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Horst Bosetzky

Der Lustmörder

Kappes sechster Fall

Kriminalroman

Jaron Verlag

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Impressum

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NACHWORT

Es geschah in Berlin …

Horst Bosetzky alias -ky lebt in Berlin und gilt als «Denkmal der deutschen Kriminalliteratur». Mit einer mehrteiligen Familiensaga sowie zeitgeschichtlichen Spannungsromanen avancierte er zu einem der erfolgreichsten Autoren der Gegenwart. Zuletzt erschienen im Jaron Verlag von ihm die biographischen Romane «Kempinski erobert Berlin» (2010) und «Der König vom Feuerland. August Borsigs Aufstieg in Berlin» (2011) sowie die ersten Bände seiner Romanserie «Wie Berlin und Brandenburg wurden, was sie sind: Unglaubliche Geschichten aus dem Mittelalter» (ab 2011). Zu der Krimireihe «Es geschah in Berlin» trug er bereits mehrere Bände bei, zuletzt «Unterm Fallbeil» (2012).

Originalausgabe

2. Auflage 2012

© 2008 Jaron Verlag GmbH, Berlin

1.digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin

Satz: LVD GmbH, Berlin

ISBN 9783955520052

EINS

«PASS GUT AUF DICH AUF», sagte Erna Priepert zu ihrem Mann, als der sich aufmachte, mit ihrem Hund die abendliche Runde zu drehen.

«Wer soll mir schon was tun?» Erich Priepert war kräftig gebaut und keineswegs ein Feigling. «Im Gegenteil, das Kroppzeug soll nur aufpassen, dass ich ihm nichts tue!»

Vor einiger Zeit war in seinen Kolonialwarenladen in Tegel eingebrochen worden, und er hatte einen der Diebe so verprügelt, dass der ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Der andere allerdings war ihm entkommen.

«Rüpel, los, ab die Post!» Priepert nahm seinen Dackel an die Leine. «Und wenn mich einer anfällt, dann beißt du ihm ein Bein ab.»

«Und stolpere nicht wieder über die Äste, Erich!»

«Nein, Erna, ich kenne hier jeden Zentimeter.»

«Trotzdem, du weißt ja.»

Am 12. Januar 1920 hatten in Berlin orkanartige Stürme gewütet und an vielen Stellen erhebliche Schäden verursacht. Strom- und Telefonleitungen waren von den Masten gerissen und Bäume entwurzelt worden. Abgerissene Äste blockierten die Wege. Auch zwei Tage später waren die Aufräumarbeiten noch nicht abgeschlossen, denn Berlin war von einer gewaltigen Grippewelle erfasst worden, und überall fehlten die Arbeitskräfte.

Priepert liebte seine abendlichen Spaziergänge. Darauf freute er sich schon seit dem Mittag. Wenn man den ganzen Tag im Laden stehen musste, war Bewegung das A und O, wollte man nicht vorzeitig auf dem Friedhof landen. Ach, wer den Krieg überlebt hatte, der hatte Glück. Doch noch schien nicht alles vorbei zu sein, überall rumorte es. Gestern bei der Demonstration vor dem Reichstagsgebäude wegen der Änderungen im Betriebsrätegesetz hatte die Reichstagswache in die Menge geschossen, 42 Menschen getötet und über 100 verletzt. Schrecklich. Andererseits hatte Berlin auch wieder seinen Opernball gefeiert. Das ließ auf bessere Zeiten hoffen. Ohne Lebensmittelkarten und mit Kunden, die wieder Geld in den Taschen hatten. Erich Priepert überlegte allerdings, ob er nicht ein neues Schild über seinem Laden brauchte. Das Wort «Kolonialwaren» erschien ihm absurd, da Deutschland nun keine Kolonien mehr hatte. Kamerun, Togo, Deutsch-Südwestafrika und Deutsch-Ostafrika, Deutsch-Neuguinea, Samoa - alles war den Bach runter. Schade.

Das und vieles andere ging Priepert durch den Kopf, als er mit Rüpel die Forststraße entlangging, den südlichsten Ausläufer Hermsdorfs. Links von ihm lag das Fließtal im silbernen Licht des Mondes, dort schlängelte sich das Tegeler Fließ - mal sich zu einem kleinen See erweiternd, mal nur ein etwas breiterer Bach - von Lübars kommend durch Waidmannslust hindurch und an Hermsdorf vorbei nach Tegel.

Über ein Straßenstück, das den Namen Schöne Aussicht trug, erreichte Priepert die Bismarckstraße, die später den Namen Hermsdorfer Damm tragen sollte. Drüben ging ein Soldat. Mit schnellen Schritten strebte er in Richtung Tegel. Hoffentlich ging das nicht schon wieder los mit dem Bürgerkrieg. Es wurde ja so manches gemunkelt. Dass viele Soldaten es nicht hinnehmen wollten, nutzlos zu sein.

Priepert überlegte kurz, welchen Weg er nun einschlagen sollte. Zum Fließ hinunter? Nein, da war es zu morastig. Links gegenüber in den Wald hinein? Nein, da war es zu dunkel, und man stolperte andauernd über Wurzeln und Äste. Geradeaus über die Straße hinweg und in die kleine Siedlung hinein, die sich zwischen der Bismarckstraße und der Revierförsterei gebildet hatte? Da war es nicht gerade spannend. Also nach Hause zurück? Doch am nicht eben warmen Ofen zu sitzen, hatte er noch keine rechte Lust.

