Zum Buch:

Zwei mysteriöse Todesfälle erschüttern den Hof von Ptolemaios XII., der in Griechenland im Exil lebt, seit seine Tochter Berenike ihn vertrieben hat. Sein Leibdiener und eine seiner Geliebten werden grausam ermordet. Der Pharao fürchtet um sein Leben, und er beauftragt ausgerechnet die Priesterin Samu und den griechischen Arzt Philippos, die Morde aufzuklären. Beide sind sich im Grunde spinnefeind, aber sie haben nur zusammen eine Chance, den geheimnisvollen Giftmischer zu finden.

1. KAPITEL

 

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Der infernalische Lärm des Festzuges übertönte sogar das allgegenwärtige Geschrei der Möwen, die, wie von einem Zauber angezogen, Tag und Nacht um den riesigen Tempel kreisten. Dabei hatte die Spitze der Kolonne noch nicht einmal das Gelände der kleinen Tempelstadt rund um das Artemision erreicht. Philippos blickte kurz an sich hinunter und zupfte einige Falten seiner Toga zurecht. Er war der einzige im Hofstaat des Ptolemaios, der das Ehrengewand eines römischen Bürgers trug.

Wie die anderen Vertrauten des geflohenen Königs hatte er sich auf den Stufen des Tempels eingefunden, um dem Festzug zu Ehren der Göttin Artemis beizuwohnen. Mit ihren fremdartig geschnittenen Leinengewändern und ihrem kostbaren Schmuck hätten die Ägypter überall in der zivilisierten Welt sicherlich Aufsehen erregt, doch hier, in Ephesos, war das nichts Besonderes. Zum Fest der Göttin hatten sich Gäste aus allen Teilen der Welt eingefunden. Makedonische Söldner mit kantigen Gesichtern, Parther in bunten Seidengewändern, die kostbarer als Gold waren, Kaufleute aus Tyros, denen die geölten und parfümierten Bärte bis weit auf die Brust hinabreichten, blonde Galater mit beunruhigend blauen Augen, so wie man sie sonst nur bei den Barbaren aus Gallien und Germanien antraf, ja, sogar einige Römer in schlichten Togae waren Philippos in der Menge aufgefallen.

Ein paar Ägypter, und sei es selbst der Hofstaat eines geflohenen Königs, erregten in diesem Völkergemisch kein Aufsehen. Philippos stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser den Beginn der Prozession sehen zu können, die keine hundert Schritt mehr entfernt war. Unmittelbar vor dem Arzt stand Potheinos, der erste Eunuch und engste Berater des Königs.

Mit seinem schlanken, hageren Körper verstellte er ihm die Sicht. Wie die meisten Beamten des Hofes trug auch Potheinos eine Perücke aus schwarzem Pferdehaar, und Philippos konnte sehen, wie sich glänzender Schweiß in den Falten am Hals des Beschnittenen sammelte. Der Grieche grinste. Wahrscheinlich betete der Kerl gerade zu irgendeinem dieser tierköpfigen ägyptischen Götter um Hilfe, damit ihm der Schweiß nicht die Schminke verwischte. Daran, daß sich bei den Ägyptern auch die Männer schminkten, würde er sich niemals gewöhnen.

Mit einem leichten Stoß in die Rippen riß ihn die Isispriesterin neben ihm aus seinen Gedanken. Sie zeigte auf die Spitze der Prozession und versuchte, ihm etwas zu sagen. Philippos sah, wie sich ihre Lippen bewegten, doch in dem infernalischen Lärm konnte er Samu nicht verstehen. Einen Moment lang verweilte sein Blick auf dem Antlitz der schönen Isispriesterin. Auch sie war so stark geschminkt, daß ihr Gesicht nicht menschlich, sondern wie eine starre Maske aussah. Zwei breite, schwarze Striche rahmten ihre Augen und zogen sich bis zu ihren Schläfen. Die Augenlider hingegen hatte sie sich mit einer körnigen, blauen Paste bestrichen. Ihre Wangen waren mit rotem Ocker eingerieben, und ein noch tieferes Rot glänzte auf ihren Lippen. Philippos wußte, daß sie mehr als eine Stunde brauchte, um diese Maske anzulegen und ihr Haar mit duftenden Ölen zu behandeln. Der Erfolg dieser Strapaze war unbestreitbar. Samu wirkte zugleich anziehend und unnahbar, sinnlich und kalt. Daß sie obendrein auch noch intelligent war und die Schriften des Hippokrates mindestens ebenso gut kannte wie er selbst, ließ die Priesterin dem Arzt vollends unheimlich werden. Es gehörte sich einfach nicht, daß Frauen mehr wußten als Männer! Jedenfalls nicht in Bereichen wie Philosophie und Medizin.

Ein wenig mürrisch wandte sich Philippos von ihr ab und betrachtete wieder die Prozession. Die erste Gruppe, das Priesterkollegium der Kureten, war schon fast an ihnen vorbeigezogen. Die Männer trugen tönerne Daimonenmasken und dunkle Gewänder. Die meisten von ihnen waren mit Speeren und Schilden bewaffnet. Wie in Ekstase hieben sie mit den Waffen auf ihre bronzebeschlagenen Schmuckschilde. Andere schlugen Handtrommeln oder bliesen auf kunstvoll gewundenen Fanfaren. Mit ihrem Lärmen hatten die Kureten, die in alten Legenden ein Geschlecht von Bergdaimonen waren, einst die zornige Hera von der Geburt der Artemis abgelenkt. Sie hatten ihr Schicksal mit der Göttin verbunden, und so war es noch heute, denn die Priester des Kuretenkollegiums hatten sich vollkommen den Priesterinnen der Artemis unterworfen. Noch vor Sonnenaufgang hatten sie an diesem Morgen mit ihrem Lärmen den Festtag eröffnet. Es war der sechste Thargelion, der Geburtstag der Artemis, der heute in Ephesos gefeiert wurde, das bedeutendste Fest des Jahres. Ein Tag, an dem auch Dutzende von Hochzeiten begangen wurden, denn es hieß, daß jede Frau, die heute ihren Liebsten empfing, fruchtbar sein würde.

Philippos lächelte versonnen. Vielleicht würde auch er heute abend Glück haben, wenn sich die Dämmerung herabsenkte und das ausgelassene Treiben in den Straßen der Stadt seinen Höhepunkt erreichte.

