Jan Eik geboren 1940 in Berlin als Helmut Eikermann, ist seit 1987 freiberuflicher Autor und Publizist. Er schrieb zahlreiche Kriminalromane und -erzählungen sowie Hör- und Fernsehspiele. Zu seinen Veröffentlichungen gehören u. a. «Der siebente Winter» (1989), «Der Geist des Hauses» (Ein Friedrichstadtpalastkrimi, 1998) und «Trügerische Feste» (2006). Im Jaron Verlag erschienen von ihm «Schaurige Geschichten aus Berlin» (2007) und «Der Berliner Jargon» (2009) sowie in der Reihe «Es geschah in Berlin …» «Der Ehrenmord» (2007) und «Nach Verdun» (2008, mit Horst Bosetzky).

Originalausgabe

2. Auflage 2010

© 2007 Jaron Verlag GmbH, Berlin

1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin

ISBN 9783955520021

Cover

Jan Eik

Der Ehrenmord

Kappes dritter Fall

Kriminalroman

Jaron Verlag

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Impressum

Widmung

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NACHBEMERKUNG

Es geschah in Berlin…

Ebenfalls bei Jaron: Die Reihe «Berliner Mauerkrimis»

Für Clara (1886–1976) und Klärchen (1902–1985)

als später Dank für die Geschichten aus der Adalbertstraße

ZWEI

HERMANN KAPPES ZIMMER lag zwar nach hinten raus, doch die Geräusche und die Gerüche, die aus dem engen Hof durch das weit offene Fenster hereinströmten, weckten ihn früh. Er würde nie begreifen, weshalb Hausfrauen sofort nach dem Aufstehen damit begannen, topf- und pfannenklappernd Kohl oder andere stark riechende Mittagsmahlzeiten zuzubereiten, aber es war eigentlich auch egal. Er war es gewohnt, früh aufzustehen, und er hoffte, dass ihn Mutter Mucke, seine Zimmerwirtin, nicht schon zu dieser Stunde mit ihrem Geschwätz und ihrer Neugier den Nerv rauben würde.

Nach seinem Geschmack ging man den Tag besser gemächlich an, frühstückte gut und machte sich rechtzeitig auf den Weg zur roten Burg am Alexanderplatz, um möglichst vor von Canow und Dr. Kniehase dort einzutreffen. Galgenberg, dem seine fünf Kinder sowieso wenig Schlaf gönnten, hatte dann bereits die Hälfte seines Tageblatts gelesen und fläzte sich hinter dem Schreibtisch, als hätte er die ganze Nacht im Präsidium verbracht. Kappe hatte den Kollegen im Verdacht, zumindest gelegentlich direkt aus der Kneipe zum Dienstantritt zu erscheinen, obwohl Galgenbergs korrekte Kleidung einen solchen Schluss eigentlich nicht zuließ.

Wie jeden Morgen stellte sich die Frage des Wegs, den er nehmen wollte. Seit die Kraftomnibuslinie 24 über den Moritzplatz, die Jannowitzbrücke und die Alexanderstraße direkt am Präsidium vorbeiführte, benutzte er diese am liebsten. Das kraftvolle Motorengeräusch erinnerte ihn an die Fliegerei, für die er schwärmte, obwohl er genau wusste, dass ihn schon auf dem Omnibusoberdeck ein seltsam beklemmendes Gefühl überkam. Deshalb blieb er lieber im Parterre stehen, und bei Regen stieg er gelegentlich in den Pferdeomnibus Nr. 7. Außerdem verkehrten direkt vor seiner Haustür in der Waldemarstraße drei Straßenbahnlinien, von denen die 22 und die 46 auf Umwegen ebenfalls zum Alex fuhren.

In letzter Zeit benutzte er sie nicht so häufig, bestand doch die Gefahr, dabei unverhofft auf Klara Göritz zu treffen. Dass er einmal Wert darauf legen würde, seiner großen Liebe möglichst nicht zu begegnen, hätte er sich selber nicht träumen lassen, aber im Augenblick war ihre Beziehung ein wenig getrübt, um es milde auszudrücken. Deshalb hatte er den vergangenen Sonntag draußen in Hoppegarten zuerst beim Galopprennen und später auf Börnickes Grundstück verbracht und sich von der todlangweiligen Hertha, seiner Cousine, anhimmeln lassen. Dann doch lieber Klara mit ihren Ansprüchen, lautete sein Fazit des verdorbenen Wochenendes, an dem ihm zudem Paul Börnicke mit seiner plumpen Kriegsbegeisterung auf die Nerven gegangen war. Den als Schwiegervater - nee!

