Es geschah in Berlin …

Horst Bosetzky: Kappe und die verkohlte Leiche (1910)

Sybil Volks: Café Größenwahn (1912)

Jan Eik: Der Ehrenmord (1914)

Horst Bosetzky / Jan Eik: Nach Verdun (1916)

Iris Leister: Novembertod (1918)

Horst Bosetzky: Der Lustmörder (1920)

Peter Brock: Das schöne Fräulein Li (1922)

Wolfgang Brenner: Stinnes ist tot (1924)

Petra A. Bauer: Unschuldsengel (1926)

Horst Bosetzky: Bücherwahn (1928)

Petra A. Bauer: Kunstmord (1930)

Jan Eik: Goldmacher (1932)

Klaus Vater: Am Abgrund (1934)

Horst Bosetzky: Mit Feuereifer (1936)

Jan Eik: In der Falle (1938)

Klaus Vater, Jahrgang 1946, studierte Politische Wissenschaften, bevor er ab 1972 als Redakteur arbeitete. 1990–99 war er wissenschaftlicher Referent der SPD-Bundestagsfraktion, ab 2000 Pressesprecher zunächst des Bundesarbeitsministeriums, später des Bundesgesundheitsministeriums, schließlich stellvertretender Sprecher der Bundesregierung. Vater hat diverse Sachbücher zum Arbeitsmarkt und zum wirtschaftlichen Strukturwandel veröffentlicht, 1992 erhielt er den Jugendbuchpreis «Emil» in Berlin für den Titel «Sohn eines Dealers» (1991).

Originalausgabe

1. Auflage 2011

© 2011 Jaron Verlag GmbH, Berlin

1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin

ISBN 9783955520120

cover

logo

Klaus Vater

Am Abgrund

Kappes 13. Fall

Kriminalroman

Jaron Verlag

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Impressum

TAG EINS

TAG ZWEI

TAG DREI

TAG VIER

TAG FÜNF

TAG SECHS

TAG SIEBEN

TAG ACHT

TAG NEUN

TAG ZEHN

TAG ELF

TAG ZWÖLF

SCHLUSS

Es geschah in Berlin …

TAG EINS

ERSCHROCKEN blickten sich die Fahrgäste des D-Zugs aus Stralsund an. Wie bei einem Erdbeben hatte sich der Boden des Perrons bewegt. Ein Grollen in der Erde folgte. Die riesige Halle des Stettiner Bahnhofs schwang für wenige Sekunden wie eine Glocke. Als der plötzliche Lärm verklungen war, setzten die Fahrgäste ihren Weg fort, verließen Dampfross, Waggons und Bahnsteig, um sich vor dem Bahnhofseingang eine Taxe zu suchen. Andere wurden von Freunden oder Verwandten in Empfang genommen. Einige trotteten zur Station Stettiner Bahnhof der U-Bahn-Linie C, um in die Friedrichstraße oder anderswohin zu gelangen.

Auch vor dem Fernbahnhof war die Explosion zu hören gewesen, ein entsetzlicher Krach, dem ein Gerumpel in der Erde gefolgt war. Passanten hatten rasch die Quelle des Lärms entdeckt: Über einer Baugrube zwischen Stettiner Bahnhof und Gartenstraße stand eine zitternde graue Staubwolke. Nur die Spitze des 87 Meter hohen Turms der St.-Sebastian-Kirche ragte aus dem Staub hinaus.

Während ein Zug – proppenvoll mit Urlaubern, welche an die Ostsee wollten – den Bahnhof in Richtung Stettin, Danzig oder Rostock verließ, drückten sich die Nasen der Fahrgäste eines Busses der Linie 2 die Nasen am Fenster platt. Nach und nach fanden sich Gaffer an der Baugrube ein.

Die Grube war ein langer Einschnitt, 35 Meter breit und viele Meter tief. Tiefer als der Stand des Grundwassers. Sie war nicht offen wie beim Bau einer neuen Gasleitung, sondern zugedeckt. Tagelang hatten die Rammbären Stahlplanken in den Boden geschlagen.

Dann war der Boden zwischen den Planken nach und nach ausgehoben worden. Kräne, an welchen eiserne Mäuler mit stählernen Zähnen hingen, hatten die Erde gepackt, hochgehoben und auf Transportbänder fallen lassen. Die Kinder aus der Gegend um den Bahnhof waren nicht müde geworden, dieses Schauspiel mit aufgerissenen Augen zu verfolgen. Während sich die gefräßigen Maschinen in die Tiefe arbeiteten, wurden die Stahlplanken mit Hilfe dicker Hölzer untereinander verbunden. Ein tiefer rechtwinkliger Einschnitt war so entstanden. Und im Laufe der Wochen eine langgezogene Baugrube. Sie war mittlerweile an den Außenwänden isoliert, ausbetoniert und mit einem flachen hölzernen Dach aus Holzbohlen versehen, so dass die Kinder nur noch durch Ritzen oder Schächte in die Grube schauen konnten.

