image

image

Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts Ausgewählt von Jörg Baberowski, Bernd Greiner und Michael Wildt

Das 20. Jahrhundert gilt als das Jahrhundert des Genozids, der Lager, des Totalen Krieges, des Totalitarismus und Terrorismus, von Flucht, Vertreibung und Staatsterror – gerade weil sie im Einzelnen allesamt zutreffen, hinterlassen diese Charakterisierungen in ihrer Summe eine eigentümliche Ratlosigkeit. Zumindest spiegeln sie eine nachhaltige Desillusionierung. Die Vorstellung, Gewalt einhegen, begrenzen und letztlich überwinden zu können, ist der Einsicht gewichen, dass alles möglich ist, jederzeit und an jedem Ort der Welt. Und dass selbst Demokratien, die Erben der Aufklärung, vor entgrenzter Gewalt nicht gefeit sind. Das normative und ethische Bemühen, die Gewalt einzugrenzen, mag vor diesem Hintergrund ungenügend und mitunter sogar vergeblich erscheinen. Hinfällig ist es aber keineswegs, es sei denn um den Preis der moralischen Selbstaufgabe.

Ausgewählt von drei namhaften Historikern – Jörg Baberowski, Bernd Greiner und Michael Wildt – präsentieren die »Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts« die Forschungsergebnisse junger Wissenschaftler. Die Monografien analysieren am Beispiel von totalitären Systemen wie dem Nationalsozialismus und Stalinismus, von Diktaturen, Autokratien und nicht zuletzt auch von Demokratien die Dynamik gewalttätiger Situationen, sie beschreiben das Erbe der Gewalt und skizzieren mögliche Wege aus der Gewalt.

Gerhard Wolf

Ideologie und
Herrschaftsrationalität

Nationalsozialistische
Germanisierungspolitik
in Polen

image

Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

© E-Book 2013 by Hamburger Edition

© der Printausgabe 2012 by Hamburger Edition

Für meine Eltern

Verwaltungseinteilung der annektierten westpolnischen Gebiete und des Generalgouvernements am 1. März 1940

image

Karte auf Basis einer Zeichnung von F. Doubek (mit freundlicher Genehmigung des Akademie Verlags)

Inhalt

Einleitung

Forschungsliteratur

Quellen

»Deutscher Drang nach Polen«

Antipolnische Germanisierungspolitik: auf dem Weg zum deutschen Nationalstaat

Deutsche Minderheiten in Polen als Komplizen und Instrument deutscher Aggression

Revisionismus in der Weimarer Republik

Verkehrte Verhältnisse: Ausgleich mit Polen als Voraussetzung nationalsozialistischer »Lebensraum«-Politik

Entscheidung zum Krieg

Krieg: Projektion der »Lebensraum«-Dystopien auf Polen

Genese der »Lebensraum«-Politik im Krieg

Perpetuierung der Gewalt: Einrichtung der deutschen Besatzungsherrschaft

Neue Grenzen

Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums

Einrichtung der Zivilverwaltungen

Herrschaftssicherung: Bevölkerungspolitische Stabilisierung des deutschen Besatzungsregimes

Vertreibung und Ermordung potentieller Gegner

Die Nisko-Aktion: gescheiterter Auftakt

Modell Gotenhafen: Etablierung eines Umsiedlungskreislaufs

Durchgriff des Reichssicherheitshauptamtes

Erster Nahplan: Deportation der polnischen Elite

Einbindung der zuverlässigen »deutschen Volkszugehörigen«

Initiativen in den einzelnen Provinzen

Einführung der deutschen Staatsangehörigkeit durch das Reichsinnenministerium

»Lebensraum«: Bevölkerungspolitik im Spannungsfeld von rassischer Hybris und Herrschaftsrationalität

Herrschaftsfunktionale Dilemmata rassischer Deportationspolitik

Zwischenplan: Abschiebung von Juden oder Ansiedlung ethnischer Deutscher?

Zweiter Nahplan: rassische Angstphantasien und Arbeitskräftemangel

Kompromissversuch: rassische Musterung von (Zwangs-) Arbeitern

Madagaskar-Plan: dystopische Fluchten

Ausweitung der Deportationen im zweiten Nahplan

Dritter Nahplan: vom Kriegsverlauf überrollt

»Rasse« oder »Volk«? Konkurrierende Entwürfe für eine »deutsche Volksgemeinschaft«

Provinzielle Alleingänge

SS kontra Reichsinnenministerium

Die Macht der Gauleiter

Arbeitseinsatz: Bevölkerungspolitik als Ausbeutungs- und Assimilationspolitik

Zwangsarbeiter für das Deutsche Reich

Scheitern der rassischen Musterungen

Dritter Nahplan, zweiter Teil: Kompromissversuche

Erweiterter dritter Nahplan: endgültiger Kollaps des Umsiedlungskreislaufs

Auflösung der Umwandererzentralstellen

Assimilation

Einführung der Deutschen Volksliste in allen annektierten Gebieten Westpolens

Beschleunigung und Vereinfachung des Selektionsverfahrens

Endgültige Marginalisierung der rassischen Musterungen

Einstellung der Erfassungen

Fazit

Danksagung

Quellen- und Literaturverzeichnis

Archive

Quelleneditionen, Dokumentationen

Zeitgenössische Literatur (bis 1945)

Darstellungen

Personenregister

Zum Autor

Einleitung

»Unter den für die Aufnahme in die Abt. 3 der Deutschen Volksliste vorgesehen Personen befinden sich solche, die in rassischer Hinsicht ungeeignet sind, in die deutsche Volksgemeinschaft aufgenommen zu werden. Ein Zustrom blutmässig unerwünschter Elemente in den deutschen Volkskörper muss aber unbedingt unterbunden werden.«1

So Heinrich Himmler am 30. September 1941 bei einem Versuch, die Selektion der einheimischen Bevölkerung im besetzten Westpolen unter seine Kontrolle zu bringen.

Die sogenannten eingegliederten Ostgebiete waren zu diesem Zeitpunkt längst zu einem Schauplatz erbitterter Auseinandersetzungen zwischen den beteiligten deutschen Dienststellen geworden. Im Krieg gegen Polen besetzt und bereits im Oktober 1939 an das Deutsche Reich angeschlossen, mutierte dieses Territorium zu einem »Exerzierplatz« nationalsozialistischer Bevölkerungspolitik: Hier wurde die Bevölkerung systematisch selektiert, hier lag der Schwerpunkt nationalsozialistischer Deportationspolitik, und hier wurden auch die ersten Schritte auf dem Weg in den Massenmord an politischen Gegnern, Insassen von Heilanstalten und später der jüdischen Bevölkerung gegangen.2 Die Erklärungsstränge für diese Gewaltexplosionen kreuzen sich in zwei für den Nationalsozialismus zentralen Begriffen: »Volksgemeinschaft« und »Lebensraum«. Obwohl Polen nicht der erste östliche Nachbar war, der der Aggressionspolitik des Deutschen Reiches zum Opfer fiel, und auch nicht dessen primäres Zielobjekt, so war es doch dieses Land, genauer: die westlichen Landstriche, die zuerst germanisiert werden sollten und auf die die Nationalsozialisten ihre fürchterliche Vision, ihre Dystopie vom »deutschen Lebensraum im Osten«, zuerst projizierten.

