Die Seidenstrasse heute
Die Seidenstrasse heute
Von Venedig nach Xian mit Peter Gysling
Mit Fotos und Beiträgen von Reto Vetterli, Reto Padrutt,
Helen Stehli Pfister, Reto Brennwald, Andrea Vetsch, Mitja Rietbrock,
Christof Franzen und Pascal Nufer
Das Buch zur DOK-Serie Seidenstrasse
Die Seidenstrasse im Internet:
www.seidenstrasse.sf.tv
www.srf.ch/seidenstrasse/webdok
Ein TELE-Buch in Kooperation mit Schweizer Radio und Fernsehen SRF; erschienen im Beobachter-Buchverlag, Verlagsgruppe Axel Springer Schweiz.
© 2012 Beobachter-Buchverlag,
Axel Springer Schweiz AG, Zürich
Alle Rechte vorbehalten
www.tele.ch
www.beobachter.ch
Lektorat: Karin Schneuwly, Zürich
Fotos: Alle Fotos von Reto Vetterli mit Ausnahme von:
Mitja Rietbrock (S. 118 –120, 126 –130, 132, 176 –179),
Helen Stehli Pfister (S.60, 61, 88, 94, 106 –108, 111),
Peter Gysling (S. 150, 151, 162, 249), Christoph Müller (S. 18, 20, 63, 66, 67, 76 –78, 80), Pascal Nufer (S. 224, 226, 230), Reto Padrutt (S. 19), Reto Brennwald (S. 32, 34),
Christian Frei (S. 138, 139), Christof Franzen (S. 208, 211),
Andrea Vetsch (S. 98, 99), Laurent Stoop (S. 174),
Oscar Alessio (S. 249), Merly Knörle (S.249), Samuel Trümpy (S. 249), Rena Effendi/Institute (S. 112)
Grafische Gestaltung & Satz: Bruno Bolliger, Losone
e-Book: mbassador GmbH, Luzern
ISBN 978-3-85569-557-7
Die Autoren
Christoph Müller war bis Herbst 2012 bei SRF-Redaktionsleiter von «DOK», «Reporter» und «Horizonte». Er berichtete in den vielen Jahren seiner Tätigkeit als TV-Journalist über zahlreiche Krisensituationen aus der ganzen Welt und realisierte mehrere Dokumentarfilme und Dutzende von Reportagen, für die er mehrfach national und international ausgezeichnet wurde. Heute ist Christoph Müller mit seiner Firma Magic Moments als Autor, Projektleiter und Consultant in verschiedensten Medienprojekten engagiert.
Peter Gysling wirkt seit 2008 zum zweiten Mal als Korrespondent von Schweizer Radio und Fernsehen SRF in Moskau. Er berichtet regelmässig aus den entlegensten Gebieten Russlands, aus der Ukraine, Weissrussland, aus Moldawien, den Kaukasusrepubliken und den Ländern Zentralasiens. Als Deutschland-Korrespondent hat er Ende der Achtzigerjahre die deutsche Wiedervereinigung journalistisch begleitet und anfangs der Neunzigerjahre als Korrespondent in Moskau den versuchten Putsch gegen Michail Gorbatschow, den Zerfall der UdSSR und die Phase der Umorientierung in den ehemaligen Sowjetrepubliken verfolgt. Von 2002 bis 2008 leitete er die Wortprogramme von DRS2.
Inhalt
Vorwort
Venedig: Der Mythos Marco Polo
Venedig in Kürze
DIE STADT MARCO POLOS
Venedig
Viele, viele Seidenstrassen
DAS FREILICHTMUSEUM IN BEDRÄNGNIS
Chinesen überrollen die Lagunenstadt
Türkei: Das Tor zum Orient
Türkei in Kürze
PORTRÄT
Mustafa Koç
Georgien: Paradies unter Renovation
Georgien in Kürze
Englisch – Die Sprache der Zukunft
Georgien – Ein Paradies?
