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Wolfgang Nieblich - Wahr oder Nicht wahr

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar.

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ISBN: 978-3-941524-64-4 (Print)

ISBN: 978-3-941524-67-5 (E-Book)

Original Ausgabe, 1. Auflage 2012

2. erweiterte Ausgabe, 2015

© 2015 Wolfgang Nieblich

© PalmArtPress

Pfalzburgerstr. 69, 10719 Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Gesamtgestaltung: Catharine J. Nicely

Druck: Schaltungsdienst Lange oHG, Berlin

Hergestellt in Deutschland

Wolfgang Nieblich

Wahr
oder
Nicht wahr

Erzählungen und Berichte

Vorwort

Wolfgang Nieblich denkt, denkt quer, träumt, erfindet, schreibt und macht Bücher mit seiner unglaublich ausufernden Phantasie, mit einer faszinierenden Vorstellungskraft und seiner besessenen Art, seine Gedanken und Ideen auch umzusetzen.

Da er sich als Künstler in seinen meisten Arbeiten mit dem Thema Buch auseinandersetzt, auch in seinen Bühnenbildern spielt das Buch immer eine Rolle, in seinen Ausstellungen sowieso, spiegelt sich dieses Thema konsequenter Weise auch in seinen Texten und Büchern wieder.

Die in diesem Werk enthaltenen Kurzgeschichten, Berichte, Gedichte und einzelne Sätze werden durchzogen von Begriffen, die mit dem Buch verbunden sind, das Buch als Buch, die Schrift, die Herstellung von Büchern und von Bibliotheken. Er hat sich durch seinen jahrzehntelangen Umgang mit dem Buch eine eigene Ordnung geschaffen.

Er lebt das Buch.

Pauline Allison Peters

Das Buch

Die Summe der Definitionen von einem, dem oder den Büchern ergibt noch keine Bibliothek. Die Ereignisse in den Köpfen der Menschen machen Bücher zu Büchern, wenn wir im Buch mehr sehen als einen Container für Ideen. 2003

Das Fenster der Wahrnehmung

„Schließe dein leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge siehest dein Bild. Dann fördere zutage, was du im Dunkeln gesehen, daß es rückwirke auf andere von außen nach innen.“ Caspar David Friedrich

Auf der Bühne eines Theaters stand ein altes Holzhaus. Es hatte zwei Fenster, eins war rechteckig und eins war rund wie ein Bullauge.

Morbid und schön sah das Ensemble aus. Auch die leichte Schräge störte unser Auge nicht. Auf der ersten Probe mit gesamten Bühnenbild standen die Schauspieler in den Pausen immer vor oder hinter der Holzfassade. Einer schaute von hinten durch ein Fenster in den Zuschauerraum, einer blickte von vorn durch ein Fenster auf den Bühnenhorizont. Manchmal sprachen zwei Schauspieler durch ein Fenster miteinander. Meist lief alles wie ein stummes Theater ab.

Die Fassade übte irgendwie eine magische Kraft auf die Schauspieler aus. Mit dem Blick durch die Fenster, ob von hinten oder von vorn, veränderte sich die Perspektive ihres Sehens, Denkens und Fühlens. Es waren zwei Wahrnehmungsfenster, die zu immer neuen Bildern im Kopf der Schauspieler führten. Sogar nach den Proben gingen die Schauspieler noch mal auf die Bühne, um durch ein Fenster zu sehen. War es ein Blick nach Innen oder nach Außen? War es ein Einblick oder ein Ausblick? Sie nahmen die Bühne, den Theaterraum und ihre Kollegen wahr und dies anders als sonst, ohne dass es eine Anweisung zur Wahrnehmung vom Regisseur gab.