Der nationalsozialistische Anspruch, die annektierten Gebiete zu germanisieren, umfasste freilich ein weites Tätigkeitsfeld, das vom Raub polnischen Eigentums3 über Versuche, das einheimische Bildungssystem durch ein deutsches zu ersetzen4 oder den Städten ein »deutsches Gepräge« zu geben,5 bis zur Landschaftsgestaltung reichte.6 Im Zentrum aller Bestrebungen stand jedoch die Germanisierung der Bevölkerung. Im Kern bedeutete dies die Selektion der einheimischen Bevölkerung in »Fremdvölkische«, die zu vertreiben oder aber zu ermorden waren, und in »Deutsche«, die – zusammen mit den hierher umgesiedelten Volksdeutschen aus Osteuropa und Umsiedlern aus dem Deutschen Reich – den Kern der hier durchzusetzenden »Volksgemeinschaft« bilden sollten.

Angesichts der Bedeutung, die diesem Komplex in der nationalsozialistischen Ideologie und in der Begründung des Krieges zukam, hätte es nicht erstaunt, wäre dieses Gebiet unmittelbar nach seiner Annexion einer von langer Hand vorbereiteten, kohärenten und systematischen Germanisierungspolitik unterworfen worden.7 Schließlich hatte Hitler bereits 1922 den Rahmen hierfür vorgegeben und wenige Jahre später schriftlich fixiert.8 Wenn die »Außenpolitik des völkischen Staates« – so Hitler hier – »zwischen der Zahl und dem Wachstum des Volkes einerseits und der Größe und Güte des Grund und Bodens andererseits ein gesundes, lebensfähiges, natürliches Verhältnis« zu schaffen habe, dann würde eine Rückkehr zu den Grenzen von 1914 nicht ausreichen.9 Solche Forderungen seien im Gegenteil »politischer Unsinn«, ein möglicher Erfolg so »erbärmlich […], daß es sich […] nicht lohnen würde, dafür erneut das Blut unseres Volkes einzusetzen«.10 Eine nationalsozialistische Außenpolitik würde stattdessen den »Blick nach dem Land im Osten [weisen]. Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft.«11 Was mit der dort lebenden Bevölkerung geschehen sollte, blieb in »Mein Kampf« noch vage, auch wenn Hitler in kursorischen Passagen für ein konsequent rassisches Vorgehen plädierte: »Germanisation« dürfe eben nicht in erster Linie als »äußerliche Annahme der deutschen Sprache« missverstanden werden – eine Kritik, die vor allem auf die Versuche Preußens und des Habsburgerreiches anspielte, die nicht deutsch sprechende Bevölkerung notfalls auch unter Zwang zu assimilieren. »Germanisation« – so Hitler weiter – könne »nur am Boden vorgenommen werden […] niemals an Menschen«. Aus rassischer Perspektive erschien das Scheitern dieser früheren Politik so wenig verwunderlich wie bedauernswert. Sei es doch ein »kaum faßlicher Denkfehler, zu glauben, daß […] aus einem Neger oder einem Chinesen ein Germane wird, weil er Deutsch lernt«. Die damit zwangsläufig einhergehende »Blutsvermischung« hätte außerdem die »Niedersenkung des Niveaus der höheren Rasse« und die Vernichtung der »kulturellen Kräfte« des »deutschen Volkes« bedeutet, sodass es »heute kaum mehr als Kulturfaktor [hätte] angesprochen werden können«.12 Noch deutlicher wird Hitler im – freilich unveröffentlichten – »Zweiten Buch«:

»Der völkische Staat durfte umgekehrt unter gar keinen Umständen Polen mit der Absicht annektieren, aus ihnen eines Tages Deutsche machen zu wollen. Er mußte im Gegenteil den Entschluß fassen, entweder diese rassisch fremden Elemente abzukapseln, um nicht das Blut des eigenen Volkes immer wieder zersetzen zu lassen, oder er mußte sie überhaupt kurzerhand entfernen und den dadurch freigewordenen Grund und Boden den eigenen Volksgenossen überweisen.«13

Wenn sich Hitler also eher auf die Kritik der bisherigen Versuche Preußens und der Habsburgermonarchie verlegt hatte, denn Programmatisches zu formulieren, so war doch eines klar: Die von einem nationalsozialistischen Deutschland in Osteuropa zu besetzenden Gebiete könnten nur entvölkert ihre Funktion als erweiterter »deutscher Lebensraum« für ein »Raum ohne Volk« erfüllen, wie sie auch auf Dauer nur durch die Besiedlung von »Deutschen« zu sichern waren.

Die Verhältnisse in Hitlers Deutschland waren freilich andere. So erschwerten bereits die strukturellen Eigentümlichkeiten der nationalsozialistischen Herrschaft jede langfristige Planung für die Zeit nach dem Krieg. Nach der Kapitulation Polens meldete dann auch gleich eine Vielzahl von Akteuren ihren Anspruch an, die Germanisierung dieser Gebiete federführend zu übernehmen: das Reichsinnenministerium, die Provinzverwaltungen und schließlich Himmler in seiner neuen Rolle als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums (RKF), um nur die wichtigsten zu nennen. An diesem Punkt zeigt sich aber auch, wie irreführend und vereinfachend Annahmen sind, die die Politik der NSDAP nach der Machtübergabe als Umsetzung nationalsozialistischer Ideologieproduktion sehen – oder gar als direkte Übersetzung von aus dem Parteiprogramm oder »Mein Kampf« entnommener Parolen aus einer Zeit, in der Hitler und seine Gefolgsleute kaum mehr waren als ein unbedeutender Teil der politischen lunatic fringe der Weimarer Republik, bar jeder Notwendigkeit oder Möglichkeit, ihre Parolen in nationale Politik umzusetzen.

Besonders deutlich zeigte sich dies bei der Formulierung und Durchsetzung der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik im annektierten Westpolen. Es konnte keine Rede davon sein, dass die einem polykratisch strukturierten Herrschaftssystem inhärenten Fliehkräfte konkurrierender politischer Interessen durch einen gemeinsamen Rekurs auf zentrale Elemente nationalsozialistischer Ideologie entschärft worden wären. Im Gegenteil: Gerade die Inkohärenz der nationalsozialistischen Ideologie erlaubte es den rivalisierenden Akteuren, auch widersprüchliche Politikentwürfe ideologisch zu legitimieren. Typisch dann auch die Konsequenzen: jahrelange Auseinandersetzungen, in denen oftmals über die grundlegendsten Fragen keine Einigkeit herzustellen war und die schließlich nicht durch eine Entscheidung von höchster Stelle aus Berlin beendet wurden, sondern aus Moskau – durch die Rote Armee.