Hinter den Kureten folgte der schwergewichtige Megabyzos, der Vorsteher des Tempels. Er trug ein langes, weißes Gewand, dessen Saum fast bis auf den Boden reichte. Obwohl er mehr als zehn Schritt entfernt vorbeiging, konnte Philippos ihm doch ansehen, wie erschöpft er war. Fast schien es, als halte er sich an der Kette aus dicken Bernsteinperlen fest, die er um seinen Hals geschlungen hatte, und kaum konnte er seinen mit einer hohen Tiara geschmückten Kopf aufrecht halten. Doch statt weiter über den Zustand des dicken Megabyzos nachzugrübeln, den die Prozession offenbar an die Grenzen seiner Kraft geführt hatte, musterte der Arzt jetzt lieber die Jungfrauen des Artemisions, die dem Tempelvorsteher folgten. Ein leiser Seufzer entfuhr Philippos. Es war, als hätten Nymphen und Nereiden sich zu einem Festzug vereint. Die Priesterinnen trugen allesamt kurze, strahlend weiße Gewänder, die ähnlich wie der Chiton ihrer Herrin geschnitten waren. Ja, sie schienen wahrhaft Abbilder der Artemis zu sein, der ebenso schönen wie unnahbaren Göttin der Geburt und der Jagd. Kaum verhüllte der dünne Stoff ihre schlanken, jugendlichen Körper. Manche der Priesterinnen trugen Bronzehelme mit schwarzen Pferdeschweifen und zeigten, begleitet von Flötenspiel, ausgelassene Waffentänze, eine Anspielung auf das kriegerische Volk der Amazonen, das einst in Ephesos den ersten Tempel der Göttin errichtete.

Was könnte schöner sein, als eines dieser wunderbaren Geschöpfe in den Künsten der Aphrodite zu unterweisen, dachte Philippos. Hirngespinste! Nervös leckte sich der Grieche über die trockenen Lippen. Die Priesterinnen der Artemis waren den Ephesern genauso heilig wie den Römern die Vestalinnen. Wer. ihnen auf unkeusche Weise nahe kam, der hatte sein Leben verwirkt. Womöglich würde sogar die Göttin selbst den Frevel strafen und einen ihrer todbringenden Pfeile vom Himmel hinabschießen. Ja, vielleicht empfand sie sogar seine Gedanken schon als Beleidigung. Artemis galt als sehr launisch… Philippos blickte zum strahlend blauen Himmel. Nicht eine Wolke zeigte sich, und es gab auch sonst keine beunruhigenden Zeichen.

Erleichtert wandte der Grieche sich wieder dem Festzug zu. Was verschwendete er seine Gedanken an die unerreichbaren Priesterinnen! Es gab auch genug hübsche Flötenspielerinnen und Tänzerinnen in der Stadt. Mit dem Gold, das er von Ptolemaios für seine Dienste erhielt, könnte er sich jedes Vergnügen kaufen! Allein ein Monat als Leibarzt des Königs brachte ihm mehr ein als ein ganzes Jahr in der Legion. Wenn er sich noch ein paar Jahre bei Hof halten konnte, dann hätte er ein Vermögen verdient und könnte als reicher Mann nach Athen zurückkehren.

Wie aus einem Munde erhob sich ringsherum Jubelgeschrei, und hundertfach wurde der Name der Göttin gepriesen. Das hölzerne Podest, auf dem die heilige Statue der Artemis getragen wurde, war in Sicht gekommen. Es war mit Blumen und Früchten geschmückt; kleine Tonfiguren, die Tiere zeigten, standen zu Füßen der Göttin, und sogar ein Schiff mit silbernen Segeln war ihr als Weihgabe dargebracht worden. Das menschengroße Holzbild, das zahllose Generationen von Priesterinnen mit heiligen Ölen gesalbt hatten, war über die Jahrhunderte schwarz wie die Nacht geworden. Die Epheser behaupteten, das Götterbild aus Rebenholz sei vor Äonen aus dem Himmel gestürzt, und es sei älter als ihre Stadt. Schon zu Zeiten den Königs Kroisos hatte es keinen Menschen mehr gegeben, der zu sagen wußte, wie alt die Statue sei. Das Gesicht der Artemisstatue wirkte kalt und abweisend, doch hielt die Göttin ihre Arme wie zum Willkommensgruß geöffnet. Vor dem von zwölf Männern getragenen Podest schritten die Chosmophoroi und die Speirophoroi, Priesterinnen, die den Schmuck und die Gewänder der Göttin trugen. Nur einmal im Jahr, zu ihrem Geburtstag, zeigte der Tempel das nackte, hölzerne Bild der Göttin. Ansonsten war Artemis in kostbare Gewänder aus parthischer Seide oder in feinstes Leinen, gefärbt mit Tyrener Purpur, gehüllt.

Mehr als zwanzig Priesterinnen waren nötig, um den Schmuck der Göttin zu tragen. Es waren goldene Armreife und Diademe, Perlenketten, Ohrgehänge aus hauchdünnen Goldplättchen und mit bunten Edelsteinen verzierte Gürtel. Philippos gingen schier die Augen über. Mit dem, was dieser Schmuck wert sein mußte, könnte man eine ganze römische Legion ausrüsten und auf ein Jahr lang besolden. Was Artemis wohl davon hielt, daß diese Ionier sie mit Gold behängten, so als sei sie eine parthische Prinzessin? Die Griechen der Provinz Asia waren schon ein seltsames Volk. Sie hatten die Prunksucht der Perser übernommen, und wenn man die Standbilder, die sie der Artemis errichteten, mit denen verglich, welche die Tempel der zivilisierten Welt schmückten, dann mochte man kaum glauben, daß es sich um ein und dieselbe Göttin handelte. Was hatten die Epheser nur aus der stolzen Jägerin in ihrem kurzen Chiton gemacht!

Unwillig blickte Philippos zu jener Priesterin hinab, die das seltsamste Kleidungsstück der Göttin trug. Es war ein breiter, bis unter die Brüste reichender Gürtel, auf den die gegerbten und mit Kräutern und Sägespänen aufgepolsterten Hodensäcke jener Stiere aufgenäht waren, die man der Artemis im Frühjahr geopfert hatte. Barbarisch! Wenn der Statue dieser Gürtel umgeschnallt war, dann sah es so aus, als habe sie zwei Dutzend Brüste. Doch was wollte man von korrumpierten Ioniern schon erwarten! Wer über Jahrhunderte mit den Persern paktiert hatte, konnte wohl von den seltsamen Gottesvorstellungen der Orientalen nicht unberührt bleiben.

Trotz seines Ärgers stimmte auch Philippos in das Jubelgeschrei zu Ehren der Göttin ein. Es war seine Artemis, die Herrin der Jagd und Geburt, deren Namen er laut hinausschrie. Ihr und nicht jenem Zerrbild, das die Epheser aus der jungfräulichen Göttin gemacht hatten, galt seine Verehrung.

Im Grunde genommen hatten die Ionier Artemis gestohlen. Jeder Gelehrte wußte, daß die Göttin auf Delos geboren worden war, doch die Epheser behaupteten frech, dies sei nicht wahr, und zeigten Besuchern einen Hain, in dem angeblich unter einem uralten Ölbaum Leto ihre Tochter Artemis entbunden hatte. So lange erzählten sie diese Lügengeschichte schon, daß unter den weniger Gebildeten längst ihre Variante als die Wahrheit galt, zumal sie der Göttin mit dem Artemision einen Tempel errichtet hatten, der – zumindest, was seine Größe anging – alle anderen Tempel der Welt übertraf. Achtzig Schritt breit und mehr als hundertdreißig Schritt lang war der gewaltige Bau. Ein wahrer Wald von Säulen trug das Gebäude. Am Eingang des Tempels waren die Säulen mit mannshohen Reliefs geschmückt, die der berühmte Bildhauer Skopas geschaffen hatte. Noch prächtiger aber waren die vier riesigen Amazonen, die das Tympanon, den Giebel, des Tempels schmückten. Alles an diesem Tempel erschien Philippos auf ketzerische Weise überproportioniert. Auch wenn man das Artemision zu den Sieben Weltwundern zählte, empfand er den Tempel nicht als schön.

