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Martin Klein

Jungsspaß und Mädchenpanik

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Mit Bildern von Ute Krause

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Für F. Pablo, für Hassan &
für alle Vollgas-Olgas

Dank an Sibylle &
an die Vollgas-Olgas von Tulipan

Mädchen, Treue und ein Schwur

Mädchen, Treue

und ein Schwur

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Pablo und Arian saßen am Rand des Schulhofs auf der Rückenlehne einer Sitzbank. Pablo saß still und Arian wippte auf dem schmalen Brett hin und her.

Er war Weltmeister in allem, was mit Hin-und-her-Wippen, Finger-auf-Tischplatten-Trommeln und allgemeinem Herumzappeln zu tun hatte.

»In zwei Tagen geht’s endlich los.« Pablo strahlte. »Ich freue mich riesig!«

»Ich auch!«, rief Arian und kippelte gewagt.

»Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen als Sommerurlaub mit meinem besten Freund«, meinte Pablo. »Und vor allem: ohne Mädchen!«

»Du sagst es!« Arian wippte noch stärker, verlor kurz das Gleichgewicht und fing sich. »Stell dir vor, das werden meine ersten Ferien ohne große Schwestern!«

»Mann, bin ich froh, dass ich keine Schwestern habe«, sagte Pablo. »Brüder wären okay, aber Schwestern … das geht gar nicht!«

»Absolut nicht«, bekräftigte Arian. »Wenn’s einen gibt, der das weiß, bin ich das.«

»Sind Schwestern eigentlich insgesamt ganz genauso wie andere Mädchen?«, fragte Pablo.

Arian drehte den Kopf. »Wie meinst du das?«

»Na ja, ich meine so: Glitzer, kicher, ach und hach ist mein Pferdeshirt nicht süß, Shopping hier und Shopping da und wann treff ich endlich einen Star?! Und so weiter?«

»Genau so und noch schlimmer.« Arian nickte. »Schwestern sind nämlich nicht nur Mädchen, sondern eben auch noch Schwestern. Und meine zählen dabei zu der schlimmsten Sorte, die es gibt: Das sind die großen Schwestern. Die interessieren sich nicht nur für den letzten Quatsch, die machen auch noch Stress und wollen über dich bestimmen.«

»Mädchenstress wird es in den nächsten Wochen garantiert nicht geben«, sagte Pablo. »Nur Fußball, wir beide und Holger. Außer, der liegt die ganze Zeit mit meiner Mutter in der Sonne.«

»Vergiss nicht, deinen besten Ball einzupacken.« Arian stützte die Ellenbogen auf die Knie. Er schaffte es auch in dieser Haltung, mit dem Kippeln weiterzumachen.

»Den zweitbesten nehme ich auch mit«, erwiderte Pablo. »Und noch ein paar, die Mittelklasse sind.«

»Wie sieht’s mit einem Volleyball aus?«

»Im Gepäck.«

»Wasserball?«

Pablo nickte.

»Tischtennisausrüstung?«

»Jep.«

»Federball, Strandball, Basketball, Jonglierballset, Frisbee, Bumerang und dein Dingsda?«

»Dingsda?«, fragte Pablo.

»Na, dieses Ding mit den beiden Holzstäben an der Schnur, und auf der Schnur balanciert man dieses Gummiteil. Das will ich unbedingt endlich mal vernünftig lernen!«

»Na klar, das Diabolo kommt auch mit. Ich habe sogar zwei, da können wir gleichzeitig üben. Keine Sorge. Wir werden alles dabeihaben. Die komplette Ausrüstung. Inklusive Tipp-Kick und Tischfußball.«

»Und Nintendo«, sagte Arian.

»Und Nintendo«, bekräftigte Pablo.

»Dürfen wir damit spielen, so viel wir wollen?«

»Du kennst doch meine Mutter«, sagte Pablo.

»Macht sie in den Sommerferien keine Ausnahme?«

»Da erst recht nicht. Aber was soll’s. Erstens haben wir noch genug andere Ausrüstung dabei und zweitens haben wir unsere Tricks!«

»Oh ja. Die haben wir.« Arian grinste. »Was ist mit DVDs?«

»Kommen mit.«

»Du bist für Mister Bean – die komplette Kollektion, Shaun das Schaf – alle Folgen und Ice Age 1 bis 3 verantwortlich und ich für alles vom Fluch der Karibik, Star Wars 1 bis 6 und Der Herr der Ringe, okay?«

»Die sind erst ab zwölf, oder?«, meinte Pablo.

