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Thomas Kunze, Thomas Vogel

Das Ende des Imperiums

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

2., aktualisierte Auflage, Februar 2016 (entspricht der 2. Druckauflage von Dezember 2015)
© Christoph Links Verlag GmbH, 2011
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www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Umschlaggestaltung: Eugen Lempp, Ch. Links Verlag unter
Verwendung eines Motivs von Fotolia (74274439)
Satz: Eugen Lempp, Ch. Links Verlag, Berlin
Karte: Christopher Volle, Freiburg

ISBN 978-3-86284-320-6

Inhalt

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Die zur Ukraine gehörende Halbinsel Krim im Schwarzen Meer wurde 2014 von Russland annektiert.

Vorwort zur Neuauflage des Buches

Vor 25 Jahren verschwand ein Imperium von der politischen Landkarte. Die Sowjetunion zerfiel in ihre Bestandteile. Es entstanden 15 neue, unabhängige Staaten: Aserbaidschan, Armenien, Estland, Georgien, Kasachstan, Kirgistan, Lettland, Litauen, Moldawien, Russland, Tadschikistan, Turkmenistan, die Ukraine, Usbekistan und Weißrussland.

Auch wenn die Bilder aus Konfliktgebieten wie der Ostukraine, Transnistrien oder Berg-Karabach eine andere Sprache zu sprechen scheinen, verbindet diese Länder, die einst die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) bildeten, bis zum heutigen Tag die »sowjetische Kultur« des 20. Jahrhunderts. Ein Vierteljahrhundert nach dem von Wladimir Putin als »geopolitische Katastrophe« bezeichneten Zusammenbruch der Sowjetunion reichen nach wie vor Freundschaften von Riga nach Wladiwostok, von Kiew nach Taschkent. Familienbande verbinden Tadschiken und Usbeken genauso wie Tataren und Ukrainer. Bekanntschaften und ein dichtes Beziehungsgeflecht durchziehen das Gebiet der gesamten ehemaligen Sowjetunion. In den baltischen Republiken wird heute mit dem Euro bezahlt. In Mittelasien hingegen wächst der Einfluss des Islams. Doch es gibt nach wie vor die verbindende Geschichte, weil sie oft auch Familiengeschichte ist. So gesehen ist der seit 2014 andauernde Bürgerkrieg zwischen Brudervölkern in der Ukraine besonders schmerzhaft: Der Krieg entzweit Völker, die bisher friedlich miteinander gelebt haben – wenn auch zu Sowjetzeiten noch von oben verordnet.

Am 8. Dezember 1991 hoben die Präsidenten der sowjetischen Teilrepubliken Russland, Weißrussland und der Ukraine, Boris Jelzin, Stanislaw Schuschkewitsch und Leonid Krawtschuk, in einem Erholungsheim in der Nähe von Minsk gegen den Willen von Sowjetpräsident Michail Gorbatschow die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) aus der Taufe. Die UdSSR war damit Geschichte. Der letzte sowjetische Außenminister und spätere georgische Präsident Eduard Schewardnadse, der 2014 verstarb, erinnerte sich in seinen Memoiren: »Es zerbrach das letzte Imperium des 20. Jahrhunderts, die Sowjetunion, dieses blutige, utopische, gegen den Willen Gottes und die Gesetze der Natur entstandene Reich.«1

Im Westen bedauerte kaum jemand, dass dieses Riesenreich verschwunden war. Die Sowjetunion galt als schwerfälliger Koloss, als ein hochgerüstetes Land, von dem für die westlichen Staaten ein Sicherheitsrisiko ausging. Ein militärischer Konflikt war niemals ausgeschlossen gewesen. Man fürchtete, dass in dem Land mit seiner maroden Technik eine SS-20-Rakete aus Versehen gezündet werden könnte – und einen dritten Weltkrieg ausgelöst hätte.

In der untergegangenen Sowjetunion hingegen waren die Gefühle der Menschen geteilt: Einerseits freute man sich über die neu gewonnene Freiheit und das Ende der kommunistischen Diktatur. Andererseits endete für viele die Zeit gesicherter Lebensverhältnisse, der Glaube an den Erfolg eines einzigartigen historischen Experiments war verloren gegangen. Nun zerfiel der Vielvölkerstaat in seine Einzelteile. Die mehr als 286 Millionen Menschen, die in der Sowjetunion gelebt hatten, gehörten über 150 Völkerschaften an. Sie alle existierten weitgehend friedlich miteinander. Die Klammer der Sowjetideologie hatte die Völker der UdSSR über 70 Jahre hinweg zwangsweise zusammengehalten. Jedoch erwies sich dieses System 1991 als politisch und wirtschaftlich nicht mehr lebensfähig. Die stolze, bis zu den Zähnen bewaffnete Weltmacht lag am Boden und zerfiel in 15 Staaten, die ihre eigenen Wege gingen. Manche entwickelten sich autoritär, andere demokratisch.

Alle 15 früheren Sowjetrepubliken verbindet indes, dass sie seit 1991 eine turbulente Geschichte hinter sich haben. Wir beschreiben diese Geschichte in diesem Buch. Es ist ein Sachbuch, bei dem es um nüchterne Fakten geht, aber auch um lebendige Biografien. Immer wieder begegneten uns zwischen 1991 und heute Menschen, deren Schicksale sich kreuzten. Anhand ihrer Geschichten wird Zeitgeschichte lebendig.

Einer von uns beiden Autoren, Thomas Kunze, war in den Monaten, als die Sowjetunion unterging, Chef des Ausländeramtes im Kreis Leipzig. Die DDR, ein Satellitenstaat der Sow-jetunion, hatte sich in Luft aufgelöst. Das neue Deutschland war gerade ein Jahr alt, und die meisten Ostdeutschen waren glücklich darüber, der sowjetischen Vorherrschaft entronnen zu sein. In die deutschen Ausländerbehörden kamen die ersten Einwanderungswilligen aus der früheren Sowjetunion, die den katastrophalen ökonomischen Bedingungen dort entfliehen wollten.

Thomas Vogel hingegen, der zweite Autor, hat das Ende der Sowjetunion ganz anders erlebt. Er war zu der Zeit Redakteur einer Schweizer Wochenzeitung. Wie von einer Bergkuppe herab betrachtete er von Zürich aus, wie sich die Welt rasant veränderte. Es war spannend, es gab viel zu berichten, die Zeitungen verkauften sich besser denn je. Und das, obwohl die Schweiz als neutraler Kleinstaat kaum von den Umwälzungen betroffen war. Die geheimen Konten der alten KPdSU-Funktionäre gingen in den Besitz der neuen Oligarchen über. Es reisten die ersten reichen Russinnen nach St. Moritz, wo sie sich mit Schmuck und Schweizer Uhren eindeckten und im Winter in teuren Pelzmänteln ihren Champagner schlürften.