In diesem Theater wurden also zwei verschiedene Inszenierungen probiert. Das eigentliche Stück Im Fischtal vergessen von Thomas Eichendorf, das im Kopf des Regisseurs Form annahm, und das uneigentliche, das ungeschriebene Stück, das von den Schauspielern unbewusst entwickelt wurde. Es entstand ein Stück in zwei Akten. Die beiden Akte unterschieden sich nur dadurch, dass die Schauspieler Wahrnehmungsebenen stumm und in Kostümen probten und dass im zweiten Akt die Schauspieler in privaten Klamotten agierten.

Nach einiger Zeit fiel einem der Schauspieler auf, dass sich aus der Fensterguckerei etwas entwickelt hatte, das sich mit den Worten: Ein Stückekonzept der Wahrnehmung in zwei Akten umschreiben ließe. Die Schauspieler setzten sich in der Kantine des Theaters zusammen und diskutierten über den ihnen nun bewusst gewordenen veränderten Blick nach Innen und Außen. Sie begannen ihre unterschiedlichsten Wahrnehmungsebenen besser zu verstehen. Mit Eifer entwickelten sie nun ihr Stück.

Noch vor der ersten Hauptprobe für das Stück Im Fischtal vergessen meuterten sie. Sie wollten nicht mehr weiterproben. Sie wollten nur noch ihr eigenes Stück, dem sie den Titel Der Blick nach Innen gegeben hatten, zur Aufführung bringen. Was auch geschah.

Lang anhaltender Applaus brandete nach der Premiere auf und ab, bis er nach einigen Minuten abebbte. Die Schauspieler waren für das Publikum nicht zu sehen, denn sie standen hinter der Holzhausfassade.

Plötzlich fällt krachend die Fassade nach vorn auf den Bühnenboden. Die Schauspieler sind alle nackt und schwarz angemalt. Nur ihre Augen sind zu sehen. Der Beifall brandet wieder auf. 2010

Der Rasen im Park

Eine Zeitung liegt auf dem Rasen.

Der Rasen ist nicht nur grün

mit seinen vielen Blumen.

Und in der Zeitung steht:

Gesucht wird ein weißes Blumenpaar,

das dicht vor den großen Bäumen stehen soll.

Der Wind blättert die Zeitung um;

und der Wind erbricht der Bäume Blätter.

Und auf dieser Zeitungsseite steht:

Es gibt viele Kinder, die Hunger haben

und dass es Menschen gibt,

die das nicht wissen wollen.

Darum kauf ich mir einen Pflug

und pflüge den Rasen um, und

aus der Zeitung falte ich einen Hut

für die Vogelscheuche auf dem Feld. 1971

Vor dem Spiel ist nach dem Spiel

Aus dem Spielbericht eines Schiedsrichters

Im Olympiastadion war das Fußballpokalspiel zwischen dem FC Kayern und dem VfB Ruttkard für 15.30 Uhr angesetzt. Für beide Mannschaften war es ein sehr wichtiges Spiel, weil sie in der Meisterschaft nur unter ferner liefen, rumdümpelten.

Ob der Bedeutung des Spiels waren vom TV-Sender gleich zwei Reporter, Ernst Humerti und Florian Ertel, als Kommentatoren bestellt.

Der Schiedsrichter Torsten Kinnhöfl ging durch die Katakomben des Stadions und dabei sah er die Namensliste der heute aufgestellten Fußballprofis vor seinem geistigen Auge vorbeiziehen. Gleichzeitig murmelte er die Namen der Stars vor sich hin. Seine beiden Assistenten und der vierte Unparteiische kannten dieses Ritual schon. Die Namen waren kaum zu verstehen: Marco Nehmer, Philipp Zahm, Franz Deckenbauer, Klaus Ohloffs, Hans Zillkowski, Sepp Dreyer, Erich Bär, Freddy Lokic, Jürgen Sparflamme, Michael Knallack, Jürgen Klienzle, Günter Fetzer, Wolfgang Oberrath, Uwe Seel, Helmut Baller, Karlheinz Geschwindiger, Katsche Schwarzenkick, Miroslav Rose, Lukas Powolski, Bastian Schweinsfeger, Mario Gometz, Pierre Meeresacker – zweiundzwanzig Spieler. Nach einer kurzen Pause murmelte er noch die zehn Ersatzspieler: Ulli Schöne, Mario Kasler, Uli Bein, Manuel Zehner, Horst Röttges, Fritz Halter, Maxl Murdock, Paul Reitner, Rainer Lohnhoff und Jürgen Trabowski.