Himmlers eingangs zitierte Anordnung verweist auf eine dieser Auseinandersetzungen. Anlass waren die Kriterien der sogenannten Deutschen Volksliste, die als Selektionsinstrument die einheimischen »Deutschen« erfassen sollte. Diese Anordnung wirft eine Reihe von Fragen auf: Weshalb hatten sich die verantwortlichen deutschen Stellen bis zum September 1941, also nach immerhin zwei Jahren deutscher Besatzungsverwaltung, noch immer nicht auf allseits akzeptierte Selektionskriterien einigen können? Vor allem aber: Wie kam es, dass die praktizierte Selektionspraxis nicht den Vorgaben Hitlers gefolgt war und sich auf die »Germanisierung des Bodens« beschränkte, sondern offensichtlich auf die Assimilierung von Nichtdeutschen zielte, sodass sich Himmler zu einer nachträglichen Kurskorrektur genötigt sah und den Ausschluss »blutsmäßig unerwünschter Elemente« fordern musste? Welche Rolle spielte »Rasse« als Selektionskriterium? Und war der Eingriff Himmlers erfolgreich?

Letzteres eher nicht. Wie ich zeigen werde, hatten etwa die – um den passenden Begriff von Michael Burleigh aufzunehmen – Ethnokraten im Wartheland andere Vorstellungen. Den lokalen Dienststellen der Deutschen Volksliste war bereits in der ersten Anweisung vom Januar 1940 mitgeteilt worden: »Als sichere Beurteilungsgrundlage für die deutsche Volkszugehörigkeit können die Rassenmerkmale […] nicht herangezogen werden.«14 In den beiden anderen Provinzen sollte Himmler noch deutlicher scheitern: In Oberschlesien wurde die »Aufnahme von Menschen deutschen Volkstums […] grundsätzlich nicht […] von dem Ergebnis einer rassischen Überprüfung« abhängig gemacht,15 während in Danzig-Westpreußen die Dienststellen angewiesen waren, die Ergebnisse rassischer Musterungen als »für die Entscheidung […] der Deutschen Volksliste nicht als bindend anzusehen«.16

Die Deutsche Volksliste war nun keinesfalls ein marginales Unterfangen, sondern stand im Zentrum aller nationalsozialistischen Bemühungen, die Bevölkerung in den annektierten westpolnischen Gebieten zu germanisieren und eine »deutsche Volksgemeinschaft« durchzusetzen. Ende Oktober 1939 unmittelbar nach dem Aufbau der Zivilverwaltung zunächst allein vom Reichsstatthalter im Wartheland eingerichtet, wurde sie eineinhalb Jahre später auf das gesamte annektierte Westpolen ausgeweitet und registrierte bis zum Ende des Krieges von den über sieben Millionen Bewohnern fast drei Millionen als »Deutsche«. Sie war damit zu dem mit Abstand größten nationalsozialistischen Germanisierungsprojekt avanciert.17

Natürlich zielte die nationalsozialistische Germanisierungspolitik in den annektierten westpolnischen Gebieten nicht allein auf die Inklusion von »Deutschen«, sondern auch auf die Ansiedlung von »Volksdeutschen«, die im Rahmen der »Heim-ins-Reich«-Aktion aus Osteuropa hierhergelockt worden waren, und vor allem auch auf die Exklusion der dortigen »Fremdvölkischen«. Zumindest in der Theorie war damit ein (erzwungener) Umsiedlungskreislauf etabliert worden, eine – wie Götz Aly das nannte – »organisatorische[n] Einheit [von] sogenannter positiver und negativer Bevölkerungspolitik«.18 In meiner Untersuchung beschränke ich mich diesbezüglich auf die Behandlung der einheimischen nichtjüdischen Bevölkerung; als ausführenden Organen neben der Deutschen Volksliste also auch auf die Tätigkeit der Umwandererzentralstellen, denen die Erfassung und Deportation der »Fremdvölkischen« übertragen worden waren.19

Nach den Mordwellen der ersten beiden Monate, denen mehrere zehntausend Menschen zum Opfer fielen,20 und bevor die antijüdische Politik mit der Einrichtung des Vernichtungslagers Kulmhof Ende 1941 zum letzten Mal radikalisiert wurde,21 gedachten die deutschen Besatzer sich der unliebsamen Bevölkerungsgruppen durch deren Deportation ins Generalgouvernement zu entledigen. Zu diesem Zweck wurden in den jeweiligen Provinzen Umwandererzentralstellen eingerichtet, die jedoch im Gegensatz zur Deutschen Volksliste nicht den Zivilverwaltungen, sondern den lokalen SS-Stellen unterstanden.22 Natürlich sahen sich diese mit der gleichen Frage konfrontiert wie die Deutsche Volksliste: Nach welchen Kriterien sollte entschieden werden, ob jemand als »Deutscher« von den Deportationen ausgenommen werden oder ihnen als »Pole« zum Opfer fallen sollte? Bei Personen, die (noch) nicht von der Deutschen Volksliste erfasst worden waren, ging diese Entscheidung auf die Ethnokraten des SS-Apparats über. Angesichts Himmlers Bemühung, die Selektionspraxis der Deutschen Volksliste entlang rassischer Kriterien neu auszurichten, könnte nun erwartet werden, dass das Kriterium »Rasse« zumindest die Selektionspraxis der Umwandererzentralstellen dominierte.

Auch dies wäre freilich ein vorschneller Schluss. Zwar wurden sogenannte Deutschstämmige nach einigen Monaten auf direkten Befehl Himmlers tatsächlich von den Deportationen ausgenommen. Ansonsten waren es aber in der Regel nicht rassische, sondern eher pragmatische Kriterien, die darüber entschieden, wer zu welchem Zeitpunkt deportiert wurde. Dies führte unter anderem dazu, dass trotz anderslautender Anweisungen aus der Berliner SS-Zentrale zunächst nur verhältnismäßig wenige Juden aus den annektierten Gebieten vertrieben wurden.