In diesem künstlich geschaffenen Raum sollte eine S-Bahn-Verbindung entstehen. Durch Sand, Mergel und Wasserläufe hindurch, unter Spree und U-Bahn-Tunnel entlang, würde sie unterirdisch vom Stettiner Bahnhof bis hinter die Yorkstraße führen. Es war ein Schnitt, der die Arterien, Venen und Nerven der Stadt nicht verletzte, sondern sie untertunnelte, umging, ihnen auswich. Die neue S-Bahn sollte die Vorstädte im Norden und im Süden mit dem Zentrum verbinden.

Wenige Minuten nach dem verstörenden Krach auf der Baustelle traf ein Krankenwagen der Charité ein. Ein Fahrzeug der Feuerlöschpolizei mit Drehleiter folgte. Dann war die Polizei da. Die drängte zuerst einmal die Gaffer beiseite. «Weg da! Macht Platz! Macht Platz, hab ich gesagt … Wird’s bald!»

Die Feuerwehrleute und ein Sanitäter der Charité stiegen auf eine Leiter, die zwischen den zerbrochenen Bohlen der Grubenabdeckung in die Tiefe führte. Einige Bretter ragten steil aus der Grube empor, andere waren zersplittert, wie von Riesenhänden zerbrochen. Auf der Seite zur Gartenstraße hin waren die Stahlplanken zur Seite gerutscht und unter dem Druck der Erde in die Grube gekippt. Dreck rieselte nach, Sand quoll hervor.

Die Zuschauermenge wuchs weiter an. Polizisten versuchten, die Menschen zurückzudrängen.

Zwei Bauarbeiter entstiegen der Grube, einer hielt ein Seil in den Händen. Sie stemmten ihre Füße gegen den Rand und zogen am Seil einen menschlichen Körper empor. Der Kopf des Mannes war bandagiert. Vorsichtig wurde er auf eine Bahre gelegt und in den Krankenwagen geschoben. Der Wagen fuhr sofort weg.

Es war eigentümlich still geworden. Etwas war geschehen, das den Atem stocken und das Gerede verstummen ließ. Etwas, das auch hartgesottene Berliner sprachlos werden ließ. Lediglich aus der Grube waren gedämpfte Stimmen und ein metallisches Klirren zu hören, als würden Ketten gegeneinander geschlagen. Wie aus weiter Ferne war zu hören: «Fass mal mit an.» Und: «Zu … gleich!» Die Holzbalken ächzten.

Plötzlich schrie jemand: «Hoch! Schnell raus hier.»

Sekunden später war zu hören: «Alles bricht weg! Alle raus, sofort!»

Zuerst erschienen die Köpfe erschöpfter und verdreckter Bauarbeiter. Sie stiegen, so schnell es ging, seitwärts aus der Leiter. Dann erschien der Sanitäter. Ihm folgten weitere erschöpfte Bauarbeiter, die eine Sekunde innehielten, als die Oberkante der Grube erreicht war. Mühsam hievten zwei Arbeiter einen Körper die Leiter hoch. Ihre Gesichter waren starr vor Anstrengung, und ihr Atem ging stoßweise. Sie legten den Körper vorsichtig auf den Boden.

Die Bewegungen der Sanitäter wurden hektisch, weil der Verletzte nicht reagierte. Rasch nahmen sie ihn hoch und trugen ihn zum Polizeifahrzeug. Das raste sofort los.

Es entstand ein Augenblick der Bewegungslosigkeit. Schließlich erschien ein Mann in einem völlig verdreckten Anzug auf der Leiter. Bevor er sich aus der Grube schwang, blickte er sich um. Als er wieder auf festem Boden stand, wichen die Zuschauer instinktiv zurück. Kleine Gruppen entstanden.

Einer der Arbeiter gestikulierte und redete drauflos. Zuerst schauten die Umstehenden an ihm vorbei. Lass ihn quatschen, sollte das wohl bedeuten. Als der nicht aufhörte, sondern lauter wurde, wurden Polizisten aufmerksam. «Verdammt noch mal, daran ist dieser Schweinehund schuld! Warum kann der nicht anständig arbeiten? Der hat die Träger nicht tief genug in den Boden schlagen lassen. Absichtlich!» Der Mann ereiferte sich immer mehr. Seine Stimme überschlug sich. Er zeigte mit dem Finger auf einen Zimmermann, der wenige Schritte entfernt stand. Schwarze Kordhose, schwarze Kordweste, weißes Hemd – weiß wie dessen Gesicht. Graues Haar, buschige schwarze Augenbrauen. Hammer und Nageltasche hingen am Gürtel. Die Fäuste waren geballt.

Die übrigen Arbeiter standen beisammen. Ein Polizist begann, sie zu befragen. Ein weiterer Polizist wandte sich dem Mann in dem dreckigen Anzug zu.

Der nahm seinen Hut vom Kopf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. «Nein, nein, auf keinen Fall kann ich die Arbeiten unterbrechen! Es darf keine Verzögerung mehr geben. Wir liegen schon Tage zurück», klagte er.

Von dem Polizisten befragt, was eigentlich geschehen sei, antwortet er: «Fließsand. Der schoss mit unglaublicher Gewalt aus der Wand. Das ist wassergesättigter Sand, in dem man ertrinkt, wenn keine Hilfe kommt.»

