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Reinhild Solf

Schattenfrauen

Roman

LangenMüller

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© für die Originalausgabe und das eBook: 2012 LangenMüller in der
F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlag: Wolfgang Heinzel
Umschlagbild: Christian Bäck
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-7844-8100-5

Ich hüpfe mit einer Zahnbürste in der Hand, einem Handtuch um den Hals, einem Trainingsanzug am Leib vom Zeltplatz durch ein hügelreiches Kiefernwäldchen zum Strand. Es ist früher Morgen. Ich bin fünfzehn Jahre alt.

Gestern hatte ich dich zum ersten Mal gesehen. Ich kannte dich fotografiert, gemalt und beschrieben, gestern sah ich dich, in meinem Herzen zitterte es vor Staunen, überfordert von deinem Anblick stand ich und glotzte in deine lebendige Unendlichkeit. Freiheit, Sehnsucht, offene Stärke und dein Charakter, egoistisch, spendabel, rücksichtslos, gefährlich, furchtbar; damit, mit diesen leeren Begriffen in Uniform, hatte ich nie was anfangen können, jetzt hast du sie gefüllt.

Das war gestern, heute stehe ich, du bist, Gott sei Dank, nicht wild heute Morgen, bis zu den Knien in dir, mit deinem kühlen, salzigen Wasser putze ich meine Zähne, schaufle Wasser und gieße es über mein Gesicht, gierig, wieder und wieder, mit offenen Augen, bis sie brennen. Und ich sitze in deinem Sand. Du bist ein Tier, das viel fressen muss, um so viel Sand auszuscheißen. Ich bedecke mich mit deiner Sandscheiße, die Sonne bescheint mich, und ich warte, bis die gewonnenen Wahrheiten gar sind.

Meine Garzeit wird schroff unterbrochen von Helga Sperber: Mänsch. Liese, Faahnabell, der Brodner doobt!

1

Fünfundvierzig Jahre später stehe ich wieder hier, du Ostsee! Ich bin mehr geworden und du weniger. Die vielen schmachtenden Erinnerungen an dich haben dich abgezehrt, aber du hast jedem Vergleich standgehalten, mit dem Roten Meer, der Nordsee, dem Mittelmeer und dem Indischen Ozean.

So wie die Toscana auch nur fast so schön ist wie die Magdeburger Börde.

Heimat. Heimat. Mein Auge ist trüb, mein Blick ist nicht mehr scharf, ohne Brille bist du ein Möwenteich. Mit Brille bist du, wie du warst vor fünfundvierzig Jahren, mein erstes Universum.

Wieder, wie vor fünfundvierzig Jahren, gare ich vor mich hin, wieder werde ich schroff gestört, wieder ist es Helga Sperber: Mänsch, Liese, komm schnell, die Waiba spieln varüggt!

Da sind sie schon, die Waiba.

… hier war es!

… nein, hier, ich habe mir die Kiefer gemerkt, sie sah aus wie eine Schlange, da steht sie noch, nach fünfundvierzig Jahren! Mein Gott!

… nein, dort auf dem Hügel! Wenn ich morgens das Zelt aufgeschnürt hatte, sah ich den dicken Brodner…

… Mänsch, unsern Lagerleiter, ja …

… im zu engen Blauhemd pinkelnd an eine Kiefer gelehnt. Ich konnte es nicht fassen, dass er auch nachts das Blauhemd anhatte …

.… nein, nein, unser Zelt war hier, wo ich jetzt stehe, hier auf dem kleinen Hügel …

Rotraut Spindler sagt das, setzt sich und singt: Bau auf, bau auf, bau auf, bau auf, Freie Deutsche Jugend, bau auf!

Moni Hille rudert mit den Armen, sie steht in einer Senke, sichtbar nur Kopf und Hals: … unser Zelt stand hier! Nach einem Gewitter war die Senke voll Wasser gewesen, wir lagen in einem Teich …

Fee Vrohn kommt als letzte, keuchend: 64, 65, 66 …, 66 Schritte … – bleibt stehen, … 67. 67! Genau, das einzige, was noch steht, ist das Klo! Wenn ich nachts musste und Angst hatte, zählte ich immer bis 67. Hier, wo ich jetzt stehe, ist 67!