Er und Klara waren ja nicht direkt verkracht miteinander, doch hatte der Dienst ihn in letzter Zeit einige Male gehindert, die Verabredungen mit ihr einzuhalten, und Klara hatte das prompt übelgenommen. Als er sie dann eines Abends unverhofft vom Kaufhaus Hertzog am Köllnischen Fischmarkt hatte abholen wollen, verließ sie den Personalausgang zu seiner Überraschung im trauten Gespräch mit einem stutzerhaft gekleideten Individuum, das Kappe mit seiner inzwischen gewonnenen Menschenkenntnis ohne zu zögern als einen Hochstapler oder Heiratsschwindler charakterisiert hätte, wäre der Kerl nicht zwangsläufig zum Personal des Kaufhauses zu zählen gewesen. Von seinem Platz im abendlichen Schatten der Petrikirche aus beobachtete er die beiden, die sich ganz ungezwungen gaben und lachend miteinander die Richtung zum Spittelmarkt einschlugen, wobei der Kavalier Klara beim Überqueren des Fahrdamms galant den Arm bot, den sie nicht ablehnte.

Ein heißer Stich durchfuhr Hermann Kappe. Für einen Moment war er versucht, den beiden im Eilschritt zu folgen, dem Stenz den steifen Hut vom Kopf zu schlagen und Klara zur Rede zu stellen - doch bezwang er sich rechtzeitig. Es geschah ihm ganz recht, dass sie sich so schnell tröstete, als wüsste sie von seinem jüngsten Abenteuer mit der reizvollen Zeugin eines brutalen Überfalls, das auf seinem Gewissen lastete. Wenn die Sache rauskam, war er außerdem seine Stellung im Präsidium los.

Wie hatte ihn diese niedliche Person aber auch angehimmelt und sich dabei alles andere als zurückhaltend erwiesen - ganz anders als Klara, die ihm ein wenig zu oft und ernsthaft von Verlobung und Ehestand sprach, statt ihm ihre Liebe mal eindeutig und praktisch zu bekunden. Auch andere Väter haben schöne Töchter, lautete eine der Galgenbergschen Weisheiten, deren tiefe Wahrheit Kappe bis dahin gerne bestritten hatte - zumindest was die Unfehlbarkeit der eigenen Person anging. Ihm wurde jetzt noch heiß, wenn er an die anschmiegsame Rieke dachte. Aber vielleicht war es nur der heiße Kaffee. ..

Da ihm Mutter Mucke nicht in die Quere kam, gelangte Hermann Kappe heute recht früh aus dem Haus und nahm gerade noch wahr, wie ein besonders korrekt gekleideter kleiner Herr das Nebenhaus verließ und die kurzen Beine zu eiligem Marschtritt auseinanderriss. Kappe kannte den Mann vom Sehen und wusste von seinem Nachbarn Trampe, dass er in der Ritterstraße im Keramikexport tätig war, weshalb ihn Trampe verächtlich als Nachttopp-Indianer bezeichnete. Der war bei den Preußen Spieß, behauptete Trampe außerdem, und die Kleinsten sind immer die Gemeinsten!

In letzter Zeit sprach Trampe noch häufiger und noch abfälliger vom Militär als sonst. Am Sonnabend hatte er versucht, Kappe zu überreden, ihn am Dienstag zu einer Massenversammlung gegen den Krieg zu begleiten. «Das klassenbewusste Proletariat erhebt im Namen der Menschlichkeit und der Kultur flammenden Protest gegen das verbrecherische Treiben der Kriegshetzer», hatte er aus seinem sozialdemokratischen Parteiorgan vorgelesen. «Kein Tropfen Blut eines deutschen Soldaten darf dem Machtkitzel der österreichischen Gewalthaber geopfert werden!»

Kappe hatte für den Dienstag vorsichtshalber dienstliche Unabkömmlichkeit vorgeschützt. Er hielt nichts von dem ganzen Kriegsgerede, das von Tag zu Tag zunahm. Was gingen ihn Österreich und Serbien an? Der Balkan war weit, und der Kaiser rasselte gerne mal mit dem Säbel, den er mit seinem verkürzten Arm nicht zu führen imstande war. Waren nicht der Zar und der englische König seine Cousins? Mit der Verwandtschaft zankte man sich bestenfalls, führte doch aber nicht gleich Krieg!

Es war ein sonniger Morgen, und so beschloss Kappe, den Weg zum Alex ausnahmsweise per pedes zurückzulegen. Er war kein großer Fußgänger vor dem Herrn - auch das ein ständiger Streitpunkt zwischen ihm und Klara, die am liebsten jeden Sonntag eine andere Wandertour in der Berliner Umgebung absolviert hätte, möglichst in Begleitung noch anderer Pärchen oder Leute, die Kappe durchweg gleichgültig, wenn nicht sogar unsympathisch waren. Am Ende lief es immer darauf hinaus, ihn mit neugierigen Fragen über seine Arbeit zu behelligen und ihn später, nach dem Genuss etlicher Gläser Bier, seiner berufsbedingten Schweigsamkeit wegen zu uzen.