Zwei Polizisten nahmen den Zimmermann in die Mitte, drehten ihm die Arme auf den Rücken und legten ihm Handschellen an. Sie führten ihn, ohne dass er Gegenwehr leistete, zum Polizeiwagen.

«Was ’n hier los?», fragte ein Arbeiter, der gerade erst gekommen war. Er trug eine Schiebermütze auf dem Kopf, sein Atem roch nach Bier.

«Kameraden sind tot! In den Tod gelockt. So ein Drecksack!», antwortete einer seiner Kollegen, flennend fast. Mager war er, hohlwangig. Die Ärmel seiner Arbeitsjacke waren viel zu kurz. «Fast hätte es auch mich erwischt.»

Doch das schien den anderen nicht zu interessieren. «Und wer ist hier der Drecksack?»

«Da geht er. Die haben ihn schon am Schlafittchen.» Die Stimme des Bauarbeiters schrillte.

«Was ist ’n das für einer? Ist doch ganz manierlich angezogen. Sieht aber irgendwie komisch aus, mit den dicken Augenbrauen. Wie Würmer.»

«Das ist …», der Arbeiter schluckte, «… ein ganz dreckiger Halunke. Ein Zigeuner … oder Polack.»

Die Schiebermütze sah zu, wie Polizisten den Zimmermann ins Auto verfrachteten, dann wandte sie sich wieder dem Kollegen zu. «Nu bleib man ganz ruhig. Das ist kein Polack. Die riech ich schon auf einen Kilometer gegen den Wind. Na ja, ein Parade-Arier ist er auch nicht gerade. Aber das ist wohl keiner hier.» Er lachte laut über seinen eigenen Witz.

Auf der Stirn des Arbeiters begann eine dicke Ader zu pochen.

«Was willst du eigentlich hier? Stänkern? Wenn ich dir sage, das ist ein Dreckschwein, dann ist es ein Dreckschwein!»

«Ja ja, schon gut. Wie viele sind denn tot?»

«Weiß ich nicht. Der Drecksack lebt aber noch. Stell dir das mal vor: Bringt die Kollegen um, und ihm ist selber nichts passiert …» Der Rest ging in einem unverständlichen Jaulen unter.

Die Schiebermütze wandte sich einem anderen zu. «Wie soll er die denn umgebracht haben?»

«Durch Fließsand», entgegnete ein kurzhaariger Arbeiter mit militärisch grader Haltung. Die vergangenen Minuten hatte er dagestanden und aufmerksam beobachtet, was passierte und wer mit wem sprach. «Was wollen Sie hier? Sie gehören überhaupt nicht hierher.»

Die Schiebermütze ging nicht darauf ein, sondern fragte lediglich: «Durch Fließsand? Nie davon gehört.»

Der Kurzhaarige verlagerte sein Körpergewicht vom rechten auf den linken Fuß. «Der Polack hat die Männer in die Grube gelockt. Dann hat es gekracht, und alles ist eingestürzt.»

«Das gibt’s doch nicht.»

Ein anderer fügte hinzu: «In der Mittagspause haben wir noch zusammengesessen. Die armen Schweine. Das war Mord, sag ich euch!» Er fuhr sich mit seinen dicken, hornigen Fingern über den Schädel und setzte seine speckige lederne Schirmkappe wieder auf. Eine lange rote Narbe zierte sein Gesicht.

Jemand drängte sich zu ihm durch. «Das glaub ich nicht!»

«Ach, halt die Schnauze!»

«Das hättest du gern, dass ich die Klappe halte. Mir machst du keine Angst.» Die Stimme gehörte zu einem lang aufgeschossenen jungen Mann in einem abgetragenen blauen Anzug, die blonden Haare sorgfältig geglättet.

«Pass ja auf! Wir sind schon mit ganz anderen fertig geworden.» Der Mann mit der roten Narbe hob drohend die Faust.

«Das kann ich mir vorstellen. Damit du Bescheid weißt: Ich bin Zimmermann. Und ich weiß, wie man auf großen Baustellen arbeitet. Hier ist jedenfalls der Wurm drin.»

«Ach ja?», mischte sich der kurzhaarige Arbeiter wieder ein.

«Hier ist also der Wurm drin, ja? Du bist ja ein ganz Schlauer. Schläfst wohl an der Wand, was!»

Der ließ sich nicht einschüchtern. «Hier geht es seit Tagen drunter und drüber. Wenn der da, den die Polente abgeführt hat, verschalte oder Stützen einzog, liefen ihm die Leute vor den Füßen her. Wenn er sie anschrie, sie sollten aufpassen, haben sie ihn ausgelacht. Dann habe ich erlebt, dass mitten im Betonieren drei oder vier Arbeiter der Schicht grinsend aus der Grube geklettert sind. Ich dachte, mich trifft der Schlag! Die Kameraden alleinlassen, während Beton die Röhre runterkommt! Wo gibt’s denn so was? In den Knast sollte man euch stecken und mehr anständige Arbeiter hier ranlassen. War doch klar, dass hier mal was passiert.»