Und auch die beiden Trainer und Assistenten der Mannschaften: Udo Zadek, Hans Zayer, Yogi Neef und sein Co-Trainer Sepp Herbstberger murmelte Kinnhöfl vor sich hin. Dann war er im großen Vorraum der Katakomben, wo die Spieler in zwei Reihen standen, angekommen. Er nahm eine sehr angespannte Stimmung wahr. Er ging an den Spielern vorbei an das vordere Ende der Schlange und schaute auf seine Uhr. Die vier Unparteiischen machten einen Uhrenvergleich und testeten ihre Funkverbindung untereinander. Ein paar Minuten waren noch Zeit, bis sie sich durch den schmalen, unterirdischen Gang auf den grünen Rasen begeben würden.

Im Stadion selbst, auf den Zuschauertribünen, war eine ausgelassene Stimmung. Zwischen den beiden Fanblocks gab es von jeher keine Spannungen. So saßen die Stadionordner recht gelangweilt auf ihren Klappstühlen.

Eine Minute bevor der Schiedsrichter sich in Bewegung setzen wollte, schwappte eine Welle an Aggression, einem Tsunami ähnlich, vom hinteren Ende der Schlange mit zunehmender Wucht rasant nach vorn. Ein Spieler, welcher war nicht mehr auszumachen, hatte etwas zu einem Fußballer der gegnerischen Mannschaft gesagt, das dieser als Beleidigung aufgefasst hatte. Die unmittelbar Davorstehenden mischten sich ein. Die Aggression in Form von lauter werdenden Worten und Geschubse verstärkte sich bis es zu einer ausufernden, heftigen Schlägerei in den Katakomben kam. Der Schiri rief die Ordner zu Hilfe. Die Ordner wurden gleich mitverprügelt. Wer mit wem kämpfte war von außen nicht mehr sichtbar.

Einzig ein langer, lauter Pfiff mit der Schiedsrichterpfeife unterbrach die Prügelei für einige Sekunden, in denen sich Torsten Kinnhöfl Gehör verschaffen konnte. Der Sturm der Aggression ebbte schlagartig ab. Alle standen da als wäre nichts geschehen. Lediglich an dem Äußeren der Spieler und Ordner waren die Kampfspuren sichtbar. Der Schiedsrichter ordnete an, dass sich die Spieler in ihre jeweilige Umkleidekabine zu begeben haben. Das geschah auch nahezu wortlos. Kinnhöfl sprach mit seinen Assistenten und schickte die beiden Linienrichter in die Kabinen, um den beiden Mannschaften mitzuteilen, dass das Fußballspiel für heute abgesagt ist. Der vierte Unparteiische ging zum Stadionsprecher und verkündete selbst, dass dieses Pokalspiel heute nicht mehr stattfindet. Die Zuschauer waren fassungslos, hatten sie ja die Ereignisse in den Katakomben nicht mitbekommen. Die Erklärung für die Absage des Spiels lasen sie erst am nächsten Tag in der Zeitung.

Der Schiedsrichter empfahl dem Kontrollausschuss des Fußballverbandes eine Neuansetzung des Spiels und hohe Strafen für die Spieler. 2011

Namensähnlichkeiten sind rein zufällig und beabsichtigt.

Gemischtes Doppel

Der Maler Karl Karsten Kuhräuber stellte in Rollenburg seine Bilder, Objekte und eine Installation unter dem Titel: Geld ist Alles oder Nichts aus. Die Ausstellungseröffnung an einem Freitag um achtzehn Uhr im dortigen Kunstverein zog viele Besucher an. Vielleicht war es das Thema oder die Vorberichte über die Ausstellung in der örtlichen Presse. Außerdem hielt der in der Region sehr bekannte Professor Urs Kamnitzer die Laudatio.