Mit der Zeit hatte sich herausgestellt, dass alles, was Klara liebte - ins Theater Gehen, Tanzen, Wandern oder Schwimmen – Kappes Geschmack nur begrenzt traf. Im Theater, wenn es nicht gerade das Thalia oder das Rose-Theater waren, ermüdeten ihn langstielige Monologe, beim Tanzen ärgerte ihn, dass Klara sich von anderen Kerlen auffordern ließ, statt zu wandern, lief er sich in der Riesenstadt oft genug im Dienst die Hacken ab, und Schwimmen - er war der Sohn eines Fischers, der das Wasser nie höher als bis zu den Knien an sich heranließ. Sich in einer Badeanstalt anderen Menschen halbnackt zu präsentieren, wäre ihm alleine nie in den Sinn gekommen.

Dennoch ging er gerne mal am Luisenstädtischen Kanal entlang. Er warf dem dicklichen Nachttopfhändler, der nach rechts zum Elisabethufer abbog, einen letzten Blick hinterher, bevor er die Waldemarbrücke überquerte und der faulige Geruch des stehenden Gewässers ihm in die Nase stieg. Ein paar nach Teer und Unrat riechende Lastkähne schmorten in der Morgensonne. Kappe verlor alle Lust, seinen Weg zum fauligen Wasser des Engelbeckens fortzusetzen, und ging lieber gleich an der Rückfront der Markthalle vorbei zur Dresdener Straße. Hier war es ein wenig schattiger. Trotzdem wischte er sich erst mal den Schweiß aus dem Genick, als er in die breite Prinzenstraße einbog. Geschäft reihte sich hier an Geschäft, und dazwischen war jeweils eine Kneipe. Traute man den Reklametafeln, so befanden sich in manchen Häusern ein halbes Dutzend und mehr Läden, von den Werkstätten in den Höfen und von den Kellerlokalen, aus denen es muffig stank, ganz zu schweigen.

Mein Gott, wie viele Menschen schon am frühen Morgen auf so einer Straße herumwuselten! Die vollbesetzten Straßenbahnen bimmelten sich ihren Weg frei, Fuhrwerke ächzten knarrend daher, Droschkenkutscher knallten mit der Peitsche, der Pferdeomnibus bahnte sich seine Spur, und die Kraftwagen knatterten stinkende Wölkchen aus dem Auspuff, die sich mit dem warmen Mief der Stadt vermischten. Und dazwischen Händler mit ihren Karren und Hunderte von Fußgängern, die in alle Richtungen strebten, nur nicht in die von Kappe gewählte. Das versprach ja wieder ein Tag zu werden!

Wie oft hatte er sich danach gesehnt, wenigstens mal einen Sonntag alleine mit Klara zu verbringen, und seine Pläne dafür waren weit gediehen, denn jeden Sonntag besuchte die ebenso gestrenge wie neugierige Mutter Mucke den Gottesdienst in der Emmauskirche am Lauseplatz - eine einzigartige Gelegenheit, Klara in sein Zimmer zu schmuggeln. Doch Klara sperrte sich wider Erwarten mit aller Entrüstung, zu der so ein hochgekommenes Dorfmädchen fähig war. Wie anders dagegen die blonde Rieke, eine echte Berlinerin, die wusste, was einem im besten Saft stehenden Mann guttat. Dabei war sie verlobt, wie sich zu Kappes Kummer bald herausgestellt hatte. «Aber deswegen können wir uns doch trotzdem gelegentlich mal ein paar schöne Stunden miteinander machen», hatte sie ihm unverblümt angeboten, und er hatte empört abgelehnt. Eine Eselei, wie er inzwischen wusste. Was ging ihn der Verlobte an? Kümmerte sich Klaras Stenz vielleicht um Hermann Kappe?

Eine Unmutsfalte über der Nase, stiefelte Kappe die Neanderstraße hinauf in Richtung Janovenbrücke. Es hatte ein Weilchen gedauert, bis er sich Galgenbergs Ausdrucksweise angewöhnt hatte, aber inzwischen fiel es ihm schwer, wenigstens von Canow gegenüber die korrekten Bezeichnungen wie «Lausitzer Platz» oder «Jannowitzbrücke» zu gebrauchen. Als er diese überquerte, bereute er längst, zu Fuß gegangen zu sein, denn die Alexanderstraße zog sich noch einmal ein ganzes Stück bis zum Präsidium.

Dort angelangt, war er anscheinend tatsächlich der Erste in der Abteilung und fand noch drei Minuten Ruhe, sich von dem Weg zu erholen, bevor Galgenberg munter und kregel hereinstürmte, seinen Strohhut quer durch das Amtszimmer segeln ließ und ihn mit einer seiner öden Scherzfragen begrüßte: «Na, Kappe?

’N Satz mit Kandelaber?»

Genervt verzog Kappe das Gesicht.

«Meine Olle kann de Laberwurscht nich vertraren!»

Kappe grinste verkniffen. Hatte er nicht neulich in einer Kneipe auch so einen Spruch vernommen?

«’N Satz mit Telefonstangen», forderte er. «Na, Herr Kollege?»