Geboren in der ehemaligen DDR zum einen und in der Schweiz zum anderen, hatten wir Anfang der 1990er Jahre einen sehr unterschiedlichen Blick auf die Sowjetunion. Ostdeutsche verband mit Russen, Ukrainern, Litauern, Georgiern, Kasachen oder Usbeken eine gemeinsame Sozialisation. Für Schweizer war die Sowjetunion ein geheimnisvolles Imperium gewesen, über das im sogenannten Westen ziemlich klischee-beladen berichtet wurde.

Der Schweizer Journalist reiste nach 1991 viel in die neuen Staaten des ehemaligen Sowjetimperiums und lernte die Realität vor Ort genauer kennen. Thomas Kunze lebt und arbeitet seit 2002 in dieser Region.

Im Laufe der Jahre hat sich unser beider Blick immer weiter angenähert. Michail Gorbatschow und Helmut Kohl teilten die Vision eines gemeinsamen Europäischen Hauses vom Atlantik bis Wladiwostok. Zu dieser Vision sehen auch wir keine vernünftige Alternative. Um sie zu verwirklichen, sollten der Westen und Russland zusammen den Mut und die Kraft finden, neue Wege zu gehen. Am wahrscheinlichsten wird es wohl aber sein, dass uns erst gemeinsame Bedrohungen wie islamistischer Terror und die aktuelle Lage im Nahen und Mittleren Osten dahin führen.

Als der Christoph Links Verlag im November 2011 die Erstauflage dieses Buches unter dem Titel »Von der Sowjetunion in die Unabhängigkeit. Eine Reise durch die 15 früheren Sowjetrepubliken« in der Russischen Botschaft in Berlin vorstellte, gab es zwar schon Verwerfungen zwischen dem Westen und Russland, aber sie schienen noch überwindbar zu sein. Bei der Buchpremiere war der Botschafter der Russischen Föderation ebenso anwesend wie viele deutsche Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Heute herrscht Sprachlosigkeit vor.

Die Ukraine-Krise besitzt das Potenzial, in einen neuen Kalten Krieg umzuschlagen. Uns fällt es, wie vielen Menschen, schwer zu verstehen, wie sich Russland und der Westen eine solche Stellvertreter-Auseinandersetzung leisten wollen. Die globalisierte Welt ist in Aufruhr, der Islamismus droht zu einer totalitären Gefahr zu werden, der Terrorismus internationalisiert sich, die Flüchtlingsströme nehmen zu, Wirtschafts- und Finanzkrisen wechseln einander ab. Anstatt angesichts dieser Herausforderungen die Kräfte zu bündeln, verlieren sich der Westen und Russland in Konflikten an vergessen geglaubten alten Fronten. Scharfmacher auf beiden Seiten sehen ihre Zeit gekommen, sie nutzen die Sprache des Kalten Krieges. Diese »Falken« sind vor allem in Russland und den USA unterwegs. Die Europäische Union, vor deren Haustür sich das Drama abspielt, droht hingegen durch übermäßiges Moralisieren an realpolitischem Einfluß zu verlieren.

Das Buch soll den postsowjetischen Raum verstehen helfen. Gemeinsam sind wir dafür durch die frühere UdSSR gereist. Wir beschreiben die vergleichbaren und die unterschiedlichen Wege, welche die 15 Republiken, die einst die Sowjetunion bildeten, seit 1991 gegangen sind. Gleichsam blicken wir aber auch auf das ambivalente Verhältnis des Westens auf diese riesige Region in unserer direkten Nachbarschaft.

Thomas Kunze und Thomas Vogel

Taschkent/Zürich, 2015

Ein Koloss am Ende
Der Zusammenbruch der Sowjetunion

Mit Gorbatschow in München

Im Juli 2009 trafen wir Michail Gorbatschow, den früheren Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, zu einem Fernsehinterview in München. Es war eines der seltenen Interviews, die der letzte Präsident der Sowjetunion überhaupt noch gibt. Die ungebremste Popularität, der er sich nach wie vor in Deutschland erfreuen kann, macht ihn zufrieden, aber auch müde. In München tagte gerade der »Petersburger Dialog«, ein deutsch-russisches Forum unter Schirmherrschaft des russischen Präsidenten und der deutschen Bundeskanzlerin.

Bis 2008 war Gorbatschow gemeinsam mit dem letzten Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maizière, Vorsitzender dieses Gremiums, dann wurde er durch den früheren russischen Ministerpräsidenten Wiktor Subkow abgelöst.

Gorbatschow kam gemeinsam mit seinem langjährigen Mitarbeiter und Vertrauten Karen Karagesian zum vereinbarten Ort, einem für das Interview vorbereiteten Zimmer im Hotel »Bayerischer Hof«. Er hatte Rückenprobleme, das Gehen machte ihm an diesem Tag Schwierigkeiten. Im bequemen Sessel wollte Gorbatschow nicht sitzen, sondern bat um einen einfachen Stuhl. So könne er sich besser konzentrieren. Uns interessierte 20 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer Gorbatschows rückblickende Bewertung dieses Ereignisses, denn im Verlauf der darauffolgenden Monate veränderte sich nicht nur Europa, sondern die Sowjetunion verschwand von der politischen Landkarte, und es entstand eine neue Weltordnung. Bei der Frage, was er am Tag des Mauerfalls gefühlt habe und vor allem, ob es an diesem Tag noch möglich gewesen wäre, den Lauf der Geschichte zu ändern, und ob er auch nur einmal daran gedacht habe, Panzer rollen zu lassen, wollte Gorbatschow das Gespräch beinahe abbrechen. Nur wenn auf seinem Posten ein Abenteurer gesessen hätte, erwiderte er erregt, wäre der Mauerfall und all das, was ihm folgte, noch zu verhindern gewesen, sonst nicht. Energisch setzte er hinzu: »Man muß Verantwortungsbewußtsein haben für sein Land und die Welt. Sonst ist man fehl am Platz.«1 Gemeinsam mit dem deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl wurde Michail Gorbatschow zu einem der Architekten der deutschen Wiedervereinigung. Doch beide Politiker hatten eine darüber hinausgehende Vision: Sie träumten von einem vereinten Europa, das Russland umfassend und vom Atlantik bis nach Wladiwostok reichen würde.

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Die Autoren Thomas Vogel und Thomas Kunze mit Michail Gorbatschow und Karen Karagesian (v. r. n. l.)

Mit Gorbatschow in Moskau

Fünf Jahre später, im November 2014: ein Wiedersehen mit Gorbatschow auf einer Tagung der Gorbatschow-Stiftung und der Konrad-Adenauer-Stiftung in Moskau. Der Friedensnobelpreisträger hat gerade einen Krankenhausaufenthalt hinter sich gebracht. Er läuft langsam, doch er ist froh, wieder unter Menschen zu sein. Das Thema der Tagung lautet »25 Jahre Mauerfall«, es gerät jedoch schnell in den Hintergrund. Eine der ehemaligen Sowjetrepubliken, die Ukraine, steckt in einer Staatskrise. Die Frage einer engeren Anbindung des Landes an die Europäische Union auf der einen oder an Russland auf der anderen Seite spaltet das Land. In Kiew war es zu Massenprotesten gekommen, der ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch ist nach Russland geflohen. Die zur Ukraine gehörige Schwarzmeerhalbinsel Krim hat Russland sich nach einem umstrittenen Referendum einverleibt. Ein Bürgerkrieg im Osten der Ukraine, von brüchigen Waffenstillstandsabkommen unterbrochen, hat bereits Tausende Tote gefordert.