Die Ausstellung fand in einem mittelalterlichen Gebäude, das einmal derer von Thurn und Taxis gehört hatte, jetzt aber für Ausstellungen, Theateraufführungen, anderen kulturellen Veranstaltungen und von der Musikschule genutzt wurde, statt.

Nach der Vernissage fand noch eine Theaterpre-miere im hinteren Teil des Gebäudes statt. Karl Karsten Kuhräuber hatte auch die Regiearbeit und den Bühnenbildentwurf dieser Inszenierung übernommen. Das Stück:

Vom Abendmahl bis zum großen Fressen hatte er schon vor Jahren geschrieben.

Die Theaterbesucher, von denen auch viele bereits zuvor die Ausstellung angesehen hatten, bekamen im Vorverkauf und an der Abendkasse als Eintrittskarte eine bedruckte Tüte, wie sie in Flugzeugen üblicherweise als Kotztüte Verwendung findet. Die Vorstellung war ausverkauft. In der ersten Reihe saß die Prominenz der Stadt.

Die Bühne war ein schwarzer Raum. Fast mittig stand eine lange, weiß eingedeckte Tafel für dreizehn Personen. Halblinks hinter der Tafel befand sich ein sechs Meter hoher, schwarzer Turm mit einer verdeckten Tür auf der Vorderseite und Rückseite, sodass man durch den Turm gehen konnte. Die Jünger wurden durch Schauspielerinnen dargestellt. Auf dem Ehrenplatz an der linken Seite der Tafel sollte später ein Schauspieler Platz nehmen. Die Kostüme waren in schwarz und weiß gehalten. Nur wenige Details waren rot, wie ein Hosenträger, ein roter Gürtel oder eine rote Perücke.

Nach und nach kamen die Schauspielerinnen durch den Turm auf die Bühne und setzten sich auf der Rückseite der Tafel auf die Stühle mit besonders hohen Rückenlehnen. Zuletzt kam der Schauspieler und nahm auf der linken Seite der Tafel Platz. Es war die ganze Zeit Stille. Kein Wort wurde gesprochen. Erst ein paar lange Minuten, nachdem alle saßen, sprachen die Darsteller ganz leise miteinander, für die Besucher nicht zu verstehen. Währenddessen servierten vier Zwergwüchsige den ersten Gang. Die Stimmen der Schauspielerinnen wurden lauter und lauter, bis die Zuschauer die Worte verstehen konnten.

Über mehrere Szenen, in denen jeweils ein Gang serviert wurde, hoben die Stimmen immer mehr an, auch die Bewegungen am Tisch veränderten sich. Bis zum letzten Gang steigerten sich die Worte zu verbalen Attacken, auch körperliche Attacken waren zu sehen. Sie bewarfen sich gegenseitig mit Essenresten und spuckten sich mit dem Rotwein an. Einigen Zuschauern wurde schlecht. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wusste jeder im Saal, weshalb sie eine Tüte als Eintrittskarte erhalten hatten.

Dann kam der letzte Akt. Das Dessert wurde serviert. Die Sprache wurde wieder leiser und leiser, die Körperbewegungen wurden immer verhaltener bis sie schweigend, auf den Stühlen sitzend, zu Säulen erstarrt waren. Nach und nach fielen die Schauspielerinnen mit ihrem Stuhl nach hinten um; zuletzt der Schauspieler auf der linken Seite.

Ein durchsichtiger Vorhang wurde ganz langsam vom Vorhangzieher zugezogen. Dabei regelte der Tonmeister in der Regieloge die Scheinwerfer soweit herunter, bis nur noch ein dämmriges Licht auf der Bühne zu sehen war. Dann standen die Darsteller wieder auf und verschwanden einer nach dem anderen in den Bühnengassen.