Ratlos sah ihn Galgenberg an. «Was ist denn mit Ihnen los, Kappe? Meinen Sie den? Der Hund von mein Nachbarn hat Junge bekommen. Da kriege ich och ’ne Töle von.»

Kappe schüttelte den Kopf. «Die besten Teele von Stangenspargel sind die Köppe!», sagte er stolz.

Galgenberg schien beeindruckt. «Donnerwetter! Hätte ich Ihnen nicht zugetraut, Kappe. Sie machen sich!»

«Hat er wieder eine seiner genialen kriminalistischen Eingebungen?» erkundigte sich Dr. Kniehase, der im Hereinkommen Galgenbergs Lob vernommen hatte. «Oder wollen Sie sich etwa als Kriegsfreiwilliger stellen? Beim Portier fragen dauernd Männer an, wo man sich melden muss.»

«Is denn schon Kriech?», fragte Galgenberg scheinheilig. «Ich habe das Tageblatt heute noch nicht gelesen.»

Er warf die Zeitung auf den Tisch. Die Bemühungen zur Lokalisierung des Krieges. .., las Kappe. Das klang nicht sonderlich beunruhigend. Und die Überschriften, die Galgenberg gleich darauf zitierte, auch nicht: Günstigere Auffassung in Petersburg - Prestigepolitik, aber keine besondere Angriffslust. England vollkommen desinteressiert - Appell der französischen Presse an Kaiser Wilhelm.

Ein paar Seiten weiter fand Galgenberg etwas, das Kappe entschieden intensiver lesen würde als das Kriegsgetöse: Der Flug über den Atlantik. Er reichte Kappe das Blatt, der sich sofort in die ausführliche Meldung über den Leutnant Porte vertiefte, der in der nächsten Woche mit seinem Curtiß-Flugboot Amerika von Neufundland aus starten sollte.

Mit einem unerwarteten Ruck öffnete sich die Tür, und von Canow spazierte herein. «Na, meine Herren? Was meldet unsere vaterländische Presse?», erkundigte er sich jovial.

Nun gehörte die Zeitungslektüre nicht unbedingt zu den dienstlichen Obliegenheiten der Kriminalwachtmeister, doch Galgenberg wusste nur zu genau, was von Canow am liebsten hörte, und las wie aus der Pistole geschossen: «Kaiser Wilhelm hat gestern Abend sechseinhalb Uhr Bergen auf dem Kreuzer Rostock ohne vorherige Ankündigung verlassen. Er wird heute Nacht in Kiel erwartet. Die deutsche Flotte erhielt Befehl, sich an einer bestimmten Stelle. ..»

Von Canow hob die Hand. «Unsere stolze Flotte!», sagte er.

«Die wird den Engländer noch das Fürchten lehren!»

Er griff nach dem Tageblatt, das Galgenberg ihm eilfertig reichte. «Steht da gar nichts über die gestrigen Kundgebungen in Berlin?»

Er blätterte um und war beruhigt. «Ah ja, hier: Die Skandalszenen vor der russischen Botschaft. Massenansammlungen und Verkehrsstockungen Unter den Linden und in der Friedrichstraße. Das hätten Sie sich ansehen sollen, meine Herren! Kann sein, dass wir auch noch zur Bereitschaft abkommandiert werden, falls diese Begeisterung anhält. Und davon gehe ich aus. Jeder deutsche Mann kennt eben seinen Platz!»

Und schritt erhobenen Hauptes hinaus.

Keiner der drei sprach es aus, aber Kappe fiel nichts anderes ein als einer von Galgenbergs frechen Sprüchen: Hohle Köpfe trägt man leicht hoch.

DREI

MARTHA JUNGNICKEL, geborene Zeppenfeld, verwitwete Unrauh, war nahe daran, die letzten Nerven zu verlieren. Nur mit einer leichten Kittelschürze bekleidet, fegte sie schwitzend durch Flur und Küche ihrer düsteren Hinterhofwohnung und wusste nicht, wo ihr der Kopf stand. Wie jeden Morgen hatte Otto das Haus am frühen Morgen auf der Suche nach Arbeit verlassen, und auf der Chaiselonge in der einzigen Stube schlief Max grunzend seinen Rausch aus. Jedenfalls vermutete sie das, denn er war erst gegen Morgen hier aufgetaucht.

Im Flur - eigentlich nur ein totes Stück Gang zwischen Küche und Stube - stand Hugo quäkend in seinem Bettverschlag. Sie wusste nicht, womit sie ihn füttern sollte. Das Küchenspind war leer bis auf einen Mehlrest. Da half es nichts, dass sie zum x-ten Mal Tiegel und Tüten beiseite räumte. Sie hatte selber Hunger.

Durch das weit geöffnete Küchenfenster drang aus dem engen Hof nur der faulige Geruch der Müllkästen herein. Kein Hauch bewegte den feuchten Dunst, den die brodelnde Wäsche im Zinkbottich auf der Kochmaschine verbreitete.