Gesichter Georgiens
PORTRÄT
Bidsina Iwanischwili
BOOM-BRANCHE RELIGION
Die georgische Orthodoxie auf Erfolgskurs
Aserbaidschan: Das Land des Feuers
Aserbaidschan in Kürze
Konflikt um Berg-Karabach
PORTRÄT
Natalja und Tural
DIE ERDÖLSTADT IM KASPISCHEN MEER
Neft Dashlari
PORTRÄT
Rena Effendi
Kasachstan: Der Reichtum aus der Steppe
Kasachstan in Kürze
MIT KAPITÄN KAMRAN IBRAHIMOV ÜBER DAS KASPISCHE MEER
«Ich bin ein moderner Karawanenführer»
UNTERWEGS MIT EINEM DER VÄTER VON KASACHSTANS NEUER HAUPTSTADT
«Ein bisschen Diktatur kann nicht schaden»
Weltraumfahrt der ehemaligen UdSSR
Usbekistan: In der Wüste des Autokraten
Usbekistan in Kürze
DER ARALSEE HAT SICH IN EINE WÜSTE VERWANDELT
Sand statt Wasser, Salz statt Süsswasser
INTERVIEW
Erich Gysling
Prekäre Lebensverhältnisse trotz Rohstoffreichtum
INTERVIEW MIT DEM JOURNALISTEN ALEXEI WOLOSSEWITSCH
Schlechte Zeiten für die Menschenrechte
BLICK INS NACHBARLAND: TURKMENISTAN
«Demokratie ist, wenn alle kostenlos Gas und Elektrizität haben»
Kirgistan: Zarte Pflanze der Demokratie
Kirgistan in Kürze
Geschlossene Grenzen nach Usbekistan
PORTRÄT
Rosa Otunbajewa
BLICK INS NACHBARLAND: TADSCHIKISTAN
Die Seidenstrasse als Drogen-Highway
China: Im Land der Extreme
China in Kürze
HERR PAN WILL wEG
Landflucht in China
PORTRÄT
Bin Wang
CHINESISCHE WEISHEITEN ZUR LEBENSBEWÄLTIGUNG
36 Strategeme
DER PRODUZENT DER DOK-SERIE «SEIDENSTRASSE»
Gesucht: Ein Alleskönner
Die DOK-Serie «Seidenstrasse» – Eine Teamarbeit
Vorwort
Die Seidenstrasse – Tausend Güter, tausend Gefahren,
tausend Chancen
Die Route zieht sich vom Mittelmeer durch unendliche Wüsten und über die Pässe der höchsten Gebirge der Welt. Seit der Bronzezeit bereisen Menschen diese Strecke. Doch es war nie eine romantische Reise. Auf der Seidenstrasse waren schon immer jene Menschen unterwegs, die von den fernen Länder profitieren wollten: Händler, Glücksjäger, Missionare.
Das ist auch heute nicht viel anders. Denn seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Aufstieg Chinas zum «Werkplatz der Welt» erleben die Transportwege durch Zentralasien eine eigentliche Renaissance. Es entstehen neue Strassenver-bindungen, darunter das Asiatische Fernstrassenprojekt (ESCAP). Neue Projekte wie die Transasiatische Eisenbahn (TAR) beflügeln Planer und Ingenieure.
Der Ausbau dieser «neuen Seidenstrassen» findet heute vor allem auf der sogenannten Nordroute statt, durch Kasachstan, Usbekistan und Kirgistan nach China. Auf der Südroute – durch Länder wie Irak, Iran, Afghanistan und Pakistan – türmen sich im Moment politische und wirtschaftliche Hindernisse aller Art.
Dass die Verkehrsströme den Gefahren ausweichen, ist nicht neu: Es gab nie nur eine einzige Seidenstrasse, sondern ein Geflecht von Wegen zwischen Europa und China.
Längs der Nordroute ist der neue Reichtum überall sichtbar. Er stammt nicht nur aus dem Handel mit China, sondern vor allem auch aus der Öl- und Gasförderung, die Ländern wie Aserbaidschan, Kasachstan oder Turkmenistan einen ungeahnten Wirtschaftsboom verschafft haben. Ein Reichtum, der sich längs der Seidenstrasse in vielen modernen architektonischen Monumenten ausdrückt. Diese Kathedralen des neuen Wirtschaftswachstums lassen sich nur vergleichen mit dem Bau der grossen Karawansereien und Moscheen im Mittelalter. Ob sie allerdings so lange Bestand haben werden wie diese, darf bezweifelt werden.
Peter Gysling hat mit einem Team des Schweizer Fernsehens die faszinierende Welt entlang den heutigen Seidenstrassen erkundet. Er hat zwischen Venedig und Xian in einer Vielzahl von Begegnungen dieses Panorama der Veränderung erlebt. In seinem Tagebuch beschreibt er Menschen und Mächte, alte und neue Player. Auf dieser Reise, die von der Vergangenheit direkt in die Zukunft führt.