«Pass auf, sonst landest du im Knast!» Der Mann war puterrot vor Wut geworden. «Arbeitsscheues Gesindel! Du bist einer der Roten! Heil Moskau, was? Dich kriegen wir auch noch.»

«So seid ihr alle», antwortete der junge Mann im blauen Anzug. «Wer euch nicht passt, wird fertiggemacht. Wenn das nicht reicht, dann landet man im Columbiahaus. Das muss ich mir nicht anhören!» Er ging kopfschüttelnd weg.

Ein magerer älterer Mann sagte beschwichtigend: «Hört doch auf! Gegen Fließsand hilft nichts, der ist wie Wasser. Gerätst du da rein, biste verloren. Rettungslos. Es muss doch aber jemand was bemerkt haben.»

Niemand antwortete ihm.

«Hat keiner gewarnt?», wollte er wissen.

«Nee, niemand.»

«Und was ist mit dem, den die Polente geschnappt hat?»

«Der? Dieses Aas. Den sollten die schnell aufhängen!»

Der Ältere wollte nun wissen, wie viele unten geblieben waren.

«Fängst du jetzt auch an?»

«Man wird doch mal fragen dürfen!»

«Soll Leute geben, die sich totgefragt haben!»

Nun wurde der Alte ärgerlich: «Ich bin seit 1926 in der Partei. Den Kommunisten hier haben wir schon die Köppe eingeschlagen, als du noch in die Hosen geschissen hast. Also komm mir ja nicht dumm!»

TAG ZWEI

DAS JAHR 1934 hatte miserabel für Kappe angefangen, es konnte nur besser werden. Zum einen war ihm zu warm. Westeuropa hatte vom ersten Tag des Jahres an fortwährend Wolken und Regen mit Temperaturen über null Grad geschickt. Kappe brauchte im Winter aber Kälte, die in die Ohren biss, Schnee auf den Wegen, Eisschollen auf der Spree und einen Ostwind auf der Jannowitzbrücke, der nur so durchs gusseiserne Geländer pfiff. Statt eines frischen Aprilwetters hatte es weiterhin Schmuddel gegeben, darauf folgte ein regnerischer, stürmischer und zugleich warmer Mai. Fliederblüten im Straßendreck statt an den Zweigen, Schweiß auf der Haut und Regen auf der Jacke.

Das Schmuddelwetter hatte zur Folge, dass Kappes Kreislauf Achterbahn fuhr. Rauf und runter. Er fühlte sich schlapp wie ein nasser Waschlappen.

Zum anderen gab es endlos viel Arbeit. Diese hinderte ihn daran, abends mit Klara am Küchentisch im Lichtkegel des Lampenschirms zu sitzen und ihrer Stimme zu lauschen, die irgendetwas vom Tag erzählte, bis sie abbrach, um sich vollständig auf die Näharbeit zu konzentrieren. Kappe genoss die wenigen Augenblicke der Stille. Dann fühlte er sich wohl, etwa wie ein gutgenährter, aber kurzatmig gewordener, schläfriger Kater.

Wenige Tage nach Neujahr wurden ihm die Ermittlungen im Fall einer ermordeten Hausangestellten in Steglitz übertragen. Einer der typischen Fälle, die auf dem Schreibtisch eines führenden Kriminalisten bei der Berliner Mordinspektion landen.

Während er sich noch mit den Ermittlungen zu diesem Fall beschäftigte, landete der nächste auf seinem Schreibtisch. Ein Apotheker hatte offenbar seine Familie mit Blausäure umgebracht, um sich dann selber dieses Gift zu verabreichen. Warum er das getan hatte, war partout nicht zu ergründen. Kein Ehedrama, keine Eifersucht, keine Schulden, kein Hass – nichts, was auf eine verletzte Seele hätte schließen lassen. Der Fall machte ihm dennoch eine Zeitlang zu schaffen.

In Schöneberg hatte ein Tapezierer seine Frau mit dem Beil erschlagen. Ein versehrter Weltkriegsveteran, rot, verschuldet, vom Rausschmiss bedroht. Seine Frau hatte gedroht, ihn zu verlassen.

Dieser Fall beschäftigte ihn am längsten. Er wurde zu einem Tiefpunkt seiner Karriere. Denn Kappe, diese gute Seele, hatte versucht, dem armen Kerl aus Schöneberg einen «Jagdschein» zu verpassen – ihn also nach Paragraph 51 des Strafgesetzes für nicht zurechnungsfähig erklären zu lassen.