Diese kurze Skizze mag erstaunen, widerspricht sie doch einem historiographischen Trend, der sich seit den 1980er Jahren gegen eine sozialgeschichtlich geprägte Forschung durchgesetzt hat und der der nationalsozialistischen Ideologie und hier vor allem ihrem – so die Behauptung – rassischen Kern eine neue (alte) Erklärungskraft zuschreibt.23 Obgleich dieser »return of ideology« nicht notwendigerweise auf eine Engführung hinauslaufen muss, der die Ursachen von Gewaltpolitik auf Ideologie verkürzt, wird dem Rassismus doch die zentrale Rolle sowohl in Bezug auf die Forderung nach der Selektion der Bevölkerung in sogenanntes lebenswertes und lebensunwertes Leben als auch in der Legitimierung der diese Forderung durchsetzenden staatlichen Politik zugewiesen.24 Das Verlockende dieses Metanarrativs ist offensichtlich: Es ermöglicht eine integrative Darstellung nationalsozialistischer Herrschaft, in der Massenverbrechen wie die Shoah, der Massenmord an sowjetischen Kriegsgefangenen, sogenannten Asozialen oder all denen, die zur Gefahr für die »deutsche Volksgemeinschaft« erklärt wurden, als unterschiedliche Aspekte einer Gewaltpolitik analysiert werden können, die sich an der »rassistischen Utopie der Endlösung der sozialen Frage« ausrichtet.25 Die Durchschlagskraft dieses neuen Paradigmas lässt sich an einer Vielzahl von Studien nachweisen, die das nationalsozialistische Deutschland heute vor allem als – so der emblematische Titel der 1991 publizierten Studie von Michael Burleigh und Wolfgang Wippermann – »racial state« erscheinen lassen.26

Aus meiner Sicht birgt dieser Ansatz zwei Gefahren: Zum einen wird damit oftmals ein Ideologieverständnis zugrunde gelegt, das von den fraglos irrationalen Prämissen völkischer oder rassischer Ideologie ohne weiteres auf die Politik schließt,27 die diese befeuern, und dabei übersehen, dass ihre – so Werner Röhr in Bezug auf Rassismus – »Wahnmomente […] jedoch weder ihre Funktionalität hinsichtlich der von ihr artikulierten Ziele noch die Möglichkeit rationalen Kalkulierens in ihrem Rahmen aus[schließen]«.28 Die Verbindung zwischen Ideologie und Herrschaft, grundlegend für die Ideologiekritik, droht ganz verlorenzugehen, Ideologie wird zum irrationalen Moment, das herrschaftsfunktionales Handeln nicht verkleidet, sondern gefährdet.29 Das Verhältnis von Ideologie und Herrschaftsrationalität wird nicht mehr als Spannungsfeld begriffen, sondern auf einen Gegensatz vereinfacht – ein Umstand, der sich historiographisch in der simplifizierenden Konfrontation von »Ideologen« und »Pragmatikern« niederschlägt.

Zum anderen droht eine Privilegierung des Rassismus aber auch – so Lutz Raphael – den »schwach kontrollierten Pluralismus innerhalb eines nationalsozialistischen Weltanschauungsfeldes« zu verkennen – obwohl es gerade diese Pluralität war, die die zeitgenössische Attraktivität der NSDAP ausmachte.30 Dies betrifft natürlich in erster Linie die Marginalisierung des Antisemitismus und der antijüdischen Gewalt – und damit die Frage, weshalb sich das Regime in diesem Fall für einen Genozid entschied, während es sich im Umgang mit anderen Feindgruppen zu Kompromissen durchringen konnte. Für meine Untersuchung noch relevanter ist jedoch die Marginalisierung der gleichsam traditionell nationalistischen Aspekte der nationalsozialistischen Ideologie, die sich in Begriffen wie Volk und »Volksgemeinschaft« kristallisieren. Der diskursive Rahmen, in dem die Determinanten deutscher Identität artikuliert werden konnten, war nach 1933 sicherlich eingeschränkt worden, von einem Paradigmenwechsel kann jedoch keine Rede sein. Die Zugehörigkeit zum deutschen Volk war weder im allgemeinen Verständnis noch in der Vielzahl etwa parteiamtlicher Veröffentlichungen ausschließlich oder auch nur in erster Linie rassisch bestimmt, sondern verwies in einem viel stärkeren Maß auf soziale und vor allem kulturelle Praktiken, die bis auf Fichte und Herder zurückweisen.

Diese ideologische Gemengelage sollte während des Krieges die Germanisierungspolitik auch in ein ideologisches Kampffeld verwandeln, in dem der Bezug auf »Volk« und »Rasse« für zwei konträre Herrschaftstechniken stand, die einheimische Bevölkerung zu unterwerfen. Neu war dieser Konflikt nicht. Wie Cornelia Essner schreibt, hatten völkische Ideologen, wie etwa das verdiente Partei- und SA-Mitglied Friedrich Merkenschlager, bereits frühzeitig gegen die aufkommende Rassenanthropologie und ihre Popularisierung mobilgemacht. In der 1926 publizierten Streitschrift »Götter, Helden und Günther. Eine Abwehr des Güntherschen Rassegedankens« wandte sich Merkenschlager gegen Hans F. K. Günther, dessen 1922 publizierte »Rassenkunde des deutschen Volkes« zu dem mit Abstand populärsten rassenanthropologischen Werk der Zwischenkriegszeit in Deutschland wurde und auch die politische Diskussion nachhaltig prägte.31 Günther skizzierte hier in Rezeption der zeitgenössischen Forschung eine rassenanthropologische Topologie der Deutschen, die in dieser Sicht eben nicht mehr – wie von Merkenschlager und anderen völkischen Ideologen behauptet – eine organische Einheit, sondern eine »Rassenmischung« aus überdies ungleichwertigen Rassenkomponenten darstellten, die von der »nordischen Rasse« bis zur »ostischen Rasse« reichte.32 In seiner 1925 veröffentlichten Schrift »Der nordische Gedanke unter den Deutschen« hatte Günther diesen Gedanken zugespitzt und sich damit dem Vorwurf ausgesetzt, durch seine Forderung nach »Aufnordung« der Bevölkerung einen Keil in das deutsche »Volk« zu treiben.33 Diese Auseinandersetzung war bei Machtantritt der Nationalsozialisten in vollem Gange und hatte nun auch verschiedene Flügel der Partei und ihrer Gliederungen erfasst. Die Parteiführung erkannte bald, welche Gefahr der Gedanke von einer »Aufnordung« des deutschen »Volkes« für eine breite Unterstützung der neuen Regierung bedeutete – zumal sich die Befürchtung breitmachte, dass neue Gesetze wie das zur Zwangssterilisation mit der Dystopie von einem »nordischen Deutschland« verbunden werden könnten.34