Verzweifelt sank Martha auf den Küchenschemel. Was sollte nur werden? Sie hatte der Pankratzen in der Britzer Straße für heute die kleine Wäsche versprochen, konnte dort aber unmöglich mit dem quäkenden Gör anrücken. Die ehrpusselige Pankratzen wusste nicht einmal, dass Lina ein Kind hatte.

Dabei brauchte sie das Geld von der knickrigen alten Kuh.

Wenigstens ein paar lumpige Groschen! Max darum anzugehen war hoffnungslos. Wenn der erst am frühen Morgen in die mütterliche Wohnung fand, dann war das ein Zeichen dafür, dass er abgebrannt war bis auf den letzten Pfennig. Sonst nächtigte er lieber bei seinen Weibern oder wer weiß wo.

Max, den sie mit knapp siebzehn geboren hatte, war immer ihr Sorgenkind gewesen und geblieben, und auch jetzt, wo sie ihn am dringendsten gebraucht hätte, war wenig von ihm zu erwarten. Bei der Hitze verkaufte der Heringsbändiger, bei dem er gelegentlich aushalf, bestimmt keine Fische. Außerdem hätte Max dann längst mit dem in der Markthalle sein müssen.

Als Hugos Blöken die Schmerzgrenze ihrer Ohren überschritt, fuhr sie auf und hastete in den Flur. Halt’s Maul, hätte sie ihn am liebsten angeschrien und derb durchgeschüttelt, aber als das greinende Kind die dünnen Arme nach ihr ausstreckte und ein klägliches «Mam - mam» hören ließ, nahm sie den Jungen wortlos, wenn auch nicht gerade zärtlich, auf den Arm und ließ ihn an ihrem Finger saugen.

«Ja, brüll nur Mam-mam!», sagte sie. «Die hat dich längst vergessen, deine Mam-mam. Die sehen wir vorläufig nicht wieder.»

Ganz wohl war ihr bei diesen Worten nicht. Immerhin hatte sie selber die Tochter dazu gebracht, im Zorn die Wohnung zu verlassen. Nicht zum ersten Mal. Aber zum ersten Mal war sie drei Nächte lang nicht nach Hause zurückgekehrt.

Mit Hugo auf dem Arm betrat sie das Berliner Zimmer, in dem trotz der Größe des Raums die stickige Luft stand wie eine Wand. Sie schlängelte sich zum einzigen Fenster und riss es auf. Kaum drei Meter entfernt kramte Rataizik herum. Lauernd sah er zu ihr auf und grüßte spöttisch: «Morjen, Frau Jungnickel. Wolln Se Ihren Nachwuchs belüften?»

Der unverschämte Kerl hatte ihr gerade noch gefehlt. Ewig lungerte er vor ihrem Fenster herum mit seinen Glubschaugen. Und Lina hatte er schon ein paar Mal angefasst, wenn sie die Treppe saubermachte.

Wortlos wandte Martha sich ab und trat an Max’ Schlafstelle.

«Wach uff, du verlotterter Kerl!», fuhr sie ihn an. «Du jehst jetzt los und suchst Linan, hörste?»

Max hörte nicht oder tat wenigstens so. Dafür erschien für einen Augenblick Rataiziks Rundschädel unterhalb des Fensterbretts. Martha legte Hugo auf dem Fußboden ab, hastete zum Fenster und beugte sich weit hinaus. «Kümmern Sie sich man um Ihren eigenen Dreck, Herr!», fuhr sie den Mann an, der gebückt zwischen den rostroten Müllkästen unter dem Fenster stand, als suche er etwas. «Sonst fällt mir am Ende noch versehentlich der Inhalt von mein’ Nachtjeschirr aus’t Fenster!»

Rataizik richtete sich auf und grinste ihr frech ins Gesicht.

«Denn passen Se mal uff, dass Ihn’ nich noch wat andret aus’m Fensta fällt, junge Frau!», antwortete er mit einem anzüglichen Blick auf den Ausschnitt ihrer Schürze. Unwillkürlich raffte Martha den dünnen Stoff über dem üppigen Busen zusammen und knallte mit der anderen Hand das Fenster zu. Sein scheinheiliges «Was is denn man mit Ihre Lina los?» hörte sie gar nicht mehr.

Das hatte man davon, wenn man Parterre wohnte. Hochparterre nannte sich das hier, weil im Hausflur vier Stufen nach oben führten und unter den Fenstern deswegen noch Platz für die Müllkästen blieb.

«Du stehst jetzt uff!», brüllte sie den Sohn an und versetzte ihm eine derbe Kopfnuss. «Ick hab et satt mit euch! Eena immer fauler als der andere, und sich bei Muttan durchfressen, det könnta! Aber wo unsereins det Brot hernimmt, intressiert die Herren nich!»

Das war zumindest Otto gegenüber ungerecht, wie sie wusste, und aus Wut darüber schlug sie noch einmal zu, wenn auch nur mit halber Kraft.