Das hätte sogar funktioniert, wenn Kappe nicht zwei schwer- wiegende Fehler unterlaufen wären. Er hatte in der Akte des Tapezierers nicht vermerkt, dass der auf der «Roten Insel» in Schöneberg wohnte, wo Gerüchten zufolge nicht nur die schönsten jungen Frauen Berlins daheim waren, sondern auch die härtesten Roten – diejenigen, die den Nationalsozialisten den stärksten Widerstand entgegensetzten. Dass der Tapezierer dort wohnte, hatte Kappe also verschwiegen, aber einem jungen Polizisten aus Schöneberg mit einem SA-Mitgliedsbuch fiel es auf. Der leitete diese Erkenntnis dem Kriminalpolizeirat Brettschieß zu, nebst einem denunzierenden Hinweis. Flugs fand sich Kappe herbeizitiert. Der Oberkommissar wurde von Brettschieß hart gerügt und an seine nationalen Pflichten erinnert. «Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Sie national nur bedingt zuverlässig sind. So etwas schaue ich mir nicht lange an!» Einem solchen «Kretin» wie dem Tapezierer wohlwollend zu begegnen, so Brettschieß, passe nicht ins neue Verständnis von Verbrechensbekämpfung. Kappe hatte schwer zu schlucken.

Wenige Tage danach war Kappe abends mit einigen Kollegen zu einem der seltenen Kegelabende aufgebrochen. An jenem Abend vertilgten Kappe, Galgenberg, Kniehase und die anderen größere Mengen Bier und Schnaps. In dieser lockeren Stimmung fing irgendjemand an, Witze zu reißen über Kappes Versuch, den armen Tapezierer aus Schöneberg vor dem Fallbeil zu retten. Kappe ärgerte sich darüber und trank mehr als üblich.

«Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, einen Roten ausgerechnet in einer Mordakte für Brettschieß verstecken zu wollen?» Ein dicker Kollege aus der Abteilung D – Betrug, Schwindel und Falschmünzerei – sah sich beifallheischend um. «Hast wohl Tapezierer mit Anstreicher verwechselt!»

Brüllendes Gelächter.

Kappe strich sich über sein verschwitztes Gesicht. Sein Freund und Kollege Gustav Galgenberg schaute ihn über den Tisch hinweg aufmerksam an, als wolle er sagen: Nimm dich in Acht! Kappe war aber nicht mehr zu bremsen. «Was wollt ihr? Muss doch möglich sein, in Deutschland einen Tapezierer vor der Hölle zu bewahren, wenn Anstreicher bei uns auf den Olymp kommen.» Sprach’s und trank sein Glas aus. Er merkte nicht, dass sich nicht nur bei dem dicken Kollegen die Lider verengten.

Wenige Tage darauf wurde er zu Brettschieß zitiert. Dort erwartete ihn eine ganze Reihe höherer Kriminaler. In Anwesenheit des Berliner Polizeipräsidenten Magnus von Levetzow wurde Kappe zurückgestuft, vom Oberkommissar zum einfachen Kommissar. Damit verbunden waren ein geringeres Gehalt und später eine entsprechend niedrigere Pension. Das war eine Seltenheit wie Degradieren beim Militär. Der Hochleistungsbürokrat Dr. Brettschieß durfte persönlich den Beschluss erläutern. Es werde ein Signal gesetzt: Wer nicht bereit sei, das Verbrechen mit aller Härte zu bekämpfen, habe in der Berliner Polizei nichts zu suchen. Es müsse Schluss sein mit liberalem Schlendrian und mit dem Ungeist der Altparteien. Man habe Kappe auch hinauswerfen können, aber dann gnädig darauf verzichtet, weil er als Kriminalist unbestreitbare Erfolge vorzuweisen habe. Eine letzte Chance der Bewährung.

Kappe riskierte während dieser Worte einen ersten Blick auf die Versammlung, vor der er stand. Seine Sorge war, dass man sein leichtes Zittern in den Beinen erkennen könnte. Aber offenbar interessierte dies niemanden. Kriminalrat Gennat, seiner voluminösen Gestalt wegen «der volle Ernst» genannt, überragte in der zweiten Reihe alle anderen. Er hatte ein verkniffenes Grinsen im Gesicht.

Tags darauf begriff Kappe, warum Gennat so verkniffen aus der Wäsche geschaut hatte. Der hünenhafte Kriminalpolizeirat eröffnete ihm, dass er künftig seine Arbeit mit ihm, Gennat, zu besprechen habe. Das habe der Polizeipräsident angeordnet. Wenn sich ein erfahrener Kriminalist um ihn kümmere, sei die Chance größer, ihn auf den neuen nationalen Weg der Bekämpfung von Schwerstkriminalität zurückzuführen, habe der erläutert. Gennat presste wieder die Lippen zusammen, zog die Mundwinkel hoch und zwinkerte mit den Augen. «Keinen Unfug mehr!», befahl er.

«Wenn Sie weitere solcher Klöpse abliefern wie bei dem armen Tapezierer von der ‹Roten Insel›, reißen Sie mich mit rein. Haben Sie das verstanden?»

Das hatte Kappe verstanden. Gennat steckte in einer Zwickmühle. Brachte er ihn im Sinne der Braunen zur Räson, verlor er das Vertrauen der altgedienten Kripobeamten. Brachte er Kappe nicht zu einer braun eingefärbten «Vernunft», galt er in der Augen der Machthabenden rasch als unzuverlässig. Eine schier ausweglose Situation für Gennat. Aber da der sich schon öfter aus solchen Situationen befreit hatte, machte sich Kappe keine große Sorge um ihn. Gennat war ein Phänomen.