Essner behauptet, dass sich trotz aller Beschwichtigungen etwa des Rassenpolitischen Amtes und mithilfe einflussreicher Bündnispartner wie des neuen Innenministers Wilhelm Frick sowie Heinrich Himmlers die »Nordischen« bald durchsetzten und damit der Bezug auf »Rasse« und nicht der auf »Volk« zur theoretischen Achse der nationalsozialistischen Ideologie wurde.35 Auch wenn dies aus meiner Sicht mehr als zweifelhaft ist, so kann doch kein Zweifel darüber bestehen, dass völkische Kriterien bei der Imagination des deutschen »Volkes« nicht an Plausibilität verloren hatten. Meine Untersuchung der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik wird vielmehr das Gegenteil zeigen. Zwar reagierten etwa die Rassisten im Rasse- und Siedlungshauptamt der SS schnell und versorgten die nach Polen entsandten Eignungsprüfer bereits im Oktober 1939 mit einem rassischen Kriterienkatalog, der diese in die Lage versetzen sollte, in den annektierten Gebieten »Deutsche« von »Polen« zu trennen: So war bei der Augenfarbe nicht nur blau erlaubt; war sie jedoch braun, musste sorgfältig unterschieden werden. Abzulehnen war »schwarzbraun, das meist finster wirkt und mehr nach schwarz reicht«. Dieses – so wusste man in Berlin – käme nämlich »meistens nur bei fremdblütigem Einschlag (außereuropäisch) und bei farbigen Rassen« vor. »Bei uns ist […] ein sattes, samtiges Braun (Kuhaugen) im allgemeinen die dunkelste Farbe.«36 Diese Anweisung war so wenig praktikabel wie die darauf basierende Politik herrschaftsfunktional gewesen wäre. Solche oder ähnliche Selektionsverfahren sollten sich dann auch nicht auf breiter Front durchsetzen. Bei der Entscheidung, wer denn nun als »Deutscher« gelte, orientierten sich die Besatzer nicht an rassenanthropologischen Kriterien, sondern zielten auf Kollaborations- und Leistungsbereitschaft, auf Unterordnung und den Eifer, sich deutsche Sprachkenntnisse anzueignen – ein Verfahren, das deutlich auf die preußische Germanisierungspolitik verweist.

Die eingangs angeführte Auseinandersetzung um die Selektionskriterien der Deutschen Volksliste verdeutlicht nicht nur die Differenzen der Akteure in einem so zentralen Politikfeld wie der Germanisierungspolitik. Sie offenbart auch die Hilflosigkeit, wollte man die Praxis der deutschen Besatzungsorgane vor allem im Rekurs auf zentrale ideologische Schriften des Regimes deuten. Struktur und Dynamik der Germanisierungspolitik in den annektierten westpolnischen Gebieten lassen sich nicht erfassen, wenn sie als praktische Umsetzung von ideologischen Postulaten gelesen werden. Zwar kreiste die nationalsozialistische Germanisierungspolitik unverkennbar vor allem um die beiden ideologisch besonders aufgeladenen Begriffe »Volk« und »Rasse«, aber es ist offensichtlich, dass die jeweiligen Akteure diese weder einheitlich verwendeten noch sich darüber verständigen konnten, in welchem Verhältnis sie zueinander standen.

Vor diesem Hintergrund werde ich die nationalsozialistische Germanisierungspolitik auch im Spannungsfeld von ideologischen Prämissen und herrschaftsrationalen Anforderungen untersuchen. Ich werde die Selektionstätigkeit der Deutschen Volksliste und der Umwandererzentralstellen also nicht etwa als lineare Umsetzung der programmatischen Forderungen nationalsozialistischer Ideologen, ideologische Begründungen jedoch auch nicht als reine Tarnung eines gänzlich anderen Logiken gehorchenden Bewegungsablaufs untersuchen, sondern den dialektischen Zusammenhang von Selektionspraxis und ihrer ideologischen Begründung nachzeichnen. Dabei gilt es einerseits, völkische und rassische Ideologien auf ihre die Selektionspraxis strukturierende Wirkmächtigkeit zu überprüfen und andererseits anhand der jeweils hegemonialen Praxen zu zeigen, welche Ideologien sich als besonders herrschaftsfunktional durchsetzen konnten. Im Einzelnen werden folgende Fragen im Mittelpunkt stehen:

1) Wie gestaltete sich der Prozess, in dem die Selektionskriterien zur Trennung von »Deutschen« und »Polen« formuliert wurden, und wie wurden diese in der Praxis gehandhabt? Weshalb waren die relevanten Akteure nicht in der Lage, sich auf in allen Provinzen und für die gesamte Kriegszeit gültige Selektionskriterien zu einigen? Warum blieben sie in ständiger Bewegung, gleichzeitig aber in hohem Maße zeitlich wie auch regional verschieden?

2) Wie wichtig war die ideologische Begründung für die geforderten oder durchgesetzten Selektionskriterien und wie »flexibel« gestaltete sich dabei die nationalsozialistische Ideologie, den jeweiligen machtpolitischen Anforderungen, denen sich die deutschen Besatzer gegenübersahen, einen ideologiekonformen Ausdruck zu verleihen?

3) In welchem Verhältnis standen die zeitlich und räumlich nur kurzfristig zu fixierenden Selektionskriterien zu den machtpolitischen Interessen der Institutionen, die deren Akteure durchzusetzen versuchten? Lässt sich die Tätigkeit dieser Institutionen als Teil der deutschen Besatzungsstrategie begreifen, diese Gebiete dauerhaft in Besitz zu nehmen und sie ökonomisch auszubeuten? Erwiesen sich die bevölkerungspolitischen Maßnahmen in dieser Hinsicht als herrschaftsfunktional?

Forschungsliteratur

In der Literatur zur nationalsozialistischen Germanisierungspolitik in Polen werden diese Fragen nur allmählich gestellt. In den ersten Publikationen zum Thema, etwa in den von Andrzej Gąsiorowski ausgewerteten Untergrundschriften oder den Publikationen der polnischen Exilregierung in London, spielte die Deutsche Volksliste eine herausragende Rolle und wurde unter anderem als Kollaborationsangebot der Besatzer an die polnische Bevölkerung gebrandmarkt.37 Ihre rasche Ausweitung scheint auch zu einer Reevaluierung der deutschen Besatzungspolitik in den annektierten Gebieten Westpolens geführt zu haben, betonte die Exilregierung in ihren späteren Publikationen doch hellsichtig, dass sich die Deutschen dort zunehmend am »traditionellen deutschen Vorgehen, der Germanisierung der Polen selbst« orientierten.38 In London irrte man jedoch in der Annahme, dieser Kurswechsel sei allein die Berliner Reaktion auf das gescheiterte Deportationsprogramm – und übersah dabei die erbitterten Auseinandersetzungen der deutschen Dienststellen um konkurrierende Konzepte zur Erringung »deutschen Lebensraums«.