Als wäre der Kalte Krieg niemals zu Ende gegangen, stehen hinter den Konfliktpartnern in der Ukraine Russland und der Westen. 25 Jahre, die seit dem Fall des Eisernen Vorhanges verflossen sind, haben nicht ausgereicht, um ideologische Vorurteile aus der Zeit, zu der sich Ost und West feindlich gegenüberstanden, zu überwinden. Die Vision des gemeinsamen Europäischen Hauses, zu dem auch Russland gehört, ist von der Wirklichkeit weiter entfernt als zu ihrer Geburt. Für Gorbatschow hat der Westen seine Zusagen nach dem Wendejahr 1989 nicht eingehalten. Dieser habe sich zum Sieger im Kalten Krieg erklärt und Vorteile aus Russlands Schwäche gezogen. Das Vertrauen, das 1989 bestand, sei gebrochen worden. »Die Osterweiterung der NATO, der Jugoslawien-Krieg und die Abspaltung des Kosovo von Serbien, die NATO-Raketenabwehrpläne in Osteuropa, die Kriege im Irak, in Libyen und in Syrien«, nennt Gorbatschow als Beispiele. »Und wer leidet am meisten unter der Entwicklung?«, fragt er. »Es ist Europa, unser gemeinsames Haus.«

Gorbatschow sorgt sich um die Zukunft Europas und warnt vor einem neuen Kalten Krieg, der sogar das Potenzial eines noch schlimmeren »heißen« Konfliktes in sich tragen könnte.

Seine Worte wiegen schwer. Gorbatschow ist kein politischer Abenteurer. Er hatte in den Umbruchjahren 1989 – 1991 Verantwortungsbewusstsein gezeigt, nur in zwei tragischen Momenten erlag er dem Druck konservativer Hardliner im Politbüro des Zentralkomitees der KPdSU: Im April 1989 gingen Truppen des sowjetischen Innenministeriums (OMON) gegen Demonstranten in der georgischen Hauptstadt Tiflis vor, wobei 19 Menschen starben, und im Januar 1991 segnete Gorbatschow einen Militäreinsatz in den baltischen Staaten ab, der in Litauen 14 und in Lettland vier Todesopfer forderte.

Der Zerfall der Sowjetunion war damit aber nicht mehr aufzuhalten. Eines der Nachbeben dieses Zerfalls hält uns heute in der Ukraine in Atem: Es geht um das Selbstbestimmungsrecht der Ukrainer. Aus westlicher Sicht eine Selbstverständlichkeit. Die Russen hingegen haben andere Maßstäbe, die Kommunikation mit dem Westen ist gestört. Während dieser die Ukraine enger an die EU und die NATO anbinden möchte, pochen die Russen auf den Status quo des Machtgefüges. Beide Seiten reden aneinander vorbei. Gorbatschow mahnt neue Grundlagen für eine Partnerschaft zwischen Russland und dem Westen an. Aber der Westen winkt ab. Die Angliederung der Krim an Russland hält er für eine Annexion. Mit Wirtschaftssanktionen sollen die Russen zur Räson gebracht werden.

Breschnew – Andropow – Tschernenko – Gorbatschow – Perestroika

Michail Gorbatschow, der 1931 in einem Dorf in der Nähe von Stawropol (Nordkaukasus), der Hauptstadt des gleichnamigen Gebietes, geboren wurde, gelangte durch Juri Andropow nach Moskau. Andropow, der gleichfalls aus Stawropol stammte und der von November 1982 bis zu seinem Tod im Februar 1984 Generalsekretär des ZK der KPdSU war, unterstützte den jungen Gorbatschow nach Kräften. Wie später Michail Gorbatschow unternahm auch er schon erste Versuche, den verkrusteten Sozialismus der Breschnew-Ära zu reformieren. Andropow starb aber nach wenigen Monaten im Amt. Ihm folgte der schon altersschwache Reformfeind Konstantin Tschernenko, der nach 13 Monaten Amtszeit verstarb. Breschnew (gestorben am 10. November 1982), Andropow (gestorben am 9. Februar 1984) und Tschernenko (gestorben am 10. März 1985) – Staats- und Regierungschefs aus aller Welt trafen im Jahresrhythmus in Moskau zu Trauerfeierlichkeiten zusammen. Ein Witz über einen angeblichen Ansager der Nachrichtensendung »Wremja« machte in der Sowjetunion die Runde. Der Nachrichtensprecher erscheint auf dem Bildschirm: »Liebe Genossen! Sie werden lachen, aber ich habe Ihnen wieder eine traurige Nachricht zu überbringen …«

Die im März 1985 erfolgte Berufung von Michail Gorbatschow zum neuen KP-Chef der Sowjetunion markierte den Anfang vom Ende des sozialistischen Lagers. Nach dem Tod von Tschernenko hatten sich in Moskau die Kräfte durchgesetzt, die durch eine entschlossene Reform einen Ausweg aus der Erstarrung des Sowjetsystems suchen wollten. Die Lähmung des Regimes war seit Beginn der achtziger Jahre unübersehbar. Das innenpolitische Klima in der UdSSR hatte sich durch die Unterdrückung von Kritikern verhärtet, Reformversuche waren steckengeblieben, außenpolitisch stemmte sich die Großmacht gegen jegliche Veränderung, und ökonomisch lag sie am Boden. Der Rüstungswettlauf mit den USA bedeutete für die gesamte sowjetische Volkswirtschaft eine Anstrengung, der sie nicht mehr gewachsen war. Im März 1986 fand in Moskau der XXVII. Parteitag der KPdSU statt. Michail Gorbatschow stellte seine Thesen vor, die unter den Schlagworten »Perestroika« und »Glasnost« in die Geschichte eingegangen sind. Die verdutzten Delegierten und die erstaunte Weltöffentlichkeit vernahmen aus dem Munde des KPdSU-Generalsekretärs Forderungen, die geradezu revolutionär anmuteten. »Jahrelang«, so Gorbatschow in seinem Referat, »blieben praktische Handlungen der Partei- und Staatsorgane (…) hinter den Erfordernissen der Zeit zurück. Die Probleme bei der Entwicklung des Landes wuchsen rascher an, als sie gelöst wurden. Trägheit, verknöcherte Leitungsformen und -methoden, verminderte Dynamik bei der Arbeit, der zunehmende Bürokratismus – all das schadete unserer Sache beträchtlich.«2 Doch trotz wohlklingender Worte handelte es sich bei dem Umbau (Perestroika) – und so ist es auch in das kollektive Gedächtnis vieler ehemaliger Sowjetbürger eingegangen – zunächst um eine Antialkoholkampagne, verbunden mit Aufrufen an die Bevölkerung, endlich mehr zu arbeiten. Wodka wurde in der Sowjetunion zur Mangelware.