Genausowenig wie bei ihrem monumentalen Bau kannten die Ionier auch nur die geringste Bescheidenheit, wenn es darum ging, den Machtbereich der Göttin zu erweitern. So war sie längst nicht nur Geburtshelferin und Jägerin, sondern auch eine Fruchtbarkeitsgöttin, die über das Gedeihen von Viehherden gebot. Ja, die Epheser sagten ihr sogar nach, daß sie den Seefahrern Schutz gewährte. Deshalb war die hölzerne Statue während der Prozession auch zum Hafen getragen worden, und die Chrysophoi, die Träger des Götterbildes, waren mit der Sänfte so weit ins Meer gegangen, bis die Wellen die Füße der Göttin umspülten. Allerdings gab es auch den einen oder anderen Aspekt während der Feierlichkeiten, den Philippos durchaus als eine Bereicherung betrachtete. So hatte es am Vortag in der Arena der Stadt Wettkämpfe und Pferderennen gegeben, und überall herrschte eine so ausgelassene Stimmung, wie man sie sonst nur bei einem Fest zu Ehren des Dionysos antraf.

Das Götterbild war längst auf der Prozessionsstraße vorbeigetragen worden, und nach einer weiteren Gruppe von Flötenspielerinnen und Tänzerinnen folgten die mit Girlanden und bunten Bändern geschmückten Stiere, die der Artemis geopfert werden sollten. Man hatte die zwanzig schönsten Bullen von den Weiden des Tempels ausgewählt und dazu noch fast hundert Ziegen. Sie alle würden auf dem von Mauern umgebenen Altar vor dem Tempelportal der Göttin dargebracht werden.

Philippos lief das Wasser im Munde zusammen, wenn er an all das Fleisch dachte, das bis zum Ende des Tages noch aufgetischt werden würde. Für den Tempel, also für die Priesterinnen und ihre Gäste, würden die besten Stücke zurückbehalten werden, während das übrige Fleisch vom Kollegium der Kureten nach einem strengen Ritual an die Vertreter der verschiedenen Stadtviertel von Ephesos weitergegeben würde. Jeder Bürger sollte einen Anteil am Fleisch der Opfertiere erhalten. Philippos dachte an seine Kindheit in Athen. Sein Vater war ein armer Töpfer gewesen, und es hatte nur sehr selten Fleisch in ihrem Haus gegeben. Doch jedes Jahr, wenn das Fest zu Ehren der Athene, der Schutzpatronin der Stadt, gefeiert wurde, hatten die Töpfer und Schmiede, so wie es von alters her ihr Recht war, das Hirn der Opferstiere erhalten. Als sei es erst gestern gewesen, konnte er sich daran erinnern, wie er und seine beiden Brüder vor der Tür ihres Hauses darauf gewartet hatten, daß der Vater mit einem blutigen Leinenbeutel die enge Gasse herunterkam, die zur Akropolis führte. Anschließend hatten sie nicht von der Seite ihrer Mutter weichen wollen, während sie an der Herdstelle das Mahl bereitete. Obwohl er heute manchmal die Ehre hatte, zu Gast an der Tafel des Ptolemaios zu sein, so hatte Philippos nur selten etwas zu essen bekommen, das ihm so köstlich mundete wie das gekochte Hirn und die frischen Brotfladen, die es an den Festtagen seiner Kindheit gegeben hatte.

Gedankenverloren blickte der Arzt dem hölzernen Götterbild nach. Für ein Jahr lang würde Artemis nun in das Allerheiligste des gewaltigen Tempels zurückkehren. Merkwürdig genug, daß diese Art des Kultes den Menschen des barbarischen Landes gefiel. Zu Tausenden kamen sie jedes Jahr in die Stadt, um den riesigen Tempel zu bewundern, und sie brachten ihr Geld mit und gaben es für allen möglichen Unsinn aus. Er konnte es durchaus verstehen, dachte Philippos, wenn man einen Monatssold beim Würfeln verspielte oder in Wetten bei einem Wagenrennen steckte. Auch eine schöne Hetaire war es wert, daß man sich großzügig zeigte. Doch wie man sein Silber für Ton- oder Elfenbeinfigürchen ausgeben konnte, die eine Nachbildung der mit Stierhoden behängten Artemis darstellten, das würde er niemals begreifen! Und doch konnte man überall in der Stadt kleine Skulpturen der Göttin kaufen oder auch kostbare, rotfigurige Amphoren und Schalen erwerben, die Szenen aus dem Leben der Göttin zeigten.

Es war etwas anderes, wenn man ein schönes Weihgeschenk kaufte und es der Göttin stiftete. Er selbst hatte dies vor einigen Wochen erst getan, und Philippos war sicher, daß die Göttin schon wußte, daß er nicht dem seltsamen Irrglauben der Epheser anhing. Einen halben Monatslohn hatte er für eine silberne Fibel ausgegeben, die als Gewandschmuck der Göttin dienen mochte. So, wie man einen Herrscher beschenkte, um sich seiner Gunst zu vergewissern, so war es auch bei den Göttern klüger, nie geizig und selbstherrlich zu erscheinen. Sie waren launisch und vermochten einem das Leben durch allerlei Schicksalsschläge zu erschweren. Schließlich konnte allein Artemis wissen, wie lange der Hofstaat des Ptolemaios noch auf dem Gelände ihres Heiligtums Zuflucht suchen mußte. So wie die Dinge standen, würde der König nicht aus eigener Kraft, sondern nur mit Hilfe römischer Waffen seinen Thron zurückerobern können.

Philippos betrachtete die kleine Schar Ergebener, die Ptolemaios in den zwei Jahren, die er nun schon fern von Ägypten war, die Treue gehalten hatte. Es waren erschreckend wenige! Doch zum Glück gab es auch noch andere, die offenbar fest mit der Rückkehr des Herrschers rechneten. Vor ein paar Wochen erst war eine Gesandtschaft von Priestern aus einem Tempel tief im Süden des Landes nach Ephesos gekommen, um sich mit Ptolemaios zu beraten, und vor drei Tagen hatte eine Galeere kostbare Geschenke aus der Hafenstadt Tyros gebracht, mit der sich die dortigen Handelsherren der Neigung des Herrschers versichern wollten. Es lag allein bei Aulus Gabinius, dem römischen Proconsul von Syrien, ob Ptolemaios wieder in Alexandria herrschen würde. Noch wartete der Römer geduldig auf einen Befehl des Senats für diesen Feldzug, doch vielleicht würde schon bald die Verlockung des ägyptischen Goldes so groß werden, daß er es auch ohne diesen Befehl wagte, seine Legionen in Marsch zu setzen. Das war es, worauf der König hier in Ephesos wartete!