Christoph Müller
VORWORT 7
Venedig
Der Mythos Marco Polo
Venedig in Kürze
Fläche: |
414,6 km2, davon mehr als die Hälfte Wasseroberfläche |
Einwohnerzahl: |
270 000, davon rund 60 000 im historischen Zentrum |
Die Stadt: |
Der eigentliche Stadtkern von Venedig erstreckt sich über etwa 120 Inseln, zwischen denen sich Kanäle unterschiedlicher Breite hindurchziehen. Zu vielen dieser Inseln gehören ein Platz und eine Kirche. Zudem gehören etwa 60 Inseln in der Lagune von Venedig zum Stadtgebiet. Das eigentliche Machtzentrum lag früher um den Markusplatz, wo sich denn auch die prächtigsten Bauten finden. Venedig steht seit 1987 auf der Unesco-Liste des Weltkulturerbes. |
Geschichte: |
Bis 1797 war Venedig die Hauptstadt der Republik Venedig, damals eine der grössten europäischen Städte. im 16. Jahrhundert war die Stadt ausserdem eine Handelsmetropole. Venedig war ein bedeutendes Finanzzentrum und dominierte ein Kolonialreich, das von Oberitalien bis nach Kreta und Zypern reichte. Der Adel der Stadt wurde reich durch den Handel mit Luxusgütern wie Seide, Gold oder Gewürzen. Nach 1798 geriet Venedig zuerst unter französische und später österreichische Herrschaft. 1866 wurde die Stadt ein Teil Italiens. |
Wirtschaft: |
Zu Venedig gehört seit 1929 der industriekomplex Mestre Marghera. Die historische Stadt hingegen ist seit über 100 Jahren fast ausschliesslich auf den Tourismus ausgerichtet. 2011 zog Venedig weit über 20 Millionen Besucher an, dreimal mehr als Rom. |
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AUS DEM TAGEBUCH VON PETER GYSLING
Venedig, der symbolische Ausgangspunkt unserer Reise
«Hier hat einst Marco Polo gelebt!» Alle paar Minuten steuert ein Gondoliere seine Kundschaft am Corte del Milion, am einstigen Wohnhaus der Familie Polo vorbei und weist auf die Asienreise hin, welche der junge Händler Marco vor rund 700 Jahren unternommen hatte.
Zwar streiten sich Wissenschaftler noch immer darüber, ob Marco Polo China jemals erreicht hat, und darüber, ob seine Reiseberichte dem Erlebten wirklich entsprechen. Unbestritten ist aber, dass Marco Polos Abenteuerberichte dazu beigetragen haben, den Handel zwischen Europa, Venedig und Asien zu beleben, vor allem auch, die verschiedenen Routen der Seidenstrasse bekannt zu machen. Und dies, obwohl schon
Jahrhunderte vor Polos Geburt auf den verschiedenen Abschnitten der Seidenstrasse der Handel blühte.
Marco Polos Geschichte sind wir einen ganzen Vormittag lang im Atelier von Stefano Nicolao auf der Spur. Der venezianische Kostümschneider hat anfangs der Achtzigerjahre die Kostüme für einen vierteiligen Marco-Polo-Film angefertigt. Er ist seinerzeit auch mit der Polo-Filmcrew mitgereist. Sein Atelier in Venedig beherbergt rund 10 000 Kostüme, welche er in den letzten Jahrzehnten für historische Filme, Opern und Festivals angefertigt hat.
Stefano Nicolao zeigt mir in seinem Atelier die Art der Kleider, welche Asienreisende vor 700 Jahren mutmasslich getragen haben. Dabei wird uns bewusst: Im Unterschied zu uns, der logistisch durchgeplanten SRF-Fernsehcrew, waren die Asien- und Chinareisen für die Menschen damals auch Reisen ins Ungewisse!
VENEDIG 11
Venedig
Marco Polo, der Händler aus Venedig, gelangte auf seiner Reise bis nach China. Auf Wegen, die bereits seit langem benutzt wurden, die aber erst durch seine farbigen Beschreibungen zum eigentlichen Mythos wurden.
Venedig war seit dem Mittelalter Ausgangspunkt für die westlichen Händler, die im nahen und fernen Osten nach Gewürzen, Juwelen und in China nach Seide suchten. Auf immer wieder verschiedenen
Routen. Denn es gibt nicht nur eine Seidenstrasse. Doch immer war die Lagunenstadt ein wichtiger Umschlagplatz und Anfang und Ende dieser Handelsrouten.