Und auch von Glasnost (»Durchsichtigkeit, Transparenz«) war bei der Katastrophe im Kernkraftwerk von Tschernobyl im März 1986 zunächst wenig zu verspüren. Die Berichterstattung glich altbekannten sowjetischen Mustern, was angesichts des Ausmaßes des Reaktorunfalls besonders gravierend war. Während sich die radioaktive Wolke immer weiter ausbreitete, war der Kreml vor allem damit beschäftigt, durch die Nichtweitergabe von Informationen »kein schlechtes Bild von unserer Ausrüstung« entstehen zu lassen.3

Erst als sich die immensen strukturellen Probleme der Sowjetunion mit einem weltweiten Rückgang der Ölpreise paarten und die Sowjetunion in ernsthafte Zahlungsschwierigkeiten geriet, begann Gorbatschow, weiter reichende Reformen anzustoßen. Ein radikaler Umbau der Gesellschaft setzte ein. Das Umstrukturierungsprogramm reichte von der Demokratisierung der Partei über mehr Selbständigkeit für die Betriebe bis hin zu einer Justizreform. 1987 verwarf Gorbatschow die Breschnew-Doktrin4 und erklärte bei einem Besuch in Prag, dass das gesamte Rahmenwerk der politischen Beziehungen zwischen den sozialistischen Staaten auf Unabhängigkeit basieren müsse. Jede Nation solle ihren Weg selbst wählen und über ihr Schicksal, ihr Territorium und ihre Ressourcen selbst bestimmen. Nicht nur in den Staaten des Warschauer Paktes horchte man auf, auch in den verschiedenen Sowjetrepubliken.

1989: Das Jahr der Entscheidung

Wir, die Autoren des Buches, erlebten die daraufhin folgenden Ereignisse jeweils vor und hinter dem Eisernen Vorhang. Als Schweizer konnte der eine von uns frei reisen, der andere nicht. Aus dem Blickwinkel der Schweiz erschien die Sowjetunion mit ihren Satellitenstaaten jedoch wie ein monolithischer Koloss.

Im Westen war man abgelenkt. Urlaube in Frankreich, Italien oder den USA und all das, was ein freies Leben sonst an Annehmlichkeiten zu bieten hat, ließen einen die Veränderungen im sogenannten Ostblock zwar voller Spannung verfolgen, sie betrafen aber nicht das eigene Leben. Und ohnehin hat vor 1989 niemand vorausgesehen, wie sich die Welt innerhalb weniger Wochen verändern würde. Im Osten verfolgte man die dramatischen Wendungen der Geschichte in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre mit großen Erwartungen. All das, was an Veränderungen vor sich ging, brachte das System ins Wanken, in dem man selbst lebte.

Die Sowjetunion hatte durch den 1988 begonnenen Abzug ihrer Truppen aus Afghanistan indirekt zu erkennen gegeben, dass sie nicht mehr zum Erhalt der kommunistischen Regime intervenieren würde. Mit der Aufgabe der Schutzfunktion hatte Gorbatschow das Ende des sozialistischen Weltsystems eingeläutet. Gorbatschows Politik führte in Polen als erstem Land des Ostblocks zu einer Demokratisierung des Systems. Im Juni 1989 errang dort die »Solidarność« bei einer halbfreien Wahl die Mehrheit der Parlamentssitze. Am 19. August 1989 beauftragte Staatspräsident Jaruzelski den katholischen Intellektuellen und Berater von Lech Wałęsa, den Gründer der Gewerkschaft »Solidarność«, Tadeusz Masowiecki mit der Regierungsbildung. Polen wurde damit das erste Land des Warschauer Paktes, welches keinen kommunistischen Regierungschef mehr hatte.

Nicht weniger rasant verliefen die Entwicklungen in Ungarn. Am 10. Juni 1989 wurde in Budapest der 1958 hingerichtete ehemalige Ministerpräsident Imre Nagy feierlich umgebettet. Das Begräbnis stellte zugleich eine Rehabilitierung der Aufstandsopfer von 1956 dar. Die Rote Armee hatte den Protest damals blutig niedergeschlagen. Das ungarische Fernsehen übertrug das aktuelle Ereignis live. Um zwölf Uhr ertönten in ganz Ungarn die Glocken. Am Heldenplatz sangen 250 000 Menschen die Nationalhymne. Die Trauerreden gerieten zur Abrechnung mit dem Kommunismus.

Der amerikanische Präsident George Bush und seine Frau Barbara besuchten im Sommer 1989 Budapest, im strömenden Regen warteten mehrere zehntausend Menschen vor dem ungarischen Parlamentsgebäude auf die Ankunft des Präsidentenpaares. Ein unbeschreiblicher Jubel brach aus, als die Wagen-kolonne von George und Barbara Bush eintraf. Bereits zwei Monate früher, am 30. Mai 1989, hatte der US-Präsident seinem sowjetischen Amtskollegen in der wohl wichtigsten Rede seiner Amtszeit das Angebot zur Beendigung des Kalten Krieges und der Teilung Europas gemacht. Im Austausch dafür übernahm er die Verpflichtung, die sowjetischen Sicherheitsinteressen zu respektieren und die wirtschaftliche Zusammenarbeit zu entwickeln. Die Rede hatte für die osteuropäischen Staaten Signalwirkung. Man spürte förmlich, dass mit ihr Weltgeschichte geschrieben wurde. Am 10. September 1989 öffnete Ungarn schließlich als erstes Land den Eisernen Vorhang. Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer. Die Sowjetunion ließ es geschehen.

Dankbarkeit ist keine politische Kategorie, doch viele Russen haben sie vom Westen erwartet: Dankbarkeit, oder zumindest etwas Ähnliches. Heute fühlen sie sich verraten. Sie wollten 1989 das Europäische Haus mit bauen.

Die Sowjetunion bebt

Als wir mit Gorbatschow 2009 in München sprachen, hatten wir das Gefühl, dass er trotz der Angriffe und der Kritik, denen er bis heute in seiner Heimat ausgesetzt ist, stolz ist auf das Erreichte. Aber vielleicht ist es auch nur ein Selbstschutz. Denn das, was der historischen Wende in Osteuropa nachfolgte, der Untergang der Sowjetunion – von Wladimir Putin später als die »größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts« bezeichnet –, hatte er so niemals gewollt. Er hoffte seinerzeit darauf, die Sowjetunion zu einem besseren, einem demokratischen sozialistischen Staat machen zu können. Doch die Gewährung politischer Freiheiten in einem System, das wirtschaftlich ausgezehrt war und dessen Infrastruktur am Boden lag, musste zu Chaos und zum Ende der Diktatur führen. Gorbatschow war – verglichen mit anderen kommunistischen Machthabern und aus der Innensicht der kommunistischen Diktaturen – ein schwacher Parteichef. Die Kommunisten in China wählten einen anderen Weg. Sie reformierten ihre Wirtschaft grundlegend, aber am Machtmonopol der Kommunistischen Partei ließen sie nicht rütteln.