Luise-Marie Teesenberg, Lehrerstochter, Diplomingenieurin, Brückenbauerin, Zigarette im Mundwinkel, schlendert in das Gelände und steht da. Steht nur da. Sie steht da und strahlt etwas aus, das anlockt. Honig. Luise-Marie Teesenberg, der Honig. Autoritärer Honig. Die anderen verlassen ihre Rechthaberplätze und trollen sich zu ihr. Das sind: Rotraut Spindler, Moni Hille, Ute Friebel, Fee Vrohn, Helga Sperber und ich.

Ich bin Liese Spahn.

Luise-Marie Teesenberg spricht langsam: Hört mal, wir waren vier Mal hier, von fünfzehn bis achtzehn, einmal im Jahr vierzehn Tage. Die Zelte standen doch nicht immer am gleichen Platz! Fünfundvierzig Jahre sind eine lange Zeit, hört auf zu kreischen, wir sind Rentnerinnen! Bitte!

Helga Sperber hatte vorigen Herbst den ehemaligen Zeltplatz im Kiefernwald entdeckt. Hört mal, schrieb sie uns, wo früher unsere Zelte standen, gibt es nun Holzhäuschen, große, mittlere, kleine, rote, grüne, gelbe, weiße. Eines, ein gelbes, hat sieben Betten, ein Sofa, eine Terrasse und eine Sauna.

Die Kunde erreichte uns, sieben FDJlerinnen, die damals gemeinsam eine Schule besucht hatten. Wir sind vier alte Wessis und drei alte Ossis. Wir gingen mit achtzehn auseinander, mit siebenundsechzig haben wir uns wiedervereinigt. Luise-Marie Teesenberg, Rotraut Spindler, Moni Hille, Ute Friebel, Helga Sperber, ich, Liese Spahn –

– und Fee Vrohn.

Fee Vrohn, du hast dich mit vierzehn Jahren in mich reingesetzt, bist vier Jahre drin geblieben und hast von mir Hirn gefressen. Du hast es nicht gewusst. Ich damals auch nicht. Ich weiß es jetzt. Dein Wie-du-warst hat mich dumm gemacht damals. Dein geflochtener Haarkranz, ein Kunstwerk, nie in Unordnung, deine Haut, nie ein Pickel, dein Lächeln nie traurig, dein Gang ohne Schwäche, immer aufrecht, deine Beine länger als alle anderen Beine, deine tiefe Stimme, vielversprechend. Beste Schülerin, Beste in Sport, beste Tänzerin mit schönstem Tanzstundenherrn.

Du konntest schnell laufen, ich auch.

Ein Staffellauf in der Hauptstraße von Elversberg, unserem Städtchen. Die Ackerbucker, Berufsschule für Ackerbau und Viehzucht, gegen Erich-Weinert-Oberschule, unsere Schule. Links und rechts viele Zuschauer. Du und ich traten als Schnellste nebeneinander als Erste an. In die Hocke, auf die Plätze, fertig, Pfiff. Mich mit dir messen trieb mich in Vorlage, und die Vorlage klatschte mich aufs Pflaster.

Wir waren im Zeltlager. Fee Vrohn, mit fünfzehn Jahren, streiften wir kurz vor Zapfenstreich durch den Kiefernwald, wir sahen Blaubeerbüsche prall behängt, so weit das Auge reichte, wir pflückten gierig für die Münder, wir wollten mehr, wollten die Köstlichkeiten mit ins Lager nehmen, hatten aber nichts für den Transport. Du kamst aus der Hocke, drohend, ein aufgestellter Telegrafenmast, du hast gesprochen, und alle vier Mädchen gehorchten; Rotraut Spindler, Moni Hille, Ute Friebel und ich, Liese Spahn. Wir machen ein nächtliches Blaubeerenessen im Zelt, sagst du, zieht eure BHs aus und pflückt sie voll. Wir pflückten in die Körbchen, wir trugen in den Körbchen, wir aßen aus den Körbchen. Die Körbchen waren für immer verfärbt und versaut, wir mussten die Körbchen entsorgen, keine hatte einen zweiten BH. Wut, Ohs, Folter für dich, Fee Vrohn. Und du, Fee Vrohn, pflücktest in deine Turnschuhe!

Der erste Abend.