»Was denn sonst?«, sagte Arian. »Aber wir haben unsere Tricks!«

»Die haben wir.« Pablo nickte. »Was ist mit Büchern?«

»Richtig. Bücher machen einen guten Eindruck. Pack ein paar ein. Wir müssen sie ja nicht lesen.«

»Ich lese ganz gern«, sagte Pablo.

»Echt? Immer noch?!« Arian zog die Stirn in Falten. »Nee, danke. Viel zu anstrengend.«

»Okay, was nehme ich für dich mit?« Pablo überlegte. »Mehr so was Einfaches wahrscheinlich. Die drei ??? oder Walt Disneys Lustige Taschenbücher.«

»Oh, Mann! Gib nicht so an! Die drei ??? sind doch nicht einfach.«

»Nicht so einfach wie Ich will nicht mehr aufs Töpfchen gehen jedenfalls«, sagte Pablo und Arian knuffte ihn in die Seite.

»Comics sind okay«, sagte Arian. »Vor allem große Hefte. Asterix und Obelix zum Beispiel. Da kann man nämlich prima seinen Gameboy reinlegen und so tun, als ob man liest.«

»Geht klar«, sagte Pablo.

»Das wird genial«, sagte Arian.

»Total genial«, bekräftigte Pablo.

Über die Urlaubsausrüstung war nun alles gesagt.

Der Trip konnte starten und die Schule für sechs Wochen schließen.

Es gab da allerdings noch etwas, das sie dringend erledigen mussten. Pablo und Arian hatten es wochenlang vor sich hergeschoben.

Nun saßen sie nebeneinander auf der Bank. Der eine saß ruhig, der andere wippte rasant. Sie wussten genau, was der andere in diesem Moment dachte.

Pablo fasste sich ein Herz und richtete sich auf. »Jetzt müssen wir nur noch eins machen.«

»Was denn?«, fragte Arian unschuldig und wippte immer schneller.

»Stell dich nicht doof. Du weißt es genau. Wir müssen Nele und Alina fragen, ob sie mit uns gehen wollen. Sonst werden sie in den Sommerferien womöglich mit einem anderen gehen.«

Arian fiel rücklings von der Sitzbank. Er landete mit einem dumpfen Laut auf dem Rücken, ächzte zweimal besorgniserregend, schloss die Augen, schob die Zunge ein Stück aus dem Mund und verstummte.

»Das ist noch lange kein Grund, sich tot zu stellen«, sagte Pablo. »Bleib entspannt, ich habe schon eine Idee.«

»Was denn für eine?«, fragte Arian, ohne die Augen zu öffnen.

Pablos Lösung war wie so oft bei scheinbar komplizierten Problemen denkbar einfach. Die beiden Jungs fertigten zwei Zettel an.

Auf Pablos Blatt stand:

Hi Alina, willst du mit mir gehen? Bitte ankreuzen: Ja.

An der Stelle, wo das Ja markiert werden sollte, hielt ein Ninja-Kämpfer mit Laserschwert einen Schild in die Höhe.

Arians Papier war folgendermaßen beschriftet:

Nele, das reimt sich auf Pele. Wusstest du das schon? Willst du mit mir gehen? Bitte ankreuzen: Toll/Super/Mega.

Die drei Möglichkeiten waren jeweils als Ball dargestellt und die drei Bälle wurden von einem Fußballer mit BVB-Trikot jongliert.

Pablo und Arian fanden, dass die Mühe sich gelohnt hatte. Sie falteten die Zettel sorgfältig zusammen und knickten jeweils ein weiteres Blatt als Umschlag darum. Den Umschlag beschrifteten sie mit ihren Namen sowie mit denen der beiden Mädchen. Pablo wollte noch einen Smiley danebenmalen, aber Arian war dagegen.

»Wir dürfen es mit der Liebe nicht übertreiben«, sagte er.

Ein zuverlässiger Zweitklässler übernahm den Job der Übergabe und die beiden Freunde waren obenauf.

»Wir haben’s geschafft!«, rief Pablo und ballte die Fäuste.

»Und wenn sie uns in den Ferien nicht treu sind, machen wir hinterher sofort wieder Schluss«, sagte Arian.

Gut gelaunt machten die Freunde sich auf den Weg nach Hause und spielten bis zum späten Abend Fußball.