Nach dem Krieg wurden wichtige Fortschritte auch in diesem Feld dann zunächst im Gerichtssaal gemacht.39 Besonders wertvoll erscheinen mir hier die Verhandlungen gegen die Spitzen des Stabshauptamtes, der Volksdeutschen Mittelstelle und des Rasse- und Siedlungshauptamtes im Rahmen der Nürnberger Nachfolgeprozesse, die bereits damals sowohl auf die »enge Verbindung zwischen Umsiedlung und Vertreibung« hinwiesen40 als auch die Herrschaftsrationalität der Deutschen Volksliste und des Wiedereindeutschungsverfahrens herausstellten. Denn damit gelang es dem Deutschen Reich, »Arbeitskräfte nach Deutschland zu bringen und gleichzeitig Polen um einen großen Teil seiner Bürger zu berauben, die man einer Zwangsgermanisierung zu unterwerfen versuchte«.41 In der Annahme, dass die verbrecherische Bevölkerungspolitik in Berlin von langer Hand vorbereitet worden war, verkannten die US-amerikanischen Ankläger jedoch deren dynamische Logik, weshalb auch die Kluft zwischen ideologischen Postulaten und politischer Praxis als »einigermaßen widersprüchlich« erscheinen musste und also unbegriffen blieb.42

Für die wissenschaftliche Forschung waren diese Prozesse entscheidende Impulsgeber – und zwar in positiver wie in negativer Hinsicht. Wenig Beachtung fand wiederum das Ideologische, auch nicht als Kampffeld der in diesem Feld um Hegemonie ringenden Machtblöcke. Sowohl Robert L. Koehl in seiner 1957 vorgelegten Untersuchung zur Tätigkeit der Dienststelle Himmlers als Reichskommissar zur Festigung Deutschen Volkstums wie auch Martin Broszat in seiner kurz darauf erschienenen Studie zur nationalsozialistischen Polenpolitik stellten eher die strategische Bedeutung der Bevölkerungspolitik für die deutsche Besatzungspolitik und Kriegsfähigkeit heraus, wobei Letzterer auch erstmals etwas ausführlicher auf die Deutsche Volksliste einging.43 Ohne Zugang zu den osteuropäischen Archiven blieben jedoch sowohl Koehl als auch Broszat auf die Überlieferung der Zentralstellen zurückgeworfen und erkannten deshalb nur ansatzweise die zentrale Rolle, die den Gauleitern zukam.44

Für den deutschen Kontext ist Broszats Studie trotz dieser Mängel dennoch bemerkenswert, war sie doch ein früher Versuch, sich den deutschen Verbrechen in Osteuropa in einer Zeit zu stellen, die sich eher für das »eigene« Leid interessierte – war es während des Kalten Krieges opportun, über die Vertreibung der Deutschen zu sprechen, konnte damit doch Politik gegen die Sowjetunion gemacht werden.45 Die Vielzahl der Studien zu den während des Krieges in die besetzten Gebiete umgesiedelten Bevölkerungsgruppen, die in diesem Blick so irrtümlich wie bezeichnend ebenfalls als »Vertriebene« firmierten, ist Ausdruck dieses Phänomens.46 Da diese Umsiedlungen aber nicht oder nur unzureichend in die Totalität der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik eingebettet werden, können die Aporien dieser Politik nur noch über das rassische Weltbild der Besatzer selbst in Blick genommen werden und erscheinen deshalb – so zum Beispiel Jachomowski – als »eine der skurrilsten Eskapaden nationalsozialistischer Volkstumspolitik«.47 Fragen nach der Herrschaftsrationalität der Bevölkerungsverschiebungen für die deutsche Besatzungsstrategie können vor diesem Hintergrund gar nicht erst gestellt werden.

Wichtiger waren hier die von der westlichen Historiographie oftmals übersehenen Beiträge in den Ländern, die von den nationalsozialistischen Lebensraumplanungen hauptsächlich betroffen waren. In Polen war es nach dem Krieg zu einem entschlossenen Aus- oder Neuaufbau geschichtswissenschaftlicher Einrichtungen gekommen, die bald auch durch eine Reihe wichtiger Quellenbände und Publikationsreihen hervortraten.48 In der unmittelbaren Nachkriegszeit waren diese Institutionen als Zentren wissenschaftlicher Politikberatung gefragt.49 War es den Behörden noch leichtgefallen, die Angehörigen der Abteilungen 1 und 2 des Landes zu verweisen, also diejenigen, die den Deutschen als besonders loyal erschienen waren, schien dies nicht der richtige Weg für die über zwei Millionen Menschen der Abteilungen 3 oder 4, also den sogenannten »Deutschen auf Probe«. Waren diese von den Deutschen aufgenommen worden, weil ohne sie die Wirtschaft der Region zusammengebrochen wäre, argumentierte nun etwa Zygmunt Izdebski als Berichterstatter des Ministeriums für die Wiedergewonnenen Westgebiete (und gleichzeitig Vorsitzender des Westmarkenverbandes in Schlesien und Mitglied des Schlesischen Instituts) aus ähnlichen Gründen entschieden gegen ihre Vertreibung und verweist in seiner Studie auf den massiven Terror, der vielen Menschen keine Alternative zum Aufnahmeantrag ließ.50 Nach der grundsätzlichen Entscheidung, die Angehörigen der Abteilungen 3 und 4 in die polnische Nachkriegsgesellschaft zu integrieren, ebbten die Diskussion und auch die Forschungstätigkeit zur Deutschen Volksliste ab.51

Die Forschungen zur deutschen Besatzungspolitik verlagerten sich in der Folgezeit zu den noch stärker gewaltförmig durchsetzten Aspekten deutscher Besatzungspolitik, denen drei Hypothesen zugrunde liegen. Eine erste Hypothese behauptete, dass »die deutschen Imperialisten […] über detaillierte Pläne zur Expansion und Eroberung verfügten und diese systematisch umzusetzen suchten«; die Beispiele reichen von den vor dem Krieg erstellten Proskriptionslisten bis zu den detaillierten Großraumplanungen in Form der »Generalplanungen Ost«.52 Mit dem Hinweis auf die »Generalplanungen Ost« und die hohe Zahl an Todesopfern wurde zweitens angenommen, dass die deutsche Politik auf einen Genozid an der polnischen und darüber hinaus generell an den slawischen Bevölkerungsgruppen zielte, die der Dystopie von einem deutschen »Lebensraum« im Osten im Weg standen. In Anlehnung an die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse und vor allem an Raphael Lemkins Definition, diesen jedoch in der Regel nicht erwähnend, wird in vielen Publikationen zum Thema von »direkter Vernichtung« und »indirekter Vernichtung« des polnischen Volkes gesprochen, dabei auf die gezielte Ermordung der Eliten, die Massendeportationen sowie die Maßnahmen zur Unterdrückung polnischer Kultur hingewiesen. Nicht selten wird das mit dem Verweis ergänzt, dass dies den deutschen Besatzern noch dringlicher war als etwa die antijüdische Politik.53 Drittens wird Einsichten in die Funktionalitäten nationalsozialistischer Bevölkerungspolitik oftmals und unvermittelt die Behauptung zur Seite gestellt, dass diese durch die rassistische Ideologie der Besatzer prädeterminiert gewesen sei und sich an der »nationalsozialistischen Rasselehre« orientiert hätte.54 Ideologie und Interesse stehen hier nebeneinander, ihr Verhältnis wird nicht expliziert und bleibt unbegriffen.