Gorbatschows Politik führte im weiteren Verlauf der Geschichte zu einer nicht mehr aufzuhaltenden Dynamik. Die durch Perestroika und Glasnost mehr und mehr gelockerten Zügel des Kremls ließen es Ende der 1980er Jahre zunächst in den Randrepubliken der UdSSR gären. Die Armenier waren die Ersten, die Gorbatschows Politik für sich zu nutzen suchten. Sie verlangten, dass Berg-Karabach, eine überwiegend armenisch besiedelte Enklave in der Nachbarsowjetrepublik Aserbaidschan, wieder an Armenien angegliedert wird. Den nationalen und religiösen Zwist zwischen den christlichen Armeniern und den muslimischen Aserbaidschanern konnten 60 Jahre Sowjetmacht einst mehr oder weniger zähmen. Jetzt brach der Konflikt offen aus und führte ab 1988 im Südkaukasus zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen, wie es sie seit dem Bürgerkrieg infolge der Oktoberrevolution von 1917 nicht mehr gegeben hatte. Mehrfach kam es zu Massakern. Gorbatschow war machtlos. Als sich im Dezember 1988 auch die Naturgewalten gegen ihn verschworen und ein verheerendes Erdbeben in Armenien 25 000 Todesopfer forderte, hatte er im Südkaukasus verloren. Nachdem die billigen sowjetischen Plattenbauten in der am schwersten betroffenen Stadt Leninakan (heute: Gjumri) wie Kartenhäuser zusammengefallen und eine halbe Million Menschen zu Obdachlosen geworden waren, wollte man von ihm Taten sehen, aber keine Perestroika-Predigten mehr hören. Doch es fehlten die Mittel. Im Südkaukasus braute sich noch mehr zusammen. In Georgien gewannen im Herbst 1988 antirussische Demonstrationen an Intensität. Hierbei kam es zu Gorbatschows erstem Sündenfall. Er ließ die OMON5, eine Sondereinheit des sowjetischen Innenministeriums, eingreifen. Am 9. April 1989 setzte sie Giftgas gegen die Teilnehmer einer Großkundgebung in Georgiens Hauptstadt Tiflis ein. 14 der insgesamt 19 getöteten Demonstranten starben durch die Wirkung dieses Gases.6

Auch in Mittelasien nahmen die Unruhen zu. Im usbekischen Teil des Fergana-Tals kam es im Frühjahr 1989 zu einem Pogrom an der türkischsprachigen Minderheit der Mescheten. Über 100 Mescheten wurden regelrecht hingemetzelt. Im sogenannten Osch-Konflikt zwischen Kirgisen und Usbeken starben im Juni 1990 über 100 Menschen, Tausende wurden verletzt.

In der Moldawischen Sozialistischen Sowjetrepublik forderten Tausende Demonstranten die Zulassung der moldawischen (rumänischen) Sprache als Amtssprache. Und als würde es zusätzlich noch eines furchtbaren Beweises für den wirtschaftlichen Ruin des Sowjetregimes bedürfen, explodierte am 4. Juni 1989 bei Ufa eine verrottete Gaspipeline. Für 575 Passagiere eines Zuges der Transsibirischen Eisenbahn, der in diesem unglücklichen Moment den Ort passierte, kam jede Hilfe zu spät. Sie wurden durch die Wucht der Explosion in den Tod gerissen.

In den baltischen Staaten, die infolge des Hitler-Stalin-Paktes 1940 zwangsweise der UdSSR angeschlossen worden waren, führte der Geist von Perestroika und Glasnost zu den stärksten Unabhängigkeitsbewegungen. Die Esten, Litauer und Letten begannen, sich an ihre während der Sowjetzeit streng verbotenen ehemaligen Nationalhymnen zu erinnern. »Mein Vaterland, mein Glück und meine Freude!«: Am 11. September sangen in Tallinn, der Hauptstadt Estlands, 300 000 Menschen diese alte estnische Hymne. Die baltischen Unabhängigkeitsbewegungen der Perestroika-Jahre gingen als »Singende Revolutionen« in die Geschichte ein.

Die Konservativen im Kreml, allen voran viele Militärs, waren aufs Höchste alarmiert. Für sie war es schlimm genug, dass »ihre« Sowjetunion die Breschnew-Doktrin und damit die Vorherrschaft über das sozialistische Lager aufgegeben hatte. Nun drohte auch noch der von Lenin gegründete und von Stalin mit Blut zusammengeschweißte eigene Vielvölkerstaat zu zerfallen. Als im März 1989 der Kongress der Volksdeputierten gewählt und erstmals zwei Drittel der Sitze frei vergeben wurden, folgte eine weitere Katastrophe für viele hohe Staatsfunktionäre und Militärs: Sie erhielten keine Sitze mehr in dem Gremium.

Die verkehrte Welt

Einer von uns beiden arbeitete damals als Journalist beim Luzerner Tageblatt. Der andere studierte in Leipzig und erlebte die Revolution dort hautnah mit. Verkehrte Welt: Während man Gorbatschow im Westen zum Helden stilisierte, wurden in der DDR sowjetische Zeitschriften verboten. Vorbei waren die Zeiten, in denen die DDR-Medien die Politik des »großen Bruders« Sowjetunion feierten und die Generalsekretäre der KPdSU hofierten. Kurt Hagers »Tapetenvergleich«7bestimmte nun die SED-Linie. Über die Wahl zum Volksdeputiertenkongress berichtete man im März 1989 zurückhaltend-kühl, während westliche Zeitungen über eine Wahl in der Sowjetunion jubelten: »Sowjetische Wahlen mit mehreren Kandidaten. Der Dissident Andrej Sacharow, der bis 1986 in Verbannung gelebt hatte, wird Mitglied des Volkskongresses«,8 titelte z. B. die Neue Zürcher Zeitung.

Der Atomphysiker und Friedensnobelpreisträger Sacharow hatte bis 1986 in der Verbannung im russischen Gorki leben müssen. Im Dezember 1989, während einer Tagung des neuen Volkskongresses, griff er Gorbatschow, der seine Verbannung aufgehoben hatte, verbal offen an und verlangte noch radikalere Reformen als bisher, darunter die Aufhebung des Machtmonopols der Kommunistischen Partei. Zu diesem Zeitpunkt war die Berliner Mauer bereits gefallen. Auch das Ende der Sowjetunion war nur noch eine Frage der Zeit. Gorbatschows konservative Gegenspieler im Politbüro spürten das, und sie merkten, wie ihnen die Macht entglitt. Ihre Töne wurden immer aggressiver. Jede Begeisterung, die Gorbatschows Auftritte im Westen begleitete, vor allem die Verleihung des Friedensnobelpreises an ihn im Jahre 1990, war für sie eine Bestätigung dafür, einen schwachen Generalsekretär, wenn nicht einen Verräter an der Spitze der KPdSU zu haben.