Am nächsten Tag standen in der Schule nur noch ein gemeinsames Frühstück und die Zeugnisausgabe an. Wenn Pablo und Arian zu den beiden Mädchen hinüberschauten, senkten Nele und Alina die Blicke und stießen sich an. Sie flüsterten und kicherten wie Lachmöwen.

Später stellte sich Nele am Buffet neben Arian. Er umklammerte seine bis zum Rand mit Erdbeerquark gefüllte Schale wie einen Rettungsring. Nele klapperte einmal mit den Augenlidern und die Schale flutschte Arian aus der Hand. Sie kreiselte durch die Luft wie ein Frisbee. Der Quark und die Erdbeeren waberten einen Moment lang durch den Klassenraum wie ein Meteoritenhagel durch den Weltraum. Dann gab es ein Geräusch, als wenn eine große Portion Sahne auf einem Stück Kuchen landet, und Arians Erdbeerquark verteilte sich auf Neles T-Shirt.

Sie kreischte auf.

»Entschuldigung, war Absicht!«, rief Arian erschrocken und nestelte umständlich ein Paket Taschentücher heraus.

Nele warf ihm einen Blick zu, gegen den der Strahl eines Laserschwerts wie die Standby-Leuchte eines Fernsehers wirkte, und ließ ihn stehen. Während Alina ihrer Freundin beim Säubern des T-Shirts half, hoben Arian und Pablo die Scherben auf.

»Du hättest besser gesagt: Entschuldigung, war keine Absicht«, flüsterte Pablo.

»Aber das meinte ich doch«, beteuerte Arian. »Ich sag das nur immer aus Spaß anders.«

Gemeinsam wagten die Freunde ein aufmunterndes Lächeln in Neles und Alinas Richtung. Die Mädchen bearbeiteten verbissen den großen Quarkfleck auf Neles T-Shirt, pressten die Münder zu dünnen Strichen und verdrehten die Augen.

Das Frühstück ging ohne eine Nachricht von ihnen zu Ende. Die Zeugnisausgabe folgte.

Pablo und Arian waren mit ihren Noten zufrieden. Schüler und Lehrer verabschiedeten sich voneinander. Das Schuljahr war vorbei. Die Sonne schien und der Himmel leuchtete strahlend blau. Die Sommerferien begannen mit Bilderbuchwetter.

Pablo und Arian schauten sich um. Nele und Alina waren spurlos verschwunden, und vor dem Ablauf von sechs langen Wochen gab es keine Chance, sie wiederzusehen.

»Kann es uns jetzt passieren, dass sie in den Ferien mit jemand anderem gehen?«, fragte Arian. »Oder müssen sie uns so oder so treu sein?«

Pablo zuckte die Achseln. »So oder so, jetzt kommt erst mal unser Urlaub.« Er lächelte breit. »Und eins sag ich dir: Er wird gut!«

»Richtig gut wird er.« Arian lächelte noch breiter. »Und vor allem: Es wird ein Urlaub ohne große Schwestern.«

Sie klopften sich gegenseitig auf die Schultern und trabten zu den Fahrradständern. Ihre Räder standen wie immer direkt nebeneinander. Und an beiden Klingeln klemmte zusammengefaltetes Papier.

Feierlich betrachteten Pablo und Arian die beiden Umschläge. Sie schauten auf ihre Namen. Sie waren in schöner, sauberer Mädchenschrift geschrieben, genau wie die Namen der Verfasserinnen, die etwas kleiner am Rand zu sehen waren. Rund um die Jungennamen gab es auf jedem der beiden Briefe interessante Bilder zu sehen: ein greller Blitz, ein zähnefletschender Totenkopf, etwas, das irgendwie aussah wie ein brauner Haufen, und etwas rotes Zerfetztes.

Gespannt falteten die Jungen die Briefe auseinander.

In Pablos stand:

Pablo, du schielendes Schrumpfhirn!
Du bist so hässlich wie eine Strickjacke von meinem Uropa, so dumm wie ein Sack Knallerbsen und so langweilig wie zehn Stun
den Eurosport. Lieber würde ich in den doofsten Fußballverein der Welt eintreten und mit dem Häuptling der Stinkfußindianer gehen als mit dir. Niemals deine: Alina

Arian bekam Folgendes zu lesen:

Arian, du plattfüßiger Erdnusskopf!
Du bist so hässlich wie die lange Unterhose von Lord Voldemort, so dumm wie eine Schubkarre mit dicken Bohnen und so langweilig wie vier Wochen Live-Fußball.