Schon Marco Polos Vater Niccolò, ein Edelsteinhändler, reiste zusammen mit seinem Bruder Matteo um 1260 an den Unterlauf der Wolga und von dort bis nach Buchara und schliesslich – eher unfreiwillig – bis nach Peking. Solche Reisen erfolgten immer auch im päpstlichen Auftrag. Denn nebst dem Handel erhoffte sich die Kirche eine Missionierung des fernen Ostens. Ganz im Geiste der Kreuzzüge. Der Vater und der Onkel gingen gleich nach ihrer Rückkehr an die Planung einer nächsten Reise
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nach China. An dieser nahm auch der damals gerade 17-jährige Marco Polo (ca. 1254–1324) teil.
Reise ohne päpstlichen Segen
Ein kirchlicher Auftrag fehlte, denn es herrschte gerade das längste päpstliche Interregnum der Geschichte. Eine Papstwahl bedeutet immer einen Machtkampf mit Intrigen und Skandalen. Die Kardinäle wurden im Konklave im italienischen Viterbo erstmals hermetisch abgeriegelt und eingemauert, weil sie sich drei Jahre lang nicht entscheiden konnten. So lange mochten die Polos aber nicht warten und machten sich 1271 mutig auf ihre neue Reise – ohne den päpstlichen Segen.
Dieses neue Abenteuer führte sie – vieles ist Legende, manches scheint historisch belegt – über Akkon, den Haupthafen der Kreuzritter in Galiläa, zuerst nach Jerusalem. Von dort wollten sie dem Mongolenherrscher Kublai Khan Öl aus der Lampe des Heiligen Grabes mitbringen. Anschliessend reisten sie via Iskenderun, Täbris und Zentralasien bis zur Sommerresidenz des Grosskhans in China. Von dort reiste der junge Marco Polo weiter nach Xian.
17 lange Jahre blieben sie in China, bis sie per Schiff zurück nach Europa kamen. Marco Polo in Begleitung seiner chinesischen Gemahlin Hao Dong, einer Tochter des Grosskhans. Er hatte sich in ihre schönen Gesänge und ihre aussergewöhnliche Stimme verliebt. In Venedig wurde sie aber als Nicht-Christin von der tonangebenden Gesellschaft überhaupt nicht akzeptiert. Sie lebte zurückgezogen im Hause Marco Polos und trat nur ans Fenster, wenn sie ihre Lieder sang.
Liebeslieder zum Abschied
Heute ist der Corte del Milion in Venedig der wichtigste Ort, der noch an Marco Polo erinnert. Den Namen Corte del Milion sollen die Einheim-
ischen dem Hof gegeben haben, weil der Zurückgekehrte ständig vom unermesslichen Reichtum des mongolischen Grosskhans erzählt habe.
Marco Polo wurde später bei einer Seeschlacht gegen die Genuesen verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Als anschliessend in Venedig – so geht die Legende – eine Intrigantin seiner chinesischen Gemahlin berichtete, ihr Mann sei in der Gefangenschaft gestorben, trat Hao Dong in ihrem Schmerz ein letztes Mal ans Fenster und stürzte sich in den Tod. Angeblich soll man ihre traurigen Liebeslieder für Marco Polo nachts noch immer hören.
Reto Padrutt
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Viele, viele Seidenstrassen
Es lauerten Gefahren aller Art: Kälte, Hitze, Überfälle. Furcht einflössend war sie, die Seidenstrasse. Besser: die Seidenstrassen. Denn eine einzige Seidenstrasse gibt es nicht. Sie ist vielmehr ein Netz von Strassen und Wegen, die alle von West nach Ost, von Ost nach West führen.
Auf diesen Seidenstrassen wurde längst nicht nur Seide transportiert. Die Chinesen könnten die Seidenstrasse ebenso gut «Glasstrasse» nennen, denn bis ins frühe Mittelalter wurde viel Glas von Europa nach China transportiert. Das Schiesspulver und das Papier fanden ihren Weg von China nach Europa. Gold und Edelsteine wurden hier transportiert.
Ein Transportweg für Luxuswaren aller Art – aber auch für Religionen und Ideologien. Das Christentum stiess längs der Strasse gegen Osten vor, wo es aber nie richtig Fuss fasste. Im Gegensatz zum Islam, der sich entlang der
Seidenstrassen ausbreitete: in Afghanistan, Iran, Pakistan und ganz Zentralasien. Dort erinnern die prächtigen Moscheen von Samarkand und Buchara heute an den Reichtum von damals.