«Steh uff, und such Linan!»

Max wehrte ihre Hand ab wie eine lästige Fliege, bevor ihm zum Bewusstsein kam, dass die eigene Mutter seinen Schlaf störte. Er stieß mit derber Faust nach ihr und murrte: «Such doch deine dämliche Lina aleene! Wirst schon wissen, bei wem se sich verkrochen hat.»

«Weiß ich eben nicht!», entgegnete Martha Jungnickel ungewohnt kleinlaut und weinerlich. Sie zog einen wackligen Stuhl mit durchgesessenem Korbgeflecht heran und ließ sich darauf nieder. Hugo kroch zu ihr, zog sich am Schürzensaum hoch und stieß wieder sein jämmerliches «Mam - mam» hervor.

«Maxe! Es handelt sich schließlich um deine eijene Schwester. ..», beschwor Martha ihren Ältesten.

«Höchstens zur Hälfte», brummte der. «Lass mir bloß mit die in Ruhe!»

Das fehlte Martha gerade noch, an den längst dahingegangenen Richard Jungnickel erinnert zu werden, der ihr außer Lina nur einen Batzen Schulden hinterlassen hatte und die böse Erinnerung an all die Weibsbilder, mit denen er sich abgegeben hatte, bevor er eines kalten Herbstabends besoffen vom Kutschbock gefallen und von dem Fuhrwerk überrollt worden war, das ihm nicht einmal gehörte.

Sie schluckte, weil der Unfall sie an die verschwundene Tochter erinnerte, und sagte zu Max: «Als sie klein war, hast du sie jemocht. ..»

«Ja, und wenn se uff mir jehört hätte, jings ihr heute blendend, und du brauchtest dir nich mit det Jör abzuplaren. Aber dämlich wie ihr Weiber seid, hat se den ersten besten uff de Treppe rübersteigen lassen. ..»

Mit einem Schritt stand Martha am Kanapee, und ihre Hand fuhr ein weiteres Mal in Max’ Gesicht. «Versündje dir nich, du Lude!», keifte sie. «Du wolltest sie uffn Strich schicken, du Strolch!»

«Na und?» Max richtete sich auf. Tiefe Kratzspuren zierten seinen ausgemergelten Oberkörper. «Da hätte se wenigstens ’n paar Sechser vadient bei ihr Vergnüjen. Aber sie macht’s ja lieber umsonst, die feine Dame! Wer weeß, vielleicht hat se ja ’n reichen Kober mit orntlich Asche erjattert. War doch immer ihr Traum!»

«Und lässt mir hier mit det Jör alleene? Nee, mein Lieba! So eene is meine Lina nich! Ick sahre dir, et is wat passiert, und wir müssen ihr suchen!»

«Denn such ma scheen.» Max schloss die Augen und ließ sich auf seine Schlafstätte zurücksinken, als ginge ihn die ganze Angelegenheit nicht länger etwas an.

«Komm, mein Kleena.» Beinahe zärtlich hob Martha ihr greinendes Enkelkind auf und ging zur Tür. «Denn müssn wa uns ehm bei die Blauen nach deine Mutter erkundigen. Die wer’n schon wissen. ..»

«Biste meschugge?» Mit Schwung warf Max das Bettzeug von sich und stand auf. Nackt und bleich und drohend stand er da, die langen Haare hingen ihm wirr ins Gesicht. Ängstlich klammerte sich Hugo an Marthas geschwollenes Bein und beguckte Maxens langgezogenes Glied.

«Bei die Blauen! Wat Bessret fällt dir wohl nich ein, wie? Willste, dass die hier komm’ und allet koppstellen, dein Spinde durchwühlen und inne Nachbarschaft rumhorchen?» Er äffte das Gerede nach: «Bei die Jungnickeln is nämlich de Tochter verschwunden! Wer weeß, wo die ihr hinjetan ham. .. Diese Leute is doch alles zuzetraun!»

«Na, wat soll ick denn machen? Du hilfst mir ja nich, det Mädel zu suchen.»

Max warf seine langen Locken nach hinten und strich sie mit beiden Händen glatt. «Mensch, wat gloobste denn, wat ick die janze Nacht jemacht habe? Überall bin ick rumjekrochen und habe rumjefraacht. ..»

«Nenn mir nich Mensch! Ick bin immer noch deine Mutta! Haste wenichstens wat rausjekricht?»

«Nich die Bohne. Keena will ihr jesehn ham.»

«Aber es war schon die dritte Nacht!», jammerte Martha. «So lange is se noch nie wechjebliem.»

«Eenmal is keenmal.» Ungeniert kratzte sich Max die Hoden.

«Noch sind ja die Nächte warm.»

«Und wer hat dir so zerschrammt in die warmen Nächte?» Anklagend wies die Mutter auf die Nagelspuren auf seiner Brust.