Lieber würde ich den ganzen Tag am Computer Autorennen spielen und mit dem König der Schrumpelgurken gehen als mit dir. Für immer und ewig nicht deine: Nele

Pablo und Arian trotteten mit schleppenden Schritten zu ihrer Lieblingsbank. Der Gang in die Kabine nach einem 10 : 0 verlorenen WM-Finale hätte im Vergleich dazu dynamisch gewirkt. Schwerfällig setzten sie sich auf die Rückenlehne und starrten ins Leere. Die Sonne strahlte weiterhin vom Himmel, als sei nichts geschehen.

»Und jetzt?«, fragte Arian. Ausnahmsweise saß er ganz still.

»Ich weiß was«, sagte Pablo. Er nahm Arian Neles Brief aus der Hand, fasste ihn mit spitzen Fingern am oberen Ende, riss das Papier ein Stück ein und schaute Arian fragend an.

Der nickte grimmig.

Ratsch. Pablo riss das Papier in der Mitte durch. Ratsch. Arian tat dasselbe mit Alinas Botschaft. Ratsch, ratsch, ratsch, ratsch, ratsch, ratsch! Arian und Pablo veranstalteten ein Papiermassaker.

Sie zerrissen die Briefe in hunderttausend Fetzen und ließen sie anschließend gnadenlos in einem Gully verschwinden. Die danebengefallenen Schnipsel schob Arian verächtlich mit den Füßen hinein.

»So«, sagte er und klatschte in die Hände. »Jetzt kann der Urlaub richtig losgehen. Ohne große Schwestern – und erst recht ohne irgendwelche anderen Mädchen.«

»Wir sind fertig mit ihnen«, stellte Pablo fest. »Ein für alle Mal. Ich schwöre es.«

»Ich schwöre es auch«, sagte Arian.

»Am besten, wir schwören gleichzeitig«, schlug Pablo vor. Er hob eine Hand und streckte Arian die andere hin. »Dann ist der Schwur echt. Wie bei richtigen Blutsbrüdern.«

Arian zögerte.

»Stimmt was nicht?«, fragte Pablo.

»Aber wir schwören, ohne uns die Finger aufzuschneiden oder so was, okay?«

»Okay«, sagte Pablo. Arian schlug ein. Sie sahen sich in die Augen.

Pablo hob feierlich die Stimme. »Hiermit geloben wir, die besten Freunde Pablo und Arian, dass Mädchen jeder Art, jeder Form und jeden Alters von diesem Augenblick an für uns Luft sind, und zwar für immer. Insbesondere …«

»Äh, gilt das auch für große Schwestern?«, unterbrach Arian.

»Das gilt ganz besonders für große Schwestern. Insbesondere …«

»Na ja, meine sind meistens unerträglich, aber manchmal helfen sie mir bei den Hausaufgaben.«

»Unterbrich mich bitte nicht dauernd.« Pablo schaute seinen besten Freund streng an. »Für den Umgang mit Schwestern können wir später noch eine Sonderregelung treffen, vielleicht in der Art, dass Hausaufgabenhilfe eine notwendige Ausnahme darstellt oder so was. Jetzt kommt es erst mal aufs Grundsätzliche an.«

»Okay.« Arian nickte und Pablo hob erneut die Stimme.

»Insbesondere werden wir uns niemals mit Mädchen verabreden, sprechen, spielen oder sonst irgendwie in Kontakt treten und erst recht werden wir niemals eins …« – Pablo machte eine bedeutungsvolle Pause – »… küssen, Händchen halten oder ähnlich peinliches Zeug mit solchen …« – neue Pause – »… Personen machen.«

»Was ist mit Abschreiben?«, fragte Arian.

Pablo sah ihn streng an. »Wennschon, dennschon.«

»Abschreiben geht auch, ohne in Kontakt zu treten«, sagte Arian.

»Von mir aus«, sagte Pablo großzügig.

»Der Schwur gilt ab sofort und fürs ganze Leben, vor allem aber für die Sommerferien.«

»Heißt das auch, wir werden nicht heiraten, wenn wir erwachsen sind?«, fragte Arian.