Strasse der Krankheiten
Entlang der Seidenstrasse bewegten sich nicht nur Waren und Menschen, Religionen und Kulturtechniken, sondern auch Krankheiten. Die Pest zum Beispiel, die sich von Yunnan ausbreitete, 1348 auf der Krim anlangte und sich weiter nach Europa verbreitete.
Bereits im 13. Jahrhundert – also zu Lebzeiten von Marco Polo – setzte der Niedergang der Seidenstrasse ein. Denn der Seeweg wurde besser, billiger und vor allem sicherer. Es entfielen die Gefahren des Landweges und die Zölle, die an vielen Orten erhoben wurden. Erst heute wird der Strassenweg wieder wichtig.
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Chinesische Ware so weit das
Auge reicht
Wie stark sich China und Westeuropa in den vergangenen Jahren näher gerückt sind, wird bei einem Rundgang durch die Calle dei Fabbri deutlich. Hier, wo einst in der Bar ein temperamentvoller Venezianer mit der linken Hand die Kaffeemaschine bediente, mit der Rechten das Geld kassierte und mit dem linken Bein die Tür des Kühlschranks zuschlug, führen nun Chinesen und deren Mitarbeiter Regie.
Immer mehr Chinesen nisten sich in den Kleidergeschäften und venezianischen Imbissecken ein. Wenn ein Betrieb zum Verkauf anstehe, so berichten Venezianer, seien Chinesen
oft in der Lage, fast jeden beliebigen Preis auf den Tisch zu blättern.
Der fliegende Händler Alessandro Massalongo verkauft an seinem fahrbaren Verkaufsstand, einer Bancarella, in der Nähe der Rialtobrücke die typischen venezianischen Halbmasken, welche beim Carnevale getragen, aber durchs ganze Jahr hindurch von Touristen gekauft werden. Einige Masken in seinem Angebot, gibt Massalongo zu verstehen, seien preisgünstig in China hergestellt worden. Auch als gebürtiger Venezianer komme er nicht darum herum, auf chinesische Billigware zurückzugreifen. Er zuckt ratlos die Schultern, als ich ihn darauf anspreche, dass Venedig vielleicht immer mehr von Chinesen übernommen werde. «Schicksal!», meint er.
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Chinesen überrollen die Lagunenstadt
Venedig wird täglich von einem Strom von Touristen aus aller Welt besucht. Von diesem Ansturm profitieren vorab chinesische Investoren. Die Einheimischen werden zunehmend aus der historischen Altstadt verdrängt und wandern aufs Festland ab.
Die enge Calle dei Fabbri, die ehemalige Schlossergasse, ist eine der wichtigsten Fussgängerstrassen Venedigs und die direkte Verbindung zwischen Markusplatz und Rialto-brücke.
Heute reihen sich hier Souvenirgeschäfte an Kleiderläden und Imbissbuden. Denn die meisten der jährlich über 20 Millionen Venedig-
Touristen drängen sich durch die verwinkelte Altstadtgasse. Sie laufen in Gruppen hinter dem hochgehaltenen Fähnchen ihres Reiseleiters her. In den letzten Jahren fällt den einheimischen Stadtbewohnern auf, dass immer mehr chinesische Reisegruppen an der täglichen Einkaufstour durch die Lagunen teilnehmen.
Venedig platzt aus allen Nähten. Kritische Stadtkenner erzählen ihren Besuchern vom Ausverkauf der Lagunenstadt an zahlungskräftige Investoren. Grandiose Barock- und Renaissance-Palazzi, ja gar ganze Inseln gehören heute Benetton oder Gucci.
18 VEVEDIG
«Chinesische Männer
verjubeln das
Geld lieber in Spiel-
casinos »
Was aber nur wenige ahnen:
Auf Immobilien-Einkaufstour sind
auch chinesische Immigranten der
ersten Generation. Von den 20 ita-
lienischen Regionen weist Veneti-
en nach der Toskana und der
Lombardei die dritthöchste Anzahl chinesischer Unternehmer auf. Da sich oft ganze Grossfamilien an Investitionen beteiligen, entstand – vorerst fast unbemerkt – ein chinesisches Geschäftsviertel in unmittelbarer Nähe vom Markusplatz.