Er überlegte noch, als plötzlich auf der anderen Straßenseite etwas Dunkles aus dem Unterholz brach. Im ersten Augenblick hielt er es für einen Hirsch, dann sah er, dass es sich um einen Menschen handelte. Der Hund begann zu kläffen und riss wie wild an der Leine.

«Hilfe!», schrie der Mann. «Hilfe, ich kann nicht mehr …» Priepert sah ihn zusammenbrechen und lief, vom Hund gezogen, über die Fahrbahn.

Der Mann war schwer verletzt, Gesicht und Hände waren blutüberströmt. Das konnte Priepert sogar im matten Licht der Gaslaterne erkennen. Er beugte sich hinunter.

«Was ist denn passiert?»

«Ich bin überfallen worden, als ich …» Der Mann röchelte, konnte nicht mehr.

«Als Sie was?»

«Da hat einer ein Liebespaar überfallen, und als ich zu Hilfe kommen wollte, da hat er mich … Polizei!»

Damit verlor der Mann das Bewusstsein. Priepert war sich sicher, dass er gestorben wäre, bevor ein Arzt zur Stelle sein könnte. Die Polizei musste herbeigerufen werden. Er hetzte zum ersten Haus an der Forststraße und klingelte Sturm.

DREI

AN DEN BERLINER LITFASSSÄULEN hingen nun wieder die sogenannten «Mordplakate», auf denen die Bevölkerung in schwarzer Frakturschrift zur Mitarbeit an der Aufklärung der Nordberliner Liebespaarmorde aufgerufen wurde. Fünftausend Mark Belohnung waren für die Ergreifung des Täters ausgesetzt worden.

Kappe und Galgenberg saßen in der Stadtbahn und fuhren vom Alexanderplatz zur Friedrichstraße, um von dort zur Charité zu laufen und mit Friedrich Schulz zu sprechen. Der Mann habe sich so weit erholt, dass dies nun möglich sei, hatte man ihnen am Telefon mitgeteilt.

«Der erste Zeuge», sagte Kappe. «Endlich einmal ein Hoffnungsschimmer.»

Auch Galgenberg war optimistisch. «Keen Täta kann so dumm denken, wie’t oft kommt.»

Kappe nickte, ohne dass er Galgenbergs Worte richtig registrierte hatte. Sosehr er es auch zu verhindern versuchte, sein Kopf fiel immer wieder zur Seite, und zwischen zwei Stationen nickte er kurz ein. Margarete hatte die ganze Nacht über unter Bauchschmerzen gelitten und ihn kaum schlafen lassen.

«Jede gute Tat rächt sich mal», brummte Galgenberg, der längst nicht mehr so gemütlich war wie in früheren Jahren. «Man denkt, man tut den Kindern wat Jutet, wenn man sie in die Welt setzt - und dann hat man ’n Leben lang nur Ärja mit ihnen.»

«Nicht nur», korrigierte ihn Kappe. «Aber auch - ganz zu schweigen von ihren Müttern.»

«Ja, plötzlich sind se nur noch Glucke, und der Hahn kann gehen, der Hahn hat seine Schuldigkeit getan.»

In der Charité angekommen, brauchten sie eine Weile, bis sie sich zu Schulz durchgefragt hatten.

«Hat Glück gehabt, der Mann», erklärte ihnen der Oberarzt anhand des Krankenblattes. «Am rechten Hinterkopf streifenförmige, doppelt konturierte Hautblutungen, wie sie für Schläge mit Feuerhaken oder ähnlichen Gegenständen typisch sind. Verdacht auf Schädelbasisfraktur. Rippenserienbrüche …»

«Das muss passiert sein, als er gestürzt ist», sagte Kappe.

Der Oberarzt nickte. «Ja, wahrscheinlich. Dann kommen Sie mal mit zu ihm, zehn Minuten Fragerei wird er schon aushalten.»

Sie fanden Friedrich Schulz in einer ziemlich desolaten Verfassung. Kappe schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass ihnen ihr Zeuge erhalten bliebe, denn ohne ihn rechnete er sich keine Chance aus, den Liebespaarmörder in absehbarer Zeit zu fassen. Er stellte sich und Galgenberg kurz vor.

«Ich hoffe, Sie können uns ein bisschen weiterhelfen, Herr Schulz …»

«Ich will mir alle Mühe geben», sagte Schulz mit schwacher Stimme. Ein mächtiger Kopfverband verdeckte sein Gesicht nahezu zur Gänze, nur Augen, Nase und Mund waren freigelassen worden.

Kappe setzte sich auf den Stuhl, der neben dem Bett stand, Galgenberg und der Oberarzt stellten sich an das Fußende.

Schulz richtete sich etwas auf und begann stockend: «Ich wollte noch einmal zu einem Kunden in der kleinen Straße am Ende … Waldfrieden heißt die … Am Waldfrieden … zu den Kruses. Da war ich schon am Vormittag gewesen, eine Lampe anschließen, hatte aber meine Rolle Isolierband und ein Stück Kabel vergessen. Ich wohne ja in Hermsdorf, oben am Bahnhof, in der Roonstraße … war ja nicht weit.» Damit waren seine Kräfte zunächst erschöpft, und er fiel in die Kissen zurück.