In der Nähe des Herrschers war Unruhe unter den Hofbeamten entstanden. Philippos konnte von seinem Platz aus nicht genau einsehen, was geschah. Es schien, als sei jemand gestürzt, und Batis, der nubische Leibwächter, baute sich schützend neben Ptolemaios auf. Es konnte keinen Zweifel mehr geben,A daß es auf der Treppe zu einem Handgemenge gekommen war! Wild um sich schlagend bahnte sich einer der Hofbeamten seinen Weg zur Prozessionsstraße. Schon waren auch einige der Tempelsklaven, die an blumenumwundenen Stricken die Opferstiere führten, auf den Mann aufmerksam geworden.

Was zum Zeus ging dort vor sich! Philippos reckte den Hals, um den Mann besser erkennen zu können, der sich wie ein Besessener gebärdete. Wie fast alle Beamten trug auch er eine Perücke, dazu Goldschmuck und ein langes weißes Gewand. Sein Gesicht jedoch war von Philippos abgewandt. So als sei er betrunken, taumelte der Ägypter hin und her. Mit wilden Schreien preßte er sich die Hände auf das Gesicht. Jetzt rempelte er einen der Tempelsklaven an. Einer der Stiere schnaubte unruhig. Man hatte den Tieren vor der Prozession ein wenig Schlafmohn unter das Futter gemischt, damit sie sich nicht vor dem Lärm und den Menschenmassen erschreckten, doch mit einer solchen Situation hatte keiner rechnen können.

Endlich konnte Philippos einen Moment lang das Gesicht des Tobenden sehen. Es war blutüberströmt, so als habe er sich die Haut von den Wangen gezogen. Offenbar konnte er nicht mehr sehen. Er taumelte direkt auf einen Stier zu und begann, mit seinen Fäusten auf den Rücken des Tieres einzuschlagen. Wild schnaubend riß der Stier seinen Kopf hoch, und dem Sklaven, der ihn begleitete, glitt das Seil aus den Händen, an dem er das mächtige Tier geführt hatte. Ungestüm mit den Hufen auskeilend, verschaffte sich die Bestie Platz. Panik breitete sich unter den Tempelsklaven aus. Auch andere Stiere zerrten schon an ihren Halsschlingen. Das von dem Wahnsinnigen aufgescheuchte Tier verfiel in Trab und stürmte die Prozessionsstraße hinunter auf das Götterbild zu.

Philippos hielt den Atem an. Wenn der Stier das Bild der Artemis zum Stürzen brachte, dann hatten vermutlich alle Ägypter in der Stadt ihr Leben verwirkt! Diese Schmach würden die Göttin und die Epheser nicht ungestraft hinnehmen! Die Jubelrufe waren verstummt. Einige beherzte Männer versuchten, sich dem Stier in den Weg zu stellen. Der erste von ihnen wurde von den Hörnern der Bestie zu Boden geschleudert. Kreischend stoben die Tänzerinnen auseinander, die die Marschkolonne hinter der Artemisstatue bildeten. Keine zehn Schritt trennten den tobenden Stier jetzt noch von der Trage. Fünf oder sechs Männer hingen an seinem Hals, um das Ungetüm zum Stehen zu bringen.

Von weiter vorne waren jetzt einige Priesterinnen herbeigeeilt, und selbst der Lärm, den die Kureten an der Spitze des Zuges veranstaltet hatten, war mittlerweile verstummt. Endlich gelang es, den Stier aufzuhalten!

Eine riesige Gestalt drängte sich die Tempelstufen hinab und hef auf die Straße. Es war Batis, der Leibwächter des Königs! Der hünenhafte Nubier setzte dem Störenfried nach, während gleichzeitig von allen Seiten Männer aus der Menge herbeieilten, um den Wahnsinnigen zu ergreifen. Doch noch bevor einer von ihnen den Ägypter erreichte, brach der Wahnsinnige plötzlich in die Knie und schlug lang auf den Boden, so als habe ihn ein Donnerkeil des Zeus gefällt. Erschrocken wichen die Bürger und Kureten ein Stück vor ihm zurück. Nur Batis kniete sich an seiner Seite nieder und legte seine mächtige Hand auf die Brust des Wahnsinnigen.

Was mochte nur mit dem Mann los sein? Auch Potheinos, der oberste Eunuch des Pharaos, war inzwischen die Treppe des Tempels hinabgestiegen. Unterwürfig verbeugte er sich vor den Priestern und begann dann, gestikulierend auf die Kureten einzureden.

Ringsherum war das Lärmen der Bürger verstummt. Diejenigen, die den Ägypter aus der Nähe gesehen hatten, wirkten verstört. Andere wiederum hatten die Gesichter ängstlich zum Himmel erhoben, so als sähen sie in der Unterbrechung der feierlichen Prozession ein Vorzeichen der Artemis. Nur das schrille Kreischen der Möwen, die unablässig um den von himmelhohen Säulen getragenen Tempel der Göttin kreisten, und die Stimme des Potheinos waren zu hören.

Schließlich breitete einer der Kureten mit gebieterischer Geste die Arme aus. »Der Frevler ist tot! Die Ehre der Göttin ist wiederhergestellt. So rühmet nun die Artemesia Ephesia, die Herrin unserer Stadt!« Die Stimme des Mannes klang durch seine tönerne Daimonenmaske so dunkel und unheimlich, als spräche ein Bote des Hades.

Einen Augenblick noch währte Stille. Die Menschen konnten die Worte des Priesters kaum fassen. Dann rief irgendwo in der Menschenmenge eine Frau den Namen der Göttin, und als sei ein Bann gebrochen, stimmten Hunderte in ihren Jubelschrei ein.

Inzwischen hatte Batis den gestürzten Hofbeamten auf seine Arme genommen. Zwei Kureten geleiteten ihn an den Stufen des Tempels vorbei durch die Reihen der dichtgedrängten Zuschauer. Leblos hing der Körper des Hofbeamten in den Armen des Nubiers, und jetzt endlich konnte der Arzt das Gesicht des Mannes erkennen, der für die ganze Aufregung gesorgt hatte. Es war Buphagos, der Mundschenk des Pharaos. Der Makedone mit seinem runden Gesicht war Philippos nie sonderlich aufgefallen. Er war ein unscheinbarer Mann gewesen, und soweit der Grieche dies beurteilen konnte, war Buphagos auch nicht in die Intrigen am Königshof verwickelt. Was, bei den Göttern, mochte ihn nur dazu gebracht haben, sich wie ein Besessener zu gebärden und die Prozession zu stören? Die Epheser hatten dem König und seinem Hofstaat Asyl gewährt, nachdem Ptolemaios wegen der Morde an den Gesandten seiner Tochter Berenike gezwungen gewesen war, Italien zu verlassen. Doch würden sie ihn nach diesem Zwischenfall noch länger in ihrer Stadt dulden?

Der Prozessionszug hatte sich inzwischen neu formiert. Einmal noch sollte das Bild der Göttin um den riesigen Tempel herumgetragen werden, dann würde man Artemis wieder in ihre kostbaren Gewänder hüllen und zum Giebel des Tempels hinauftragen, von wo aus sie der Opferung der ihr geweihten Stiere und Ziegen beiwohnen würde.