Chinesische Grossfamilien in Venedig
Eine der chinesischen Unternehmerinnen ist die 34-jährige Xiao Fei Gao, die sich der Einfachheit halber einen italienischen Vornamen zugelegt hat: Laura. Die zupackende und freundliche Frau stammt wie ihr Mann aus Wen Zhou bei Shanghai. Er war schon früher nach Italien gezogen und brachte sie nach ihrer Heirat in China im Jahr 1999 nach Venedig. Ihre zwölfjährige Tochter und der zehnjährige Sohn sind hier geboren. Laura besitzt
in der Calle dei Fabbri gleich drei Geschäfte samt den zugehörigen Häusern. Den Kinderkleider-laden mit italienischen Luxusmarken führt ihr jüngerer Bruder Le-
on, das Accessoire-Geschäft ihre jüngere Schwester Eva. Laura selber kontrolliert die Verkaufsläden ihrer Geschwister und leitet die Bar und Pizzeria Oasi persönlich. Sie erklärt weshalb:
«Wenn die Arbeit ohne die Besitzer gemacht wird, geht das nicht gut. Klar, auch die Angestellten arbeiten tüchtig, alle sind gut. Aber es braucht immer ein wachsames Auge. Der Chef muss da sein, sonst ändert sich alles.»
Im Besitz dieser chinesischen Grossfamilie sind eine zweite Bar und ein Schuhgeschäft. «Chinesische Männer verjubeln das Geld lieber in Spielcasinos», sagt Laura, und deshalb sitzt sie wie viele chinesische Frauen auf dem Portemonnaie. Um die Geschäfte in Gang zu halten, arbeitet sie fast rund um die Uhr.
VENEDIG 19
Echt «Made in China»
In einer globalisierten Welt, in der von Computern über Handys, von Kleidern bis zu Küchenmaschinen fast alles in China produziert wird, wundert es nicht, wenn auch an Venedigs Ufern Warenkartons mit chinesischen Inschriften abgeladen und durch die Gassen gekarrt werden. Die Waren werden meist legal eingeführt, als «Made in China», landen allerdings nicht selten bei afrikanischen Strassenhändlern, den sogenannten Vucumprà, oder in Souvenirläden. Dort werden sie immer wieder mal umetikettiert und als «Made in Italy» oder «Made in Murano» an die Touristen verkauft.
Lauras Bruder Leon, der hier Sprachen studiert und im Kinderkleiderladen an der Calle dei Fabbri italienische Luxusprodukte verkauft, bekommt dies fast täglich zu spüren: «Besonders kritisch sind chinesische Kunden, weil sie in China geseh-
en haben, dass es dort massenhaft Fälschungen gibt. Dann kommen sie hierher und wollen wissen: Sind die echt oder gefälscht?»
Tatsächlich hat die Finanzpolizei, die Guardia di Finanza, allein in den letzten drei Jahren in der Region Venetien mehr als eine Milliarde gefälschter oder gesundheitsgefährdender Artikel konfisziert. Über 90 Prozent davon stammten aus China.
«Ich liebe Murano und diese Arbeit»
Eigentlich sollten Touristinnen und Touristen wissen, dass sie sich beim Kauf solcher Waren wie gefälschter Guccitaschen oder Markenuhren strafbar machen. Dass sie dennoch zugreifen, ärgert General Marcello Ravaioli, den obersten Befehlshaber der venezianischen Guardia di Finanza: «Die Käufer, die Bürger, müssten eigentlich aufmerksam sein, um zu verhindern,
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dass sie mit ihrem Geld letztlich eine kriminelle Organisation finanzieren.» Bei einer Razzia auf Murano und in Venedig beschlagnahmte die Finanzpolizei über zehn Millionen in China hergestellte «Murano»-Art-
ikel. Das beschäftigt auch einen der wenigen verbliebenen Glaskünstler auf Murano, Paolo Crepax. Er hofft, dass die chinesische Konkurrenz bei der heutigen Billigware bleibt und dass es ihr nicht gelingen wird, die wirklich künstlerische Leistung der Murano-Glasbläser zu imitieren. «Ich hoffe, dass es nie so weit kommt. Denn ich liebe Murano und diese Arbeit. Das Glas ist wie eine schöne Frau. Wenn du glaubst, sie verstanden zu haben, kannst du gleich abhauen.»
Und was ist mit der schönen Stadt Venedig? Wird sie Klimawandel und Kommerz überstehen? Eines haben die von riesigen Kreuzfahrtschiffen ausgespuckten endlosen Touristenströme und die Immobilienspekulation bereits zur Folge: Die Einheimischen verlassen Venedig und ziehen in Massen aufs Festland.