«Lassen Sie sich Zeit», sagte Kappe. Obwohl Schulz ein einziges Häufchen Elend war, beneidete er ihn in gewisser Hinsicht, denn der Elektriker aus Hermsdorf hatte dem Liebespaarmörder schon von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden - etwas, das er sich nur wünschen konnte. Und er wäre zu gerne derjenige, der den Lustmörder zur Strecke bringen würde, denn wenn man als Kriminalkommissar nicht im Schatten von Ernst Gennat verkümmern wollte, musste man ab und an spektakuläre Erfolge vorweisen können.

Schulz hatte sich so weit erholt, dass er fortfahren konnte.

«Mit dem Fahrrad im Schnee, das ging immer schwerer. Da habe ich das Rad dann abgestellt und bin das letzte Stück zu Fuß gegangen, den Dohnensteig hoch. Da höre ich eine Frau schreien. Links in einem der Häuser. Ich über den Zaun weg und in den Garten rein. Die Haustür ist zu. Aber hinten zum Garten hin ist alles offen. Ich renne ins Haus rein und komme in den Flur, da fällt ein Schuss. Und im selben Augenblick kommt ein Mann auf mich zu …»

«Lassen Sie ihn!», rief der Oberarzt. «Das ist zu viel für ihn, er kollabiert mir noch.»

Aber Schulz wollte die Sache zu Ende bringen und ließ sich nicht abhalten. «Ich will unbedingt … Sie müssen den Kerl, meinen Mörder …»

Kappe fasste die Hand des Mannes. «Herr Schulz, Sie werden durchkommen, ganz sicher!»

Der Oberarzt stieß Kappe beiseite, um Schulz den Puls zu messen. «Höchstens eine Minute noch, mehr lasse ich nicht zu.»

Schulz schloss kurz die Augen, um letzte Kräfte zu mobilisieren. «Ja … Ich denke, dass er mich erschießt, aber das traut er sich wohl nicht, weil ich schon halb draußen bin und der Schuss zu hören wäre. Da stolpere ich. Das nutzt er aus und schlägt auf mich ein. Womit, das weiß ich nicht … vielleicht mit seiner Pistole … ein furchtbarer Schmerz, ich kann mich aber noch mal aufrappeln und schaffe es bis zur Bismarckstraße. Da breche ich dann zusammen … und erwache erst wieder hier im Krankenhaus.»

«Gott sei Dank haben Sie ja nun das Schlimmste überstanden», sagte Kappe. «Was für uns ganz wichtig ist: Können Sie den Täter beschreiben?»

«Nein, es war ja im Flur alles dunkel. Nur im Schlafzimmer brannte Licht. Also, stämmig war er, Borstenhaare hatte er, und sah so aus wie ein Soldat. Er hatte wohl eine Uniformjacke an.»

«Det is ja schon ’ne janze Menge», sagte Galgenberg. «Und möglicherweise det berühmte Licht am Ende des Tunnels.»

«Sie haben sicherlich gehört, dass es schon vier ähnliche Taten oben im Norden gegeben hat», sagte Kappe.

«Ja, meine Frau und ich, wir trauen uns ja kaum noch, Hand in Hand durch ’n Wald zu gehen, wir …»

Der Oberarzt riss Kappe geradezu vom Stuhl und drängte ihn zur Tür. «Jetzt ist aber endgültig Schluss hier! Keine Plauderei mehr!»

Kappe bedankte sich sowohl bei Schulz als auch bei dem Mediziner und verließ die Charité auf dem schnellsten Wege. Galgenberg war kaum in der Lage, ihm zu folgen.

«Immer sachte mit die jungen Pferde!», keuchte er. «Und wat nu?»

«Wir sind doch noch am Dohnensteig mit Dr. Kniehase verabredet.» Der war mit seinen Leuten draußen, um zu sehen, ob sich bei Tage etwas finden ließ, das sie weiterbrachte.

«Det hat doch inzwischen wieda jeschneit», wandte Galgenberg ein, in der Hoffnung, damit der Weltreise nach Hermsdorf zu entgehen.

Kappe lachte. «Denn es ist Drang, und so ist’s Pflicht.»

«Ick kenne nur: ‹Dicker Drank macht fette Schweine›», sagte Galgenberg. «Aba wat den jeistigen Nährwert anbetrifft, so läuft et wohl uffs Jleiche raus.»

Die Frage, wie man vom Bahnhof Friedrichstraße am besten nach Hermsdorf kam, war nicht leicht zu beantworten, denn der Dohnensteig lag nach Kappes Ortskenntnis etwa in der Mitte zwischen den Bahnhöfen Tegel (Kremmener Bahn) und Hermsdorf

(Nordbahn). Wie auch immer, auf jeden Fall mussten sie zum Stettiner Bahnhof laufen. Die Fahrkartenverkäuferin dort riet ihnen zur Nordbahn, und so setzten sie sich in den Zug nach Oranienburg.

Als sie am Dohnensteig ankamen, hielt ihnen Dr. Kniehase einen Orden entgegen.

«Gratuliere!», rief Kappe. «Sie haben also für Ihre Verdienste den Schwarzen Adlerorden bekommen. Aber gibt’s den denn noch?»

«Das ist das Randow- oder Deutschritter-Kreuz», erklärte ihnen Dr. Kniehase. «Und das habe ich nicht verliehen bekommen – da hätte ich mich vorher auch entleibt –, das haben wir hier im Flur gefunden.»

