterschaft er darin besaß.

Was wollte er jetzt von ihr? Warum zum Teufel drängte er sich wieder in ihr Leben? Hau ab, dachte sie. Hau bloß wieder ab. Aber der Stachel saß.

So sehr Sina Teufel sich auch anstrengte, nach Harrys Anruf war ihr Vormittag erst einmal gelaufen. Sie ertappte sich dabei, wie sie unkonzentriert brabbelte und ihr kleines Handdiktaphon schon zum vierten Mal zur gleichen Stelle zurückspulte. Später stauchte sie die Damen im Vorzimmer wegen einer Belanglosigkeit so zusammen, daß Tilly vollends einen Flunsch zog und Anke Frey, Azubi im zweiten Lehrjahr, provokant die Brauen spielen ließ und ihr anzügliche Blicke hinterhersandte.

Selbst ihre Sozietöse Hanne Bromberger konnte sich im Vorbeigehen einen bissigen Kommentar nicht verkneifen. Ertappt, und daher angriffslustig, fuhr Sina zu ihr herum. »Was heißt hier mies drauf? Ich kann es nicht leiden, wenn Sachen halb gemacht werden!«

»Ist ja schon gut!« Hannes Ton wurde versöhnlicher.

»Du hast noch gut zwei Stunden Zeit, dich abzuregen, bis dein Liebling anrückt.« Jetzt klang sie spöttisch.

»Mein was?«

»Der liebe Wulfius. Herr von Rheinstahl. Hast du neuerdings eine mir bislang verborgen gebliebene Abneigung gegen Terminkalender entwickelt?«

Sina verzog sich wortlos in ihr Büro und stand beherrscht die Telefonpräsenz durch, die sie selbst vor einigen Wochen eingerichtet hatte. Ein noch immer nicht ausreichendes Mittel, um die wachsende Flut der Anrufer zu dämmen. Im Augenblick aber das einzig halbwegs Vernünftige, das ihnen eingefallen war:

Sie konnten sich über Mandantenzuwachs nicht beklagen. Die Kanzlei boomte, und bald war wieder die leidige Diskussion um eine neue Mitarbeiterin fällig. Sie konnte den unweigerlich anfallenden Streit mit Hanne förmlich riechen.

Man sollte einfach alle Telefone verbieten, dachte sie und hatte wieder Harrys Stimme im Ohr. Er hatte nicht einmal betrunken geklungen.

Sie stöhnte, als sie an Wulfius von Rheinstahl dachte. Eigentlich war er Hannes Mandant, die ihn als Steuerfachanwältin in privaten und geschäftlichen Belangen vertrat. Aber sie hatte ihn Sina zum Zweck vertragsrechtlicher Beratungen mit leisen Mahnungen herübergereicht. »Sicherlich nicht ganz dein Fall. Aber vergräm ihn mir bloß nicht! Ich wünschte, ich hätte mehr von dieser Sorte.«

Sina nicht. Bislang war sie trotzdem einigermaßen mit ihm ausgekommen, wenn er auch das Talent besaß, sich besonders gern auf Nebenschauplätzen aufzuhalten. Zudem verströmte er bisweilen eine joviale Wichtigtuerei Marke Gutsherrenart, die sie schlichtweg unerträglich fand.

Heute allerdings schien er nicht in Höchstform zu sein. Das war ihr erster Eindruck, als er ihr gegenübersaß. In ihrem sparsam, aber erlesen möblierten Büro wirkte er seltsam fehl am Platze. Obwohl gerade Anfang vierzig, machte Wulfius von Rheinstahl einen wesentlich älteren Eindruck. Gediegenheit schien jeder seiner Hirschhornknöpfe auszustrahlen, und die unvorteilhafte, helle Bundfaltenhose ließ ihn gedrungen erscheinen. Sein schönes, leicht gewelltes Haar war lichtbraun und seitlich gescheitelt, leider aber so verschnitten, daß man sofort an die ärmlichen Bubenköpfe der fünfziger Jahre denken mußte. Das volle, leicht gerötete Gesicht strotzte vor Gesundheit.