Der Tapezierer bekam einen kurzen Prozess und die Henkersmalzeit. Hermann Kappe machte sich während der folgenden Wochen möglichst klein.

Dann folgte der Fall einer jungen Frau, die in einem Hotel in der Friedrichstraße erschossen worden war. Der Täter war flüchtig. Offenkundig hatte er sie verführt und dann ausrauben wollen. Die Stadt, eine Vier-Millionen-Einwohner-Bestie, verschlang jedes Jahr auf diese oder ähnliche Weise so manche junge Frau. Doch Kappe hatte mit Glück und Können den Fall rasch gelöst. Daher wich langsam die Scham wegen der Degradierung, und sein Selbstbehauptungswille rührte sich wieder. Während der vergangenen Wochen hatte er öfter über die Zeitläufte nachgedacht. Immer häufiger hatte er mit Verbrechen zu tun, deren Auslöser nicht allein Gier oder Mordlust waren. Hass auf eine andere Herkunft und Neid auf Wohlhabende kamen hinzu. Tritte mit genagelten Schuhen, Knüppel, Mauser. Wieder ein Volksfeind weniger.

Schließlich hatte ein Oberwachtmeister im Osten der Stadt einen betrunkenen Mann erschossen, der zuvor einen anderen Gast niedergeschlagen hatte. Dieser Fall war der leichteste, denn der Betrunkene hatte gedroht, mit seiner Eisenstange die Herrschaften am Tresen zu Brei zu schlagen. Der zufällig anwesende Polizist, ins Gespräch mit Bekannten vertieft und die Nase im Bier, war aufmerksam geworden, als der Betrunkene eine kurze Eisenstange aus der Tasche zog und sie einem Mann auf den Kopf schlug, um sich dem Nächsten zuzuwenden. Der Oberwachtmeister war aufgestanden und hatte den Betrunkenen angeschrien, er solle einhalten. Als der sich darauf mit der Eisenstange in den Fäusten dem Polizisten zuwandte, zog dieser die Pistole und gab drei Schüsse auf den Mann ab, um sich dann wieder an seinen Tisch zu setzen. Der Niedergeschossene war binnen weniger Minuten verblutet.

Kappe hatte die Ergebnisse der Gerichtsmedizin studiert, die Zeugen einbestellt und vernommen, die Aussagen verglichen. Nichts Neues. Der Mann hatte gewarnt, geschossen und andere wie sich selber vor Schaden bewahrt. Stutzig machte ihn die Tatwaffe: keine neue Walther PPK, sondern eine Sauer Modell 24, eigentlich ausgemustert, aber bei manchen noch im Gebrauch.

«Wo tragen Sie die alte Sauer?», hatte Kappe den Oberwachtmeister gefragt.

Der hatte die Brauen hochgezogen und geantwortet: «Im Gürtel, wie alle im Sturm.»

Kappe hatte seine Antworten notiert, den Aktendeckel geschlossen und den ganzen Vorgang weitergeleitet. Der Fall schien eindeutig. Und dennoch blieb bei Kappe ein saures Gefühl zurück – das Gefühl, dass etwas an der Geschichte des Oberwachtmeisters nicht stimmen konnte.

Jetzt lag der Fall eines Zimmermanns auf Kappes splittrigem Schreibtisch. Leiblein, Kaspar Michael. Merkwürdiger Name. Er legte eine Mordakte an. Sichtete, was zu diesem Fall vorlag: ein Umschlag mit Unterlagen über Leibleins Beruf und Werdegang, sichergestellt in dessen Zimmer in der Michaelkirchstraße. Ein Protokoll zweier Polizeibeamter. Einige lose beschriebene Seiten Papier. Sonst nichts. Kein Beschluss über eine Einweisung Leibleins in ein Gefängnis, nichts von der Gerichtsmedizin.

Kappe begann zu lesen. Leiblein hat wissentlich und mit Absicht den Tod mehrerer Zimmerleute herbeigeführt. Sie sind wegen seiner Machenschaften in fließendem Sand erstickt. Das Papier war unterschrieben von einem Gießwein, Polier stand ergänzend darunter. Und vom Bauleiter. Dessen Unterschrift, offenbar eilig gesetzt, war unleserlich.

Leiblein habe dafür gesorgt, dass eine Wand der Baugrube am Stettiner Bahnhof einstürzte und Arbeiter unter sich begrub, hieß es weiter. Kappe wusste, dass am Stettiner Bahnhof die neue Nord-Süd-Bahn durch die Stadt gebaut wurde. Die ersten Pläne zu dieser Strecke stammten noch aus der Kaiserzeit. Nun hatte sich der Führer des Vorhabens angenommen.

Kappe blickte zu Galgenberg hinüber, mit dem er sich seit kurzem ein Zimmer teilte. «Leiblein, ein ungewöhnlicher Name, oder?» Der grunzte, stand auf und ging zu einem Schrank, dem er zwei Bücher entnahm. «Schauen wir mal in unserem Wörterbuch der Familiennamen in zwei Bänden.» Er blätterte, las, rieb sich die Nase.