»Natürlich!«

»Das ist gut!«

»Schnick, schnack, schnuck, der Schwur, der gilt, und wer ihn bricht, der wird gekillt!«, rief Pablo. »Und jetzt ab nach Hause! Das Ganze muss mit einer Partie Fußball besiegelt werden! Wir müssen uns warm schießen!«

»Erster alles!« Arian sprang auf und rannte Richtung Fahrrad. Pablo flitzte hinterher.

Drei große Schwestern bitten zum Kampf

Drei große Schwestern

bitten zum Kampf

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Pablo und Arian machten das härteste Urlaubsvorbereitungs-Training, das es jemals gegeben hatte. Sie ballerten sich gegenseitig unzählige Freistöße drauf und veranstalteten endloses Elfmeterschießen. Sie spielten 1 : 1 und in der Halbzeit kickten sie einander Dreißigmeterpässe zu. Dazu gab’s Kopfballstafetten mit vollem Einsatz, Ballhochhalten mit Hinterherrennen und Fallrückzieher knallhart. Das bedeutete, die Übung war erst zu Ende, wenn beide die Kugel perfekt getroffen und genau in den Torwinkel gezirkelt hatten.

Pablo brauchte dreiundvierzig Versuche und Arian einundfünfzig.

Nach dem letzten Schuss holte Pablo den Ball aus dem Tor und setzte sich darauf. »Ich glaube, für heute reicht’s. Mann, war das gut.«

»Das war genial«, keuchte Arian und sank schwer atmend ins Gras. »Gut, dass wir in den nächsten Wochen nichts anderes machen.«

»Nicht nur in den nächsten Wochen.« Pablo lag auf dem Rücken und schaute in den Nachmittagshimmel. Er war immer noch blau und wolkenlos. Bestes Ferienanfangswetter. »Wir machen nie wieder was anderes. Weil uns in unserem kostbaren Leben niemals mehr irgend so was Unwichtiges wie Mädchen ablenken wird.«

»Ohne Mädchen leben ist sowieso besser für die Karriere«, sagte Arian. »Außerdem kann man dann alles Geld für Spielkonsolen ausgeben. Sonst müsste man dauernd teure Klamotten und Lippenstifte für seine Frau kaufen.«

»Das wäre wirklich kompletter Blödsinn«, sagte Pablo.

»Dabei fällt mir was ein.« Arian stand auf. »Ich probier noch mal den Eistänzer. Der ist auch gut für die Karriere. Machst du ihn noch mal vor?«

»Lieber nicht. Meine Beine fühlen sich wie Pudding an.« Pablo streckte sämtliche Glieder weit von sich. »Aber gleich am ersten Urlaubstag üben wir den so lange, bis wir ihn beide gleich gut draufhaben, okay?«

»Nein, ich übe ihn jetzt«, sagte Arian. »Heute kriege ich ihn hin. Ich spüre so was.« Er schnappte sich den Ball, legte ihn mit einem kräftigen Kick einige Meter vor und spurtete hinterher.

Der Eistänzer war eines der vielen kleinen Kunststücke, die im Spiel nichts bringen, die aber so gut aussehen, dass man damit ungemein Eindruck schinden kann. Pablo und Arian nannten es so, weil man dabei aus dem Lauf heraus mit beiden Füßen auf den Ball steigt und sich oben einmal elegant um die eigene Achse dreht wie ein Schlittschuhläufer. Anschließend treibt man das Leder wieder vor sich her, als sei nichts geschehen, und erntet bewundernde Blicke – wenn man den Trick wirklich beherrscht. Andernfalls legt man natürlich leicht eine Clownsnummer hin, verknotet sich die Füße und bekommt von eventuell anwesenden Zuschauern eine reichliche Portion Hohn und Spott.

Arian beherrschte den Eistänzer nicht, und es gab keine Aussicht darauf, dass sich das ändern würde. Er war einfach zu zappelig dafür. Aber er konnte sich nicht damit abfinden. Er hatte sich fest vorgenommen, eines Tages sein Probetraining beim FC Barcelona mit dem Eistänzer zu beginnen.

»Muss das jetzt wirklich noch sein«, murmelte Pablo. Er sprach mehr zu sich als zu seinem Freund. Arian hörte ihn sowieso nicht. Er sprintete hinter dem Ball her und holte ihn ein.