Nur eines verriet seine Sensibilität und den – allerdings versteckten – Connaisseur: sein fataler Hang zu Seidensocken. Auch heute trug er wieder lilablaßblaue Kostbarkeiten, die deutlich auf die Hundert-Mark-Grenze zielten. Zu leichten italienischen Slippern hätten sie vermutlich göttlich ausgesehen. In seinen handgenähten Klobetretern hatten sie etwas Verlorenes.

Der Besitzer der Rheinstahl Medicine International GmbH, wie er seine Firma ein wenig großkotzig genannt hatte, hatte wahrhaft Großes im Sinn. Seit Jahren vertrieb er das I-Compact-Set im Land. Sein selbstgestrickter Slogan »Ihr Zucker – unser Problem« war in nahezu jeder bundesdeutschen Arztpraxis wohlbekannt. Über vier Millionen Diabetiker allein in Deutschland aber genügten dem ehrgeizigen Geschäftsmann noch lange nicht. Er spekulierte auf den gesamteuropäischen Markt, auf ein Heer von Insulinbedürftigen, für die es keine andere Möglichkeit gab, als neben strenger Diät ein Leben nach Zeitplan zu führen.

Genau dafür war sein I-Compact-Set gedacht. In einem unauffällig edlen Etui schmiegte sich neben Blutzuckermeßgerät auch gleich der praktische Insulin-Pen in die Halterung. Ein Füller statt der früher üblichen Spritze. Damit auch für empfindsamere Gemüter geeignet. Die Angst vor Nierenversagen, Potenzverlust oder Erblindung würde, da war er sich ganz sicher, Millionen von Patienten unweigerlich zu seinem praktisch schmerzfreien »Spritzbesteck« treiben.

Das Problem war nur das Geld.

Deshalb ließ er sich von Sina beraten. Die Bank verlangte Garantien für das beachtliche Darlehen, das er sich für seine Investitionen borgen wollte. Da reichte die flotte Ein-Mann-GmbH nicht aus, die Wulfius vor nicht allzu langer Zeit gegründet hatte. Nach einem einzigen Gespräch mit seinen beiden ledigen Brüdern, dem älteren August Friedrich, genannt »Putzi«, und dem jüngeren Albert, war Sina klar, warum er es dabei belassen wollte. Zwei unsympathischeren Landedelmännern war sie seit langem nicht mehr begegnet.

Trotzdem blieb da das Problem mit der persönlichen Haftung für den Kredit, die Wulfius auf keinen Fall übernehmen wollte. Oder eine andere Sicherheit, wie sich der höhere Herr von der Bank mit vielsagendem Blick auf Herrn von Rheinstahl ausgedrückt hatte. Er roch, daß da was zu holen war.

Tatsächlich nannten die von Rheinstahls einen ordentlichen Besitz ihr eigen. Holz, Wasser, Jagd, alles grundsolide, was man halt seit Generationen im Bayerischen geerbt und zusammengetragen hatte. Keine ganz fleckenlose Familienweste, aber wer wollte sich heute noch ernsthaft über längst vergessene SS-Gelage im Stammhaus echauffieren? Die feinere Münchner Gesellschaft nahm guten Gewissens an den berühmten Hetzjagden teil, die wieder so begehrt waren, daß man die von Rheinstahls schon sehr gut kennen mußte, um auf die hoch attraktive Gästeliste zu kommen.

Wulfius von Rheinstahl hatte Traditionsbewußtsein. Und Prinzipien.

»So kommen wir nicht weiter«, sagte Sina schließlich und hatte schon eine Zigarette in der Hand. Nach seinem mißbilligenden Blick beschloß sie, das Fenster erst recht zuzulassen. Wenn er sich als Stockfisch aufführte, mußte er eben ihre Verpestung aushalten.

»Grund und Boden beleiht man nicht«, sagte er verbohrt. »Jedenfalls nicht in unserer Familie.«

»Das mag schon richtig sein.« Die meisten Argumente werden nicht besser, wenn man sie wiederholt, dachte sie resigniert. Sie haßte Wiederholungen.