Reto Padrutt
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Im Unterschied zu den Bars, einzelnen Restaurants und verschiedenen Boutiquen ist das Geschäft mit den Gondeln aber nach wie vor fest in venezianischer Hand. Die entsprechenden Lizenzen sind beschränkt und äusserst begehrt.
Die einstige Handelsstadt ist heute vor allem ein Touristenparadies. Unaufhörlich steigen Reisende mit ihren Rollkoffern die Stufen auf den Kanalbrücken hoch und runter und lassen dabei ihr prall gefülltes Gepäck auf die jeweils nächste Treppenstufe plumpsen.
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Dank Marco Polo ist Venedig für viele ein symbolischer Ausgangspunkt oder das Endziel einer Seidenstrassenreise.
Uns führt diese auf einer ihrer nördlichen Routen von West nach Ost. Von Istanbul ein Stück weit quer durch die Türkei, dann durch Georgien
und Aserbaidschan ans Kaspische Meer. Vom kasachischen Hafen Aktau aus nordostwärts, dann durch Usbekistan und schliesslich über Kirgistan nach China. Dort auf einer südlichen Route entlang der Wüste Taklamakan und der Wüste Gobi bis ins chinesische Xian.
VENEDIG 23
Türkei
Das Tor zum Orient
Türkei in Kürze
Hauptstadt: |
Ankara |
Fläche: |
779 452 km2, ca. 19-mal grösser als die Schweiz |
Einwohnerzahl: |
ca. 75 Millionen |
Staatsform: |
Parlamentarische Republik |
Regierungschef (2012): |
Recep Tayyip Erdogan |
Amtssprache: |
Türkisch |
Religion: |
Die Mehrheit der türkischen Bevölkerung gehört dem islam an, gegen 80 % sind Sunniten. Die Statistiken sind allerdings mit Vorsicht zu geniessen, da all jene, die keine Angaben machen, automatisch als Muslime registriert werden. |
Höchster Berg: |
Ararat mit 5137 Metern |
Landschaft: |
Nebst fruchtbaren Landwirtschaftsgebieten gibt es Steppen und Berggebiete. Durch die Lage auf den Kontinentalplatten sind Erdbeben vor allem im Norden der Türkei häufig. |
Wirtschaft: |
Aus dem Agrarland ist auch eine industrienation geworden, die Textilien, Fahrzeuge und andere Konsumgüter produziert. eine der wichtigsten Devisenquellen ist der Tourismus. Das Gefälle zwischen dem westlichen Landesteil mit der Wirtschaftsmetropole Istanbul und dem landwirtschaftlichem Osten ist beträchtlich. |
Geschichte: |
Istanbul war als Byzanz die Hauptstadt des Oströmischen Reichs, später als Konstantinopel jene des Osmanischen Reichs. Das Osmanische Reich erstreckte sich über einen Teil des Nahen Ostens, des Kaukasus, des Balkans, Nordafrikas und der Krim. Mustafa Kemal Pascha – genannt Atatürk – machte im 20. Jahrhundert aus der Türkei einen westlich säkularen Staat. |
Menschen: |
Gegen 80 % der Bevölkerung sind Türken, daneben leben viele Minderheiten in der Türkei, zum Beispiel Kurden, Armenier, Tscherkessen oder Tschetschenen. |
26 TÜRKEI
AUS DEM TAGEBUCH VON PETER GYSLING
Fussballverrückte im Lärm
und Tränengas
Gleich nach unserer Ankunft in Istanbul gerate ich bei einem Rundgang in der Nähe des Taksim-Platzes in eine aufgebrachte Menge Fussballfans, die dem Spiel zwischen den beiden Istanbuler Mannschaften Galatassaray und Fenerbahce entgegenfiebert. Der Club Galatassaray steht für die türkische Fussballwelt auf dem europäischen Teil des Kontinents, die Fans von Fenerbahce identifizieren sich mit dem Istanbul auf der asiatischen Seite des Bosporus.
Von einem Dachrestaurant landet ein Klappstuhl in der Menge auf dem Platz, und die Polizei versucht, die Fans mit Tränengas-Petarden und einem Wasserwerfer in Schach zu halten. Zusammen mit anderen Passanten gelingt mir die Flucht ins Innere eines Kleiderladens.