Im Zuschauerraum war fassungslose Stille. Von zwei Drittel der Zuschauer brandete nach einiger Zeit heftiger Applaus auf. Ein Drittel der Besucher quittierten die Vorstellung mit Buhrufen. Als die Schauspieler zur Verbeugung wieder auf die Bühne kamen, wurde der Applaus lauter, als der Regisseur Karl Karsten Kuhräuber an die Rampe trat, flogen die Tüten auf die Vorbühne. 2009

Der stille Portier

Im Jahre 1898 stritt sich das Hauswartsehepaar Hugo und Erna Hasskarl wieder einmal über den Namen eines Mieters aus dem Vorderhaus der Bergmannstraße 69 in Berlin-Kreuzberg. Erna konnte sich einfach keine Namen merken. Sie behauptete, dass der Professor in der Beletage Erbslöh hieß, während Hugo mit Sicherheit wusste, dass sein Name Professor Erlanger war.

Hugo Hasskarl saß in der Küche an einem mit Wachstuch gedeckten Küchentisch mit Blumenmuster in Delfter Blau. Er starrte auf ein kariertes Blatt Papier aus einem Oktavheft. Rechts neben dem Blatt Papier stand eine Flasche Bier. Die gönnte er sich jetzt nach diesem Streit und begann Kästchen auf das Blatt zu zeichnen. Zwei Spalten mit jeweils fünf Reihen für das Vorderhaus und jeweils zwei Spalten für die beiden Seitenflügel und das Quergebäude. Dann reichte der Platz nicht mehr aus für die Kästchen der Mieter in den Seitenflügeln und Quergebäuden des zweiten bis vierten Hinterhofes.

Zwischendurch nahm er wieder einen Schluck aus der Pulle und prostete seiner Frau mit dem Spruch Schwer zum Segen zu. Erna Hasskarl grummelte, am Küchenherd stehend, um das Abendbrot zu bereiten, irgendetwas Unverständliches.

Hugo Hasskarl schrieb mit einem Kopierstift die Namen aller im Haus lebenden Personen in die jeweiligen Kästchen. Nach jedem Namen leckte er den Kopierstift an. Sein gutes Gedächtnis, durch seine frühere Tätigkeit in einer Schreibstube der Polizei geschult, und mit seiner perfekten Handschrift, die man ihm nicht zugetraut hätte, wenn man seine Tischlerhände, an denen links ein und rechts zwei Finger fehlten, sah, schrieb er in Sütterlinschrift die Namen auf. Als er fertig war, die Bierflasche war inzwischen leer, zeigte Hugo das Dokument Erna.

Erna Hasskarl war verblüfft und lobte ihn, was sie sonst niemals tat.

Er wusste jedoch, wenn er ihr das Papier überließ, war es nach kurzer Zeit mit großer Wahrscheinlichkeit verschwunden. Durch diesen Gedankengang angeregt, kam ihm die Idee, die Kästen in größerer Form ein für alle Mal unverschwindbar zu machen.

Hugo Hasskarl begann sofort seine Idee umzusetzen. Dabei kam ihm seine Tischlerlehre zugute. Er rahmte die größeren beschriften Kästen in Holzrahmen. Diese Rahmen leimte er in einen großen Holzrahmen. Diesen großen Holzrahmen, mit den Namen aller Mieter nach Gebäudeteilen und Etagen geordnet, hängte er im Hausflur auf. So konnte jeder Besucher des Hauses den gewünschten Namen suchen und dem entsprechenden Gebäudeteil und der Etage zuordnen. Nachdem er die Namenstafel im Flur angedübelt hatte, entfielen schlagartig die an das Hausmeisterpaar gestellten lästigen Fragen von Besuchern des Hauses, die Erna und Hugo Hasskarl an manchen Tagen nervten. Nur noch in Ausnahmefällen klopfte jemand an das Fenster der Portierloge. Es ging fortan stiller zu im Hause Bergmannstraße 69 in der Nähe des Tempelhofer Feldes.