»Mit dieser Einstellung wird es Ihnen aber kaum gelingen, erfolgreich ein internationales Unternehmen aufzubauen«, fuhr sie unbeirrt fort. »Die Uhr läuft ohnehin gegen Sie. Wissen Sie nicht, daß man in den USA bereits daran ist, Patienten insulinproduzierendes Gewebe zu transplantieren? Was ist Ihr schickes Besteck dann noch wert?«

Er schluckte. Jetzt sah er aus wie ein Karpfen auf dem Trockenen. »Das wird noch Jahre dauern«, sagte er ein wenig lahm, »Wenn es sich überhaupt in der Praxis bewährt.«

»Vielleicht, vielleicht aber auch nicht.« Sina war entschlossen, ihm Beine zu machen. »Was ist eigentlich mit dem Grundstück an den Osterseen?« unternahm sie einen weiteren Vorstoß. »Das liegt doch weitab vom restlichen Familienbesitz in Iffeldorf, oder? Vielleicht käme das in Betracht.«

Ihr Gesprächspartner sah auf einmal richtig elend aus. Fahle Hamsterbacken und erloschener Blick. »Das gehört Rita«, sagte er leise.

»Gütertrennung?«

»Nein, Morgengabe. Ich habe es ihr nach der Hochzeitsnacht geschenkt.«

»Trauen Sie Ihrer Frau nicht zu, daß sie sich für diese noble Geste mit einer ebenso noblen revanchieren könnte? Ich glaube, Sie unterschätzen Rita! Es soll ihr ja schließlich nicht entrissen werden, sondern nur als Sicherheit für Ihre Investitionen dienen.«

»Ich weiß nicht.« Jetzt sah er wirklich wie ein dicklicher, kreuzunglücklicher Schulbub aus.

Sina fühlte, wie heftig an die Grundschullehrerin in ihr appelliert wurde. »Was ist los?« fragte sie mit der ganzen Anteilnahme, die sie für ihn aufbringen konnte. Stand ihm gar nicht schlecht, dieses Geknicktsein. Besser jedenfalls als seine übliche Kraftmeierei.

»Rita und ich – nun …« Er stockte. »Es ist so, daß sie, ich meine, daß wir zur Zeit Probleme miteinander haben. Ich habe manchmal das Gefühl, daß sie nahe daran ist, den Verstand zu verlieren!« brach es plötzlich aus ihm heraus.

Sina erinnerte sich an eine überschlanke, quirlige Brünette, die lebhaft und alles andere als gaga gewirkt hatte. Sie hatte sie im letzten Winter kennengelernt, anläßlich einer Weihnachtsausstellung im Voralpenland, wo Rita von Rheinstahl ihr mit ihrer fantasievoll bemalten Keramik aufgefallen war. Pralle, lebendige Szenen aus der griechischen Mythologie. Scharen von jagenden Kentauren und kichernden Bachantinnen in warmen, sonnendurchglühten Mittelmeerfarben.

Sie hielt nichts von Männern, die ihre Frauen für verrückt hielten, nur weil sie auf eigene Ideen kamen.

»Macht sie noch immer diese wunderschönen bunten Schalen?« fragte sie ein wenig boshaft. Er hatte damals beileibe nicht den Eindruck vermittelt, ihre Selbstverwirklichung als Künstlerin besonders zu schätzen.

Er schüttelte den Kopf. »Eben nicht. Sie hat keine Zeit dazu, angeblich. Schon seit Wochen hat sie keinen Fuß mehr in die Werkstatt gesetzt. Wissen Sie, warum? Weil sie den ganzen Tag ihre Chakren reinigen muß – was auch immer das heißen mag! Keinen Finger rührt sie mehr im Haus, gerade, daß sie den Kindern noch ein Essen hinstellt, irgend etwas, das sie schnell aus der Mikrowelle zieht. Keine fünf Minuten später hat sie sich schon wieder in ihrem Zimmer verkrochen, um zu meditieren. Meditieren – wenn ich das schon höre! Das ist doch keine tagesfüllende Beschäftigung für eine Mutter von zwei kleinen Kindern – sagen Sie selbst!«

Den Kommentar dazu verkniff sie sich lieber. »Wie lange geht das schon so?« fragte sie statt dessen.