Die Ergebnisse meiner Arbeit weichen zum Teil erheblich von diesen Hypothesen ab. Wie ich zeigen werde, fällt es schwer, eine einheitliche Germanisierungspolitik auszumachen, da weder der SS-Komplex und noch sehr viel weniger das Reichsinnenministerium in der Lage waren, die Zentrifugalkräfte an der Peripherie wie auch die konkurrierenden Machtblöcke in Berlin unter Kontrolle zu halten und in vorgegebene Bahnen zu lenken. Wichtiger waren für meine Arbeit dann auch die Impulse von Czesław Madajczyks bis heute als Standardwerk geltender Studie »Die Okkupationspolitik Nazideutschlands in Polen 1939–1945«.55 Sehr viel deutlicher als beim Gros der polnischen Forschung werden hier nicht nur die Zentralstellen, sondern auch deren Interaktion mit den regionalen und lokalen Dienststellen in den Blick genommen. Wie Madajczyk in einem späteren persönlichen Forschungsresümee festhielt, ermöglichte ihm erst diese Herangehensweise, der »Diskrepanz zwischen dem im Voraus formulierten Programm […] und seinen durch die realen Kriegsbedingungen erzwungenen Modifikationen« auf die Spur zu kommen.56 Dennoch bleiben auch bei Madajczyk Lücken, die Tätigkeit der Umwandererzentralstelle oder der Deutschen Volksliste wird nur ansatzweise untersucht.

Einen qualitativen Sprung erfuhr die Forschung nach der Implosion der osteuropäischen Staaten. Die Gründe hierfür sind leicht auszumachen und reichen von der sogenannten Entideologisierung der Geschichtswissenschaft bis zum besseren Zugang zu osteuropäischen Archiven.57 Als Schrittmacher der Forschung haben sich oftmals Detailstudien erwiesen, die aus der Perspektive einzelner Politikfelder zu verallgemeinerbaren Schlussfolgerungen zur nationalsozialistischen Herrschaft vorstoßen.

Von entscheidender Bedeutung war für mich – erstens – die Debatte um die Beteiligung der planenden Intelligenz und Wissenschaft in Deutschland. Ein besonderes Verdienst haben sich hierbei Götz Aly und Susanne Heim erworben, die in ihrer 1991 vorgestellten Untersuchung zu den »Vordenkern der Vernichtung« nicht nur auf eine »neue« Tätergruppe hinwiesen, sondern auch die Entscheidung zum Mord an den Juden im weiteren Kontext der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik verorteten, die sie nicht mehr nur als Annex der Besatzungspolitik begriffen, sondern selbst ins Zentrum der Fragestellung rückten.58 Die Frage freilich, wie entscheidend die hier und in späteren Studien angesprochene wissenschaftliche Politikberatung war, bleibt jedoch höchst unbestimmt.59 Ich werde diesbezüglich in meiner Arbeit vorsichtiger argumentieren, wurde die Wissenschaft doch oftmals erst dann gefragt, wenn es um die Legitimation bereits getroffener Entscheidungen ging.

Damit eng verbunden sind – zweitens – Studien, die zwar wiederum die Shoah im Blick haben, diese aber im Gegensatz zu früheren Ansätzen nicht allein aus der Dynamik antisemitischer Gewalt zu erklären suchen, sondern in die Dystopie vom »deutschen Lebensraum« einbetten. Zu nennen ist wiederum eine Arbeit von Götz Aly, die den Zusammenhang von allgemeiner Bevölkerungsplanung und Vernichtung der Juden ins Zentrum rückt, die stockende Ansiedlungs- und Deportationspolitik also für die Entscheidung zum Mord verantwortlich macht.60 Auch wenn Aly diese Verbindung aus meiner Sicht überzeichnet, bleibt es doch ein entscheidendes Verdienst, den radikalisierenden Impuls der Ansiedlungs- und Vertreibungspolitik aufzudecken.61

Die hier herausgearbeitete Bedeutung der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik hat entscheidend dazu beigetragen, dass – drittens – die meisten in den letzten beiden Jahrzehnten publizierten Studien zur deutschen Besatzung in Osteuropa diesem Aspekt ebenfalls größere Beachtung schenken. Dies lässt sich in erster Linie an den Untersuchungen zu den SS-Hauptämtern zeigen, die aufgrund von Himmlers Rolle als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums unmittelbar in die Germanisierungspolitik eingebunden waren. Zu erwähnen ist hier etwa die Studie Valdis O. Lumans zur Volksdeutschen Mittelstelle (VoMi) und vor allem die Studie von Michael Wildt zum Reichssicherheitshauptamt (RSHA), dem eine herausragende Rolle in der bevölkerungspolitischen Planung zukam.62 In Ergänzung zu Wildt, der bereits die Bedeutung des Reichssicherheitshauptamtes für die Vertreibung der einheimischen »Fremdvölkischen« und der Selektion der »Volksdeutschen« herausstreicht, kann ich erstmals auch dessen bedeutende Rolle in den Auseinandersetzungen um die Deutsche Volksliste nachweisen. Auf eine weitere Forschungslücke reagierte Isabell Heinemann mit ihrer Untersuchung des Rasse- und Siedlungshauptamtes. Aus meiner Sicht überschätzt sie jedoch dessen Bedeutung, stieg es, wie ich zeigen werde, eben nicht zur »Koordinationszentrale der SS-Siedlungs- und Rassenpolitik« und »Schlüsselinstitution« der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik auf.63 Die Marginalisierung aller an Rasse orientierten Selektionsverfahren drängten vielmehr auch das Rasse- und Siedlungshauptamt an den Rand.

Hilfreich sollten sich außerdem – viertens – Regionalstudien erweisen, in denen mehr oder minder deutlich die enge Verbindung zwischen rassistischer Ostplanung, Umsiedlungspolitik und Judenmord zum Ausdruck kommt. Während etwa Czesław Łuczak nicht weiter auf die Differenz zwischen den rassischen Phantasmagorien des Regimes und der Politik vor Ort eingeht, Ersteres vielmehr als Erklärung für Letzteres ausgibt und so fälschlicherweise behauptet, die Selektionspraxis der Deutschen Volksliste hätte sich an den »im Reich für die Deutschen gültigen Rassekriterien« orientiert, wird dieses Verhältnis bei Steinbacher zu einem bestimmenden Thema.64 In ihrer Sicht besteht kein Zweifel, dass es sich bei der Selektionsund Vertreibungspolitik keineswegs um ein »Kriegsexperiment irrationaler Phantasten« gehandelt habe, diese vielmehr als ein auf »handfesten, machtpolitischen Interessen gegründet[es]« Vorhaben untersucht werden müsste.65 In all diesen Studien wird die zentrale Rolle der Umwandererzentralstelle und/oder Deutschen Volksliste deutlich. Eine eingehende Untersuchung dieser Institutionen unternimmt jedoch keine Studie.66