Der stille Portier war erfunden und zwischen Erna und Hugo Hasskarl hatte der Streit um Namen ein jähes Ende gefunden. 2011

Krieg und Frieden

Fünf Kinder spielen im Park,

in bunter Schar,

Seifenblasen steigen auf,

sie steigen einzeln oder in Trauben,

große und kleine Seifenblasen,

und meistens platzen sie schnell.

Die Becher mit dem Seifenschaum sind leer.

Die Kinder haben ausgeblasen,

und die Seifenblasen tanzen nicht mehr.

Fünf Kinder stehen im Park

und überlegen, was sie tun sollen.

Sie beschließen: „Wir spielen jetzt Krieg.“

Dann liegen vier Kinder auf dem Rasen,

mit dem Röhrchen tot geblasen.

Einer ist übrig geblieben,

die vier anderen liegen tot auf dem Rasen,

und er ist allein.

Und weil er das Alleinsein nicht lange aushält,

ruft er: „Steht auf!“

Dann sind es wieder fünf Kinder

und keiner ist mehr allein. 1971

Der blinde Augenzeuge

Eine Ausstellung mit dem Titel: Paris Moskau wurde von der französischen und sowjetischen Regierung beschlossen. Die erste Station war Paris. Im Grande Palais wurden die Exponate präsentiert. Als Geschenk hatte der sowjetische Minister für Kultur eine alte russische Telefonzelle mitgebracht. Sie wurde zwei Tage vor der Eröffnung der Ausstellung auf dem Place des Vosges an der südöstlichen Ecke gegenüber dem Maison de Victor Hugo aufgestellt. Das Besondere an dem Platz war und ist heute noch seine geschlossene, einheitliche Bebauung aus dem 18. Jahrhundert. Das Besondere an der Telefonzelle, die ursprünglich wie eine ganz normale Telefonzelle aussah, wie sie auch in Moskau oder Kiew herumstanden, war, dass sie von einem russischen Lichtkünstler umgestaltet worden war.

Lichtlinien und Lichtpunkte, die in den verschiedenen Farben computergesteuert leuchteten, waren an allen vier Seiten und dem Dach der Telefonzelle installiert. Das Kunstobjekt konnte von den Anwohnern oder den Besuchen des Platzes auch als öffentliche Telefonzelle benutzt werden. Die Einwurfschlitze für die Münzen waren von Rubel auf Franc umgebaut worden. Was die Franzosen nicht wussten war, dass durch den KGB die Lichtinstallation ohne das Wissen des Künstlers Anatoli Tichonow dahingehend manipuliert worden war, dass Informationen aus Moskau an dort lebende Agenten, von denen auch drei am Place des Vosges wohnten, übertragen werden konnten. Die Spione konnten die Telefonzelle von ihren Wohnungen am Platz ungehindert einsehen und zu bestimmten Zeiten die Nachrichten durch Lichtsignale empfangen, decodieren und, wenn nötig, durch einen Anruf von eben dieser Zelle aus die Anweisungen bestätigen. Dafür führten sie ein ganz belangloses Telefongespräch mit Moskau. Jedoch parallel zu diesem Gespräch konnten sie codierte Lichtsignale senden.

Ein blinder Franzose, der ebenfalls an diesem Platz wohnte, machte die Beobachtung, dass in bestimmten Zeitintervallen von der Dämmerung bis in die Morgenstunden das Zusammenspiel von Farbe und Licht ein anderes Muster hatte. Die restliche Zeit war die Lichtinstallation abgeschaltet. Der Blinde gab seine Beobachtung an einen befreundeten Polizisten weiter. Bis sein Freund die Information an die entsprechende Stelle im Staatsapparat weiterleiten konnte, verging eine längere Zeit, weil die Glaubwürdigkeit der Beobachtung immer wieder in Frage gestellte wurde. Endlich hatte er einen Beamten vom Geheimdienst soweit überzeugt, dass dieser sich in die Wohnung des Blinden begab, um mit Hilfe eines Computerspezialisten eigene Beobachtungen an der Telefonzelle zu machen. Nach Stunden der Beobachtung stellten sie das Ungewöhnliche an der Telefonzelle fest. Sie waren sich aber noch nicht ganz sicher und warteten auf die nächste Übermittlungssequenz. Genau in dieser Wartezeit kam ein betrunkener russischer Emigrant mit einem Citroën auf der Rue de Birague angerast, bog um die Ecke und knallte gegen die Telefonzelle, die Scheiben zersprangen und der übrige Rest explodierte.