Am späteren Abend sitzen wir in einem überdachten Hinterhof eines der beliebten Strassenrestaurants. Nachdem wir unser Essen bestellt haben, wird es unüberhörbar, dass das Fussballspiel eben mit einem Sieg des FC Galatassaray zu Ende gegangen ist. Wieder formieren sich in der Fussgängerzone die Fans zu Tausenden. Sie feuern Rauch-Petarden ab und feiern mit grossem Lärm den Sieg ihrer Mannschaft.
Die jubelnde Menge wird schliesslich so ausgelassen, dass die Polizei abermals mit Tränengas ins Geschehen eingreift. Bald vermischt sich im Innenhof unseres Restaurants der Rauch des Schaschlik-Grills mit Spuren von Tränengas, und zusammen mit den andern Gästen suchen wir fluchtartig in einem Treppenhaus Schutz.
Doch wir lassen uns das feine Essen nicht verderben, kehren bald zu unsern Tischen zurück und versuchen uns mit den feiernden Fussballfans zu freuen.
TÜRKEI 27
28 TÜRKEI
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Pulsierendes Leben auf der Galatabrücke
Während unseres dreitägigen Aufenthalts in Istanbul suchen wir immer wieder die Galatabrücke auf. Sie bildet für viele Istanbulreisende einen wichtigen Ausgangspunkt für zahlreiche Unternehmungen. Beispielsweise für eine Fahrt mit der Fähre über den Bosporus.
Während sich Taxis, Autobusse und Lieferwagen ihren Weg durchs dichte Verkehrsgewühl auf der Brücke bahnen, haben sich entlang der Brückengeländer Dutzende von Fischern aufgereiht, und ab und zu wird ein kleiner Fang hochgezogen. Hinter den Fischern drängeln sich die Touristen. Die Menschen bleiben immer wieder stehen und lassen sich vor der faszinierenden Altstadtkulisse mit den Fischern, den Fähr- und Fischerbooten und den Moscheen im Hintergrund fotografieren. Istanbul: eine grandiose Kulisse für den boomenden türkischen Tourismus.
Fliegende Händler bieten gebratenen Fisch oder geröstete Maiskolben an, und das Gekreisch der Möwen oder das Hupkonzert der Fährboote, die unter der Brücke durchfahren,
wird nur durch den Gebetsruf des Muezzins übertönt, der über die Lautsprecher vom Minarett der Süleymaniye-Moschee bis hierher zu hören ist.
Auf dem Grossen Basar
Wir haben uns am frühen Morgen noch vor dem grossen Touristenandrang am Stand von Hasan Yedek eingefunden. Yedek ist 74. Seit seinem zwanzigsten Altersjahr macht er im Basar Geschäfte. Er hat sich auf den Handel mit mechanischen Instrumenten spezialisiert, die einst in der Seefahrt verwendet wurden: Kompasse in grossen Messinggehäusen, Peilgeräte, Sextanten, Feldstecher und Fernrohre aller Art liegen in der Auslage seines etwa zehn Quadratmeter grossen verglasten Verkaufsraums.
Hasan Yedek möchte sein Geschäft dereinst seinem Sohn übergeben. Dieser arbeitet bereits heute mit. Doch im Gespräch mit dem Sohn wird deutlich, dass dieser nicht geneigt ist, das Geschäft nach dem Tod seines Vaters im bisherigen Stil weiterzuführen. Ernsthafte Sammler, so meint der Sohn, fänden sich heute
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immer weniger auf dem Basar ein. Das Internet übernehme auch im Antiquitätenhandel eine immer wichtigere Rolle.
Hasan Yedek schildert uns, wie er über Zufallskontakte zu seinen Exklusivitäten gekommen ist, aber auch, dass auf dem Basar immer mehr industriell produzierte Massenware umgesetzt werde. Geduldig lässt sich Yedek für die Filmaufnahmen etwas mehr nach links und von links wieder nach rechts dirigieren. «Nein, nicht direkt in die Kamera schauen – und die Tasche auf dem Tisch sollte etwas mehr nach hinten gerückt werden!» Weil die Platzverhältnisse in Yedeks Kiosk sehr beengt sind, erweist es sich als schwierig, hier ein Interview in möglichst eindrücklicher Kulisse aufzuzeichnen. Nach den Aufnahmen führt mich Yedek zu Kollegen, die chinesische Seidenwaren anbieten.
Gegen Mittag wird der Basar von immer mehr Touristen bevölkert. Im riesigen Gebäudekomplex werden an Tausenden von Verkaufsständen vor allem Schmuck, Uhren, Lederwaren, Schuhe, Teppiche, Lampen, Kristallwaren oder T-Shirts angeboten.