Ruhe, bitte etwas leiser, Ruhe, ich verstehe kein Wort! Das sonore Organ von Luise-Marie Teesenberg dringt nicht durch, drei Wessirentnerinnen, drei Ossirentnerinnen kreischen, zischen, schnattern, trompeten, zwitschern ihre Redeschwalle ihrem Gegenüber und nach nebenan zu. Luise-Marie Teesenberg, nochmals: Jetzt ist aber Schluss, ihr könnt doch nicht unsere vierhundertsiebzig Jahre an einem Abend einlösen! Da, der Matjes und die Kartoffeln, Rotraut hat so gut gekocht.

Nichts, keine Wirkung.

Ich spreche nicht, ich höre zu, ich sehe zu. Sechs große graue Krähen schlagen mit den Flügeln, langgestreckte Hälse, ihre Köpfe rote Handbälle, Augen hervorstehend, hacken aufeinander, bluten, weinen, werden sechs geduckte Mäuse, voller Mitleid füreinander:

… mein Mann hat die Wende nicht verkraftet. Erst war er wer, dann nichts mehr …

… Hiddensee, du konntest nach Hiddensee? …

… wir hatten dort eine Familie…

… er fing an zu trinken…

… aber jedes Westpäckchen ging an die Familie…

… mit ’nem dänischen Pass, was? …

… meine zwei Enkel spielen so gern Fußball …

… zwei in unsere Klasse, zwei waren bei der Stasi…

… du hast doch alles …

… ich weiß es aus meinen Akten! …

… keiner wurde gezwungen …

… unser Tanzstundenlehrer, Herr Schenkengruber …

… Schenkenhuber …

… ja, ich weiß, es hat was mit Geburtstag zu tun …

… ich habe Krebs, unheilbar …

Ruhe.

Wir greifen alle zur Gabel, die Köpfe tief über den Tellern, wir essen Matjes. Außer Moni Hille, sie hat Krebs. Jetzt werden Kartoffeln zerdrückt. Endlich! Lecker!

Was hast du für einen Krebs, frage ich Moni Hille leise.

Jetzt wird gegessen, später dann, sagt Fee Vrohn und fragt Rotraut, fragt, eins zu eins, Zwiebel und Äpfel, Rotraut?

Der Geruch der zerquetschten Kartoffel, das Scheppern von Gabeln und Messern, das feige Schweigen aller. Ich stehe auf, ich laufe hinaus, draußen ist Regen, ich lasse mich abregnen.

Ein Strandfest ist angekündigt. Fred Zieren. Fred Zieren mit Mannschaft singt für Sie Seemannslieder und Schlager. Wir erfüllen jeden Wunsch. Beginn 18 Uhr.

Da gehen wir hin, sagt Helga Sperber. Wir gehen hin.

Fred Zieren als Kapitän, Mikro in der rechten Hand, gebleckte neue Zähne, verheißungsvoll, zu seinen Füßen auf Hockern drei Matrosen, Gitarre, Mundharmonika, Schlagzeug, grinsen zuversichtlich; Fred Zieren, schwarzer Schnauz, graues schütteres Haar, auch die Matrosen im Rentenalter wie wir. Bühne, Tanzfläche, lange Bänke, lange Tische, bunte Lampions, Würstchen, Bier und Bernsteinbuden. Erna-Witze; Kein Schwein ruft mich an; Junge, komm bald wieder; und, natürlich, Polonäse Blankenese. Mitsingen, Mittanzen. Luise-Marie Teesenberg und Fee Vrohn tanzen zusammen. Alles ist friedlich, bis es passiert.

Rotraut Spindler, Moni Hille, Helga Sperber und ich stehen untergehakt und schunkeln, Luise-Marie Teesenberg und Fee Vrohn tanzen vor uns, viele tanzen. Ein Aufschrei, schrilles Kreischen, ein Halbkreis, etwas liegt auf dem Bretterboden, kullert, hüpft, ein junger Mann in Jeans holt mit dem rechten Fuß aus, will es wegkicken. Luise-Marie Teesenberg steht abseits mit rotem Kopf, ihr Kopf schwitzt. Sie geht mit schweren Schritten in den Halbkreis, die Kapelle spielt, Fred Zieren singt: Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsre Liebe nicht.

Das Etwas liegt da, ein Tier, ein erschöpftes Tier. Rosa. Es ist ein Gummibusen, eine Prothese, sie gehört Luise-Marie Teesenberg. Sie hebt sie auf, drückt sie an sich, ein verloren gegangenes Kind. Wir vier schunkeln weiter, weil wir nicht wissen, was wir tun sollen. Luise-Marie Teesenberg guckt uns nicht an, geht vorbei an uns.