Den ganzen Weg über hatte Philippos kein Wort herausgebracht. Verärgert musterte Samu den mürrischen Griechen aus den Augenwinkeln. Wenn er glaubte, er könne seine schlechte Laune an ihr auslassen, dann hatte er sich geirrt. Sie war erst vor zwei Wochen aus Pompeji nach Ephesos gekommen, doch hatte sie sich in der kurzen Zeit schon mehr als genug über ihn geärgert. Dieser aufgeblasene ehemalige Legionsarzt spielte sich auf, als sei er Hippokrates persönlich. Als neuer Leibarzt des Ptolemaios glaubte er, sie gängeln zu können, und wann immer sie auch nur einen Kräutertrunk gegen eine Magenverstimmung ansetzte, meinte er, sich einmischen zu müssen. Selbst in die Erziehung Kleopatras hatte er ihr schon hineingeredet! Der Grieche hatte doch tatsächlich die Unverschämtheit besessen, der Kleinen zu erklären, als Prinzessin mit makedonischem Blut sei es viel wichtiger für sie, Zeus und Athene zu opfern, statt den tierköpfigen Göttern eines Barbarenlandes.

Daß sie beide jetzt nicht an dem Bankett teilnehmen konnten, von dem Philippos schon seit Tagen redete, bereitete Samu eine gewisse Genugtuung. Ihr bedeutete der Festschmaus nichts, doch dem Griechen war das Gelage aus ihr unerklärlichen Gründen sehr wichtig gewesen.

Potheinos hatte ihnen beiden den Befehl gegeben, sich den toten Mundschenk noch einmal genauer anzusehen. Samu kannte den Berater des Pharaos als kaltblütigen Machtmenschen, der auch vor Morden nicht zurückschreckte, wenn es für ihn darum ging, seine Ziele zu erreichen. Doch als er ihnen den Befehl zur Leichenschau gegeben hatte, wirkte er aufgewühlt, ja sogar regelrecht erschüttert. Ganz so, als habe er etwas Unglaubliches gesehen! Der Eunuch war leichenblaß gewesen, und während er mit ihnen sprach, hatte Samu bemerkt, wie seine Hände zitterten.

»Hier ist es!« Der Priester, der sie und Philippos geführt hatte, wies auf einen niedrigen Stall. »Dort drinnen haben wir ihn aufgebahrt.«

»Na schön«, rief Philippos. »Dann schauen wir uns Buphagos kurz an und erledigen unsere leidige Pflicht. Wir müssen hier ja nicht mehr Zeit verbringen als unbedingt notwendig. Ich bin Arzt: mit Toten habe ich nichts zu schaffen!« Ein wenig steif trat er in den Stall, aus dem ihnen der herbe Geruch von Stroh und Urin entgegenschlug.

»Was ist mit dir? Willst du hier draußen warten?« fragte Samu den jungen Priester.

Der Mann wich ihrem Blick aus. »Ich muß dort nicht hinein. Ich habe ihn schon gesehen… Meine Aufgabe war allein, Euch hierher zu bringen, Herrin.«

Ohne weiter auf den Kureten zu achten, trat die Isispriesterin in das Zwielicht des langgestreckten Baus. Ein paar Schritt vor ihr kniete Philippos am Boden und untersuchte Buphagos, den man auf eine alte Pferdedecke gebettet hatte. Weiter hinten im Stall erklang das unruhige Schnauben eines Stiers.

Samu ließ sich neben dem Griechen nieder und betrachtete das Gesicht des toten Mundschenks. Seine Züge waren so gräßlich entstellt, als hätte er im Augenblick des Todes die schrecklichsten Qualen erlitten. Aus seinen Augen war ihm Blut auf die Wangen gelaufen.

»Was glaubst du, woran er gestorben ist?«

Philippos schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Er hat keine Wunden!«

»Und das Blut?«

»Ich kann es nicht sagen. Es sieht aus, als habe er blutige Tränen geweint. Ich konnte keine Verletzungen an seinen Augen finden. Nur ein paar ganz leichte Schrammen, doch die scheint er sich selbst beigebracht zu haben. Es sieht fast so aus…« Der Arzt verstummte.

»Was? Wonach sieht das aus?« Samu beugte sich über den Toten. In dem schlechten Licht konnte man nicht recht sehen, ob er nicht doch kleine Wunden an den Augenlidern hatte. Zumindest waren seine Augäpfel unverletzt. Samu griff nach einem Zipfel der Pferdedecke, spuckte darauf und machte sich daran, das Blut und die dicke, schwarze Schminkpaste um die Augen das Mundschenks abzuwischen.

»Die Göttin. Er hat sie beleidigt…«

Die Priesterin blickte zu Philippos auf. Die Stimme des Griechen war kaum mehr als ein Flüstern, und er machte ein Gesicht, als säßen ihm die Erinnyen im Nacken. »Du glaubst, Artemis hat ihn getötet?«

Der Arzt nickte. »Man sagt, daß Menschen, die plötzlich sterben, ohne daß es irgendeine erkennbare Ursache für ihren Tod gibt, von den Pfeilen der Artemis getroffen wurden. Sie ist eine Jägerin und oft launisch. Kein Gott des Olymp versteht es, mit Pfeil und Bogen so umzugehen wie sie. Sieh dir nur Buphagos an! Schau in seine Augen! Sie bluten, ohne daß er eine Wunde hätte. Die Pfeile der Göttin haben ihn in die Augen getroffen. Vielleicht hatte er getrunken und ist deshalb auf den Prozessionsweg getaumelt? Das wäre für die Jägerin sicher schon Grund genug, ihn zu richten.«

Samu beugte sich über das Gesicht des Toten. »Er riecht nicht nach Wein. Es paßt auch nicht zu ihm. Solange ich Buphagos kenne, habe ich ihn noch nie betrunken erlebt.«

»Vielleicht hat er irgend etwas anderes eingenommen? Du weißt nur zu gut, wie viele Kräuter es gibt, die einem noch wesentlich mehr die Sinne verwirren als ein paar Becher Wein.«

Die Priesterin schüttelte den Kopf. »Diese Kräuter, wie du sie nennst, bringen die Menschen den Göttern näher. Außerdem hat der Mundschenk schon vor Schmerzen geschrien, als er von den Stufen des Tempels taumelte. Wenn er wirklich durch die Pfeile der Artemis gestorben ist, dann hat die Göttin ihn jedenfalls nicht dafür bestraft, daß er die Prozession gestört hat.«

Philippos strich sich über den Bart und schüttelte leicht den Kopf. »Aber was könnte er getan haben? Weißt du, ob er in die Intrigen des Potheinos verwickelt ist?«

Die Isispriesterin zuckte mit den Schultern. »Ein wirklich guter Intrigant zeichnet sich dadurch aus, daß jeder ihn für harmlos hält.« Es war weniger der Tod des Mundschenks, der ihr Sorge machte, als vielmehr die Konsequenzen, die daraus für Ptolemaios und alle, die mit ihm nach Ephesos gekommen waren, erwachsen konnten. Was geschah, wenn die Priesterinnen der Artemis ebenfalls zu der Überzeugung kamen, daß Buphagos von den Pfeilen der Göttin gerichtet worden war? Würden sie Ptolemaios dann vertreiben? Oder würde womöglich gar Schlimmeres geschehen? Es waren keine dreißig Jahre vergangen, seit die Epheser in einer einzigen Nacht alle Römer ermordet hatten, die sich in ihrem Herrschaftsbereich aufhielten. Auch der sonst so sichere Asylbereich rund um das Artemision hatte in dieser Blutnacht keinen Flüchtling zu schützen vermocht. Allein die Götter wußten, ob es ihnen nicht schon bald ähnlich ergehen würde. Immerhin hatte Buphagos das heiligste Fest der Göttin gestört und hatte daraufhin auf rätselhafte Weise sein Leben verloren. Es war schon aus unbedeutenderen Anlässen zu Volks aufständen gekommen.