«Der Soldat!», rief Kappe und erzählte Dr. Kniehase von der Aussage, die der Elektriker Schulz gemacht hatte. «Das passt doch alles wunderbar zusammen.»

«Randow, wat war’n det für eena?», fragte Galgenberg.

Dr. Kniehase hatte sich schon kundig gemacht. «Oberst Alfred von Randow, Befehlshaber des Detachements von Randow im Baltikum.»

«Ein Freikorps-Angehöriger also», murmelte Kappe. «Mörderbande.»

«Das Detachement von Randow ist 1919 in die Reichswehr eingegliedert worden», sagte Dr. Kniehase.

«Genau das ist es ja, was mich einiges befürchten lässt.» Man hörte überall munkeln, dass die ultrarechten Offiziere an einen Putsch dachten.

«Ach, die Republik steht!», rief Dr. Kniehase.

Kappe nahm das Randowkreuz vorsichtig mit einem Taschentuch in die Hand. «Haben Sie schon Fingerabdrücke entdecken können?»

«Nein. Es scheint jemandem bei einem Handgemenge abgerissen worden zu sein.»

«Dem … dem … dem …?» Galgenberg kam nicht sofort auf den Namen des Ermordeten. «Dem Kittlitz kann et nich jehört ham?»

«Möglich ist das schon, aber … das müssen wir noch herausbekommen.»

«Was hat denn Ihre Spurensuche im Neuschnee ergeben?», fragte Kappe.

«Nicht viel», bedauerte Dr. Kniehase. «Nur dass der Täter tatsächlich vom Wald her auf das Grundstück gekommen ist.»

Kappe nickte. «Das deckt sich ebenfalls mit der Wahrnehmung von Schulz. Das Werkzeug, mit dem er Schulz fast erschlagen hätte, haben Sie aber nicht finden können?»

«Nein.»

«Keen Wunda», sagte Galgenberg. «Der wird doch mit seiner Waffe auf Schulz einjeschlagen ham. Zu schießen hat er sich ja nich mehr jetraut - oda er hatte keene Kugel mehr.»

«Gut …» Kappe überlegte einen Augenblick. «Dann gehen wir noch einmal von Haus zu Haus und fragen die Leute, ob sie einen Soldaten gesehen haben.»

Doch auch diese Befragung blieb ohne Erfolg. Als sie bei Siegfried Kruse klingelten, fiel Kappe ein, dass Schulz bei diesem Nachbarn seine Sachen vergessen hatte.

«Sind die noch da?», fragte er Kruse.

«Ja, ich dachte, der kommt noch mal.»

«So schnell wird er nicht können.» Kappe informierte den Nachbarn über das Schicksal des Elektrikers.

«Der Arme! Ich bringe ihm sein Zeug mal in den Laden, wenn ich in der Roonstraße zu tun habe.»

Am Tatort zurück, fragte Dr. Kniehase Kappe und Galgenberg, ob sie schon mit dem Mann gesprochen hatten, der Friedrich Schulz halbtot auf der Bismarckstraße gefunden hatte.

«Nein, das haben wir in der Eile vergessen.»

«Vielleicht hat der noch etwas beobachtet, was uns weiterbringen könnte.»

Kappe suchte schon in seinen Notizen. «Hier: ein gewisser Erich Priepert, Forststraße … Das muss doch gleich hier um die Ecke sein. Also, nichts wie hin.»

Zu Hause war aber nur Frau Priepert, die von besonderen Wahrnehmungen ihres Mannes nichts wusste.

«Wenn Sie den selber sprechen möchten, müssen Sie nach Tegel in unseren Lebensmittelladen.»

«Könn wa nicht anrufen?», fragte Galgenberg, der weitere Fußmärsche fürchtete.

«Ja, gerne.» Zum Glück besaßen die Prieperts zu Hause wie im Laden einen Fernsprechanschluss.

Als Kappe Erich Priepert am Apparat hatte, erklärte er ihm kurz, worum es ging.

«Wer ist Ihnen denn alles begegnet, bevor Sie Schulz entdeckt haben?»

«Niemand!», rief Priepert, um aber schnell hinzuzufügen:

«Warten Sie mal …» Endlich konnte er sich erinnern. «Ja, da war tatsächlich noch einer … ein Soldat … Der ist die Bismarckstraße lang, nach Tegel hin … Erkannt habe ich aber nichts, trotz des Schnees … Ohne den hätte man bei der Dunkelheit gar nichts sehen können.»

«Danke, Herr Priepert, das reicht uns schon.» Kappe hängte wieder ein.

Die These, dass es sich beim Doppelmörder vom Dohnensteig um einen Soldaten handelte, konnte nach den Aussagen von Schulz und Priepert als weithin gesichert gelten.

Als sie wieder am Dohnensteig angekommen waren, sahen sie, dass Dr. Kniehase vorn am Gartentor stand und mit einem Mann von etwa dreißig Jahren sprach, den sie vorher noch nicht bemerkt hatten.

«Det wird der Täta sein», sagte Galgenberg. «Bei dem, wat wir allet üba ihn wissen, hatta sich gleich selba jestellt.»

«Das ist doch kein Soldat», sagte Kappe.

«Een Soldat muss nich imma Uniform tragen», wandte Galgenberg ein.