Wir schunkeln, unsere nackten Arme sind nass von Schweiß und kleben aneinander, wir lösen uns, wir folgen ihr im Gänsemarsch. Nicht nebeneinander, hintereinander. Ich gehe hinter Helga Sperber, ich strecke meine Arme aus –

Stillgestanden! Rühren! Im Gleichschritt Marsch! Liese Spahn! Ausgestreckte Arme! Ausgerichtet zum Vordermann! Wenn deine Arme schlapp machen, tanzt mein Stock!

Ich gehe nicht hinter Helga Sperber, ich bin nicht mehr auf der Insel Rügen, ich bin im Frauengefängnis Haltenberg bei Neu-Brandenburg. Vor fünfunddreißig Jahren. Ich war damals zweiunddreißig Jahre alt. Die Frau mit dem Stock, der zu ihr gehörte wie ihr Kraushaar, hieß Helga Schott. Helga Schott war mittelgroß, auf ihrem Rumpf ein runder Kopf, der nur geradeaus guckte. Sie drehte ihren Kopf nie. Wollte sie hinter sich, nach rechts oder links gucken, drehten sie nur ihre Füße. Jedem Frischling, einer Neuen, wurde von irgendwo ins Ohr gezischt: Ihr Kopf ist mit Alleskleber aus dem Westen angeklebt. Sie heißt Stockfisch.

Ich war damals in einem ausgelaufenen Zustand, hatte nach acht Monaten meinen Willen zum Widerstand eingetauscht gegen eine Viererzelle. Statt der Achterzelle bisher. Und hatte auch noch zu spionieren versprochen. Danach hatte ein Wohlfühlen begonnen, das ganz langsam durch alle Ritze und Spalten wuchs. Wenn ich heute Acht aussprechen muss, ist mein Mund ohne Spucke.

Achterzelle: Ein großer Raum mit acht Betten, vier auf einer Seite, vier auf der anderen Seite, rechts von der Tür ein Klo mit grünem Plastikvorhang, ein Waschbecken, ein Regal mit acht Brettern, Ablage für die Utensilien der acht Frauen, in der Mitte ein Tisch mit acht Stühlen. Das Bett nahe dem Klo hatten sie für mich bestimmt. Zu den sieben anderen Betten gehörten sieben Frauen, Kriminelle alle; ich war die einzige Politische: eine Tantenmörderin, eine Ladendiebin, eine Brandstifterin, eine Dokumentenfälscherin, die übrigen drei waren Wiederholungsklauerinnen von volkseigenem Baumaterial. Die drei kannten sich, die dazugehörigen Männer saßen in Oranienburg. Die sieben waren eine Gemeinschaft, sie hatten eine Chefin, es war die Dokumentenfälscherin. Sie hieß Roswitha, sie bestimmte, was verübt werden musste, die anderen gehorchten ihr, das Grausamste machte sie selbst. Sie war wie ein Mann, stämmiger kurzer Körper, mit kurzen Säulenbeinen, der Kopf viereckig, Ohrring im rechten Ohr, drei gleichmäßig verteilte Fettwülste im Nacken, die Arme so dick wie die Beine und durchgehend mit Rosen tätowiert. Man nannte sie der Hammer. Dreimal in der Woche wurde ich von Oberleutnant Gerhard Schremm in seinem Büro verhört, dreimal in der Woche wurde ich nachher in der Achterzelle gefoltert. Bei den Verhören im Büro war Foltern verboten, in den Zellen fand es statt. Oberleutnant Gerhard Schremm wusste das.

Aua, bist du verrückt geworden! Mein Zurückdenken wird abrupt unterbrochen, vor mir geht Helga Sperber, sie schrie. Meine Arme liegen noch immer ausgestreckt auf ihren Schultern, meine Finger habe ich in ihr Fleisch gekrallt. Die anderen gehen, jede für sich weiter, jede Frau wollte allein gehen.

Abends gibt es Spaghetti, über den falschen Busen von Luise-Marie Teesenberg kein Wort. Ich habe Küchendienst, sechs ältere Frauen sitzen viel zu früh am Tisch, keine spricht, ihre Augen sind in Erwartung auf mich gerichtet, als hätte ich auch einen falschen Busen verloren. Das Spaghettiwasser blubbert, ich schaue auf die tanzenden Blasen.