Erste Unabhängigkeitserklärungen von Sowjetrepubliken

Die wirtschaftliche und soziale Lage war in der Sowjetunion zum Ende des Jahres 1989 bis zum Äußersten angespannt. In Sibirien streikten Bergarbeiter für die Zuteilung von wenigstens einem Stück Seife in der Woche. Die Perestroika war in einem Sumpf von Korruption steckengeblieben. Von Gorbatschows marktwirtschaftlichen Reformen schienen lediglich Kriminelle und Schwarzhändler zu profitieren. Sie kontrollierten die Verteilung des dürftigen Warenangebots, das die sowjetische Plan- und Misswirtschaft und das Chaos der Perestroika übriggelassen hatten.

Als im Frühjahr 1990 Litauen (11. März 1990), Lettland (4. Mai 1990) und Estland (8. Mai 1990) ihre Unabhängigkeit proklamierten und Gorbatschow während der traditionellen Mai-Parade auf dem Roten Platz ausgepfiffen wurde, erkannte er, dass ihm die Zügel entglitten. Im Januar 1990 hatte die KPdSU auf sein Betreiben hin ihr Machtmonopol aufgegeben, so wie die SED einen Monat zuvor. Zwar nannte sich Gorbatschow seit dem 15. März 1990 Präsident der Sowjetunion, ein Amt, was es vorher nicht gab, doch er war Präsident eines Staates in Auflösung. Im April 1990 beschloss der Kongress der Volksdeputierten der Russischen Sozialistischen Sowjetrepublik, also der größten und wichtigsten Teilrepublik der UdSSR, die Souveränität Russlands über seine natürlichen Ressourcen sowie den Vorrang von russischem über sowjetisches Recht. Einen Monat später wurde der als Radikalreformer geltende Boris Jelzin, einst Zögling Michail Gorbatschows, Vorsitzender des Obersten Sowjets der RSFSR und damit zum wichtigsten Gegenspieler Gorbatschows. Es folgte am 12. Juni 1990 die Souveränitätserklärung Russlands.

Nur die mittelasiatischen Sowjetrepubliken Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenistan schwiegen noch, ansonsten befand sich die Union in Auflösung. Gorbatschow versuchte mit aller Kraft, zumindest einen neuen Unionsvertrag zustande zu bekommen, der die auseinanderbrechende Sowjetunion dadurch retten sollte, dass die Teilrepubliken mehr Autonomie erhielten. Parallel zu diesen Versuchen versagte die zentralistische Planwirtschaft. Im Juli 1990 musste ein sozialistisches Heiligtum, der Brotpreis, angetastet werden. Er stieg, begleitet von Massenprotesten, um 100 Prozent. Der Stillstand des Jahres 1989 ist »in eine für die sowjetische Nachkriegsgeschichte einmalige Rezession« übergegangen,9 telegrafiert die Deutsche Botschaft in Moskau vertraulich nach Bonn. Das (sowjetische) Nationaleinkommen schrumpfte um vier Prozent, die Arbeitsproduktivität um drei Prozent.

De facto hing Moskau am Tropf der Bundesrepublik. Es flossen Milliarden. Die Wiedervereinigung war noch nicht unter Dach und Fach, und der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl tat alles, um Gorbatschow zu stützen. Nachdem Kohl 1986 in einem amerikanischen Magazin einen verunglückten Vergleich zwischen Gorbatschow und Goebbels gezogen hatte,10 war der Kreml-Chef zunächst nicht gut auf Kohl zu sprechen. Die beiden freundeten sich erst im Juni 1989 bei einem Besuch Gorbatschows in Bonn an. Ein Jahr später, im Juli 1990, kam es im Kaukasus zum legendären »Strickjacken-Treffen«11 der beiden Politiker. Gorbatschow stimmte dort nach lukrativen finanziellen Angeboten Kohls der Wiedervereinigung und der »vollen und uneingeschränkten Souveränität Deutschlands« zu. Dazu gehörte auch die Ausdehnung des NATO-Gebietes auf Gesamtdeutschland. Am 12. September 1990 wurde in Moskau der »Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland« unterzeichnet und am 3. Oktober feierten die Deutschen ihre Einheit.

Die Pawlow’sche Geldreform

Nach der Vereinigung Deutschlands existierte die Sowjetunion nur noch ein reichliches Jahr, und dieses Jahr 1991 war sowohl innen- als auch außenpolitisch ein Schicksalsjahr für die Russen und die anderen Völker des Riesenreiches UdSSR. Wie kaum ein anderer Monat hat sich dabei der Januar fest in das kollektive Gedächtnis der Bürger eingeprägt.

So auch bei Alexej Borisowitsch Zlobin, einem Freund aus Moskau: 1963 in Kabul geboren, im usbekischen Taschkent aufgewachsen, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zunächst in Riga, dann in Wladiwostok und schließlich in Moskau gelandet, verkörpert er einen Russen, dessen Schicksal die ungewöhnlichen Wege ehemaliger »Sowjetbürger« seiner Generation widerspiegelt. Alexej besitzt noch alle seine früheren Pässe, ein Wunder, wie er es in all den bürokratieversessenen Staaten schaffen konnte, sie beim Gültigkeitsablauf nicht abgeben zu müssen. In dem sowjetischen, dem usbekischen und dem russischen Pass wurde als Geburtsort Taschkent angegeben. Die Behörden wollten und wollen nicht, dass »Kabul« erscheint, wo seine Eltern in den 1960er Jahren an der Sowjetischen Botschaft arbeiteten: Geheimhaltung geht vor. 1993 nutzte Alexej, der in Taschkent Musik studiert und danach ein Theater geleitet hatte und sehr geschäftstüchtig war, die neuen Freiheiten. Zunächst versuchte er, im lettischen Riga Fuß zu fassen, siedelte aber nach einem geschäftlichen Fehlschlag nach Wladiwostok und dann nach Moskau um, wo er eine Werbeagentur gründete und heute viel Geld verdient. Das braucht er auch, denn seine in Taschkent verbliebenen Eltern waren im Januar 1991, wie die meisten ehemaligen Sowjetbürger, de facto enteignet worden.