Es sollte sich schnell herausstellen, dass es sich bei dem Mann am Gartentor um Erwin Reczyn handelte, den Bruder der Ermordeten. Er arbeitete seit Kriegsbeginn bei einer Bank in Köln und hatte nicht früher nach Berlin kommen können.

Kappe, Dr. Kniehase und Galgenberg sprachen ihm ihr Beileid aus, dann setzten sie sich mit ihm an den Küchentisch, um mit ihm zu reden.

«Ich wusste gar nicht, dass meine Schwester einen neuen Liebhaber hatte, diesen Herrn hier, der mit ihr …»

Kappe wurde hellhörig. «Liebhaber? Das klingt so, als wären Sie mit dem Leben, das Ihre Schwester geführt hat, nicht ganz einverstanden gewesen?»

Erwin Reczyn atmete tief durch. «Meine Frau kommt aus einer streng katholischen Familie, und da hat es schon ab und an böse Worte gegeben, wenn Erna wieder einmal einen neuen Herrn hatte.»

«Wen denn zum Beispiel?»

«Na, zuletzt diesen fürchterlichen Kerl, der im Baltikum bei den Freikorps war …» Reczyn brach ab, da er offensichtlich nicht abschätzen konnte, wo die Kriminalbeamten politisch standen.

«Ich meine nicht, was diesen Menschen als Soldaten betrifft, sondern … Er war krank vor Eifersucht und hat gedroht, sie umzubringen, wenn sie etwas mit einem anderen anfängt, während er im Felde steht.»

Kappe glaubte, zu träumen oder sich verhört zu haben, und fragte deshalb nach: «Krankhaft eifersüchtig?»

«Ja. Ich hab ihn nie selbst erlebt, aber meine Schwester hat mir das ein paar Mal geschrieben.»

«Wie heißta denn?», fragte Galgenberg.

«Keine Ahnung.»

«Wie?!» Kappe konnte es nicht fassen. «Wenn Ihre Schwester von ihm geschrieben hat, dann muss sie doch einen Namen genannt haben.»

«Ja, schon, aber nur seinen Spitznamen: Schluchti.»

«Wat?», kam Galgenbergs Nachfrage.

«Schluchti, wie Schlucht, nur mit ’nem I hinten.»

«Ich kenne Leute, die Schluchter heißen», sagte Dr. Kniehase.

«Det bleibt bloß wieda an mir hängen, det ick die Mannschaftslisten alle uff een Schluchter durchsehen muss, allet, wat vom Detachement von Randow noch da ist.»

«Gut, Galgenberg, gut!», rief Kappe. «Ich bewundere deinen Instinkt!»

«Wie hat meine Mutta imma zu mir jesagt? Justav, du hast et jut, du bist doof.»

Als Erwin Reczyn wieder gegangen war, saßen sie erst einmal schweigend in der Küche, um alles zu verarbeiten.

«Jetzt haben wir plötzlich zwei Möglichkeiten», sagte Kappe schließlich. «Erstens, dass dieser Doppelmord hier am Dohnensteig nichts mit den vier anderen Liebespaarmorden zu tun hat. Es war sozusagen eine singuläre Tat: Dieser Schluchti hat aus krankhafter Eifersucht erst den Liebhaber seiner Erna erschossen, dann sie selber.»

«Wobei er bemüht war, alles so aussehen zu lassen wie bei den anderen Taten», ergänzte Dr. Kniehase. «Damit wir später auch den Dohnensteig dem gesuchten Lustmörder zuschreiben und er nichts mehr befürchten muss.»

Kappe nickte. «Ja, ganz meiner Meinung. Aus den Zeitungen könnte er genug über die vorangegangenen Morde erfahren haben. Aber dennoch dürfen wir die zweite Möglichkeit nicht außer Acht lassen, dass Schluchti auch die anderen vier Taten begangen haben könnte. Vielleicht ist er wie üblich zu Werke gegangen und hat zu spät erkannt, dass es seine Erna ist, die hier mit Kittlitz im Bett liegt. Aber so viel Zufall …?»

«Was glauben Sie denn?», fragte Dr. Kniehase.

Kappe zögerte mit einer Antwort. «Mal dies, im nächsten Augenblick aber wieder das andere. Auf alle Fälle haben wir jetzt etwas, in das wir uns verbeißen können. Wenn wir fieberhaft nach diesem Schluchti suchen, kann uns keiner mehr vorwerfen, dass wir untätig herumsitzen und auf den nächsten Doppelmord warten.»

VIER

«MÜHSAM NÄHRT SICH DAS EICHHÖRNCHEN», sagte Gustav Galgenberg, bevor er sich daranmachte, im Kriegsministerium alle Namenslisten der Freikorps, die in die Reichswehr eingegliedert worden waren, auf die Namen Schlucht, Schluchter und Schluchtmann hin durchzusehen.

«Vielleicht hat sich der Bruda ooch jeirrt, und sie hat den Mann Schlucki jenannt, weila so viel jesoffen hat.»

Kappe schüttelte den Kopf. «Nein, er hat ganz deutlich Schluchti gesagt.»

Er selber machte sich daran, die Freundinnen und Kolleginnen der Ermordeten nach dem mysteriösen Schluchti zu fragen - Eltern hatte sie keine mehr.