«Da haben wir den Namen. Leiblein. Aha – Landfahrer. Hier steht: Im fahrenden Volk des Rheinlandes und Württembergs anzutreffender Familienname. Die Sippen der Leiblein zählen zu den Zigeunern. Der Name ist ebenfalls in der Schweiz und in Österreich nachge- wiesen.» Er brummte. «So, also Roma soll der Leiblein sein.»

«Roma?»

«Ja, Roma», erwiderte Galgenberg. «So nennen die sich selber.» Kappe schüttelte den Kopf und las weiter in den losen Blättern. Mit blauem Kopierstift war in einer anderen Handschrift hinzugefügt: Die Arbeitsschlacht in Berlin muss gewonnen werden! Wir vermuten, dass Leiblein Deutschland gegenüber feindlich eingestellt ist. Oder dass er im Auftrag von Leuten gehandelt hat, die einen störungsfreien Bau der S-Bahn durch Berlin in Richtung Süden und Anhalter Bahnhof verhindern wollen. Der Mann ist schlau und aalglatt.

So ein Blödsinn, dachte er. Ein Zimmermann – in wessen Auftrag sollte der ein Verbrechen begehen?

Kappe überlegte kurz. Dann griff er zum Hörer, um einen der Kriminalassistenten der Mordinspektion anzurufen. «Wo ist dieser Leiblein … Noch in Moabit? Schaff ihn her. Aber flott!» Er legte auf und widmete sich wieder dem Schreiben.

Auf einem anderen Blatt war zu lesen, Leiblein habe am Abend zuvor mit einigen Arbeitern Streit gehabt. Sie hätten sich gegenseitig voller Wut angeschrien. Der Bauleiter habe dem Streit mit einigen scharfen Worten ein Ende bereitet. Wodurch diese Streiterei ausgelöst worden war, wisse man nicht.

Aufmerksam schaute Kappe sich das Papier an. Ein Blatt wie aus einem Heft gerissen, ein wenig fleckig, liniert, einseitig beschrieben. Mehrere Handschriften standen untereinander, ohne Datum und Ortsangabe. Ebenfalls mit blauem Kopierstift hatte jemand hinzugefügt: Schutzhaft ist anzuordnen. Unterschrieben von einem Maretzke, Obertruppführer. Er stutzte. Ein SA-Feldwebel. Das fehlte noch! Die Braunen mischten bei dieser Ermittlung mit. Das passte Kappe überhaupt nicht.

Er legte die Blätter beiseite und griff zum offiziellen Protokoll. Unterschrieben von Hauptwachtmeister Schneider und Wachtmeister Neufeld.

Am 20. Juni gegen fünf Uhr am Nachmittag ereignete sich auf der S-Bahn-Baustelle am Stettiner Bahnhof eine schwere Verschüttung, der mehrere Arbeiter zum Opfer fielen. Trotz sofortigen Herbeieilens der Polizei aus dem Abschnitt 31, der Feuerlöschpolizei und mehrerer Sanitäter aus der Charité konnten zwei, möglicherweise noch mehr Arbeiter nicht gerettet werden. Die exakte Zahl der Opfer konnte nicht festgestellt werden. Ein weiterer Arbeiter starb an den Folgen seiner Verletzung noch am Unfallort. Die Namen der bisher bekannten Opfer lauten: Paul Schnicke, Ewald Karnovski, Herbert Kaschke.

Der auf der Baustelle anwesende Zimmerer Kaspar Michael Leiblein wird von verschiedenen Zeugen beschuldigt, den Tod dieser Bauarbeiter in die Wege geleitet zu haben. Heimtückisch habe er seine Kollegen in die Baugrube gelockt, nachdem er diese unsachgemäß abgesichert hatte. Der Unglücksablauf: Die Arbeiter kamen in einer Tiefe von rund zehn Metern um. Aufgrund einer Erschütterung ist die Wand der Grube beschädigt worden. Fließsand schoss mit so viel Druck ein, dass der Boden der Grube einsank. Mehrere Männer verschwanden. Der Bauleiter beschrieb die Situation als vergleichbar mit einem Waschbeckenabfluss, der in einen Siphon mündet. So, wie das abfließende Wasser alles mit in den Siphon zieht, reiße Fließsand alles mit in den Untergrund.

Anschließend wurde umständlich beschrieben, was einzelne Personen gesagt hatten. Auch hier wurde der Zimmerer Leiblein noch einmal beschuldigt – offenkundig vom Polier. Leiblein selbst war offensichtlich nicht befragt worden. Eigenartig, dachte Kappe.

Säuberlich war vermerkt, wer an den Rettungsarbeiten beteiligt gewesen war und wo man gesucht hatte. Während der Rettungsarbeiten habe Leiblein sich teilnahmslos gezeigt und nicht mitgeholfen.

Das Protokoll führte die Namen des Poliers und des Bauleiters sowie mehrerer Arbeiter auf, die den Hergang erläutert hatten.