Max’ Miene verfinsterte sich. Doch dann überzog ein breites Grienen sein Gesicht. «Allet aus reine Liebe, nischt weiter», sagte er stolz. «Manchmal sind die Mädels wie doll und verrückt.»

Martha schüttelte den Kopf. «Doll und verrickt - det werd ick hier ooch noch mal.»

VIER

GEGEN MITTAG war die Temperatur so weit angestiegen, dass Galgenberg nicht nur sein Jackett ausgezogen, sondern sogar die Hemdsärmel zweimal umgeschlagen hatte - ein geradezu unerhörter Vorgang, wie Kappe fand. Sie hatten das Fenster geschlossen und die schweren Vorhänge vorgezogen, aber die Hitze war aus dem engen Hof längst eingedrungen und erschwerte jede Tätigkeit. Kappe hockte apathisch hinter dem Schreibtisch und tat, als brüte er über seinem Bericht. In Wahrheit dachte auch er darüber nach, sich wenigstens etwas Luft zu verschaffen, als Dr. Kniehase zur Tür hereintrat und ihn mit einem maliziösen Lächeln musterte.

«Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie noch immer in der Gegend des seines Geruchs wegen unrühmlich bekannten Luisenstädtischen Kanals wohnen, mein lieber Kappe?», fragte er anzüglich.

Kappe missfiel allein schon der Ton der Frage. Aber was half es? Er musste nicken. «Waldemarstraße», fügte er vage hinzu.

Kniehase griente und sah dabei aus wie ein Hamster, der ein Loch im Getreidespeicher entdeckt hat. «Na, dann kommen Sie mal», sagte er. «Da wollen wir beide mal einen netten kleinen Ausflug unternehmen. Ich hole nur meine Photo-Utensilien.»

Er überließ es Kappe, den schweren Photokoffer zu schleppen. Sie verließen das Gebäude durch die übliche Seitenpforte, und Kniehase schlug auch richtig den Weg nach rechts zur Jannowitzbrücke ein. Statt jedoch die nächste Haltestelle anzusteuern, überquerte er an der Ecke leise vor sich hin pfeifend die Alexanderstraße. Ob Kappe ihm folgte, schien ihn nicht zu interessieren.

Erst vor dem Postamt an der Magazinstraße wandte er sich halb um und sagte: «Habe noch ein paar dringende Briefe abzusenden. Warten Sie ruhig hier.»

Verblüfft blieb Kappe in der knallenden Sonne zurück. Der hatte vielleicht Humor! Außerdem war er sich ziemlich sicher, dass es sich bei den dringenden Briefen um Kniehases Privatkorrespondenz handelte. Aber das ging ihn nichts an.

Unruhig schritt er vor dem Postgebäude auf und ab und hatte sich gerade entschlossen, doch in die kühle Schalterhalle einzutreten, als Kniehase forsch heraustrat und es tatsächlich wagte, ihn zur Eile anzutreiben: «Nun aber los, Kappe! Das wird heute vielleicht noch ein langer Tag!»

Kappe stiefelte einen halben Schritt hinter ihm. «Dann ist es aber besser, wir nehmen jetzt den Omnibus oder die Straßenbahn», sagte er.

«Nehmen wir», entgegnete Kniehase, schritt aber unbeirrt auf der falschen Straßenseite weiter und bog in die Blumenstraße ein. An der Haltestelle für den Kraftomnibus Nr. 2 blieb er stehen und sah sich nach Kappe um.

«Der fährt aber nicht in die Luisenstadt», wandte der ein.

«Habe ich behauptet, wir müssten in die Luisenstadt?», fragte Kniehase zurück. «Keine Angst. Da kommen Sie noch früh genug hin. Jetzt geht’s erst mal an einen angenehm kühlen Ort, mein lieber Kappe. Warten Sie’s nur ab.»

Seestraße stand an dem Omnibus, und natürlich musste Kniehase auf das offene Verdeck steigen. «Kommen Sie, Kappe, hier oben ist die Luft frischer», rief er auch noch, so dass Kappe ihm widerstrebend folgen musste, wobei ihm der Koffer zusätzliche Nöte bescherte. Wohin dieser Geheimniskrämer Kniehase mit ihm wollte, war ihm noch immer ein Rätsel.

Vorsichtig manövrierte er sich zu der Mittelbank auf dem Deck und ließ sich neben Kniehase nieder. Zu seinem Schrecken gewahrte er, dass der Bus nach links abbog und die Waisenbrücke überquerte. Auch das noch! Er schloss die Augen, um nicht hinunter auf das Wasser blicken zu müssen, und hoffte, Kniehase würde es nicht bemerken.

«Machen Sie ruhig noch ein Schläfchen», sagte der großmütig. «Wir fahren noch eine ganze Weile.»

Kappe schämte sich, doch die brennende Sonne und der Lärm in den staubigen Straßen überwältigten ihn wie eine Lähmung. Als er die Augen wieder öffnete, überquerten sie gerade den Spittelmarkt.