»Schau her, Trainer!«, rief Arian. »So geht das!«

Er sprang auf den Ball. Einen Augenblick lang schien alles stillzustehen. Arians Füße ruhten auf dem rollenden Ball und seine wild schlenkernden Arme erstarrten. Arian war mit dem Ball zu einer Fußball-Eistänzer – Statue vereint. Allerdings nur für eine halbe Sekunde. Der Ball rollte weiter. Arian knickte fürchterlich um und stürzte zu Boden.

»Mannomann!« Pablo sprang auf. »Ich hab’s doch gleich gesagt! Warum …«

»Der Ball ist nicht in Ordnung!« Arian umklammerte seinen rechten Fuß. »Viel zu prall aufgepumpt! Der gibt kein bisschen nach! Deshalb hab ich keinen Halt gefunden!«

»Mannomann«, brummte Pablo. »Das war mehr Traumtänzer als Eistänzer.«

»Ich will nichts hören, kapiert?!«, knurrte Arian. Ächzend zog er Schuh und Strumpf aus. Die Schmerzen und der gleichzeitige Versuch, dabei sorglos zu grinsen, erzeugten einen seltsamen Ausdruck auf seinem Gesicht.

›Er sieht aus, als hätte er einen Fliegenpilz gegessen‹, dachte Pablo, aber das behielt er für sich.

»Na, siehst du«, ächzte Arian und streckte Pablo mühsam den Fuß entgegen. »Alles in Ordnung! Ich mach ’ne kurze Pause und dann kommt auch schon der nächste Versuch.«

Pablo rieb sich übers Kinn. »Willst du damit vielleicht sagen, dein Knöchel ist immer so dick und blau?«

»Oh, tatsächlich, ein kleiner Bluterguss.« Arian zuckte die Schultern. »Na gut, dir zuliebe mache ich Schluss für heute.«

Sie blieben eine Weile an der Unfallstelle sitzen.

»War ich nah dran, es zu schaffen?«, fragte Arian. »Sei ehrlich.«

»Du warst ganz nah dran«, sagte Pablo. »So nah dran wie ein Torwart an der Torjägerkrone.«

»Blödmann.« Arian lächelte schief. »Okay, und jetzt ist alles wieder in Ordnung. Auf geht’s! Ich muss mich ja auch noch mal zu Hause sehen lassen, bevor wir losfahren, und ein paar Sachen packen.« Er richtete sich auf, versuchte einen Schritt, schrie auf und sackte zu Boden zurück. »Mann, tut das weh! Vielleicht habe ich mich doch ein bisschen stärker vertreten. Na, egal.«

Vergeblich versuchte er, sich den Strumpf wieder überzustreifen. An den Schuh war erst recht nicht zu denken.

»Dann bleibe ich eben barfuß«, murmelte er. »Hatte ich sowieso vor, ist ja Sommer.«

Pablo verzichtete auf den Hinweis, dass es auch im Sommer nicht üblich ist, mit nur einem nackten Fuß herumzulaufen.

»Los, ich stütz dich.« Er streckte Arian die Hand entgegen. Arian zog sich an ihm hoch und legte ihm den Arm um die Schultern. Hinkend und stöhnend kämpfte er sich zu seinem Fahrrad. Pablo half seinem Freund in den Sattel. Arian stieß sich einbeinig ab und radelte los. Er konnte nur ein Pedal ordentlich benutzen. Der lädierte Fuß war zum Treten nicht zu gebrauchen. Im Zickzack eierte Arian Richtung Straße. Pablo sicherte hinter ihm ab und sie nahmen lahm Kurs auf Arians Zuhause.

Es ist erstaunlich, wie schwierig ganz einfache Sachen werden, wenn man mit einem Fuß nicht auftreten kann. Arian bekam nicht einmal das Gartentor auf.

Danach musste Pablo ihm beim Absteigen helfen und den kurzen Fußweg zur Haustür hätte Arian ohne ihn nur krabbelnd bewältigen können.

Eine von Arians großen Schwestern machte auf. Sie trug einen aufwendig frisierten Haarturm und war von den bunt lackierten Fingernägeln über die genau berechneten Knitterfalten im Minirock bis zu den glänzenden Lackstiefeln sorgfältig zurechtgemacht. Sie musterte die beiden Jungen, die Arm in Arm vor ihr standen, von oben bis unten und fragte kokett: »Seid ihr zwei Hübschen ineinander verliebt?«

»Du kriegst gleich eine gescheuert«, sagte Arian.