Walentin Pawlow, von Gorbatschow als neuer Ministerpräsident der Sowjetunion eingesetzt, ließ am Abend des 22. Januar 1991 bekanntgeben, dass ab 23. Januar 1991, also dem Morgen des kommenden Tages, auf dem Gebiet der gesamten Sowjetunion Banknoten mit einem Nennwert von 50 und 100 Rubel nicht mehr akzeptiert werden. Diese Maßnahme war laut den Behörden gegen »nicht erarbeitete Einkünfte« der Bürger, gegen Bestechungs- und Falschgelder und gegen die »Schattenwirtschaft« gerichtet und sollte die Inflation eindämmen.12 Die Bürger der Sowjetunion hatten genau drei Tage Zeit, die weitverbreiteten alten Scheine gegen neue Banknoten umzutauschen. Der Geldumtausch verlief chaotisch, vor den Filialen der Staatlichen Sparkasse (Sberbank) bildeten sich kilometerlange Schlangen, es kam zu Schlägereien. Zudem durften maximal 1000 Rubel in bar umgetauscht werden. »Meine Eltern«, so Alexej, »hatten für sowjetische Verhältnisse immer gut verdient. Das meiste ersparte Geld bewahrten sie zu Hause auf. Das war damals so üblich, und in vielen Familien ist es bis heute so geblieben. Unsere Familie verlor damals über 12 000 Rubel, fast unser ganzes Erspartes.« Der 2003 verstorbene Walentin Pawlow ist bei der Generation der Betroffenen bis heute ein verhasster Mann. Die von Gorbatschow als Präsident abgesegnete Pawlow’sche Geldreform führte de facto zur Enteignung weiter Bevölkerungskreise und untergrub das noch vorhandene restliche Vertrauen in die Politik der Führung. Sie markierte zugleich den Anfang der tiefsten Krise der Sowjetunion seit Beginn ihres Bestehens.

Perestroika gegen Gorbatschow

Gorbatschows Perestroika-Kurs war 1991 endgültig dabei, sich gegen ihren »Erfinder« zu wenden. Der erste Mann der Sowjetunion konnte sich nicht mehr gegen seine konservativen Gegenspieler wehren, die sich gemeinsam zu organisieren begannen. Allen bisherigen Prinzipien zum Trotz segnete er im Januar 1991 sogar die Anwendung militärischer Gewalt im Baltikum ab. Doch die Unabhängigkeit der baltischen Staaten von der Sowjetunion war nicht mehr aufzuhalten.

Auch in Russland, dem sowjetischen Kernland, wollte man nicht mehr zurück zu sowjetischen Verhältnissen. Trotz eines Demonstrationsverbotes und aufgefahrener Militäreinheiten demonstrierten im März 1991 über 100 000 Menschen im Moskauer Zentrum für weitere Reformen. Gorbatschows Reformen meinten sie damit nicht. Viele von ihnen sahen schon in Boris Jelzin, der im Juni 1991 zum ersten frei gewählten Präsidenten Russlands wurde, den künftigen starken Mann. Gorbatschows Ansehen in der Bevölkerung schwand trotz der außenpolitischen Erfolge, die er damals noch feiern konnte. Ende Juli 1991 besuchte US-Präsident George Bush Moskau, um mit ihm den START-Vertrag über die Vernichtung von 7000 strategischen Atomwaffen zu unterzeichnen. Doch im Inneren wurde die Sowjetunion immer instabiler.

Am 19. August 1991 hielt die Welt den Atem an. Am frühen Morgen meldete die amtliche sowjetische Nachrichtenagentur TASS, dass Michail Gorbatschow erkrankt sei. Vizepräsident Gennadi Janajew habe die Amtsgeschäfte übernommen. Es handelte sich um einen Putsch orthodox-kommunistischer Kräfte. Sie setzten Gorbatschow, der sich gemeinsam mit Frau und Tochter in seiner Urlaubs-Datscha auf der Krim aufhielt, dort unter Hausarrest. Janajew, ein landesweit bekannter Freund des Wodka, und die anderen Verschwörer, darunter Ministerpräsident Walentin Pawlow, der Vorsitzende des Obersten Sowjets, Anatoli Lukjanow, Innenminister Boris Pugo, Verteidigungsminister Dmitri Jasow und KGB-Chef Wladimir Krjutschkow, verhängten den Ausnahmezustand und bildeten ein Notstandskomitee, das die Macht in der Sowjetunion übernahm. Das sowjetische Fernsehen unterbrach sein aktuelles Programm. Es sendete auf allen Kanälen nur noch Aufführungen von Tschaikowskis Ballett »Schwanensee«. Doch der Putsch war nicht nur erbärmlich schlecht vorbereitet worden, die Putschisten hatten auch die Stimmung der Bevölkerung falsch eingeschätzt. In Moskau und Leningrad kam es zu Massendemonstrationen gegen die Putschisten. Soldaten und Offiziere verweigerten der Gruppe um Janajew die Gefolgschaft.

Der Einsatz des russischen Präsidenten Jelzin ließ den Umsturzversuch am 21. August 1991 scheitern. Er kletterte auf einen Panzer vor seinem Amtssitz, dem Moskauer »Weißen Haus«, und rief zum Generalstreik auf. Nach drei Tagen war der Spuk vorbei. Die Putschisten wurden verhaftet, und Gorbatschow konnte nach Moskau zurückkehren. Doch spätestens ab jetzt war er ein Präsident auf Abruf. Boris Jelzin nutzte die Gunst der Stunde, um nach der ganzen Macht zu greifen. Als russischer Präsident übernahm er immer mehr sowjetische Kompetenzen, und er demontierte, wo immer er nur konnte, öffentlich den amtierenden Noch-Präsidenten der Sowjetunion.

Michail Gorbatschow trat Ende August 1991 als KPdSU-Generalsekretär zurück. Im November 1991 verbot Boris Jelzin die KPdSU für das Gebiet Russlands. Gorbatschow, der immer noch auf einen neuen Unionsvertrag hoffte, musste tatenlos zusehen, wie Boris Jelzin, Leonid Krawtschuk und Stanislaw Schuschkewitsch, die Führer der drei Unionsrepubliken Russland, Ukraine und Weißrussland, am 8. Dezember 1991 in einem weißrussischen Erholungsheim mit der »Erklärung von Beloweschsk« die neue Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) aus der Taufe hoben.

Gorbatschow führte einen Kampf auf verlorenem Posten. Noch am 18. Dezember 1991 richtete er einen Brief an die Führungen der verbliebenen Sowjetrepubliken, in dem er vorschlug, die Sowjetunion zwar aufzulösen, aber als Rechtsnachfolger eine zu schaffende »Gemeinschaft europäischer und asiatischer Staaten« zu gründen. Damit wollte er überstaatliche Strukturen schaffen und sich selbst das politische Überleben sichern. Doch Jelzin, Krawtschuk und Schuschkewitsch hatten kein Interesse mehr daran. Am 21. Dezember 1991 trafen sie sich mit den Führern acht weiterer Sowjetrepubliken in der kasachischen Hauptstadt Alma-Ata (heute: Almaty). In einem dort verabschiedeten Dokument hieß es nunmehr offiziell: »Die unabhängigen Staaten: die Aserbaidschanische Republik, die Republik Armenien, die Republik Weißrussland, die Republik Kasachstan, die Republik Kirgistan, die Republik Moldawien, die Russische Föderation, die Republik Tadschikistan, Turkmenistan, die Republik Usbekistan und die Ukraine, geben folgende Erklärung ab: (…) Mit der Schaffung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten hört die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken auf zu existieren.«13

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Nach dem Putsch gegen Gorbatschow ruft Russlands Präsident Boris Jelzin am 20. August 1991 in einer dramatischen Rede vor dem Regierungssitz die Bevölkerung zum Generalstreik auf.