Die Isispriesterin erhob sich. »Wir sollten den Leichnam des Mundschenks von hier fortbringen lassen. Es ist besser, wenn die Priester der Göttin ihn sich nicht anschauen. Sie könnten vielleicht ebenfalls zu der Überzeugung kommen, daß Buphagos von unsichtbaren Pfeilen getötet wurde. Außerdem möchte ich ihn mir morgen noch einmal bei besserem Licht anschauen. Vielleicht gibt es ja etwas, das wir übersehen haben.«

Philippos nickte heftig. Er war ganz offensichtlich erleichtert, von dem Toten wegzukommen. Schweigend verließen die beiden den Stall. Womit nur konnte sich Buphagos den Zorn der Göttin zugezogen haben, fragte sich Samu. Soweit sie wußte, hatte der Mundschenk auch nicht seltener als andere Hofbeamte den Göttern geopfert. Überhaupt war er eine recht unscheinbare Gestalt gewesen. Es mochte schwerlich jemanden geben, dem Buphagos Anlaß gegeben haben könnte, über einen Mord nachzudenken, geschweige denn, ihn auszuführen. Samu überlegte, ob vielleicht Berenike mit dem Tod des Mundschenks in Verbindung stand. Doch wenn sie über die Macht verfügte, auf so geheimnisvolle Weise töten zu lassen, würde sie sich dann für ihre Anschläge nicht lohnendere Opfer suchen? Der Tod des Pharaos zum Beispiel würde sie als älteste Tochter zur legitimen Thronfolgerin machen. Auch ihre Geschwister, die gemeinsam mit Ptolemaios aus Ägypten geflohen waren, wären attraktivere Ziele für einen Mordanschlag gewesen als ein bedeutungsloser Mundschenk. Der Mord an ihm konnte der Tyrannin keinen Vorteil bringen, und es machte folglich keinen Sinn, sie als Urheberin zu sehen. War es also doch Artemis, die Buphagos getötet hatte? Bei dem Gedanken an die zornige Göttin fröstelte es Samu.

Der Mond stand schon hoch am Himmel, als Ptolemaios Samu und Philippos in einer kleinen Kammer neben seinem Schlafgemach empfing. Der Raum war schlicht eingerichtet. Es gab zwei Stühle und einen zierlichen Tisch. Der König lag auf einer breiten, mit Kissen und Decken aufgepolsterten Kline, die bei jeder Bewegung seines massigen Körpers bedenklich knirschte. Zwei flackernde Öllämpchen tauchten die Kammer in ein unstetes, gelbliches Licht, in dem die Wandbilder, die die Geschwister Artemis und Apollon auf der Jagd zeigten, seltsam lebendig erschienen.

Mit geübter Geste raffte Philippos den Saum seiner Toga, Heß sich auf die Knie nieder und beugte sich so weit vor, daß er mit der Stirn fast den Boden berührte. Noch vor einem Jahr hätte er jedem mit Prügel gedroht, der behauptet hätte, er würde einst vor einem orientalischen Tyrannen niederknien. Doch was tat man nicht alles für einen prall gefüllten Geldbeutel… Es war halt die übliche Art, wie man in Ägypten einen Gott begrüßte, denn nichts anderes war Ptolemaios nach dem Glauben des Nilvolkes. »Ich neige mein Haupt in Demut vor Euch, mein König und Gott.«

Einen Sterblichen Gott zu nennen, kostete Philippos immer noch Überwindung. Diese verrückten Orientalen! Wenn er eines Tages als reicher Mann nach Athen zurückkehrte, würden seine Freunde mit ihm in schallendes Gelächter ausbrechen, wenn er ihnen erzählte, daß er einmal Leibarzt eines Gottes gewesen war. Der Grieche schmunzelte und blickte verstohlen zu Samu hinüber, die neben ihm niedergekniet war. Das Gesicht der Ägypterin zeigte keinerlei Regung, doch Philippos wußte nur zu gut, daß sie den Pharao seit den Ereignissen in Rom zutiefst verachtete. Sie würde sich zwar nie gegen ihren Gott erheben, doch vermied die Priesterin es nach Möglichkeit, dem König zu begegnen. Seit ihrer Rückkehr aus Italien widmete sie sich ganz der Erziehung von Prinzessin Kleopatra. So wie die Dinge im Moment standen, würden die Kleine und ihr jüngerer Bruder Ptolemaios XIII. verheiratet, sobald der König nach Ägypten zurückkehrte. Insgeheim hoffte Philippos, daß es nie so weit kommen würde. Es war schon übel genug, sich vor einem alten Fettsack zu demütigen. Vor diesem jungen Weib würde er niemals auf den Knien herumrutschen!

»Erhebt euch«, schnaufte Ptolemaios müde. »Ich hoffe, ihr könnt uns erklären, was heute nachmittag mit Buphagos geschehen ist. Unsere Gastgeber sind, gelinde gesagt, befremdet über den Zwischenfall. Die Hohepriesterin und der Protokures, der Vorsteher der Kureten, wollen morgen den Leichnam des Mundschenks persönlich in Augenschein nehmen. Wir hoffen, daß dies nicht zu weiteren Verwicklungen führen wird! Unser gemeinsames Opfermahl heute abend war schon unerfreulich genug. Kaum jemand hat gesprochen, und selbst die Tänzer und Flötenspielerinnen schienen bedrückt. Jedermann scheint diesen dummen Zwischenfall als ein böses Omen aufzufassen…«

Philippos schluckte. Er verspürte nicht die geringste Lust, dem Neuen Dionysos das Ergebnis ihrer Leichenschau vorzutragen. Bei diesen Ägyptern wußte man nie, wie sie reagieren würden… Erwartungsvoll sah der Herrscher sie an. Auch Samu schwieg. Hatte sie dieselben Befürchtungen wie Philippos? Mit jedem Atemzug wurde die Stille bedrückender. Schon runzelte der König verärgert die Stirn, da endlich räusperte sich Samu und nahm es auf sich, dem Herrscher die unerfreulichen Ergebnisse ihrer Untersuchung mitzuteilen.