Welch ein Durcheinander! Hier jede Kleinigkeit aufgeführt, dort Wichtiges nicht gefragt. Das Werk von Anfängern? Kaum. Auch unter diesem Papier stand in blauem Kopierstift: Maretzke, Obertruppführer. Und: Muss in Schutzhaft!

Auch das Protokoll wanderte auf die Seite. Kappe schüttelte die Papiere aus dem braunen Umschlag. Galgenberg hatte seinen Stuhl herangezogen, um zuzuschauen. Leibleins Ausweispapiere: Am 6. Juni 1887 in einem Ort in der Eifel mit dem seltsamen Namen Bleibuir geboren. Verheiratet mit Anna Leiblein, geborene Busch. Drei Kinder. Von Beruf Zimmerer. Der Vater hieß Caspar Leiblein, geboren in Stotzheim bei Euskirchen. Als Beruf war Scherenschleifer angegeben. Die Mutter stammte aus Bleibuir. Geburtsname Laufenberg.

Mitglied Nummer 105 496 im Zentralverband der Zimmerer und verwandter Berufsgenossen Deutschlands, später Mitglied im Nachfolgeverband Baugewerksbund. Beide Gewerkschaftsbücher waren mit Wachskordel zusammengebunden. Eine Reiselegitimation war vom Vorstand der Zimmerer für die Jahre 1912 und 1913 erteilt worden. Die Stationen waren Hamburg, Bremen, Leipzig, Goslar und Straßburg. In Bremen war der Mann Spezialist für Bauen im Sand geworden. Abonniert die Arbeiterpresse , stand im Mitgliedsheft. Stärkt die Kampforganisation der Arbeiter.

Kappe brummte. Das Kerlchen aus der Eifel war ganz schön viel herumgekommen. Er griff nach einigen Schriftstücken, über denen jeweils das Wort Zeugnis stand. Ein Zeugnis der Bremischen Baubehörde und eines der Firma Gewerkschaft Mechernicher Werke. Welch ein komischer Name, dachte Kappe. Und ein Zeugnis aus Sachsen. Ausnahmslos wurden Leibleins Kenntnisse und Fähigkeiten als Zimmermann hervorgehoben. Sein Meisterbrief und ein Vermerk, wonach er selbständig Bauzeichnungen anlegen und lesen könne, ergänzten die Zeugnisse.

Außerdem befand sich in der Mappe Leibleins Militärpass: Vier Jahre Krieg im Westen, Feldwebel in einem elsässischen Regiment, Träger des EK I und der Georgsmedaille. Ein knappes Jahr vor Verdun, im Herbst 1918 vom Soldatenrat entlassen. Im Militärpass lag ein Heiligenbildchen. Eine Frau mit einem Kind auf dem Arm, beide gekrönt und in gesteiften Kleidern. Kappe las die Widmung über dem Bild: Consolatrix afflictorum ora pro nobis. Er war sich nicht schlüssig, was das zu bedeuten hatte. Ob ihn diese Inschrift weiterbringen konnte?

Er wählte den Apparat von Professor Brüning in der Gerichtschemie an. «Verzeihen Sie, Herr Professor. Sie sprechen doch die alten Sprachen, oder nicht?»

Brüning lachte. «Aramäisch, Latein und Griechisch. Was wollen Sie denn übersetzt haben?»

Kappe las ihm die Worte langsam vor.

Es gluckste in der Leitung. «Kappe, werden Sie auf Ihre alten Tage gläubig? Das ist ein Spruch der Katholiken. Er bedeutet: Trösterin der Betrübten, bete für uns!»

«Kein versteckter Hinweis? Keine Geheimsprache?», wollte Kappe wissen.

«Nee, Herr Kollege. Katholikengewäsch, sonst nichts.» Kappe bedankte sich.

Auf einer Photographie war ein Grabstein zu sehen. Der Name Caspar Leiblein war in den Stein gemeißelt. Unter den Namen hatte der Steinmetz eine Art Planwagen in den Block gestemmt.

Kappe schüttelte wieder den Kopf. Daheim war Leiblein Feuerwehrmann. Kappe zog andere Photographien aus dem Stapel Papiere hervor, eine dunkelhaarige Frau mit feinem Gesicht blickte ihn aus resoluten Augen an – offenbar Anna Leiblein. Ein weiteres Bild von ihr und drei Kindern. Eine Photographie von zwei bärtigen Männern in Uniform. Mehrere Briefe Anna Leibleins an ihren Liebsten, aus denen ein feiner Duft aufstieg. Etwa wie die Erinnerung an Sommer, an das Kitzeln des Gräserdufts in der Nase. Hitze, träges Wandern durch Kornfelder. Der erste Tag mit Klara …

Polizeilich gemeldet war Leiblein in der Michaelkirchstraße bei Familie Gehrcke. Über Gehrcke, der als Reichsbanner-Mitglied bekannt sei, gebe es eine Akte, war handschriftlich auf einem Zettel hinzugefügt worden. Leibleins Arbeitserlaubnis für Berlin war vorhanden, die Firma Polensky und Zöllner hatte ihn eingestellt. Er erhielt 55 Pfennige die Stunde, eine Arbeiterwochenkarte zu acht Mark.