Da kommt es, da ist es da. Ich drehe mich um, Rotraut Spindler hat angefangen, die anderen folgen ihr. Sie schlagen gleichen Takt mit Löffel und Gabel auf ihre Teller, ein drohender Rhythmus schlägt mich, die Gabeln bohren sich in meinen Körper, Schweiß. Da schreie ich: Aufhören, sofort aufhören!

Mein Kochlöffel fällt zu Boden, ich schlage um mich, meine Faust trifft den Küchenschrank, ich gehe zu meinem Stuhl und fange leise an zu sprechen.

Ihr wisst ja, ich war ein Jahr im Gefängnis, ich weiß, ein Jahr klingt wie kein Jahr. Ich war mit sieben Frauen in einer Zelle, Kriminelle alle, Bestien. Du freust dich morgens auf den Kaffee, da nimmt eine Bestie deinen Becher, pinkelt rein und sagt, du wolltest doch Kaffee mit Sahne. Du willst ins Bett gehen, um zu weinen, ist das Kopfkissen mit Scheiße eingestrichen. Ich war vier Wochen dort, abends, sie führten mich vom Verhör zurück, wieder hatte Oberleutnant Schremm vorgeschlagen, ich soll für die Stasi arbeiten, wieder hatte ich nein gesagt. Es war schon längst Lichtausmachen gewesen, die Frauen saßen im Kreis am Boden, in der Mitte brannte ein Kerzenstummel, jede hielt im Schoß den Teller, in der Hand den Löffel. Der Tisch stand unter dem Fenster an der Wand. Da fingen sie an zu klopfen, leise, im Takt, mit dem Rücken des Löffels auf die Blechteller. Ich tastete zu meinem Bett. Ich hatte Angst wie noch nie in meinem Leben. Roswitha, genannt der Hammer, an beiden Armen tätowiert, die grausamste von allen, ihre Anführerin, stand auf, die anderen Frauen hörten auf zu schlagen, es wurde still. Hammer sagte: Die Zeit ist reif. Deine große Stunde. Heute ist dein Tag. Entjungferung.

Ich war vor Angst nicht da. Ein Rinnen an meinen Beinen weckte mich. Ich hatte mich angemacht. Hammer kam auf mich zu, in einer Hand ein weißes Taschentuch, in der anderen eine Tasse mit roter Paste. Paprika. Pfeffer. Essig. Jetzt wird sich zeigen, sagte Hammer, ob du noch Jungfrau bist. Drei Frauen packten mich, schmissen mich auf den Tisch, spreizten mir die Beine. Das Taschentuch, der Finger eingetunkt in die rote Paste, und dann in mich unten rein; tief.

Ich wachte in der Krankenstation auf.

Als ich den ersten Tag wieder in der Zelle war, setzte Hammer sich an mein Bett, in der rechten Hand eine Rasierklinge: Ein Wort von dir und du wirst beschnitten.

Stille.

Luise-Marie Teesenberg steht auf, geht zum Herd und sagt, Mensch, Liese, das Spaghettiwasser ist weg, der Topf ist leer.

2

Am zweiten Tag gehen wir untergehakt auf der Uferpromenade, eine Vierergruppe und eine Dreiergruppe. Rotraut Spindler in der Vierergruppe fängt zu singen an: Brüder zur Sonne zur Freiheit, Brüder zum Lichte empor. Keine singt mit. Moni Hille, in sie eingehakt: Da kannste noch so viel von Sonne und Licht singen, heute rechnets.

Fee Vrohn schreit: Halt, anhalten, hier müssen wir Fotos machen, hier der Baum, er ist es, die Kerbe, ich hatte mich drangelehnt, Manfred, hier hatte er meinen Busen in der Hand, ich war fünfzehn, mir war so schwindlig, ohne Baum wär ich glatt hingeklatscht.

Fotos. Schwindlig. Hinklatschen. Ich stehe im Hof vom FG Haltenberg. Morgens von 10:00 bis 10:30, nachmittags von 16:00 bis 16:30, eine Seite von jedem Stockwerk. Es waren vier Stockwerke, jede Seite hatte sechzehn Zellen, unsere Seite waren die 8er-Zellen. Bei Hofgang waren wir um die hundert Frauen. Hof: 44 mal 37 Meter. Wir mussten hintereinander gehen, Abstand eine Armlänge. Helga Schott kommandierte. Helga Schott mit dem Alleskleberkopf, Helga Schott mit dem Stock, Helga Schott mit dem Schlangenring. Eine Strafe von ihr: Ausgestreckte Arme; 5, 10, 20 und 30 Minuten. Wenn eine entlassen wurde, gab’s Gruppenfotos, Urlaubsfotos vom FG Haltenberg. Das Kommando dazu von Helga Schott: Wir zeigen die Zähne und sagen dabei herrlich.