Vielleicht war es eine vorübergehende Laune. Und selbst wenn nicht: Sie konnte sich vorstellen, daß frau jede Menge zu meditieren hatte, wenn sie es dauerhaft an Wulfius’ Seite aushalten wollte. Sie mahnte sich zur Objektivität. Immerhin war er ihr Mandant.

»Wann hat das Ganze angefangen?«

»Schon vor ein paar Monaten«, seufzte er. »Erst schien alles harmlos. Seminare, ab und zu ein Wochenende, Unternehmungen, die sie schon immer mal gemacht hat. Erst waren es die Füße, dann erotische Massagen, schließlich Edelsteine. Marc hat neulich um ein Haar eines dieser spitzen Dinger verschluckt! Ganz unmerklich wurde es immer schlimmer mit ihr. Und heute …. heute ist Rita richtiggehend fanatisch. Dabei ist das nicht auf ihrem eigenen Mist gewachsen. Ich weiß genau, wer dahinter steckt. Irgendein Kerl, angeblich Physiker, dem eine ganze Schar ausgeklinkter Weiber hinterherläuft.«

»Eine Liebesgeschichte?« Sina wurde wieder interessierter. Das hätte sie der konventionellen Rita gar nicht zugetraut.

Er schien mit Schlimmerem zu rechnen. »Ich habe keine Ahnung, was diese Hirnverbrannten tatsächlich machen. Der Mann ist ein selbsternannter Heiliger, einer von der allerschlimmsten Sorte. Einen ›Club der Himmelfahrer‹ oder so ähnlich hat dieser Scharlatan gegründet. Und meine Gattin legt es augenscheinlich darauf an, so schnell wie möglich zur Ehrenvorsitzenden ernannt zu werden. Praktisch ist sie keinen Abend mehr zu Hause. Immer unterwegs nach München, zu seinen komischen Ergüssen, von denen sie nicht genug kriegen kann.«

Sina spürte, wie sie plötzlich müde wurde. Und lustlos. Ihr Rücken fühlte sich steif an. Sie hatte genug von seinen Eheproblemen. Himmel noch mal – gibt es kein anderes Thema mehr? Sie wußte schon, warum sie keine Scheidungen machte und eine ausgesprochene Abneigung gegen Anwälte hatte, die dies in erster Linie taten. Die Leute sollten alleine bleiben, wenn sie es zusammen nicht aushielten.

»Sie sollten mit ihr reden«, sagte sie plötzlich kategorisch. »Vernünftige Menschen, die zwei gemeinsame Kinder haben, müssen es doch fertigbringen, sich an einen Tisch zu setzen, um in Ruhe ihre Probleme zu besprechen. Laden Sie Ihre Frau in ein gemütliches Lokal ein! Und dann bringen Sie die Sache mit der Morgengabe im richtigen Moment zur Sprache. Sie werden sehen – sie läßt sich überzeugen.«

Harry und ich haben es allerdings nicht geschafft, das vernünftige Miteinander-Reden, dachte sie, während sie noch die letzten Worte sagte. Unsere Probleme wurden immer größer und größer, bis sie uns schließlich erschlagen haben. Oder besser ertränkt. Aber das will ja nichts heißen. Man sagt, daß Menschen ungemein lernfähig seien.

Sie stand auf. Sie hatte die Nase voll von ihm und seinem Genöle. Eine Menge anderes war zu erledigen. Er sollte endlich seinen Abgang machen.

»Ich weiß nicht«, erwiderte er zögernd und sah sie beinahe hilfesuchend an. »Meinen Sie wirklich?«

»Ich meine. Rufen Sie mich an, wenn Sie mit ihr gesprochen haben. Dann können wir den Termin mit der Bank ausmachen. Aber lassen Sie sich nicht zuviel Zeit. Die Konkurrenz schläft nicht.«

»Ich auch nicht«, sagte er. »Schon seit langem.«

Er sah schlagartig so verwelkt aus, daß sie es ihm sogar glaubte.