Ihre beste Freundin, so hatte ihr Bruder zu Protokoll gegeben, sei eine gewisse Vera Orschel gewesen, Verkäuferin in der Hutabteilung des KaDeWe. Kappe machte sich auf zum Wittenbergplatz.

Das Kaufhaus des Westens stand nun schon dreizehn Jahre und versuchte, wieder an den Glanz der Vorkriegszeit anzuknüpfen. Als Kappe das Gebäude betrat, bekam er fast ein wenig Atembeklemmungen, denn dieser Luxus war absolut nicht seine Welt. Wer in Wendisch Rietz aufgewachsen war und als Kriminalkommissar sein Geld verdiente, kaufte in aller Regel im Laden um die Ecke ein. Aber das konnte sich noch ändern, denn Klara hatte ja diesen gewissen Hang zum Höheren …

Er trat an die Information und suchte nach der Abteilung für Damenhüte. Sie war schnell gefunden. Ein feudaler Lift trug ihn nach oben. Suchend ging er umher und freute sich, dass man ihn misstrauisch musterte. Irgendwie juckte es ihn in den Fingern, sich eines dieser komischen Gebilde aufzusetzen. Manche erinnerten ihn an eine Form für Napfkuchen.

Eine der Verkäuferinnen hielt es nicht länger auf ihrem Platz, und sie kam auf ihn zu.

«Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, mein Herr?» Kappe konnte sich ein gewisses Grinsen nicht verkneifen. «Ich glaube schon …»

«Ich muss doch sehr bitten!»

«Wieso?» Er präsentierte ihr seine Dienstmarke. «Ich bin beruflich hier und hätte gern ein Fräulein Orschel gesprochen.»

«Das bin ich persönlich. Es geht sicherlich um meine Freundin …»

Kappe staunte nicht schlecht. Vera Orschel war offenbar ebenso intelligent wie hübsch. «… um Erna Reczyn, ja.»

«Schrecklich!»

Kappe nickte. «Es ist der fünfte Fall mit derselben Handschrift, und da sind wir natürlich sehr interessiert an …» Er stockte. Das lag vor allem an dem Parfum und dem Lippenstift der jungen Dame. Klara kam ihm dagegen wie ein Landei vor.

«Woran?»

«An … an den Männern, mit denen Fräulein Reczyn Kontakt hatte, denn eine Eifersuchtstat ist nicht ausgeschlossen.» Das durfte er verraten, das hatte auch in den Zeitungen gestanden.

Vera Orschel überlegte einen Augenblick. «Zuletzt hatte sie nur diesen Tischlermeister mit dem Haus draußen in Hermsdorf, diesen Kittlitz, aber vorher … Wenn die Männer von der Front gekommen sind, dann …»

Kappe hakte nach. «Es waren also auch Soldaten darunter?»

«Ja, das auch.»

«Nennen Sie doch mal bitte ein paar.»

Sie kam seiner Bitte nach, und tatsächlich fiel auch der Name Schluchti.

Kappes Blutdruck schnellte nach oben. «Hieß der so - oder war das ein Spitzname?»

«Das war sein Spitzname.»

«Und wie hieß er wirklich?»

«Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass er bei den Baltikumstruppen war und fürchterlich mit seinem Orden angegeben hat.»

Kappe hatte Mühe, sich seine Freude über diese Auskunft nicht anmerken zu lassen. «Ist er Ihnen dadurch aufgefallen, dass er besonders eifersüchtig war?»

Vera Orschel zuckte zurück. «Sie meinen, dass er Erna deswegen getötet hat?»

«Wie gesagt: Wir halten es nicht für ausgeschlossen.» Sie zögerte mit einer Antwort. «Ich weiß nicht …»

Kappe ahnte den Grund: Auch sie hatte ganz bestimmte Sympathien für diesen Schluchti gehegt und wollte ihn nicht ans Messer liefern. «Aber eine Photographie von Erna und ihm haben Sie doch ganz sicher.»

«Nein!»

«Fräulein Orschel, ich kann Sie auch der Mittäterschaft verdächtigen und mitnehmen zum Alexanderplatz, damit sich meine Kollegen mal ein bisschen mehr mit Ihnen beschäftigen.»

Das wirkte, und sie schien den Tränen nahe. «Ich kenne ihn doch gar nicht weiter.»

«Aber Sie haben eine Photographie von ihm?»

«Eine ganz kleine aber nur, darauf ist er kaum zu erkennen.»

«Und wo haben Sie die?», wollte Kappe wissen.

«Bei mir zu Hause.»

«Dann holen Sie sie bitte.»

Vera Orschel zeigte auf ihren Abteilungsleiter. «Ich kann hier nicht weg.»

«Dann komme ich heute Abend bei Ihnen vorbei. Wo ist das, bitte?»

«In der Barbarossastraße, gleich am Bayerischen Platz.»

Um sieben Uhr stand Hermann Kappe vor ihrer Wohnungstür, und als er eine Stunde später wieder ging, hatte er nicht nur die begehrte Photographie in der Brusttasche stecken, sondern auch einiges an amourösen Erfahrungen gesammelt. Nicht dass es zum Geschlechtsverkehr gekommen wäre - sie hatten sich nur heftig geküsst und umarmt und schließlich intime Berührungen sehr direkter Art ausgetauscht. Fremdgehen konnte man das seiner Meinung nach beim besten Willen nicht nennen, und so hielt sich sein schlechtes Gewissen Klara gegenüber auch in Grenzen. Gott, man war nun schon seit vier Jahren verheiratet - und es war ja nicht seine Schuld, denn Vera Orschel hatte ihn in klassischer Manier verführt.