Die Ausstellung Moskau Paris, die in Moskau ein Jahr später gezeigt werden sollte, fand wegen der Ereignisse in Paris nicht mehr statt. 2009

Der Zigarettenautomat

Claus Cotteborn und seine vier Freunde, alle im Alter von acht Jahren, zogen im Sommer mit Campingbeuteln und Skischuhen durch eine süddeutsche Stadt. Die Bande hatte die Zigarettenautomaten im Visier. Abwechselnd sprangen sie mit den Skischuhen gegen einen Automaten bis er seinen Widerstand aufgab. Problemlos konnten sie dann die Zigarettenpackungen herausnehmen und in ihren Campingbeuteln verstauen. Das machten sie solange, bis ihre Beutel gut gefüllt waren. Dann fuhren sie mit der Straßenbahn zum amerikanischen Militärflughafen, hatten ungehindert Eintritt, weil der schwarze Sohn des Kommandanten vom Flughafen eines der Bandenmitglieder war, und tauschten die Zigaretten gegen Kaugummi mit den Piloten und Bodenpersonal. Claus Cotteborns Freundin, auch acht Jahre alt, war kaugummiverrückt oder -süchtig. Sie hatte ihn dazu angestachelt, weil sein allzu bescheidenes Taschengeld zum Kauf von Kaugummi nicht ausreichte. Am Ende des Sommers wurden sie bei einem ihrer Raubzüge, es sollte der Letzte sein, auf frischer Tat erwischt. Auf der Polizeiwache wurden sie verhört, mussten warten, bis ihre Eltern verständigt waren. Als Erster kam der Bankdirektor, Cäsar Cotteborn, Vater von Claus, angerauscht und nahm, nach einem längeren Gespräch mit dem Polizeiobermeister, die Jungen mit. Die Jungen wurden mit dem Dienstwagen des Vaters nach Hause gefahren. In ängstlicher Erwartung ihrer Strafe, von Prügel bis Stubenarrest, von strengen, erzieherischen Worten bis hin zu verständnisvollem Gelaber, bedienten sich die Eltern aus ihrem jeweiligen Strafenkatalog.

Als Anführer der Bande kam Claus Cotteborn besonders beschissen weg. Prügel und Hausarrest ertrug Claus jedoch mit äußerlicher Ruhe. Innerlich kochte er und beschloss, nie wieder ein Wort mit seiner kaugummiverrückten Freundin zu sprechen.