Während die Priesterin pathetisch von den blutigen Tränen des Buphagos erzählte, schweiften Philippos' Gedanken zu den Ereignissen des Nachmittags ab. Was mochte der Mundschenk nur getan haben, um so bestraft zu werden? Der Arzt erinnerte sich, wie sich Buphagos, als sie alle gemeinsam mit dem König zum Artemision gegangen waren, aus der Gruppe der Höflinge gelöst hatte, um noch einmal zu der Villa zurückzukehren, die die Hohepriesterin des Tempels Ptolemaios als Residenz zur Verfügung gestellt hatte. Was immer Buphagos dort getan haben mochte, es hatte nicht lange gedauert. Schon wenig später war er wieder zurückgekehrt und hatte seinen Platz unter den anderen Höflingen eingenommen. Vielleicht war Buphagos ja von einem der Haussklaven beobachtet worden, überlegte Philippos. Er sollte sich auf jeden Fall morgen umhören, ob jemand den Mundschenk bei seiner Rückkehr zur Villa beobachtet hatte. Wenn es ihm ganz allein gelang, das Rätsel um den Tod des Hofbeamten zu lösen, würde sich der König ihm sicher erkenntlich zeigen. Ptolemaios konnte ein sehr großzügiger Mann sein, wenn…

»Und was meinst du dazu?«

Philippos schreckte aus seinen Gedanken auf. Der Neue Dionysos wirkte gereizt, und seine Stimme klang schrill. Worüber er wohl mit Samu gesprochen haben mochte? »Ich, ähm… Ich kann mich den Worten der ehrwürdigen Priesterin nur anschließen. Sie hat mit ihren Ausführungen vollkommen recht.«

»Möge die Große Schlingerin diesem nichtsnutzigen Mundschenk den zweiten Tod schenken«, fluchte der König leise vor sich hin. »Was fällt ihm ein, uns mit seinem Ableben solchen Ärger zu machen!«

Philippos atmete erleichtert auf. Offenbar hatte er die richtigen Worte gefunden. Mit einem stummen Gebet dankte er Athene für ihre Eingebung.

»Glaubst du, daß die Hohepriesterin und der Protokures zu demselben Ergebnis wie ihr kommen werdet?« Der König blickte jetzt wieder zu Samu.

»Ich muß Euch, Göttlicher, noch einmal darauf hinweisen, daß ich den Toten nicht im hellen Tageslicht untersuchen konnte. Vielleicht habe ich etwas übersehen. Sicher ist jedoch — und das wird auch unser kampferprobter Legionsarzt bestätigen können –, daß Buphagos keine auffälligen Verletzungen an den Augen hatte, obwohl er blutete.«

Philippos nickte zustimmend und warf Samu gleichzeitig einen bösen Blick zu. Er wurde nicht gerne an seine Vergangenheit als Legionsarzt erinnert. Die Chirurgen der römischen Armee standen in dem Ruf, bessere Metzger zu sein, und auch wenn er auf den Feldzügen einige hervorragende Wundärzte kennengelernt hatte, so war es alles andere als eine Empfehlung, als kampferprobter Legionsarzt bezeichnet zu werden.

»Und was wäre, wenn ihr dem Toten ein paar Wunden beibringt?«

»Ich bin Heilerin, Göttlicher«, entgegnete die Isispriesterin kühl. »Als Leichenschänderin besudele ich die Würde meines Priesterinnenamtes.«

Philippos verschlug es fast den Atem. Dieses verrückte Weib! Wie konnte sie wagen, so mit dem König zu sprechen. War sie lebensmüde? »Es gibt noch ein viel wesentlicheres Problem, Eure göttliche Majestät«, mischte sich der Arzt ein, bevor Ptolemaios Gelegenheit fand, auf Samus Unverschämtheit einzugehen. »Denkt an die beiden Kureten, die Batis begleitet haben, als er Buphagos weggetragen hat. Die zwei müssen den Toten genau gesehen haben. Sie würden es erkennen, wenn wir ihm nachträglich Wunden beibringen würden, die seinen plötzlichen Tod erklären. Auf diese Weise schaffen wir uns nur neue Probleme, denn dann müßten sich die Hohepriesterin und die anderen Leichenbeschauer fragen, wer den Buphagos verstümmelt hat und warum dies geschah.«

»Wenn wir deinen Worten folgen, dann werden die Hohepriesterin und der Protokures zu dem Schluß kommen, daß Artemis unseren Mundschenk getötet hat. Du bist dir darüber im klaren, was das bedeutet? Von da an wird sich jeder Priester die Frage stellen, ob der Tod des Mundschenks ein Zeichen der Göttin ist. Du weißt, daß wir nicht nur Freunde hier im Tempel haben. Unsere Feinde werden überall verbreiten, daß die Göttin mit der Tötung eines unserer Vertrauten ein Zeichen gegeben hat, daß sie gegen unsere Anwesenheit im Tempelbereich ist. Wir müßten also wieder fliehen!«

»Vielleicht solltet Ihr auf die Weisheit der Göttin und ihrer Priesterinnen vertrauen. Artemis wacht über dieses Land, so wie Isis über Ägypten wacht.«

Ptolemaios warf Samu einen bösen Blick zu. »Und hat Isis uns vor den Ränken unserer Tochter bewahrt? Nein, die Götter haben mit ihresgleichen mehr als genug zu tun, um sich um die Belange der…«

»Ihr seid ein Gott, Neuer Osiris! Isis ist Euer Weib, und sie wird Euch wieder zu sich führen.«

»Genug, Priesterin! Euch beiden ist es erlaubt, zu gehen!«

Philippos hätte Samu erschlagen können! Wenn sie unbedingt den Zorn des Pharao auf sich herabbeschwören wollte, gut, aber wenn sie ihn in ihrer Verbohrtheit mit sich riß… Mit unterwürfiger Miene verbeugte sich der Grieche vor Ptolemaios und verließ rückwärtsgehend den Raum. In den letzten Monaten hatte er sogar schon gelernt, wie man dabei die Tür in den Blick bekam, ohne allzusehr den Kopf verdrehen zu müssen und dadurch eine schlechtere Figur zu machen als die im Palast geborenen, blasierten Speichellecker, mit denen der König sich umgab. Sollte all dies jetzt vorbei sein? Wegen einer Frau?

Diese Priesterin! Er mußte sich beherrschen, nicht vor Wut die Hände zu Fäusten zu ballen. Alles, was er wollte, war, sich mit ein paar Jahren, die er vor diesem feisten Möchtegerngott buckelte, einen ruhigen Lebensabend als reicher Mann zu sichern. Und sie? Sie machte mit ihrem törichten Gerede alles zunichte. Sie beleidigte den König, und beide wurden sie hinausgeworfen! Sollte Zeus sie doch in die finstersten Abgründe des Hades schleudern, diese eingebildete Priesterin!

Inzwischen hatten die beiden den Innenhof des kleinen Palastes erreicht, in dem Ptolemaios und sein Gefolge untergebracht waren. Die weitläufige Villa lag am Westhang eines kleinen, langgezogenen Hügels, der sich kaum zweihundert Schritt vom Artemistempel entfernt erhob.

»Dieser Narr, er sollte nicht glauben, daß er die Hohepriesterin täuschen kann! Er macht alles nur noch schlimmer«, grollte Samu leise.