Jetzt tat ihr wirklich der Rücken weh. Ob sie doch einmal in das Institut für Körperbewußtsein gehen sollte, das ihr ihr Freund Carlo so warm empfohlen hatte? Sicherlich besser, als zu Hause rumzulungern und sinnlos alten Erinnerungen nachzuhängen.

Die weibliche Stimme am anderen Ende war jung und triefend freundlich. Ja, bei Marcus sei ganz überraschend ein Termin frei geworden. Übermorgen, siebzehn Uhr dreißig. Eine Alternative könne sie ihr leider erst in zwei Wochen anbieten. Marcus sei eben ganz besonders gefragt.

Das scheint mir auch so, dachte Sina. Nach einem Blick in ihre übervolle Woche sagte sie kurzentschlossen zu. Wer zaudert, kann nichts gewinnen. Das war einer von Harrys bevorzugten Sprüchen gewesen.

Scheiß-Harry! Am besten wäre, ihn anzurufen und das Treffen wieder abzusagen.

Dann gewann die Neugierde in ihr die Oberhand. Vielleicht war er in der Zwischenzeit kahl und fett geworden und so langweilig, daß sie froh sein konnte, um halb zehn wieder zu Hause zu sein. In ihre Wohnung jedenfalls würde sie ihn nicht lassen!

Dort war nur Platz für ein einziges männliches Wesen. Jenes, das ihr freundlicherweise gestattete, die drei Zimmer der Dachterrassenwohnung in harmonischer Koexistenz mitzubenutzen.

Ihr schwarzer Kater Taifun.

Und der duldete keine fremden Götter neben sich.


2


Erleuchtungstagebuch
Madra,4. März

Natürlich erwarte ich keine Dankbarkeit.

Auch nach allem nicht, was ich für Ihn getan habe. Es war meine freie Entscheidung, nur meine. Mein Ding. Ich weiß es, und trotzdem tut es höllisch weh. Immer wieder.

Da sind die bleiernen Morgen, an denen ich aufwache und das Gefühl habe, ins Unendliche zu zerfließen. Mein Körper ähnelt mehr und mehr einem zerlaufenen Spiegelei – wabbeliges Weiß mit einem zu kleinen, zu runden, semmelblonden Kopf drauf.

Zum Ausspucken widerlich.

Das denkt nicht nur Er. Das denken auch die anderen. Sogar ich denke von früh bis spät nichts anderes.

Ich bin nichts als ein Fettfleck. Aber mein Kopf – der kann arbeiten! Und rechnen. Und Pläne machen. Und sich erinnern. Der vergißt nichts und merkt sich alles.

Manchmal tut er so, als gehöre er zu einer schönen Frau, einer wirklich attraktiven, auf die viele Männer Lust haben. Dann schämt er sich nicht mehr für den Körper, mit dem er herumlaufen muß. Dann ist er endlich frei.

Komische Gedanken kommen mir in den Sinn! Fast habe ich Angst, sie dem Papier anzuvertrauen, auch wenn ich es noch so sorgfältig wegschließe. Aber ich möchte nicht, daß noch mehr meine Poren und Zellen verstopft.

Ich rechne ohnehin damit, eines schönen Tages einfach zu platzen.

Ich hasse. Ich leide. Ich bin voller Wut! Angefüllt mit Zorn und Abscheu! Wild und rot und heiß ist es in mir, wie im tiefsten Schlund der Hölle.

Ich habe keine Lust, immer alles zu verstehen oder vorzugeben, es zu tun. Ich will, ich will, ICH WILL – alles, Leben, Liebe – Ihn!

Aber ich bekomme Ihn nicht. Nicht heute. Nicht morgen. Nicht einmal in tausend Jahren.

Dabei bin ich die einzige, die wirklich zu Ihm paßt. Die einzige, die versteht, was in Ihm vorgeht. Was Er denkt. Was Er plant.

Ich bin es, Ich, Madra, und nicht die andere, die schöne blasse Schattenfrau, die Er nicht mehr herausgeben will. Schon seit Monaten nicht mehr.

Allerdings weißüßüß