2010

Joko Uno

Das größte Vergnügen des Affen war es, die Menschen im Zoo zu beobachten. Er turnte an Stangen, Seilen und Bäumen herum, dabei war sein Blick immer auf das Geschehen jenseits des Geheges gerichtet. Die Wochenenden waren für Joko, so wurde er von den Wärtern genannt, besonders interessant. Massen von Menschen drängten sich vor dem Gitter. Er fragte sich weshalb die Menschen meist sehr komische Kleidungsstücke trugen. Ihm fiel ein, dass vielleicht das Buch von Gottfried Keller „Kleider machen Leute“, welches ihm sein Wärter vorgelesen hatte, der Grund sein könnte. Er gelangte jedoch zu der Ansicht, dass die Klamotten meist dazu dienten, ihre fetten unansehnlichen Körper zu verstecken. Wenn Amerikaner und andere Zeitgenossen im Sommer mit Bermudashorts bekleidet waren, musste er an einen Zeitungsartikel denken, der ihm ebenfalls vorgelesen worden war. Dessen Überschrift lautete: Männer in kurzen Hosen in der Stadt sollte man mit einer Kalaschnikow erschießen. Er amüsierte sich über diese Gestalten und entwickelte gelegentlich Mitleid mit ihnen. Wenn er besonders von ihrem Anblick angewidert war, beklaute er sie. Eine Kamera, ein Schlüsselbund, ein Portemonaie oder Handy lagen immer auf dem mit Ziegelsteinen gemauerten Sims unterhalb des Gitters des Geheges herum. Er schnappte sich diese herumliegenden Teile und versteckte sie in seiner Schlafecke. Inzwischen hatte er schon eine ganz ansehnliche Sammlung von Gegenständen des menschlichen Alltags zusammengetragen. Seine Wärter überließen ihm sein Spielzeug. Nur die Bücher, in denen keine Bilder waren, schenkte Joko den Wärtern und bestand darauf, dass sie ihm diese vorlasen. Die Bücher mit Abbildungen blätterte er in ruhigen Zeiten durch, wenn kein gaffender Zoobesucher ihn störte. Auch hatte er durch genaue Beobachtung der Besucher gelernt, seine Kameras zu bedienen und plante, wenn er groß sein würde, eine Fotoausstellung im gläsernen Hauptgebäude des Zoos zu machen. Besonders hatten es ihm Männer zwischen 25 und 80 Jahren mit breiten quer gestreiften T-Shirts angetan, deren Herrlichkeit bei Regen durch das darüberliegende Kuppeldach verdeckt war. Auch Frauen mittleren bis späteren Alters, die viel zu kurze Röcke trugen und deren Beine eigentlich nur zum Sauerkraut stampfen geeignet waren, erregten seine Aufmerksamkeit. Einige Funktionen seiner stibitzten Handys, besonders die Apps auf dem iPhone 4, hinter denen sich Spiele verbargen, beherrschte er schlafwandlerisch. An Feiertagen, so hatte es sich Joko von den Besuchern abgeschaut, legte er all seinen geklauten Schmuck, von Goldketten und Silberketten, bis zum simplen oder kostbaren Rosenkranz, an.

Joko’s Lieblingsbuch war Animal Farm von George Orwell. Immer wieder ließ er sich daraus vorlesen. Dieses Buch, seine Beobachtungen der Zoobesucher und die genauesten Wahrnehmungen ihres Verhaltens, führten für ihn folgerichtig zu dem Schluss, dass er so, wie er lebte, das bessere Leben hatte und es keinen, aber auch keinen einzigen Grund gab, auf der anderen Seite des Gitters zu sein. 2010

Schreiben

Während ich, bevor Kunze verrückt geworden ist, nur am Mittwoch Hinz geschrieben habe, schreibe ich jetzt, nachdem Kunze verrückt geworden ist, auch am Montag an Hinz. Weil Kunze mir am Montag geschrieben hat, schreiben Sie, nachdem Kunze mir am Montag nicht mehr geschrieben hat, auch am Montag an mich, schreibt Hinz, nachdem Kunze verrückt geworden ist und sofort in die Schreiberstadt hinaufgekommen ist. Und ohne zu zögern, habe ich an Hinz geschrieben, gut, schreiben wir uns auch am Montag, nachdem Kunze verrückt geworden ist und in der Schreiberstadt ist. Während wir am Mittwoch immer von links nach rechts schreiben, schreiben wir am Montag von oben nach unten, auffallender Weise schreiben wir am Montag viel schneller als am Mittwoch, wahrscheinlich, denke ich, hat Hinz Kunze immer viel schneller geschrieben als mir, weil er am Mittwoch viel langsamer, am Montag viel schneller schreibt. 2012

Nicelytown Postman

oder Der Briefträger von Nicelytown

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