Alle Teilrepubliken der Sowjetunion, die den Status einer »Sowjetrepublik« hatten, wurden offiziell aus dem Verbund der UdSSR entlassen. Besagten Status hatten neben der heutigen Russischen Föderation 14 weitere Republiken: Estland, Lettland, Litauen, Ukraine, Weißrussland, Moldawien, Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Usbekistan, Turkmenistan, Kasachstan, Tadschikistan und Kirgistan. Am 24. Dezember 1991 wurde die Russische Föderation Rechtsnachfolger der UdSSR im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.

»Ich wünsche Ihnen alles Gute!«

Michail Gorbatschow wandte sich am 25. Dezember 1991 in einer Fernsehansprache letztmals als sowjetischer Präsident an das »Sowjetvolk« und verkündet sichtlich betroffen die Auflösung der UdSSR und seinen Rücktritt: »Verehrte Landsleute! Mitbürger! Angesichts der Situation, die nach der Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten entstanden ist, beende ich meine Tätigkeit als Präsident der UdSSR. (…) Die Linie der Zerstückelung und Auflösung des Landes hat sich durchgesetzt. (…) Ich verlasse meinen Posten mit Besorgnis. Aber auch mit der Hoffnung und dem Glauben an Sie, Ihre Klugheit und geistige Stärke. Wir sind die Nachkommen einer großen Zivilisation. Und es hängt jetzt von uns allen und von jedem Einzelnen ab, dass diese Zivilisation zu einem neuen und ihr würdigen und zeitgemäßen Leben erwacht. (…) Ich wünsche Ihnen alles Gute.«14

Am selben Tag um 19. 30 Uhr wurde am Kreml die rote Fahne der Sowjetunion eingeholt und die russische Trikolore gehisst. Der Kreml, einst der Regierungssitz der UdSSR, wurde zum russischen Regierungssitz.

»Es war das einzige Mal«, so sagte unser Freund Alexej, »dass ich meinen Vater habe weinen sehen. Papa war in der späten Stalin-Zeit im Lager, er hat sich danach nie wieder von der Tuberkulose erholt. Aber ihm hat selbst das nicht den Glauben an das Gute der Sowjetmacht genommen«, erzählt er. Es sind Geschichten, wie man sie oft in der früheren Sowjetunion hört. Als der totalitäre Staat verschwunden war und sich mit Beginn der 1990er Jahre in den neuen unabhängigen Republiken mit rasender Geschwindigkeit kapitalistische Gepflogenheiten entwickelten, trauerten viele einstige Sowjetbürger festen Regeln und kollektiver sozialer Sicherheit nach.

Parallele Entwicklungen
Vom Sowjetmenschen zu neuen
nationalen Identitäten

»Schurkenstaaten?«

»Duschanbe, Aschgabat, Bischkek, Chişinău? Um was handelt es sich? Hauptstädte? Von welchen Ländern denn?« Wenn man als Journalist in der Schweiz lebt und arbeitet und von hier aus ein Vierteljahrhundert postsowjetischer Entwicklung in den früheren Sowjetrepubliken verfolgt, stößt man zwangsläufig auf Unwissenheit und Stereotype über jene 15 Republiken, die einst die Sowjetunion bildeten. Gehören einige der ehemaligen sowjetischen Republiken nicht sogar zu den vom ehemaligen amerikanischen Präsidenten George Bush Senior als »Schurkenstaaten« (»rogue states«) bezeichneten Ländern, die die Stabilität ganzer Regionen untergraben? Die Vorstellungen, die man mancherorts über diese Länder hat, sind kurios bis abwegig.

Zur Zeit des Kalten Krieges konnte man an Universitäten in Ländern vor dem Eisernen Vorhang »Sowjetologie« studieren. Condoleezza Rice, zwischen 2005 und 2009 Außenministerin in der Administration von US-Präsident George W. Bush, war so eine »Sowjetologin«. Auch jetzt haben in den USA Politiker und Diplomaten Gewicht, die sich dieser Schule verbunden fühlen und alte Feindbilder auf das neue Russland übertragen. John McCain, der 2008 die Präsidentschaftswahl gegen Barack Obama verlor, gehört dazu. Für die Russen ist der einflussreiche US-Senator spätestens seit der Ukraine-Krise die Verkörperung der amerikanischen Russlandgegner. Der 2014 zum US-Botschafter in Moskau ernannte John Tefft gilt ebenfalls als Hardliner.

In der alten Bundesrepublik Deutschland gab es im Geschäftsbereich des Bundesinnenministeriums sogar ein »Institut für Sowjetologie«.1 Nach 1991 trugen nicht selten »Sowjetologen« mit ihrer unverändert ideologischen Sichtweise von einst dazu bei, dass vor allem Russland, so wie man das aus der Zeit des Kalten Krieges gewohnt war, in schwarzen und weißen Farben gemalt wurde und differenzierte Betrachtungen nur sehr langsam gewohnten Stereotypen Platz machten.

Wie aus dem Nichts tauchten 1991 die neuen Staaten auf der politischen Weltkarte auf. Ihre »Mutter«, die Sowjetunion, war über lange Zeit so abgeschottet gewesen, dass für viele von uns (vor dem Eisernen Vorhang) die Sowjetunion einfach »russisch« war. Die Vielfalt des Riesenreiches, die sich bei dessen Zerfall 1991 Bahn brach, wurde erst langsam sichtbar. Bis heute sind die meisten der früheren Sowjetrepubliken keine bevorzugten Touristenziele, und es kommt vor, dass sich ausländische Touristen wundern, wenn in Aserbaidschan, Turkmenistan oder Usbekistan kein Russisch gesprochen wird. Vor einiger Zeit standen wir gemeinsam mit zwei Engländern und zwei Tschetschenen im Aufzug eines Moskauer Hotels. Die beiden tschetschenischen Männer, typische Nordkaukasier mit dunklen Augen und schwarzen Haaren, unterhielten sich. Als sie den Fahrstuhl auf ihrer Etage verließen und wir mit den beiden Engländern weiter in die Lobby fuhren, sagten diese zueinander: »Russen sehen doch alle irgendwie gleich aus.«

Die russische Sprache in den früheren Sowjetrepubliken

Die Sowjetunion war ein abgeschottetes Land. So wie die beiden Briten Mühe hatten, Russen und Tschetschenen auseinanderzuhalten, verwirrt die meisten Ausländer, die in den einstigen Sowjetrepubliken unterwegs sind, vor allem die Sprachenvielfalt. Auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion werden über 200 verschiedene Sprachen gesprochen, davon 130 allein in Russland.2