Ich stoße an Ute Friebel. Sie geht vor mir in der Vierergruppe, bleibt plötzlich stehen. Kinder, ich hab Kohldampf, da vorn in der Bude gibt’s die besten Fischbrötchen. Begeisterung. Moni Hille jault ihnen nach: Denkt dran, heut Abend gibt’s Königsberger Klopse, ich koche!

Königsberger Klopse verwischen FG Haltenberg, die gierige Fischbrötchengruppe ist verschwunden, ich hake mich ein bei Moni Hille, lasse mich mit jedem Schritt ein Jahrzehnt zurückfallen, und die Fischbude und das FG Haltenberg rücken in die Zukunft: Moni Hille und ich sind zehn Jahre alt.

Ich war gern bei euch, bei euch war es immer anders als bei anderen, dein Vater war schön, deine Mutter spielte auf einem kleinen Klavier.

Das hab ich noch, sagt Moni Hille.

Ich war süchtig nach der Sprache deiner Eltern. Königsbergisch. Und nach dem anderen Essen.

Mein Vater war Erfinder; sie waren nie böse, wenn jemand kam.

Das alte Spinnrad deiner Mutter. Gibt’s das noch?

Mensch, Liese, der Duft in eurer Backstube, Liese, der Duft war toller als Chanel Nr. 5.

Otto, mein Urgroßvater. Dem gehörte sie schon, Konditorei Spahn. Otto Spahn. Mein Großvater Willem Spahn erzählte mir, als er klein war, musste er für seinen Vater in der Backstube Fliegen fangen. Zwanzig Fliegen für einen Groschen. Ich war lieber bei meinem Vater in der Backstube als in der Stube.

Liese, du hattest doch zwei Brüder?

Ja, sogar Zwillinge, Heinz und Siegfried. Sie waren Soldaten, Fünfundvierzig sind sie stiften gegangen, Fahnenflucht. Es war um fünf Uhr früh am 8. Mai 1945, am Tag der Befreiung. Bei uns in Elversberg an der Kanalbrücke vom Elversberger Volkssturm abgeknallt. Siegfried hat ein weißes Taschentuch geschwenkt und denen zugerufen, ich bin’s, Siegfried. Und Heinz. Ihr kennt uns doch, wir sind Elversberger. Dann hat einer geschossen, zweimal. Mensch, Paul, hat ein anderer gerufen!

Komm, Liese, wir müssen uns beeilen. Hieß nicht der Vater von Fee Vrohn Paul?

Wir gehen zügig. Der Ostseewind zerrt an mir und meinen Kleidern, doch der Geruch der Backstube ist stärker als er, den kann er nicht wegblasen. Sauerteig, Mandeln, gebrannter Zucker, Kakao, Zimt, Pottasche, Mohn, Honig; frisch gedrehter Baumkuchen. Ab 1955 wurde meinem Vater verboten, Baumkuchen herzustellen. Es hatte von uns seit 1867 Spahn-Baumkuchen gegeben. Ab 1955 gab es von uns keinen Baumkuchen mehr. Es gab in der DDR überhaupt keinen Baumkuchen mehr. Baumkuchen gab es nur in Westdeutschland, und der kam vom VEB Baumkuchen aus der DDR. Aus Salzwedel, nicht weit von uns. Aber wenn Papa, Mama oder ich Geburtstag hatten, gab’s trotzdem einen großen Spahn-Baumkuchen, fein und saftig, die Zuckerglasur besonders zart und dünn aufgepinselt, es war eben nicht nur Zuckerwasser mit Zitrone, wie ihn die anderen machten, die Rezeptur von Urgroßvater Otto Spahn war ein großes Geheimnis.

Ute Friebel ruft uns entgegen: Ihr habt was verpasst, die Fischbrötchen waren superleckergeil. Ute Friebel ist 66 Jahre.

Es klappert die Mühle … Klipp-klapp,