Mehr als eine halbe Stunde verging, bevor sie endlich die Linden passiert hatten, unter denen halb Berlin unterwegs zu sein schien.

Erst hinter der Weidendammer Brücke überkam Kappe eine plötzliche Ahnung, wohin die Reise ging. Und richtig. Am Oranienburger Tor kletterten sie von ihrem Hochsitz und bogen gleich darauf in die Hannoversche Straße ein. Das hatte ihm nach dieser Fahrt wahrhaftig noch gefehlt. Da leuchtete auch schon der gelbe Klinkerbau in der Sonne: das Leichenschauhaus.

Seit seiner ersten Berliner Leiche war er nun schon einige Male hier gewesen, aber dass er sich an das Haus und dessen eigenartige Atmosphäre gewöhnt hatte, konnte er wirklich nicht behaupten.

Um seine Beklommenheit zu überspielen, wandte er sich betont sachlich an Kniehase: «Wen hat man denn aus dem Luisenstädtischen Kanal geborgen?»

Kniehase hob die Schultern. «Wir werden sehen», sagte er sibyllinisch.

Ein spitzbärtiger junger Mediziner mit goldumrandetem Kneifer, der sich als Doktor Levinson vorstellte, erwartete sie. «Das hat ja gedauert!», merkte er kritisch an. «Da sind wir ja schneller in Paris, wenn’s ernst wird!»

Kniehase musterte ihn säuerlich. «Ist die Frau nicht sowieso tot?», fragte er. «Die rennt uns doch nicht weg.»

«Na, beinahe wäre sie weg gewesen.»

Der Doktor eilte ihnen mit langen Schritten voraus und öffnete einladend die Tür zum Sektionsraum. Kappe roch die Leiche, bevor er sie auf dem Metalltisch wahrnahm.

«Die Herren von der Feuerwehr waren nämlich der Meinung, es handle sich um eine ordinäre Wasserleiche. Doch weit gefehlt!» Doktor Levinson schlug das Tuch zurück, und Kappe sah zuerst das lange goldblonde Haar, bevor er das aufgedunsene Gesicht der jungen Frau wahrnahm, auf dem sich blutunterlaufene Flecke abzeichneten.

«Sehen Sie selbst - die Cyanosis und die konjunktivalen Blutungen sprechen eine eindeutige Sprache», erklärte der Pathologe ebenso lebhaft wie unverständlich und legte dabei den zerschundenen Hals der Leiche frei. «Knorpel eingedrückt. Dazu Blutungen in der Mundschleimhaut und etwas schwächer in der Halsmuskulatur. Von einem etwas älteren Bluterguss unter dem rechten Auge und etlichen Flecken am ganzen Körper einmal abgesehen. Blaue Flecke zum Beispiel an den Oberschenkeln.» Und schon schlug er das weiße Tuch über den strammen, kurzen Beinen der Frau zurück.

Eine dicke Fliege brummte durch den Raum. Bei aller Beherrschung hielt es Kappe nicht länger neben der Leiche. Er hielt den Atem an und machte mit weichen Knien einige Schritte zum Fenster. Als er sich wieder umwandte, fiel sein Blick auf eine weite Schale mit blutig-hellem Inhalt.

Er stöhnte hörbar auf. Levinson, der seine Ausführungen keinen Augenblick unterbrochen hatte, maß ihn mit einem spöttischen Kneiferblitzen. «Das ist ein Fötus», sagte er belehrend. «So haben Sie auch mal ausgesehen - etwa drei Monate nach Ihrer Zeugung.»

«Sie war also schwanger?», vergewisserte sich Kniehase. Levinson nickte. «So ist es. Und es wäre nicht ihre erste Geburt gewesen. Sie hat übrigens auch unmittelbar vor ihrem Tod noch koitiert.»

«Eine Vergewaltigung?», erkundigte sich Kniehase, dem das alles nichts auszumachen schien.

Der Doktor zuckte die Achseln und spreizte seine Hände. «Ich glaube kaum. Die Verletzungen sind sämtlich älteren Datums.»

Er bedeckte die Leiche wieder mit dem Tuch und wandte ihr den Rücken zu. «Ein wahres Glück, dass ich heute Dienst habe und nicht einer von diesen. .. Nun ja, lassen wir das. Sie ist jedenfalls unzweifelhaft erdrosselt worden und nicht ertrunken. Mit höchster Wahrscheinlichkeit mit jenem Seidentuch erwürgt, das sie noch um den Hals trug.»

Er griff nach einem bunten Tuch, das auf dem Tisch neben der unsäglichen Schale lag. Kniehase bat um ein Behältnis und fragte: «War das Tuch verknotet?»

Levinson runzelte die Stirn. «Nicht fest», sagte er. «Vermutlich hat es ihr der Täter wieder umgelegt, bevor er die Leiche ins Wasser stieß.»

«Oder die Täterin», gab Kappe zu bedenken. Eifersucht war schließlich auch ein Mordmotiv.