»Und du?« Philippos war mit seiner Geduld am Ende. »Hast du eigentlich einmal darüber nachgedacht, was du mir gerade angetan hast? Ptolemaios hat mir vertraut! Jedenfalls bis heute abend. Es ist mir gleichgültig, wenn du deine Gunst bei ihm verspielst und er dir eines Nachts Batis schickt, um sich ein für alle Mal von deinen aufrührerischen Reden zu erlösen, aber zieh nicht mich in diese Sache hinein!«

Samu lächelte zynisch. »Wie sagtest du auch gleich? Ich kann mich den Worten der ehrwürdigen Priesterin nur anschließen. Sie hat mit ihren Ausführungen vollkommen recht. Was wundert es dich, wenn er dir nach solchen Reden unterstellt, daß du mit mir einer Meinung bist.«

»Was zum Henker hast du ihm erzählt?«

Die Priesterin zog eine spöttische Grimasse. »Was soll die Frage? Hast du mir vielleicht nicht zugehört?« Sie lachte.

»Ich habe dem Neuen Osiris erklärt, daß ich es für durchaus möglich halte, daß Artemis Buphagos getötet hat. Doch wenn die Göttin ihn gerichtet hätte, dann hätte sie dafür auch einen Grund gehabt. Ich sagte, daß, wenn es gelänge, die Ursache für sein Ableben herauszufinden, wir mit Sicherheit auch die Priesterinnen der Artemis davon überzeugen können, daß unser göttlicher Pharao nichts mit den Freveln seines Mundschenks zu tun hat. Dem hast du zugestimmt.«

Philippos erbleichte. »Und wenn er doch etwas mit den Machenschaften des Buphagos zu tun hatte?«

»Dann war es, gelinde gesagt, undiplomatisch von dir, dich meiner Meinung anzuschließen, ohne mir auch nur zugehört zu haben. Doch diese Entscheidung hast du getroffen, und ich trage keine Verantwortung dafür. Ich wünsche dir nun eine gute Nacht, mein Freund. Du solltest auch lieber zur Ruhe gehen. Du machst keinen sehr gesunden und ausgeglichenen Eindruck auf mich.« Abrupt wandte sie sich ab und ging über den Hof davon, ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen. Diese Hexe! Fassungslos starrte der Grieche der Priesterin hinterher. Er hätte schon vor einem halben Jahr in Rom zu einer etruskischen Striga gehen sollen, um sie verfluchen zu lassen. Mit diesem Weib würde es niemals Frieden in seinem Leben geben! Vielleicht sollte er das morgen nachholen. Außerhalb des Tempelgeländes gab es eine kleine Zeltstadt, in der Propheten, Hexen und Magier ihre Dienste anboten. Es würde nicht schwer sein, dort jemanden zu finden, der die Priesterin für ein paar Goldstücke mit einem machtvollen Fluch belegte!

Niedergeschlagen überquerte Philippos den kleinen Hof und ging zu seinem Zimmer. Er war müde, und doch hatte er das Gefühl, daß er keinen Schlaf finden würde. Irgendwo in der Villa erklang melancholisches Flötenspiel. Auch der König war noch wach.

2. KAPITEL

 

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Samu! Wach auf!«

Müde blinzelte die Isispriesterin den Schlaf aus den Augen und drehte sich auf der schmalen Kline herum. Neben ihr stand Kleopatra. Obwohl das grauè Morgenlicht noch so schwach war, daß es kaum die Kammer zu erhellen vermochte, war die Prinzessin bereits vollständig angekleidet und geschminkt, ganz so, als sei sie schon seit mindestens einer Stunde auf den Beinen.

»Endlich wirst du wach. Du schläfst wie ein Stein, alte Frau.«

Kleopatra lachte. »Sollst du nicht Isis jeden Morgen bei Sonnenaufgang mit einem Gebet begrüßen?«

»Die Göttin wird es mir nachsehen, denn ich habe bis tief in die Nacht in ihrem Dienst gewacht.« Die Priesterin streckte sich und schlug die dünne Leinendecke zur Seite. »Was treibt dich kleine Furie eigentlich so früh heraus. Hast du wieder einmal Liebeskummer?«

Die Prinzessin machte eine wegwerfende Geste. »Falls du auf Phrygius anspielst, das ist längst vorbei. Ich werde mich nie wieder in einen Sklaven verlieben. Richtige Männer sind wesentlich interessanter und… Doch darum geht es jetzt nicht. Du mußt unbedingt mit mir zum Tempel hinuntergehen!«

Samu musterte die Prinzessin besorgt. Kleopatras Bemerkung über richtige Männer gab ihr zu denken. Nicht, daß sie mit ihren vierzehn Jahren zu jung gewesen wäre, das Lager mit einem Liebsten zu teilen, doch zweifelte die Priesterin daran, daß die Prinzessin schon wußte, wie man sich vor den möglichen Konsequenzen eines solchen Abenteuers schützen konnte. Sie sollte dringend mit Kleopatra über die Wirkungen gewisser Kräuter reden! »Was erwartet mich denn am Tempel? Ist dein neuer Liebster vielleicht ein Priester?«

»Unsinn!« Die Prinzessin schüttelte energisch den Kopf. »Ich habe die Sklaven heute morgen in der Küche reden gehört. Irgend etwas Unheimliches muß beim Tempel geschehen sein. Man sagt, daß Thanatos, der Todesgott, aus einem der Marmorfriese gestiegen sei und einen Mann enthauptet habe.«

Samu war mit einem Schlag hellwach. »Was für einen Mann? Ist der Mord wirklich direkt vor dem Tempel geschehen?«

Kleopatra zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Die Sklaven haben nur behauptet, daß der Tote wie ein Ägypter gekleidet sei. Hassen uns die Götter dieser Stadt, Samu? Hat mein Vater ihnen ein Unrecht getan?«

Die Priesterin unterdrückte einen Fluch und schwang sich vollends von der Kline. Sie haßte den Moment, an dem sie morgens ihre nackten Füße auf den kalten Steinboden aufsetzte. Rasch schlüpfte sie in ihr langes weißes Priesterinnengewand, verknotete es kunstvoll vor der Brust und streifte dann ihre Sandalen über.

»Wirst du mich mitnehmen?«

»Ich weiß nicht, ob ein toter Mann der rechte Anblick für eine Prinzessin ist.«

»Aber mein Vater hat mir auch schon erlaubt, bei Hinrichtungen anwesend zu sein. Er meint, ich sollte den Anblick des Todes kennen, um auf den Tag vorbereitet zu sein, an dem ich einst als Herrscherin mein erstes Todesurteil fälle.«

Samu nickte nachdenklich. Sie war unsicher, ob die Entscheidung Ptolemaios’ weise war oder ob er seiner Tochter so den Respekt vor einem Menschenleben genommen hatte. Doch jetzt war nicht die Zeit, um in philosophische Grübeleien zu versinken. »Du darfst mich begleiten, Prinzessin. Aber wenn ich dir sage, daß du zurückgehen sollst, dann wirst du dich meinen Worten fügen und nicht lange mit mir über meine Entscheidung diskutieren.«

»Versprochen!«

Vor dem ArtemisionPronaosArtemisions