In den letzten Jahren sind schließlich auch eine Reihe von Studien erschienen, die entweder in der Analyse einzelner Handlungs- oder Politikfelder der deutschen Besatzer, wie des Septemberkrieges gegen Polen oder der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- sowie Bildungsund Kulturpolitik, auch die jeweiligen Verbindungen zur Germanisierungspolitik untersuchen oder diese zu ihrem Hauptthema machen.67 Wo jedoch die bevölkerungspolitischen Aspekte in den Fokus rückten, konzentrierten sie sich eher auf die Vertreibungs-, Umsiedlungs- und Ansiedlungspolitik und verdrängten die Deutsche Volksliste gleichsam in einen toten Winkel. Eine Ausnahme bildet hier lediglich ein Artikel zur nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik im Wartheland von Werner Röhr, der auch erstmals der in der Forschung verbreiteten Annahme widerspricht, das Selektionsverfahren der Deutschen Volksliste wäre rassischen Kriterien gefolgt. Wie die Selektionspraxis jedoch tatsächlich aussah, dazu findet sich aber auch bei Röhr wenig.68

Quellen

Da aus meiner Sicht eine Analyse der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik an der Praxis vor Ort ansetzen muss, habe ich mich von Beginn an bemüht, nicht allein die Planungs- und Entscheidungsprozesse in den vorgesetzten Dienststellen in Berlin oder den Verwaltungszentralen der einzelnen Provinzen, sondern vor allem auch das Geschehen in den Regierungsbezirken und Landkreisen in den Blick zu nehmen. Dabei sind die Quellenmaterialien dreier institutioneller Komplexe entscheidend: neben denen der Obersten Reichsbehörden, hier vor allem dem Reichsinnenministerium, sind dies die des SS-Apparats, von den Hauptämtern in Berlin bis zu den einzelnen SS- und Polizeidienststellen an der Peripherie, und vor allem die der Zivilverwaltungen in den annektierten Gebieten, auch hier von den Verwaltungsspitzen bis in die Landkreise und Städte.

Polnische Archive beherbergen den größten Teil dieser Materialien – und zwar oftmals in einer erstaunlichen Dichte. Am deutlichsten ist dies in Bezug auf das vorhandene Material zur Deutschen Volksliste. Dabei habe ich mich aus zeitökonomischen Gründen in jeder der drei Provinzen auf die Überlieferung der Reichsstatthalters/Oberpräsidenten (Zentralstellen der Deutschen Volksliste), jeweils einen oder zwei Regierungspräsidenten (Bezirksstelle der Deutschen Volksliste) und einer ausgesuchten Anzahl von Landräten und Oberbürgermeistern (Zweigstelle der Deutschen Volksliste) konzentriert. Während die Überlieferung zur Zivilverwaltung in Posen äußerst umfangreich ist und vor allem auch eine ungeheuer große Anzahl von DVL-Personalakten einschließt, fällt sie zu den Zivilverwaltungen in Danzig-Westpreußen und Oberschlesien etwas dürftiger aus. Die entscheidenden Etappen der Selektionspolitik in Danzig-Westpreußen ließen sich hier durch Parallelüberlieferungen vor allem in den Beständen der Gauleitung Danzig-Westpreußen, des Regierungspräsidenten und verschiedener Stadt- und Kreisverwaltungen im Regierungsbezirk Bromberg sowie den Prozessunterlagen gegen den ehemaligen Reichsstatthalter Albert Forster rekonstruieren. Noch besser gelang dies für Oberschlesien, wo Lücken vor allem im Bestand des Oberpräsidenten durch Bestände im sogenannten Sonderarchiv im Staatlichen Russischen Militärarchiv in Moskau ausgeglichen werden konnten.

Die besondere Gewichtung der Ereignisse im Wartheland erklärt sich jedoch nicht nur durch die besonders gute Quellenlage, sondern vor allem durch die Bedeutung, die dieser Provinz in der Germanisierungspolitik zukam. Hier wurden die Deutsche Volksliste und die Umwandererzentralstelle zuerst eingerichtet, von hier wurden mit Abstand die meisten Einheimischen vertrieben, hier befand sich auch die Außenstelle des Rasse- und Siedlungshauptamtes, dessen Auswertung sich nicht nur für die Selektionen dieser Behörde im Rahmen der Umwandererzentralstelle, sondern auch bei der Deutschen Volksliste als unschätzbar erwies.

Musste Michael Alberti bei seinen Untersuchungen zur Vernichtung der Juden im Wartheland oftmals frustriert feststellen, dass die zu Kriegsende durchgeführte Vernichtung der Akten vor allem den Teil der Überlieferung betraf, der das grausamste deutsche Verbrechen dokumentierte, habe ich eine andere Erfahrung machen können. Wie selektiv die Deutschen vorgegangen sein müssen, zeigt etwa die Überlieferung des Volkstumsreferats der Reichsstatthalterei im Wartheland, wo sich nicht nur die Unterlagen zur Zentralstelle der Deutschen Volksliste, sondern auch eine Reihe von Denkschriften über die Zukunft der deutschen und polnischen Bevölkerung im Wartheland erhalten haben – dystopische Phantasievorstellungen, die alle bisherigen Maßnahmen der Deutschen Volksliste in den Schatten stellten und Wege skizzierten, wie die gesamte restliche Bevölkerung einem komplizierten Selektionsverfahren unterworfen werden sollte.69 Auch wenn also das Quellenmaterial zu bestimmten Institutionen und Regionen manchmal Lücken aufwies, scheint es doch hinsichtlich der meisten entscheidenden Fragen ausreichend belastbar zu sein, um eine umfassende Interpretation der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik in den annektierten Gebieten Westpolens zu versuchen.

1 Anordnung 50/I Himmlers als RKF, 30. September 1941, APP 406/1114, Bl. 5–6, abgedruckt in Pospieszalski: Hitlerowskie »prawo« okupacyjne (DO V), S. 144f.

2 Diese Bezeichnung ist etwa für das Wartheland bereits während des Krieges benutzt worden, um die Pionierrolle dieses Gebiets herauszustellen. Siehe Alberti, »Exerzierplatz des Nationalsozialismus«; Röhr, »›Reichsgau Wartheland‹ 1939–1945«; Hansen, »Damit wurde das Warthegau«.

3 Siehe neuerdings etwa Dingell, Zur Tätigkeit der Treuhandstelle Ost; Rosenkötter, Treuhandpolitik.

4 Hier zum Bildungssystem, Kleßmann/Długoborski, »Nationalsozialistische Bildungspolitik«, Harten, De-Kulturation und Germanisierung, Hansen, »Schulpolitik im besetzten Polen«.

5 Geheime Richtlinien des Chefs der Zivilverwaltung, Arthur Greiser, 29. September 1939, AGK NTN/11, Bl. 1f.

6 Hartenstein, Neue Dorflandschaften.

7 Ich werde im Folgenden von der