Seine Schwester verdrehte die Augen. »Oh, jetzt fürchte ich mich aber! Ihr wisst, dass ihr ausseht, als hättet ihr stundenlang in einem Schlammloch gebadet, oder?«

Arian bedeutete Pablo mit einer Kopfbewegung, dass er mit ins Haus kommen sollte, und knurrte: »Weg da!«

»Geht’s nicht noch ein bisschen charmanter?«, fragte seine Schwester und trat mit angeekelter Miene beiseite.

Arian und Pablo humpelten los.

Im Wohnzimmer ließ Arian sich aufs Sofa plumpsen und grinste erleichtert. »Ich fühle mich schon wieder viel besser! Jetzt brauche ich nur ein bisschen Schonung und morgen früh ist alles wieder gut.«

»Spinnst du?! Was machst du mit den schmutzigen Fußballklamotten auf dem Sofa?!«

»Das Sofa schmutzig machen natürlich«, sagte Arian.

Jetzt hatten Pablo und Arian es schon mit zwei großen Schwestern zu tun. Die zweite war extra blass und komplett schwarz gekleidet. Ihre Augen waren so dick geschminkt, dass sie wie zwei Kohlestücke in einem Schneemanngesicht wirkten.

»Sofort runter da!«, riefen beide großen Schwestern gleichzeitig.

»Nö«, sagte Arian. Er ruckelte sich zurecht, zeigte den Stinkefinger und lockte damit wie aus dem Nichts die dritte große Schwester herbei. Sie trug ein wallendes Gewand, das wie eine Mischung aus Betttuch und Tischdecke aussah. Jede Menge Ringe und Ketten klimperten an ihr herum.

»Auf der Stelle bewegst du deinen schmutzigen Hintern aus den Polstern, du Dreckspatz! Oder es kracht!«

»Nö«, wiederholte Arian.

»Nimm sofort den Mittelfinger runter, du Frettchen!«

»Nö«, sagte Arian und hob beide Mittelfinger. Er warf Pablo einen verwegenen Blick zu.

»Keine Angst, alles ganz normal. Einfach ruhig bleiben.«

Pablo nickte. Als aber die älteste von Arians Schwestern mit einer Stimme, die direkt aus der Hölle zu kommen schien, »Jetzt seid ihr dran, ihr keimigen Zwerge!« keifte, wurde ihm doch etwas flau.

»Keine Angst, ich habe alles unter Kontrolle.« Arian blinzelte Pablo beruhigend zu. »Kommt bloß her, ihr Nattern!«, rief er. »Pablo und ich lassen euch die Luft raus!«

Pablo fürchtete, dass es auch umgekehrt geschehen könnte, und spürte den dringenden Wunsch, »Ich halte mich lieber raus« zu sagen.

Zu spät. Der Haarturm, die schwarze Mamba und das lebende Tischtuch griffen an. Aber haarscharf bevor die Schlacht losging, donnerte eine Stimme: »Was ist hier los?!«

Arians Mutter stand in der Wohnzimmertür.

»Die beiden Frettchen beleidigen uns!«

»Sie zeigen uns ihre Popel-Mittelfinger und riechen wie ’ne alte Turnhalle!«

»Sie wollen aus unserem Sofa einen Komposthaufen machen!«, riefen die drei großen Schwestern durcheinander.

»Alles Unsinn, Mama«, sagte Arian und lächelte unschuldig. »Und zähl mal durch: Es geht wie so oft drei gegen einen.«

»Drei gegen zwei, du Schrumpfkopf! Oder gehört der da nicht zu dir?!« Die älteste Schwester zeigte auf Pablo wie auf etwas Ansteckendes. »Und wenn man den ganzen Dreck, den ihr mitgebracht habt, extra zählt, haben wir Gleichstand!«

»Ruhe!«, herrschte Arians Mutter die Töchtergang an. »Und das mit dem Schrumpfkopf habe ich nicht gehört!«

»Aber ich«, murmelte Arian und schnitt seiner großen Schwester unauffällig eine fiese Grimasse.

»Lass das!«, knurrte seine Mutter. »Was machst du in schmutzigen Fußballklamotten auf dem Sofa?!«

»Es ist ein Notfall«, erwiderte Arian würdevoll.

Seine Mutter schaute ihn fragend an und Arian zeigte auf seinen Fuß.

»Ach du je«, sagte seine Mutter und hielt sich die Hand vor den Mund. Arians Knöchel hatte ein unglaubliches Ausmaß angenommen und darauf schillerte ein Monster-Bluterguss.