In den nächsten Tagen kamen Kappe und Galgenberg nicht weiter, denn es begannen die «Tage der Säbelherrschaft», wie das Berliner Tageblatt titelte.

In der Abendausgabe von Freitag, dem 12. März 1920, war noch von der Vereitelung eines reaktionären Putschversuchs die Rede gewesen: In Berlin hat seit einiger Zeit das Treiben einer rechtsradikalen Clique eingesetzt, deren Bestrebungen auf gesetz- und verfassungswidrigen Umsturz hinauslaufen. Dem Ganzen wurde keine Chance eingeräumt, denn selbst weite Kreise altkonservativer Richtung lehnen die Desperadopolitik dieser rechtsspartacistischen Clique restlos ab. Dennoch werde die Reichsregierung Vorsicht walten lassen.

Am nächsten Tag musste das Berliner Tageblatt dann zugeben, die Lage falsch eingeschätzt zu haben: Die im gestrigen Abendblatt von uns mitgeteilten Vorgänge über einen reaktionären Putschversuch bleiben weit hinter bereits vollzogenen Tatsachen zurück. In der Nacht vom 12. auf den 13. März waren die in Döberitz untergebrachten Truppenteile der Brigaden Ehrhardt und Löwenfeld in Berlin einmarschiert, ohne dass die Reichswehr Widerstand geleistet hätte. Der Generallandschaftsdirektor Dr. Wolfgang Kapp übernahm als Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident die gesamte Staatsgewalt. Der General der Infanterie Walther Freiherr von Lüttwitz wurde militärischer Oberbefehlshaber und Reichswehrminister.

Das Erste, was die Kapp-Regierung tat, war, die Zeitungsredaktionen Berlins militärisch zu besetzen, um das Erscheinen der Blätter unmöglich zu machen. Auch das Berliner Tageblatt war betroffen und musste bereits am Sonnabendvormittag sein Erscheinen einstellen, einerseits weil die Kapp-Leute dies untersagten, andererseits weil die Arbeiter in den Streik getreten waren.

So waren sowohl die Kapp-Regierung als auch die legale Reichsregierung gezwungen, auf Flugblätter auszuweichen, wenn sie dem Volke etwas mitteilen wollten.

Als Hermann Kappe am Sonnabend, dem 13. März, zum Polizeipräsidium fuhr, wehten ihm von den amtlichen Gebäuden die alten Reichsfahnen, die Kriegsflagge der Marinebrigade und schwarz-weiß-rote Fahnen entgegen. Stacheldrahtverhaue, Maschinengewehre, Feldgeschütze, starke Militärpatrouillen, umherjagende Automobile und kampfbereite Offiziere und Soldaten machten ihm bewusst, dass der befürchtete Militärputsch Wirklichkeit geworden war.

Der Krieg hatte bei der Polizei weder die patriotische Begeisterung der Frontsoldaten noch ein besonderes Gefühl der Verbundenheit mit Hindenburg und Ludendorff hervorrufen können, und auch den Kapp-Putschisten stand man gleichgültig gegenüber.

«Unsam Kappe ham se det E hinten jeklaut, und jetz issa Reichskanzla!», rief Galgenberg. «Hut ab, meine Herren!»

Kappe war die weitgehende Gleichheit der Namen geradezu peinlich. «Soll ich mich umtaufen lassen?»

«Ja, in Lüttwitz!»

Noch stärker als Kappe war Ernst Gennat betroffen, denn wie viele andere Betriebe und Geschäfte hatte auch die Konditorei, in der er seine Torte kaufte, schon geschlossen, und das Gerücht machte die Runde, dass die beiden sozialdemokratischen Gruppierungen, die SPD und die USPD, im Einvernehmen mit den Führern der Deutschen Demokratischen Partei und den Gewerkschaften den Generalstreik proklamiert hätten.

«Dann streike ick ooch», sagte Galgenberg.

«Beamte dürfen nicht streiken», erklärte Dr. Kniehase.

«Beim Generalstreik schon», belehrte ihn Galgenberg. «Det heißt ja deswegen so, weil da ooch ’n General in Streik treten darf - und dann darf ick det ooch.»

«Ein richtiger Kriminaler ist immer im Dienst», sagte Ernst Gennat. «Aber nachdenken über seine Fälle kann man auch zu Hause. Also: Auf Wiedersehen, meine Herren!»

Kappe schwankte. Einerseits war es ihm ein Herzensbedürfnis, sich in die Front gegen die Putschisten einzureihen, andererseits trieb es ihn, die Jagd nach dem Mörder aus dem Landkreis Niederbarnim fortzusetzen. Jeder Tag, der ihnen verlorenging, konnte das Todesurteil für ein sechstes Liebespaar bedeuten.

Unschlüssig verließ er das Polizeipräsidium und ließ sich mit der Menge zum Bahnhof Alexanderplatz treiben. Wer dort gerade von der Stadtbahn kam, war Theodor Trampe, sein früherer Nachbar aus der Waldemarstraße.

Trampe war seit Jahren Funktionär bei der SPD und hatte es inzwischen zum Abgeordneten in der Kreuzberger Bezirksverordnetenversammlung gebracht. Von Beruf war er Elektroinstallateur und verdiente, da er sich selbständig gemacht hatte, nicht schlecht.

«Natürlich streike ich auch», sagte Trampe, nachdem er Kappe begrüßt hatte. «Aber ich werde dennoch nicht zu Hause sitzen, sondern durch die Stadt streifen, um zu sehen, was passiert. Vielleicht kann man irgendwo eingreifen, um zu retten, was noch zu retten ist.»

Kappe nickte. «Das hab ich mir auch gedacht.»

Doch als sie in der Königstraße einen alten Bekannten trafen, Kappes alten Schulfreund Ludwig Latzke, der es in Berlin zum Malermeister gebracht hatte, war es mit ihrem Eifer vorbei, und sie gingen in die nächstbeste Kneipe, um eine Runde Skat zu spielen. Es wurde spät.

«Morgen früh stürzen wir uns aber ins Getümmel», sagte Trampe, als sie sich am Mariannenplatz verabschiedeten, bevor Kappe sich zu Weib und Kind nach oben schlich.

Am Sonntagmorgen hielt ihm Trampe einen Aufruf der Regierung Gustav Bauer an das deutsche Volk hin.

Es ist nicht wahr, daß die verfassungsmäßige Reichsregierung abgedankt hat. Die verfassungsmäßige Reichsregierung denkt nicht daran, abzudanken, sie hat nur dasselbe getan, was sie im Februar 1919 tat, als sie nach Weimar übersiedelte. Um ruhig und klar arbeiten zu können, ist sie nach Dresden übergesiedelt und nimmt mit dem Zusammentritt der Nationalversammlung ihren Sitz in Stuttgart. Was in Berlin vorgeht, ist eine Köpenickiade im Großen … Für die Köpenick-Regierung besteht keine Möglichkeit zu regieren. Ihr Gebäude ist innen hohl, sie kann weder Kohlen noch Lebensmittel schaffen. Ohne Arbeiter kann man nicht regieren … In wenigen Tagen bricht dieses System zusammen. Wer es unterstützt, zieht den Fluch der Verantwortung auf sich. Beamte, Euch bindet nicht nur die politische Einsicht, sondern auch der Eid der Verfassung. Ihr habt nur den Befehlen der verfassungsmäßigen Reichsregierung zu gehorchen. Wer die neue Regierung unterstützt, bricht seinen Eid … Sorge jeder dafür, daß diese Militärdiktatur so schnell wie möglich zusammenbricht.

Trampe hielt es für richtig, wie der Genosse Bauer gehandelt hatte, Kappe dagegen hatte seine Bedenken.

«Man kann es auch Feigheit vor dem Feinde nennen.»

«Wenn man auf diese Art und Weise aber einen Bürgerkrieg verhindern kann!», rief Trampe.

«Kann man das wirklich?», fragte Kappe.

Auch ihn hielt es nicht in der engen Wohnung am Mariannenplatz, und gern schloss er sich Trampe an, um durch Berlin zu streifen und die Geschehnisse aus nächster Nähe zu verfolgen. Ungefährlich war das nicht, aber Kappe glaubte an seinen Schutzengel. Sie hatten sich ihre bequemsten Schuhe angezogen, denn Straßen- und Hochbahn hatten den Betrieb bis zum Mittag eingestellt, und auch die Omnibusse fuhren nicht mehr. Nur auf der Stadtbahn sollten hin und wieder, wenn auch in großen Abständen, Züge fahren.

Klara sah es gar nicht gern, dass ihr Mann das Haus verließ.

«Du weißt doch, Hermann: Wer sich selbst in Gefahr begibt, kommt darin um.»

Trampe, der nach oben gestiegen war, um Kappe abzuholen, lachte. «Die meisten Menschen kommen um, wenn sie im Bett liegen.»

«Besonders wenn es sich um Liebespaare handelt», brummte Kappe.

Ihre Portiersfrau, die gerade auf dem Weg zum Dachboden war, blieb stehen und lachte. «Mir kann det nich passieren, ick habe schon lange entsagt.»

«Das werde ich auch bald tun», murmelte Kappe und dachte dabei an Klaras Unmut, wenn er mehr wollte als heiße Küsse. Seit Margarete auf der Welt war, erst recht aber, seit seine Frau zum zweiten Mal schwanger war, gestattete sie nur noch, dass er sich an ihrem Körper rieb, und auch das nur unter hörbarem Murren.

In der Innenstadt war es noch ruhig, aber die Menschen waren so erregt und standen den Putschtruppen so ablehnend und hasserfüllt gegenüber, dass Zusammenstöße unvermeidlich erschienen.

«Ich dachte, das hätten wir schon alles hinter uns», sagte Trampe.

«Tja, das ist wohl wie mit der Hydra», meinte Kappe. «Schlägt man einen Kopf ab, wächst ein anderer nach.»

Der Tag verging, ohne dass etwas geschah, was sich für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt hätte. In den Abendstunden lagen die Straßen in tiefstem Dunkel. Die Restaurants hatten durchweg geschlossen, da die Kellner dem Streikbeschluss gefolgt waren. Hin und wieder hörten sie in der Ferne einzelne Schüsse.

Gegen neun Uhr abends waren sie zurück, und Klara wie auch Trampes Familie konnten aufatmen.